Die Türkei nach dem Balkankrieg

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Autor: Wilhelm Feldmann
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Titel: Die Türkei nach dem Balkankrieg
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Achtzehntes Hauptstück: Die politischen Ziele der Mächte in der Gegenwart, 106. Abschnitt, S. 344−347
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[344]
106. Abschnitt.


Die Türkei nach dem Balkankrieg.
Von
Dr. Wilhelm Feldmann, Konstantinopel.


Die Türkei hat durch den Balkankrieg von den rund 170 000 Quadratkilometern Fläche, die das Gesamtgebiet der sechs europäischen Wilajets des Osmanischen Reiches – Adrianopel, Salonik, Monastir, Kossowo, Janina, Skutari – darstellten, rund 155 000 Quadratkilometer mit etwa 5 Millionen Einwohnern verloren. Nach einer im bulgarischen Generalstab ausgearbeiteten Statistik liess der Friede von Konstantinopel (29. September 1913) von dem einstigen Gebiet des Wilajets Adrianopel 16 201 Quadratkilometer mit 725 000 Einwohnern im Besitz der Türkei. Dazu kommen in Europa noch der unabhängige Sandschak Tschataldscha (1900 Quadratkilometer mit 60 000 Einwohnern) und der europäische Teil des Wilajets Konstantinopel (3000 Quadratkilometer mit rund 900 000 Einwohnern). Alles in allem sind der Türkei also nach diesen Ziffern, die allerdings wohl kaum als absolut zuverlässig betrachtet werden dürfen, etwa 21 100 Quadratkilometer mit annähernd 1 700 000 Einwohnern in Europa verblieben. Der Londoner Präliminarfriede (30. Mai 1913) hatte die europäische Türkei auf 14 000 Quadratkilometer mit rund 1 400 000 Einwohnern reduziert. Die Türkei hat mithin durch den entschlossenen Vormarsch nach Adrianopel und Kirkkilisseh im Juli 1913 ohne Blutvergiessen mehr als 7000 Quadratkilometer mit 300 000 Einwohnern zurückerobert und damit zugleich den Grundsatz vernichtet, dass die Osmanen einmal verlorenes Gebiet in Europa um keinen Preis wiedererhalten dürfen. Zum Vergleich sei daran erinnert, dass die asiatische Türkei auf rund 1 800 000 Quadratkilometer mit etwa 17 Millionen Einwohnern geschätzt wird.

[345] Die europäische Auffassung von der Bedeutung des verlorenen Krieges für die Zukunft der Türkei ist noch vor den endgültigen Friedensschlüssen einer interessanten Revision unterworfen worden. Nach der Schlacht bei Lüleburgas und noch im Januar 1913 neigte man in Europa vielfach zu der Ansicht, dass die völlige Auflösung des Osmanischen Reiches nahe bevorstehe. Und fast allgemein war die Überzeugung verbreitet, dass die Türkei bei Erörterung künftiger Balkanmöglichkeiten nicht mehr als ernster Faktor in Rechnung zu stellen sei. Die Stimmen, die so das Ende der europäischen Bedeutung des Osmanischen Reiches vorschnell proklamierten, sind seit dem Bekanntwerden der türkisch-bulgarischen Annäherung verstummt. Man zweifelt nicht mehr daran, dass die Türken als Verbündete Bulgariens bei der wohl allgemein für unvermeidlich gehaltenen neuen Auseinandersetzung auf dem Balkan ein entscheidendes Wort mitzusprechen haben werden. Diese Annahme beruht hauptsächlich auf der – zuerst vom Generalfeldmarschall v. d. Goltz nachdrücklich betonten – Tatsache, dass die militärische Macht der Türkei durch die grossen Gebietsverluste in Europa so gut wie gar nicht berührt wird. Die europäischen Bestandteile des osmanischen Heeres haben sich im Balkankrieg fast durchweg als äusserst unzuverlässig erwiesen. Was die Türken in militärischer Hinsicht geleistet haben – man denke an die tapfere Verteidigung von Adrianopel, Skutari und Janina, an die Teilerfolge der osmanischen Truppen in der fünftägigen Schlacht bei Lüleburgas und Wisa sowie an die erfolgreiche Abwehr der bulgarischen Angriffe auf die Tschataldschalinien – ist ausschliesslich auf das Konto der anatolischen Truppen zu setzen. In welchem Umfang die Anatolier, also die eigentlichen Türken, die Last des Krieges getragen haben, ergibt sich aus statistischen Angaben des deutschen Chefs der osmanischen Sanitätsverwaltung, Professor Wieting Pascha, über die Verluste der türkischen Ostarmee bis zum Waffenstillstand vom 3. Dezember 1912. Nach Wietings Angaben über die Verwundeten kamen auf 16 491 Türken nur 150 Armenier, 320 osmanische Griechen, 35 Israeliten, 25 osmanische Bulgaren, 2 Wallachen, 5 osmanische Serben. (Vergl. Feldmann, Kriegstage in Konstantinopel, S. 69.) Die Reorganisation der Armee auf Grund der im Kriege gemachten bitteren Erfahrungen ist bereits während des Waffenstillstands kräftig in Angriff genommen worden. Es war natürlich unmöglich, sie bis zum Wiederbeginn der Feindseligkeiten (3. Februar 1913) soweit zu fördern, dass die ersten entscheidenden Resultate des Krieges noch geändert werden konnten. Aber die Rückeroberung von Adrianopel ist nicht zuletzt als Folge der Kriegsbereitschaft des reorganisierten osmanischen Heeres zu betrachten.

In erster Linie muss der grosse Erfolg allerdings als Resultat der klugen allgemeinen Politik des am 23. Januar 1913 zur Macht zurückgekehrten jungtürkischen Regimes, dessen Verdienst übrigens auch die Aufstellung einer schlagfertigen Armee war, bezeichnet werden. Man kann den Jungtürken die Anerkennung nicht versagen, dass sie vom ersten Tage ihrer Rückkehr zur Staatsleitung an mit Ernst daran gegangen sind, frühere Fehler wieder gutzumachen und eine feste Grundlage für das schwierige Werk der Erneuerung des Osmanischen Reiches zu schaffen. Als wichtigsten Punkt ihres Programms, dessen Ausführung zuerst dem Marschall Mahmud Schewket Pascha und nach dessen Ermordung (11. Juni 1913) dem Prinzen Said Halim Pascha als Grosswesir anvertraut wurde, betrachteten die Jungtürken die Lösung der zwischen den Grossmächten und der Türkei schwebenden Fragen. Diese neue Aera der türkischen Auslandpolitik wurde durch die Entsendung des früheren Grosswesirs Hakki Pascha nach London (Februar 1913) eingeleitet. Ihr folgte Anfang März die Entsendung des früheren Finanzministers Dschawid Bej nach Berlin und Paris. Die Verhandlungen mit England waren im Mai soweit abgeschlossen, dass Sir Edward Grey am 29. Mai präzise Mitteilungen über die türkisch-englischen Vereinbarungen machen konnte. Die Grundlage für die Verhandlungen mit Frankreich bildete eine Liste von Forderungen verschiedener Art, die der französische Botschafter Bompard am 24. Februar der Pforte überreicht hatte. Die Verhandlungen führten zu bestimmten Abmachungen, die in der ersten Septemberhälfte von Dschawid Bej und dem französischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Pichon, in Paris paraphiert wurden. Anfang Oktober begannen in Konstantinopel entsprechende Verhandlungen mit Russland, an die sich die Berliner Verhandlungen Dschawid Bejs mit Deutschland anschlossen. Was die Pforte, ausser speziellen Konzessionen politischer, finanzieller oder allgemein wirtschaftlicher Art, von den Grossmächten erwartete, hatte sie bereits [346] in ihrer Note vom 30. Januar 1913, der Antwort auf die Note der Mächte vom 17. Januar, in der den Türken die Abtretung von Adrianopel empfohlen worden war, aufgezählt, nämlich: die Zustimmung zur Einführung eines unabhängigen Zolltarifs, zum Abschluss von Handelsverträgen auf der Grundlage moderner Rechtsgrundsätze, zur Ausdehnung der osmanischen Steuergesetze auf die fremden Staatsangehörigen und vor allem zur Erhöhung der Zölle um 4 Prozent.

Grosse Sorge bereitete der Pforte im Augenblick der Rückkehr des jungtürkischen Komitees zur Regierung die arabische Frage. Die Niederlagen der osmanischen Armee in Thrazien und Mazedonien hatten die – teilweise für fremde (englische oder französische) Rechnung tätigen – Unruhestifter in Syrien zu so offener Agitation ermutigt, dass ein weiteres Verkennen der drohenden Gefahr unmöglich gewesen wäre. Die Jungtürken bewiesen dieser Schwierigkeit gegenüber, dass sie seit den Tagen unkluger Gewaltpolitik in Albanien etwas gelernt hatten. Statt die Bewegung nach altem schlechtem Rezept gewaltsam zu unterdrücken, bahnten sie eine gütliche Verständigung mit den verschiedenen arabischen Gruppen an. Die Araber sandten Delegationen nach Konstantinopel, um durch sie mit der Pforte zu verhandeln. Das erste Zugeständnis der Pforte an die Araber betraf die Sprachenfrage. Durch eine Zirkulardepesche vom 19. April 1913 wurden die Behörden der Wilajets Beirut, Syrien, Aleppo, Bagdad, Bassorah und Mossul sowie des Mütessarifats Jerusalem angewiesen, die arabische Sprache an vielen Stellen, wo bisher ausschliesslich das Türkische vorgeschrieben war, als amtliche Sprache zuzulassen. Diese Anordnung wurde Gesetz durch ein – am 22. August vom türkischen Staatsanzeiger „Takwim i Wekai“ (deutsch: Chronik der Ereignisse) veröffentlichtes – kaiserliches Iradeh vom 4. Ramasan 1331 (7. August 1913), das zugleich einige Reformen für alle Wilajets anordnete, nämlich die Auslieferung des für die lokale Wohltätigkeit bestimmten Wakufbesitzes an die neu eingeführten Verwaltungsausschüsse der mohammedanischen Gemeinden und das Zugeständnis an die Militärpflichtigen des ganzen Reiches, in ihrer Heimatregion zu dienen. Die arabisch-türkische Vereinbarung vom Sommer 1913 sieht ausser den Konzessionen in den Fragen des Wakuf, des Militärdienstes und der Sprache einige wichtige Neuerungen vor, die zunächst geheim gehalten wurden, vor allem das wichtige Zugeständnis, dass in Zukunft drei Mitglieder des osmanischen Kabinetts Araber sein sollen. Wie ernst die Araberfrage von den Jungtürken genommen wird, bewies im April 1913 eine Äusserung des führenden Organs „Tanin“, das geradezu erklärte, die Türken müssten im Notfall selbst Araber werden, um ein Schisma, das den Untergang der Türkei bedeuten würde, zu verhüten. Eine solche Sprache wäre früher, als die Jungtürken noch auf unbedingter Zentralisation bestanden und die verschiedenartigen Völker der Türkei zu einer einheitlichen osmanischen Nation zusammenschweissen zu können wähnten, ganz unmöglich gewesen.

Das neue Wilajetsgesetz, dessen Ausarbeitung das Kabinett vom 23. Januar 1913 in den ersten Wochen nach seinem Amtsantritt vorgenommen hatte, stellt einen glücklichen Ausgleich zwischen Zentralisation und Dezentralisation dar, in dem es den Wilajets grosse administrative Selbständigkeit gibt, ohne indessen die Zentralgewalt bedenklich zu schwächen. Es wird ergänzt durch ein weiteres Gesetz, das den Wilajets das Recht auf ein eigenes Budget verleiht. Andere Zusatzbestimmungen regeln verschiedene Detailfragen. Zur Durchführung dieses grossen Reformgesetzes beschloss der Ministerrat Anfang Mai 1913 die Einteilung der asiatischen Türkei in fünf Zonen. Die erste umfasst Beirut, Damaskus und Aleppo, die zweite Bagdad, Bassorah und Diarbekir, die dritte Ostanatolien, die vierte und fünfte die übrigen Provinzen in Kleinasien und an der Küste des Schwarzen Meeres. In jeder dieser Zonen soll die Ausführung des Wilajetsgesetzes durch eine dauernde Inspektionskommission mit ausländischen Beiräten überwacht werden.

Besondere Schwierigkeiten stellen sich der Durchführung ernster Reformen in den ostanatolischen Provinzen entgegen. Wir kommen damit zu der sehr komplizierten „armenischen Frage“, von der man in Europa vielfach eine grundfalsche Vorstellung hat. Man übersieht vor allem, dass diese Frage in erster Linie eine Geldfrage ist. Die Ländereien, die den Armeniern unter dem hamidischen Regime widerrechtlich weggenommen wurden, sind heute als rechtmässiges Eigentum ihrer neuen kurdischen Besitzer zu betrachten, denen die alte Regierung sie zur Belohnung für geleistete Dienste in aller Form übergeben hat. Es würde einen neuen, folgenschweren Rechtsbruch bedeuten, wenn die jetzige Regierung, wie ihr von naiven europäischen Beurteilern der [347] Lage gelegentlich geraten worden ist, die vom alten Régime, nicht etwa von den Kurden selbst geraubten Ländereien einfach den augenblicklichen Besitzern wegnehmen und den früheren armenischen Eigentümern zurückgeben wollte. Eine Rückgabe der Ländereien ist nur bei angemessener Entschädigung der jetzigen kurdischen Besitzer möglich. Wenn es der Regierung gelingt, die erforderlichen Geldmittel zur Lösung der Länderfrage flüssig zu machen, wird die Herstellung von Ruhe und Ordnung in den Ostprovinzen rasch erfolgen können. Man hat festgestellt, dass 90 Prozent aller Mordtaten in den armenisch-kurdischen Provinzen auf die Zwistigkeiten wegen der Ländereien zurückzuführen sind. Übrigens leiden, wie Mahmud Schewket Pascha am 12. Mai 1913 nach der Überreichung eines Memorandums des armenischen Patriarchats über „die unbeschreibliche Verzweiflung der Armenier“ öffentlich erklärte, unter der in Ostanatolien herrschenden Anarchie Armenier und Kurden in gleicher Weise. In Europa hört man infolge der von Paris aus betriebenen geschickten Propaganda fast nur von den „Armeniermorden“ sprechen. Man darf aber nicht übersehen, dass auch mancher Kurde als Opfer armenischer Mörder fällt. Davon pflegt in Europa kein Aufheben gemacht zu werden. Nicht einmal die Ermordung des Kurdenchefs Musa Bej in Gardschikan hat gebührende Beachtung gefunden. Während des Krieges haben die armenischen Soldaten sich, wie Mahmud Schewket Pascha in der erwähnten Erklärung hervorhob, recht gut geschlagen. Aber die Zahl der zum Feinde übergegangenen Armenier war bedauerlich gross, und in den von bulgarischen Truppen besetzten Teilen Thraziens, besonders in Adrianopel und Rodosto, haben viele Armenier in hochverräterischer Weise mit den Feinden der Türkei paktiert.

In wirtschaftlicher Hinsicht hat die Türkei den Krieg über Erwarten gut überstanden. Trotz der ausserordentlichen Anspannung der wirtschaftlichen und finanziellen Kräfte des Landes ist die vielfach gefürchtete Katastrophe nicht eingetreten. Natürlich ist die Finanznot, die sich bereits während des Tripoliskrieges fühlbar machte, durch den Balkankrieg stark gestiegen. Aber die erstaunliche Zähigkeit, mit der die Türkei sie ertragen hat, muss entschieden als günstiges Zukunftszeichen gelten. Auch sonst fehlt es nicht an Beweisen für eine im Kern ungebrochene Lebenskraft. Nach der vorübergehenden tiefen Niedergeschlagenheit an der Wende von 1912 und 1913 regt sich, besonders seit der Rückkehr der Jungtürken zur Regierung, überall im osmanischen Volk ein neuer frischer Geist. Wie wenig Stambul „tot“ ist, beweist die energisch betriebene Modernisierung der türkischen Hauptstadt, deren hervorragender Präfekt, Dr. Dschemil Pascha, nebenbei bemerkt ein vorzüglicher Arzt und Chirurg, in kurzer Frist mit geringen Mitteln Bedeutendes geleistet hat. Er hat damit im Kleinen bewiesen, wozu die Türken bei entsprechender rationeller Leitung fähig sind. Die erfreulichen Anfänge des neuen jungtürkischen Regimes berechtigen zu der Hoffnung, dass es imstande sein wird, die schlummernden Kräfte zur Neubelebung des Reichskörpers zu wecken.