Die Ueberfahrt oder der Tyrann

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Autor: Lukian von Samosata
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Titel: Die Ueberfahrt oder der Tyrann
Untertitel:
aus: Lucian’s Werke, übersetzt von August Friedrich Pauly, Viertes Bändchen, Seite 413–438
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 2. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1828
Verlag: J. B. Metzler
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: August Friedrich Pauly
Originaltitel: Κατάπλους ἢ Τύραννος
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
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[413]
Die Ueberfahrt oder der Tyrann.
Charon. Clotho. Merkur. Cyniskus. Megapenthes. Micyllus. Einige andere Todte. Tisiphone. Rhadamanthus. Das Bette und die Lampe des Megapenthes als Zeugen.

1. Charon. Genug hievon, Clotho. Du siehst ja selbst, mein Fahrzeug ist längst bereit und zur Ueberfahrt auf’s Beste zugerichtet: das Wasser ist ausgeschöpft, der Mast aufgezogen, das Segel aufgespannt, die Ruder hängen in ihren Riemen. Meinerseits also hindert Nichts, den Anker zu lichten und abzusegeln. – Aber Merkur verzieht so lange: er sollte schon längst da seyn. Mein Schiff ist, wie du siehst, noch immer leer, anstatt daß ich heute schon dreimal hätte fahren können: und nun kommt Feyerabend herbei, ohne daß wir einen einzigen Obolus eingenommen haben. Da wird mich Pluto, wie ich voraus weiß, wieder der Saumseligkeit beschuldigen, während doch ein Anderer den Aufenthalt verursacht hat. Unser vortrefflicher Seelenführer muß einmal wieder einen tüchtigen Zug aus der Lethe der Oberwelt [Wein] getrunken haben, daß er zu uns zurückzukehren vergessen hat. Wahrscheinlich boxt er sich jetzt in irgend einer Ringschule mit jungen Burschen herum, oder spielt die Cither, [414] oder hält rhetorische Vorträge und kramt seinen Schnickschnack aus. Oder halt – der Ehrenmann lauert vielleicht, um im Vorbeigehen Etwas mitspazieren zu lassen; denn das ist ja auch eine von seinen Fertigkeiten. In der That, er nimmt sich große Freiheiten gegen uns heraus, ungeachtet er zur Hälfte uns angehört.

2. Clotho. Wie, Charon? Kannst du denn wissen, ob er nicht sonst eine Abhaltung hat, ob nicht Jupiter seiner Dienste in oberweltlichen Angelegenheiten länger, als sonst, benöthigt ist? Denn der ist ja ebenfalls sein Herr.

Charon. Aber nicht um über einen gemeinschaftlichen Diener ungebührlich lange zu verfügen. Wir haben ihn ja auch noch nie aufgehalten, wenn er gehen mußte. Aber ich weiß sehr gut, was die Ursache ist. Bei uns gibt es Nichts als Asphodilen, etliche Libationen und Todtenopfer mit ein paar magern Kuchen; alles Uebrige ist Nebel und einförmig Finsterniß. Im Himmel dagegen ist es hell und lustig: da gibt es Ambrosia die Fülle, und Nectar, so viel man wünschen mag. Kein Wunder also, wenn er seinen Aufenthalt dort zu verlängern sucht, und von uns davon flattert, wie Einer, der aus einem Kerker entkommt, dann aber, wann es Zeit ist, wieder herabzukommen, sich so bedächtlich in Bewegung setzt, daß viel dazu gehört, bis man ihn zu Gesicht bekommt.

3. Clotho. Ereifere dich nicht länger, Charon. Siehst du, da ist er ja schon mit einer Menge Todter, die er wie eine dicht gedrängte Ziegenheerde mit dem Stabe vor sich hertreibt. Aber was sehe ich? Einer von ihnen ist ja gebunden, ein Anderer lacht aus vollem Halse, und ein Dritter hat einen [415] Ranzen über den Schultern hängen, einen Knittel in der Faust, sieht grimmig drein, und treibt die Uebrigen zum Vorwärtsgehen an. Und siehst du, wie Merkur von Schweiß trieft, wie bestäubt er ist, wie er keucht! – Was hast du, Merkur? warum so in der Hitze? du bist ja ganz ausser dir!

Merkur. Was ich habe? Diesem verfluchten Ausreißer da mußte ich nachlaufen, und hätte darüber beinahe versäumt, mich heute noch zur Ueberfahrt einzufinden.

Clotho. Wer ist er denn, und warum wollte er dir denn durchgehen?

Merkur. Weil er lieber lebendig geblieben wäre, versteht sich. Er war ein König oder Fürst, so viel ich aus seinem Geheul und Wehklagen über das große Glück schließe, aus dem er gerissen worden sey.

Clotho. Wie? also der Narr wollte entlaufen, und meinte fortleben zu können, ungeachtet der ihm zugesponnene Faden zu Ende ist?

4. Merkur. Er wollte entlaufen, sagst du? Glaube mir, hätte mir der wackere Geselle mit dem Knittel da nicht beigestanden, ihn einzuholen und zu binden, er wäre jetzt über alle Berge. Kaum hatte ich ihn von der Atropos übernommen, so fieng meine liebe Noth mit ihm an. Er wehrte und sträubte sich, stemmte beide Füße gegen die Erde, und war nicht von der Stelle zu bringen. Bisweilen legte er sich auf’s Bitten, versprach reichliche Geschenke, und flehte kläglich, nur auf wenige Augenblicke ihn freizulassen. Natürlicherweise ließ ich ihn nicht los, weil er das Unmögliche verlangte. Wie wir aber an den Eingang gekommen waren, und ich beschäftigt war, dem Aeacus meine Todten, wie gewöhnlich, [416] vorzuzählen, und Dieser sie mit der von deiner Schwester erhaltenen Rechnung verglich, ersieht der vermaledeite Schurke diese Gelegenheit, sich heimlich davon zu machen. Wie nun bei’m Zusammenrechnen Einer fehlte, runzelte Aeacus die Stirne und ließ mich an: „Höre, Merkur, laß dir nicht beigehen, dein Diebstalent überall in Ausübung bringen zu wollen. Begnüge dich damit, diese Späße oben im Himmel zu machen. Hier bei den Todten nimmt man es genau: wir lassen uns nicht hintergehen. Du siehst, hier in der Rechnung stehen Tausend und Vier: du bringst mir aber Einen weniger. Du wirst nicht sagen wollen, daß Atropos dir Einen unterschlagen habe.“ Dieser Vorwurf beschämte mich. Auf einmal fällt mir ein, was unterwegs vorgefallen war: ich sehe mich um, und – weg ist mein Widerspenstiger. Er war entsprungen, das war mir klar: ich eilte also, so schnell ich konnte, zurück und ihm nach, und der brave Bursche da folgte mir freiwillig. Ungeachtet wir aber liefen wie Rennpferde, holten wir ihn doch erst bei Tänarus ein; so wenig hätte gefehlt, daß er uns entkommen wäre.

5. Clotho. In der That, Charon, wir beschuldigten Merkur bereits der Nachlässigkeit.

Charon. Nun, was verziehen wir noch länger, als ob wir nicht schon lange genug aufgehalten worden wären?

Clotho. Du hast Recht. Sie sollen einsteigen. Ich will das Verzeichniß zur Hand nehmen, und mich damit neben die Schiffsleiter setzen, um bei jedem Einzelnen, so wie er einsteigt, die gewöhnlichen Fragen zu stellen, Wer und woher er ist, und auf welche Art er starb? – Stelle sie nach [417] ihren Classen zusammen, Merkur. Die Neugebornen da wirf zuerst hinein: denn was könnten Die mir antworten?

Merkur. Siehe Fährmann: hier ist die volle Zahl, ihrer Dreihundert, sammt den Ausgesetzten.

Charon. Zum Henker, ein sauberer Fang! Du bringst uns viel unreife Waare dießmal, Merkur![1]

Merkur. Soll ich nun auch gleich die Unbeweinten einschiffen, Clotho?

Clotho. Die Alten meinst du? Thue es. Was sollte ich mich lange damit abgeben, sie nach Dingen zu fragen, woran jetzt nichts mehr liegt? Herbei also, ihr Alle, die ihr sechzig Jahre und drüber habt! Was ist das? Sie hören mich nicht; so sehr haben die Jahre ihr Gehör abgestumpft? Man wird sie wohl auch aufladen und in’s Schiff tragen müssen?

Merkur. Hier sind sie, an der Zahl dreihundert und acht und neunzig. Nicht wahr, Charon, die sind doch wohl gehörig reif, und nicht vor der Zeit abgelesen worden?

Charon. Nein wahrlich, sie sind runzlicht, wie Rosinen.[2]

6. Clotho. Führe nun die an Wunden Gestorbenen heran, Merkur! – Sagt an, wie und wo habt ihr das Leben gelassen? Doch ich will selbst nach meinem Verzeichniß euch Alle die Musterung passiren lassen. Gestern müssen in Medien in einem Treffen gefallen seyn vier und achtzig Mann, und unter ihnen Gobares, Oxyartes Sohn.

[418] Merkur. Hier sind sie.

Clotho. Verliebte haben sich um’s Leben gebracht sieben, darunter der Philosoph Theagenes wegen einer H… aus Megara.

Merkur. Da stehen sie.

Clotho. Wo sind Die, welche einander wegen eines Thrones umgebracht haben?

Merkur. Hier.

Clotho. Einer ward von seinem Weibe und deren Buhlen hiehergeschickt.

Merkur. Da ist er.

Clotho. Nun bringe die von den Gerichten Verurtheilten herbei, die zu Tode Geprügelten, die Geköpften, die Gespießten und Gekreuzigten. – Von Straßenräubern wurden ermordet sechzehn: wo sind sie, Merkur?

Merkur. Diese hier mit den Wunden sind’s. Willst du, daß ich nun auch die Weiber zusammen herführe?

Clotho. Allerdings; auch die Schiffbrüchigen nimm zusammen, denn sie sind ja Alle zugleich und auf die gleiche Weise gestorben: eben so die vom Fieber Hingerafften sammt ihrem Arzte Agathokles.

7. Wo ist aber Cyniskus, der Philosoph, der sterben mußte, weil er ein Hecate-Mahl, mehrere Reinigungseyer, und dazu einen rohen Meerwurm auf einmal zu sich genommen hatte?[3]

Cyniskus. Hier stehe ich schon lange, beste Clotho. Was hatte ich verschuldet, daß du mich so lange auf der [419] Oberwelt ließest? Fast deine ganze Spindel hast du nur mit meinem Faden voll gesponnen. Zwar versuchte ich mehr als einmal, das Gespinnst zu zerreißen, um hieher zu kommen; aber es hielt unbegreiflich fest.

Clotho. Ich ließ dich oben, damit du ein Beobachter und Arzt der menschlichen Verkehrtheiten wärest. Nun aber sey willkommen, und steige ein!

Cyniskus. Nicht eher, als bis wir diesen Gefangenen eingeschifft haben: ich fürchte, es möchte ihm gelingen, sich von dir loszubetteln.

8. Clotho. Wer ist er denn?

Merkur. Der Tyrann Megapenthes, der Sohn des Lacydas.

Clotho. Steig’ ein du!

Megapenthes. Ach nein! mächtige Clotho. Laß mich nur auf eine kleine Weile wieder zurück; ich werde mich dir freiwillig und ungerufen wieder stellen.

Clotho. Was treibt dich denn, wieder umkehren zu wollen?

Megapenthes. Erlaube mir, mein Haus vollends auszubauen! Ich mußte es halbvollendet zurücklassen.

Clotho. Du bist ein Narr. Eingestiegen!

Megapenthes. Ich bitte um keine lange Zeit, o Parze! Nur einen einzigen Tag gewähre mir, oben zu bleiben, bis ich meiner Gattin wegen unseres Geldes meinen Willen gesagt und ihr angezeigt habe, wo mein großer Schatz vergraben liegt.

Clotho. Du wirst nicht entlassen, sage ich dir, und dabei bleibt es.

[420] Megapenthes. Die ganze schwere Menge Goldes also soll verloren gehen?

Clotho. Verloren gehen? Laß dich Das nicht anfechten. Dein Vetter Megakles kommt in den Besitz desselben.

Megapenthes. Ha, welche Schmach! Mein Todfeind also, den ich aus thörichter Sorglosigkeit nicht aus dem Wege räumte?

Clotho. Derselbe: nun wird er dich um mehr als vierzig Jahre überleben, und sich deine Beischläferinnen, deine Prachtgewänder und all dein Gold zueignen.

Megapenthes. Das ist sehr ungerecht von dir, Clotho, daß du das Meinige meinem ärgsten Feinde zutheilst.

Clotho. Wie, du feiner Geselle? Haben nicht diese Dinge alle früher dem Cydimachus gehört, und hast du dich nicht dadurch in den Besitz derselben gesetzt, daß du ihn ermordetest und seine Kinder vor den Augen ihres sterbenden Vaters abschlachtetest?

Megapenthes. Aber nun waren sie einmal mein.

Clotho. Und jetzt ist die Frist deines Besitzes abgelaufen.

9. Megapenthes. Höre, Clotho, ich habe dir Etwas in der Stille zu sagen, das Niemand hören darf. Geht ein wenig bei Seite, ihr Andern. Wenn du mich entwischen lässest, sollst du heute noch tausend Talente gemünzten Goldes haben, hörst du?

Clotho. O Gimpel, hast du noch immer Goldmünzen und Talente im Kopfe?

Megapenthes. Wenn du willst, so werde ich noch die zwei großen Pocale hinzuthun, welche ich durch die Ermordung [421] des Cleocritus an mich gebracht habe. Jeder derselben wiegt hundert Talente reinen Goldes.

Clotho. Schleppt ihn in’s Schiff! Es scheint nicht, als ob er gutwillig gehen werde.

Megapenthes. Ich leide Gewalt, ihr seyd Zeugen! Die Mauern und das Seezeughaus bleiben nun unvollendet, die ich fertig gebracht hätte, wäre ich nur noch fünf Tage am Leben geblieben.

Clotho. Sey darüber ohne Sorgen: ein Anderer wird sie ausbauen.

Megapenthes. Aber die Forderung ist doch gewiß billig…

Clotho. Nun welche?

Megapenthes. Mich nur so lange leben zu lassen, bis ich die Pisidier bezwungen, den Lydiern Abgaben auferlegt, mir selbst aber ein großes und prächtiges Denkmal errichtet und dasselbe mit einer Aufschrift, eine Beschreibung aller meiner großen Thaten und kriegerischen Unternehmungen enthaltend, versehen haben werde.

Clotho. Mensch, nun forderst du ja mehr als einen Tag, du forderst wenigstens zwanzig Jahre!

10. Megapenthes. Ich bin erbötig, euch Bürgen für meine schleunige Rückkunft zu stellen. Ihr sollt, wenn ihr wollt, meinen einzigen Sohn einstweilen als meinen Stellvertreter haben.

Clotho. Verruchter Schurke, deinen Sohn, wegen dessen du die Götter so oft anflehtest, daß er dich überleben möchte?

[422] Megapenthes. Je nun, das that ich wohl früher. Allein jetzt bin ich klüger.

Clotho. Dein Sohn wird dir bald hieher folgen: der neue Herrscher wird ihn aus der Welt schicken.

11. Megapenthes. So versage mir wenigstens dieses Einzige nicht, o Parze!

Clotho. Nun was denn?

Megapenthes. Ich möchte nur sehen, wie es nach meinem Tode in meinem Hause gehen wird.

Clotho. Das will ich dir sagen. Es wird deinen Verdruß nur vermehren. Dein ehemaliger Sclave Midas heirathet deine Gemahlin, welche schon längst mit demselben im Ehebruch lebte.

Megapenthes. Wie, der verfluchte Bube, welchem ich auf ihre Bitte die Freiheit schenkte?

Clotho. Deine Tochter wird unter die Beischläferinnen des jetzigen Tyrannen gesteckt; die Standbilder und Ehrensäulen, welche dir die Stadt ehemals setzen ließ, werden unter großem Gelächter der Zuschauer sämmtlich umgeworfen werden.

Megapenthes. Sage mir aber, wird sich von meinen Freunden Keiner diesem Verfahren mit dem tiefsten Unwillen widersetzen?

Clotho. Wer war denn je dein Freund? Wie hätte es je Einer werden können? Weißt du denn nicht, daß alle Jene, die vor dir krochen, die jedes deiner Worte und jede deiner Handlungen an den Himmel erhoben, dieß Alles nur aus Furcht oder Hoffnung thaten, und, indem sie dem Augenblicke [423] fröhnten, nur Freunde deiner Herrschaft, nicht deiner Person waren?

Megapenthes. Und gleichwohl, wie oft brachten sie an meiner Tafel Libationen für mein Wohl dar, und wünschten mir mit lauter Stimme alles Gute! Wie oft erklärte sich Jeder von ihnen zu sterben bereit, wenn er mein Lebten damit erkaufen könnte! Kurz ich war ihr Ein und Alles, der Genius, bei dem sie schworen.

Clotho. Und wisse: Einer von Diesen, bei welchen du gestern speistest, ist dein Mörder; der letzte Becher, den man dir reichte, hat dich hieher befördert.

Megapenthes. Das war’s also, warum er so besonders bitterlich schmeckte? Was trieb denn Jenen zu dieser That?

Clotho. Du machst zu viele Fragen; du solltest längst im Schiffe seyn.

12. Megapenthes. Eins ist’s eigentlich, Clotho, was mich am meisten drückt, und weswegen ich so sehnlich wünsche, nur auf einige Augenblicke in’s Leben zurückzukehren.

Clotho. Nun das muß was Wichtiges seyn: sag’ an.

Megapenthes. Ich hatte einen Sclaven, mit Namen Carion, der, wie ich vermuthe, mit Glycerion, einem jungen Mädchen aus meinem Gehege, seit längerer Zeit Bekanntschaft hatte. Dieser hatte kaum gehört, daß ich todt sey, als er sich Abends spät in das Gemach schlich, wo man mich – ohne mir eine Wache beizugeben – hingelegt hatte. Diese Gelegenheit machte sich Carion zu Nutzen, verschloß die Thüre, und that mit Glycerion so schamlos vertraut, als [424] ob sie ganz ohne Zeugen wären. Wie der Bursche seine Lust befriediget hatte, warf er einen Blick auf mich und indem er sagte: „Sieh’, scheuslicher Kerl, das ist für die vielen Schläge, die ich unschuldig von dir erhalten habe,“ zupfte er mich an dem Barte, gab mir Ohrfeigen, räusperte sich dann, so breit er konnte, spuckte mir in’s Gesicht und lief mit den Worten davon: „Fahre zur Hölle, Verfluchter!“ Es kochte in mir; und doch, starr und abgestorben, wie ich war, konnte ich nichts machen. Aber die verfluchte Dirne, wie sie Leute kommen hörte, befeuchtete ihre Augen mit Speichel, als ob sie über meiner Leiche geweint hätte, rief mich bei Namen und entfernte sich heulend. Wenn ich diese Beiden kriegen könnte – –

13. Clotho. Laß dein Drohen. Steige ein, denn es ist Zeit, daß du vor Gericht erscheinest.

Megapenthes. Wie? vor Gericht? Wer wird es wagen, über einen Alleinherrscher zu Gerichte zu sitzen?

Clotho. Ueber den Alleinherrscher freilich Niemand, aber über den Todten, Rhadamanthus, der Gerechte, welcher, wie du nun bald sehen wirst, Jedem nach Verdienst sein Urtheil spricht. Jetzt, ohne weitere Umstände voran!

Megapenthes. O Parze! Mache mich vom Könige zum gemeinsten Manne, mache mich zum Bettler, zum Sclaven, nur laß mich wieder in’s Leben zurück!

Clotho. Wo ist der mit dem Knittel? Heda, Merkur! ziehet ihn an den Füßen hinein: freiwillig geht er nicht.

Merkur. Willst du folgen, Ausreißer? Marsch! Hier, Fährmann, nehme ihn in Empfang. Aber verwahre ihn –

[425] Charon. Hat gute Wege, er wird an den Mast gebunden. –

Megapenthes. Mir gebührt der erste Sitz.

Clotho. Und warum?

Megapenthes. Zum Jupiter, weil ich Fürst war und zehentausend Mann Leibwache hatte.

Clotho. Und Carion hätte nicht Recht gehabt, einen so dummstolzen Gesellen, wie du bist, am Barte zu zausen? Wart – die Lust soll dir versalzen werden, den Tyrannen zu spielen. Gebt ihm den Knittel zu kosten!

Megapenthes. Wird Cyniskus sich unterstehen, den Stock gegen mich aufzuheben? Weißt du nicht mehr, wie wenig neulich fehlte, daß ich dich wegen der frechen und groben Ausfälle, die du dir gegen mich erlaubtest, an’s Kreuz nageln ließ?

Cyniskus. Dafür wirst jetzt du an den Mast genagelt werden.

14. Micyllus. Sage doch, Clotho, werde ich denn von Euch für gar Nichts gerechnet? Kommt etwa deswegen, weil ich bettelarm bin, die Reihe des Einsteigens zuletzt an mich?

Clotho. Wer bist du?

Micyllus. Der Schuhflicker Micyll.

Clotho. Grämst du dich denn über diesen Vorzug? Hörtest du nicht, was mir dieser Tyrann Alles geben wollte, wenn er nur auf eine kurze Zeit losgelassen würde? Ich müßte mich sehr wundern, wenn nicht auch dir nicht jeder Augenblick Verzögerung erwünscht wäre.

[426] Micyllus. Höre, beste der Parzen! Die Gnade, welche der Cyclop dem Ulysses versprach, daß er ihn zuletzt auffressen wolle,[4] dünkt mich eine klägliche Vergünstigung: die Zähne sind dieselben, man werde zuerst oder zuletzt von ihnen zerfleischt. Nun aber befinde ich mich in einem ganz andern Falle, als die Reichen. Ihr Leben und mein Leben stehen im geradesten Gegensatze zu einander. Wenn ein Fürst, der auf der Welt für glücklich galt, in höchstem Ansehen stand und allgemein gefürchtet wurde, wenn Dieser sein vieles Gold und Silber, seine Prachtgewänder, seine Pferde, seine kostbare Tafel, seine blühenden Knaben und reizenden Weiber zurücklassen soll, ist es ein Wunder, wenn er jammert, und von seinen Herrlichkeiten nur mit Schmerzen sich losreißt? Seine Seele hängt an diesen Dingen, wie der Vogel an der Leimruthe; ja es ist, als ob sie lange schon mit ihnen verwachsen, als ob ein unzerreißliches Band wäre, das sie fesselt. Wird nun ein Solcher mit Gewalt davon geführt, so wehklagt und fleht er, und zeigt sich bei’m Anblick des Weges in die Unterwelt eben so zaghaft, als er sonst brutal gewesen war. Immer wendet er sich um, und möchte, was er auf der Welt zurückließ, wie unglücklich Liebende den Gegenstand ihrer Sehnsucht, wenn auch nur aus der Ferne erblicken. Gerade so machte es auch dieser Narr da, der unterweges sogar ausreißen, und hier mit Bitten dich erweichen wollte.

15. Ich hingegen, der ich auf Erden kein Pfand meiner Anhänglichkeit, keine Aecker, kein eigen Haus, kein Gold, [427] keine Geräthschaften, keine Ehrenstelle und keine Ahnenbilder zurücklasse, ich war gleich reisefertig. Auf den ersten Wink, den mir Atropos gegeben – ich hatte gerade einen Pantoffel in der Arbeit – warf ich mit Freuden meinen Schusterkneif und meine Lederflecke aus den Händen, sprang auf, barfuß wie ich war; und ohne mich nur von der Schwärze zu reinigen, folgte ich oder lief vielmehr Allen voran mit stets vorwärts gerichteten Blicken. Denn hinter mir lag Nichts mehr, was mich zurückgerufen oder mich umzusehen gereizt hätte. Und, bei’m Jupiter, es ist wirklich ganz hübsch bei euch. Die allgemeine Gleichheit, die hier herrscht, und daß Keiner vor seinem Nachbar Etwas voraus hat, däucht mich eine gar zu schöne Sache. Vermuthlich wird man hier auch vor seinen Gläubigern Ruhe haben, und frei von allen Steuern und Auflagen seyn. Und, was mir das Liebste ist, ich werde nicht mehr des Winters frieren, nicht mehr krank seyn, von keinem vornehmen Grobian mehr Mißhandlungen erdulden müssen. Hier ist allenthalben Friede, und die Verhältnisse haben sich umgekehrt; wir armen Schlucker lachen, und die Reichen jammern und heulen.

16. Clotho. Vorhin schon bemerke ich, daß du lachtest, Micyll. Was war es denn, was dir so lustig vorkam?

Micyllus. Das will ich dir sagen, ehrwürdigste Göttin! Ich wohnte auf der Oberwelt in der Nähe dieses Tyrannen, und konnte also Alles, was bei ihm vorging, genau beobachten. Damals glaubte ich einen Gott in ihm zu erblicken. Wenn ich ihn nun so in seinem Purpur prangen, und umgeben sah von einer Schaar dienstfertiger Höflinge, wenn ich sein Gold, seine mit Edelsteinen besetzten Trinkgefäße, [428] seine auf silbernen Fußgestellen liegenden Ruhepolster betrachtete, so pries ich ihn wahrhaft glücklich. Und vollends der köstliche Dampf der Speisen, die für seine Tafel zubereitet wurden, der mir gewaltig in die Nase stach – Alles dieß ließ mich in ihm ein dreimal seliges Wesen erblicken, das an Herrlichkeit und Größe wenigstens eine große Elle über den Sterblichen emporragte. Und wie stolz fühlte er sich in seinem Glück, wie majestätisch war sein Gang, wie vornehm die Haltung seines Kopfes, und sein Blick wie furchtbar für Alle, die sich ihm nahten! Und nun, da er tobt und aller seiner Herrlichkeit entkleidet ist, muß ich lachen, so oft ich ihn ansehe; doch noch mehr über mich selbst, daß ich einfältig genug war, ein Scheusal, wie dieses, anzustaunen, von seinem Küchendampf auf seine Glückseligkeit zu schließen, und wegen des Blutes lakonischer Meerschnecken ihn selig zu preisen.

17. Als ich aber vorhin auch noch den reichen Wechsler Gniphon sah, wie er seufzte, und es bitter bereute, sein Geld nicht genossen, sondern das ganze große Vermögen unberührt dem lüderlichen Rhodochares, seinem nächsten Anverwandten und gesetzlichen Haupterben, hinterlassen zu haben, da konnte ich nicht satt werden, ihn auszulachen, um so mehr, da ich mich gar zu wohl erinnerte, wie blaß und schmutzig der Mensch immer aussah, wie das beständige Sorgen und Trachten seine Stirne gefurcht hatte, wie er nur dann seines Reichthums froh war, wann er seine Finger in Thätigkeit setzte, Talente und Zehntausende [von Drachmen] zu zählen; kurz welche unsägliche Mühe er sich gab, bei Hellern und Pfennigen ein Vermögen zusammenzukratzen, [429] das nun der lustige Rhodochares in Kurzem summenweise durchbringen wird. – Aber warum halten wir uns auf? Ihr Ach und Weh anzuhören wird uns auch auf der Ueberfahrt noch Spaß genug machen.

Clotho. Steig’ ein, damit der Fährmann die Anker lichten kann.

18. Charon. He du, was willst du da? Das Schiff ist bereits voll. Du mußt bis Morgen warten: dann sollst du in aller Frühe übergesetzt werden.

Micyllus. Ist das auch Recht, Charon, Einen, der gestern gestorben ist, zurückzulassen? Warte, ich werde dich bei Rhadamanthus wegen gesetzwidrigen Benehmens verklagen. – O wehe, sie fahren ab, und ich muß nun ganz allein hier bleiben! Aber halt, ich schwimme ihnen nach. Ich bin ja schon einmal todt: was sollte ich mich vor dem Ertrinken fürchten? ich habe ohnehin keinen Obolus, um das Fährgeld zu bezahlen.

Clotho. Was soll das, Micyll? So warte doch! Es geht durchaus nicht an, daß du so herüber kommst.

Micyllus. Und doch komme ich vielleicht noch vor euch an’s Land.

Clotho. Nein, du darfst nicht! Wir fahren dir entgegen und nehmen dich auf. – Merkur, ziehe ihn herein!

19. Charon. Wo soll er sich denn niedersetzen? Du siehst ja, daß Alles voll ist.

Merkur. Er soll dem Tyrannen auf die Schultern hocken, nicht wahr?

Clotho. Ein vortrefflicher Gedanke, Merkur. – So [430] komm denn, und tritt dem Schuft auf den Nacken. – Nun fort in Gottes Namen!

Cyniskus. Höre Charon, ich will dir nur gleich die Wahrheit sagen. Ich bin nicht im Stande, dir für die Ueberfahrt einen Obolus zu bezahlen, indem ich außer dem Ränzel da und meinem Stocke lediglich Nichts besitze. Wenn du aber willst, so biete ich meine Dienste bei’m Wasserausschöpfen und Rudern an. Gieb mir nur ein brauchbares und starkes Ruder, so sollst du dich nicht über mich zu beklagen haben.

Charon. Ich bin’s zufrieden: so rudre denn.

Cyniskus. Soll ich nicht auch ein Ruderliedchen singen?

Charon. O ja, wenn du eines weißt, das zum Takte paßt.

Cyniskus. Ich weiß deren mehrere. – Aber hörst du, wie Die dort durcheinander heulen? – Diese harmonische Begleitung würde unsern Gesang nur verderben.

20. Ein Reicher. Ach! meine Schätze!

Ein Zweiter. O! meine Felder!

Ein Dritter. Hu, hu, hu, das prächtige Haus, das ich zurücklassen mußte!

Ein Vierter. Ach! wie wird mein Erbe die vielen Talente verthun, die er von mir bekommt!

Ein Fünfter. O weh, o weh! meine kleinen Kinder!

Ein Sechster. Ach, Wer wird nun von dem Weinberge ernten, welchen ich im vorigen Jahre angelegt habe?

Merkur. Wie, Micyll, hast du denn allein nichts zu [431] jammern? Es ist nicht erlaubt, daß Einer, ohne zu weinen, herüber schiffe.

Micyllus. Laß mich, Merkur: ich wüßte wahrlich nicht, warum ich jammern sollte. Die Fahrt geht ja so herrlich von statten.

Merkur. So seufze doch wenigstens ein bischen: es ist ja nur des Brauches wegen.

Micyllus. Weil du es so haben willst. Merkur, so will ich denn auch eine Weheklage erheben. „Ach! Ach! wenn ich nur meine Leberflecke wieder hätte! O meine alten Pantoffeln! Hu, hu, hu, meine abgetragenen Schuhe! O ich Unglücklicher: so soll ich also nicht mehr vom Morgen bis in den späten Abend ungegessen bleiben, soll des Winters nicht mehr barfuß und halbnackt umherlaufen, nicht mehr frieren, daß mir die Zähne klappern! Ach! Wer wird meinen Kneif, Wer meinen Pfriem erhalten!“ – Ist’s recht so? – Aber siehe, wir sind schon ganz nahe am Ufer.

21. Charon. He! vorerst muß das Fährgeld bezahlt werden! – Nun ist die Reihe auch an dir: ich habe es bereits von Allen. Hörst du, Micyll, meinen Obolus!

Micyllus. Du spaßest, Charon; das hieße leeres Stroh dreschen, von Micyll einen Obolus eintreiben wollen. Kurz und gut, ich weiß nicht, ob ein Obolus rund oder viereckigt ist.

Charon. Schön! Das nenne ich einmal eine einträgliche Fahrt! Nun so steigt aus, damit ich die Pferde, Ochsen, Hunde und übrigen Thiere holen kann: denn die müssen heute auch noch herüber.

[432] Clotho. Nehme sie in Empfang, Merkur! Ich fahre auf das jenseitige Ufer zurück, um zwei Seren, Indopates und Heramithres, herüber zu bringen, die einander in Gränzstreitigkeiten umgebracht haben. –

Merkur. Vorwärts ihr Leute! oder vielmehr, folgt mir Alle der Reihe nach.

22. Micyllus. Herkules, wie finster! Nun zeige mir Einer den schönen Megyllus, oder entscheide hier, ob Symmiche oder Phryne schöner ist. Alles ist ja gleich und einfarbig, und kein Unterschied zwischen schön und häßlich. Selbst der abgeschabene grobe Kittel da, der sonst eine so erbärmliche Figur machte, gilt jetzt so viel als jenes Königes Purpurgewand. In einer und derselben Finsterniß begraben ist Dieses so unscheinbar als Jenes. He, Cyniskus, wo bist denn du?

Cyniskus. Hier, Micyll. Gehen wir zusammen?

Micyllus. Schön, aber reiche mir die Hand. Hör’ einmal – du hast doch wohl die Weihe, Cyniskus? – findest du nicht, daß es hier gerade so ist wie in den Eleusinien?

Cyniskus. Du hast Recht: da kommt uns wirklich eine Fackelträgerin entgegen. Aber wie fürchterlich und drohend sie blickt: gewiß ist sie eine der Furien.

Micyllus. So scheint es, nach ihrem Aufzuge zu schließen.

23. Merkur. Hier übergebe ich dir tausend und vier Todte, Tisiphone.

Tisiphone. Rhadamanth erwartet euch schon lange.–

[433] Rhadamanthus. Führe sie herbei, Tisiphone; und du, Merkur, nenne sie einzeln und rufe sie vor.

Cyniskus. O Rhadamanthus, bei Jupitern, deinem Vater, bitte ich dich, laß mich zuerst rufen, beginne mit mir dein Verhör!

Rhadamanthus. Warum das?

Cyniskus. Ich bin entschlossen, diesen Tyrannen vieler Uebelthaten wegen anzuklagen, die er in seinem Leben begangen und die mir wohl bekannt sind. Allein man würde meiner Aussage wenig Glauben beimessen, wenn nicht zuvor am Tage wäre, Wer ich bin, und wie ich selbst gelebt habe.

Rhadamanthus. Nun Wer bist du also?

Cyniskus. Ich heiße Cyniskus, und bin, meinen Grundsätzen nach, ein Philosoph.

Rhadamanthus. Tritt herbei; du sollst der Erste seyn, den ich richte. Merkur, lade die Ankläger des Cyniskus vor.

24. Merkur. Wofern Einer wider gegenwärtigen Cyniskus eine Klage anzubringen hat, der komme herbei.

Cyniskus. Es meldet sich Niemand.

Rhadamanthus. Ich bin damit noch nicht zufrieden: du mußt dich nun auch noch entkleiden, damit ich deine Malzeichen untersuchen kann.

Cyniskus. Wie? du meinst, ich wäre irgendwo gebrandmarkt?

Rhadamanthus. Jede Uebelthat, die ein Sterblicher in seinem Leben begangen, läßt auf seiner Seele ein gewisses, kaum merkliches, Brandmal zurück.

[434] Cyniskus. Hier stehe ich unbekleidet: suche nun die Male, von denen du sagst.

Rhadamanthus. Du bist wahrhaftig ganz rein, außer drei oder vier verblichenen, fast unsichtbaren Flecken. Doch was ist das? Hier sehe ich Spuren und Merkzeichen von vielen ehemaligen Brandnarben: aber sie sind auf eine ganz eigene Weise ausgetilgt, oder vielmehr ausgeschabt. Wie ging das zu, Cyniskus? wie bist du erst später wieder so rein geworden?

Cyniskus. Das will ich dir sagen. Ich war anfänglich ein schlechter Mensch aus Mangel an Erziehung und Bildung: dieß trug mir solche Brandflecken in Menge ein. Sobald ich aber begonnen hatte, dem Studium der Weisheit mich hinzugeben, wusch ich allmählig alle jene Mahlzeichen von meiner Seele ab.

Rhadamanthus. In der That, da hast du ein sehr gutes und wirksames Mittel gefunden. Nun wandre nach den Inseln der Seligen, und erfreue dich des Umgangs mit den Edelsten der Menschen. Zuvor aber bringe deine Klage gegen den Tyrannen an; wovon du vorhin sprachst. – Rufe inzwischen Andere herbei, Merkur.

25. Micyllus. Mit mir wirst du bald fertig seyn, Rhadamanth; da bedarf’s keines langen Untersuchens. Hier stehe ich schon lange nackt, sieh mich an.

Rhadamanthus. Wer bist du denn?

Micyllus. Der Schuhflicker Micyll.

Rhadamanthus. Schön, Micyll, auch du bist ganz rein und ungezeichnet: du kannst desselben Weges, wie Cyniskus, gehen. – Rufe nun den Tyrannen.

[435] Merkur. Megapenthes, Lacydes Sohn, soll erscheinen. He du, wohin? Hieher! Dich meine ich, Tyrann! Tisiphone, stoße ihn mit Gewalt vorwärts, und zwing’ ihn, sich zu stellen.

Rhadamanthus. Nun, Cyniskus, bringe deine Klagen nebst Beweisen gegen den hier stehenden Mann vor.

26. Cyniskus. Zwar bedürfte es keiner förmlichen Anklage, da schon seine Mahlzeiten dir im Augenblicke verrathen werden, was für einen Menschen du vor dir hast. Um ihn jedoch noch vollständiger zu entlarven, will ich dir seine Schändlichkeiten der Reihe nach offenbaren. Ich übergehe, was dieser Abscheuliche Alles während seines Privatstandes verübt hat. Aber nachdem er eine Bande der gottsvergessensten Verbrecher sich zugesellt, mit einer Leibwache sich umgeben, und sich zum Zwingherrn des Freistaates aufgeworfen hatte, ließ er mehr als zehntausend Menschen ohne Urtheil und Recht umbringen, und riß ihr sämmtliches Eigenthum an sich. Sobald er sich dadurch in den Besitz eines unermeßlichen Reichthums gesetzt sah, gab es keine Art zügelloser Ausschweifung, die er sich nicht erlaubte. Mit der rohesten Grausamkeit, mit dem empörendsten Uebermuthe behandelte er die beklagenswürdigen Bürger, entehrte ihre Töchter, und schändete ihre Knaben; kurz er ließ den wilden Rausch seiner Leidenschaften auf alle Weise an seinen Unterthanen aus. Und ich glaube nicht, daß es möglich ist, ihn nach Verdienst für den wegwerfenden Hochmuth zu züchtigen, mit welchem er Jeden anfuhr, der in seine Nähe kam. Es ist weniger gefährlich, in die Sonne zu schauen, als es war, ihm mit festem Blicke in’s Gesicht zu sehen. Wer wäre endlich [436] im Stande, die mannigfaltigen Arten von Martern zu schildern, welche seine erfinderische Grausamkeit ersann, und mit welchen er auch seine nächsten Freunde und Verwandte nicht verschonte? Daß diese meine Angaben keine grundlosen Verläumdungen sind, davon kannst du dich sogleich überzeugen, wenn du die Schatten der von ihm Gemordeten herbeirufen willst. Doch da sind sie ja schon, ungerufen, wie du siehst; sie drängen sich um ihn her und wollen ihn bei der Kehle fassen. Siehe, Rhadamanthus, diese Alle verloren ihr Leben durch den Bösewicht. Die Einen wurden in der Stille aus der Welt geschafft, weil sie schöne Weiber hatten, die Andern mußten sterben, weil sie über die Entehrung ihrer Kinder ihren Unwillen laut werden ließen, wieder Andere, weil sie reich waren, und endlich Viele, weil sie Männer von Geschick, Einsicht und Rechtschaffenheit waren, die eine solche Regierung verabscheuten.

27. Rhadamanthus. Was sagst du dazu, Verruchter?

Megapenthes. Die Mordthaten und Hinrichtungen läugne ich nicht: aber alles Uebrige, daß ich Gattinnen verführt, Jünglinge entehrt, Jungfrauen geschändet hätte, das Alles hat Cyniskus über mich gelogen.

Cyniskus. Auch dafür werde ich Zeugen beibringen, Rhadamanth.

Rhadamanthus. Welche denn?

Cyniskus. Rufe mir seine Lampe und sein Bett herbei, Merkur! Sie werden nicht entstehen, alle die Schandthaten zu bestätigen, deren Zeugen sie gewesen sind.

[437] Merkur. Die Lampe und das Bett des Megapenthes sollen erscheinen! – Schön, sie gehorchen. Da sind sie schon.

Rhadamanthus. Sagt nun an, ihr Beiden, was ihr von diesem Megapenthes wisset. Zuerst soll das Bett sprechen.

Das Bett. Cyniskus hat in Allem die Wahrheit gesprochen. O Herr, ich schäme mich zu sagen, was dieser Mensch Alles auf mir vorgenommen hat.

Rhadamanthus. Schon deine Scham, es zu sagen, zeugt laut genug. Was hast du anzugeben, Lampe?

Die Lampe. Was am Tage vorging, weiß ich nicht, weil ich nicht dabei war. Und was er bei Nacht getrieben und – gelitten, mag ich nicht sagen. Nur so viel: ich habe unzähligemal Dinge mit angesehen, die gar nicht auszusprechen, und ärger sind als Alles, was schändlich heißt. Wie oft hörte ich auf, mein Oehl zu trinken, weil ich verlöschen wollte! Aber er nöthigte mich, seine Unthaten zu beleuchten, und entweihte meine Flamme auf alle Weise.

28. Rhadamanthus. Genug der Zeugnisse! Lege nun noch dein Purpurgewand ab, damit wir die Zahl deiner Brandmale sehen. – Hilf Jupiter! er ist über und über mit schwarzblauen Flecken und Narben bedeckt! Was soll nun seine Strafe seyn? Soll er in den Feuerstrom gestürzt oder dem Cerberus vorgeworfen werden?

Cyniskus. Ich dächte nicht. Wenn du es erlaubst, will ich dir eine ganz neue und für ihn angemessene Strafe vorschlagen.

Rhadamanthus. Sprich nur: du wirst mich dadurch zu sehr großem Danke verbinden.

[438] Cyniskus. So viel ich weiß, besteht die Sitte, daß die Gestorbenen aus dem Lethequell trinken?

Rhadamanthus. Ja: und nun?

Cyniskus. Er soll der Einzige unter Allen seyn, der nicht trinken darf.

29. Rhadamanthus. Und warum Das?

Cyniskus. Weil es ihm die härteste Strafe seyn wird, vor der steten Erinnerung an seine ehemalige Hoheit und Macht und an seine Wollüste keine Ruhe zu haben.

Rhadamanthus. Du hast Recht. So sey er denn verurtheilt, neben Tantalus gefesselt, über der Erinnerung an sein voriges Leben zu brüten!



  1. Wörtlich: „du bringst uns unreife Weinbeeren.“
  2. Diese Worte erlaubte sich der Uebersetzer dem Charon in den Mund zu legen, während sie in den Ausgaben weniger passend, wie es scheint, der Clotho zugewiesen sind.
  3. S. Todtengespr. I. und die Versteig, der philos. Orden 10.
  4. Odyss. IX, 369.