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Die Vermittler zwischen dem Volke und seinen Vertretern

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Textdaten
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Autor: Karl Albrecht
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Titel: Die Vermittler zwischen dem Volke und seinen Vertretern
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 67–70
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Stenografie in der Politik
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[67]
Die Vermittler zwischen dem Volke und seinen Vertretern.


Eine tröstliche Erscheinung steht jener Gleichgültigkeit gegenüber, mit welcher so manche Staatsbürger ihre wichtigsten Rechte betrachten, jener Theilnahmlosigkeit, welche die Bethätigung bei politischen Wahlen zum Beispiel versäumen läßt – das ist die lebendige Begier, mit welcher andererseits die Verhandlungen unserer maßgebenden Staatskörper verfolgt werden: das Volk will wenigstens wissen, bis auf das Härchen wissen, wie es von seinen Abgeordneten vertreten wird. Niemand ist heute mehr zufrieden, wenn ihm die Drahtbotschaft das Ergebniß einer hervorragenden Sitzung des Reichstages kundgiebt; kein Gebildeter begnügt sich mehr mit den bloßen Berichten und Erläuterungen der Tagesblätter über Gesetzesverhandlungen; man verschlingt das Alles wohl, aber – man nimmt es nur hin als eine Abschlagszahlung, und gespannt harrt man des nächsten Morgens, welcher den stenographischen Bericht bieten soll, an dessen verbrecherisch kleinem Drucke man sich dann mit Beharrlichkeit die Sehkraft schädigt.

Einst schätzte man den Werth eines Romans nur danach, daß er „vor Allem recht viel geschehen ließ“; erlebnißreich, Gefahr auf Gefahr heraufbeschwörend und besiegend, kurz, abenteuerlich mußte die Erzählung sein, und die beste war die, welche die meisten von ihren Helden durch Gift und Dolch, durch Feuer und Wasser vom Schauplatze ihrer Pilgerfahrt wegräumte. Und jetzt? – Eine Dorfgeschichte der alltäglichsten Art, arm an Ereignissen, reich aber an Schilderungen des innern Menschen, vermag uns mehr zu fesseln und zu rühren, als selbst der thatenreiche „rasende Roland“. In ähnlicher Weise ist man in den Naturwissenschaften in die Tiefen des Thierlebens hinabgestiegen und läßt uns in die Falten eines „Löwengemüthes“ blicken (welchen Ausdruck uns Brehm gewiß erlauben wird). Ein verwandter Zug, ein Verlangen nach Einblick in die innerste Eigenthümlichkeit ist es, welcher uns drängt, in allen Einzelzügen auch jene Männer zu belauschen, welche über das nationale Wohl und Wehe berathen und beschließen. Wir möchten alle selbst den Schall ihrer Rede vernehmen, und da wir Deutschen, selbst nach Abzug der Sondergelüstler, auch im dereinstigen neuen Reichstagsgebäude doch kaum alle Platz finden dürften, so soll im entlegensten Winkel des Vaterlandes jeder Laut, der von der Rednerbühne des Reichstages erklang, wenigstens nachhallen.

Ob nicht Manches nur gesprochen wird, weil es solchen Widerklang findet? Da Gelehrten gut predigen ist; da der Schwerpunkt der Arbeiten eines gesetzgebenden Körpers keineswegs in den öffentlichen Sitzungen, sondern in den Vorberathungen der Ausschüsse ruht; da die schönste Rede wohl schwerlich einen einzigen Abgeordneten von der Ueberzeugung abwendig macht, welche er beim Eintritte in die Versammlung fertig mitbrachte – so sind wir gar nicht abgeneigt zu glauben, daß wohl manches treffliche Wort nicht für das „Haus“, sondern nur für die Stenographen gesprochen wird, für diese Vermittler zwischen dem ganzen Volke und seinen Vertretern.

Was leistet nun ein Stenograph als Diener der Oeffentlichkeit? Ist der Mann zu seiner wichtigen Aufgabe gerüstet, wenn er seine Schnellschrift meisterlich zu üben weiß? – O nein. Den Stenographen macht die Stenographie allein nicht. Wenn er sich nicht auf einen einzelnen Zweig, zum Beispiel Parlamentsstenographie, beschränken will, so muß er an erster Stelle ein Mann von tüchtiger Bildung sein, zugleich ein Mann von Geistesgegenwart und Gewandtheit. Auf dem Felde, wo er arbeiten soll, muß er wenigstens einigermaßen zu Hause sein, sonst wird seine Arbeit immerdar mangelhaft ausfallen. Bedenkt man, daß ein ausübender Stenograph in den allerverschiedensten Gebieten selbstständige Dienste leisten soll – so wird man vielleicht zugeben, daß einem so weit gehenden Vertrauen gegenüber eine encyklopädische Ausrüstung in weitestem Umfange sehr wünschenswerth ist.

Wer da weiß, was es heißt, stundenlang mit gespanntester Aufmerksamkeit jeder Silbe eines Vortrages zu folgen, wird sich leicht ein Bild davon machen können, welch geistige Anstrengung die Arbeit des Stenographirens verlangt. Der Hörer, welcher sich nicht mehr gefesselt fühlt, läßt seine Gedanken in andere Gegenden wandern, wenn er nicht vorzieht, sich selbst auf das Wandern zu begeben. Der Stenograph aber, welchen der verehrte Redner vielleicht auf das Peinlichste langweilt, ist festgenagelt an seinem Pulte, er muß durch Dick und Dünn, über Korn und Dorn, wie weiland der arme Sünder auf der Kuhhaut. – Und umgekehrt, wenn ein einzelner Gedanke ihn fesselt, wenn er diesen weiter verfolgen, ihn ausdenken möchte – er darf nicht: „Schreib’, schreib’, schreib’!“ ruft die Stimme der Pflicht, und er – schreibt. Oder wenn der Sprecher den Kreis seiner Hörer ergreift, erschüttert, wenn er dem Gefühle in ihrer Brust beredsame, warme, begeisterte Worte leiht, daß Alles erregt aufjauchzt, dem Redner zujubelt – der arme Stenograph muß sich mühen, daß ihm im Gewirr der Erregung nicht etwa ein Wörtlein entflieht, und daß er gebührend „Bravo“ in Klammern hinter die Rede setzt, wie es sich geziemt. Noch übler ist er daran, wenn ein Redner etwa in Humor macht und die Lachmuskeln der Hörerschaft reizt – gleich dem trübselig-kindlichen Komiker darf der Stenograph keine Miene verziehen, denn niemals schreibt sich’s schlechter, als beim Lachen. Nur im Vorbeigehen wollen wir noch bemerken, daß auch die körperliche [68] Thätigkeit des Stenographen, namentlich in Bezug auf Hand und Auge, sehr fühlbar werden kann, wenn dieselbe gar zu lange anhält. Und da wir gerade bei den Schwierigkeiten des Berufes sind, so sei noch erwähnt, wie oft, besonders bei größeren Versammlungen und in größeren Räumen, noch allerhand erschwerende Umstände eintreten: leises Reden der Sprecher, undeutliche Aussprache, fremdartiger Dialekt, häufiges Versprechen und Verbessern oder auch offenbare Fehler des Ausdrucks, Störungen, Zwischenrufe und Unterbrechungen sowie Geräusch.

Das Werkzeug des Stenographen ist in der Regel Bleistift, glattes Papier oder Pergament, Alles von der vorzüglichsten Beschaffenheit.[WS 1] Tinte und Feder empfehlen sich schon deshalb nicht für die Zwecke des Stenographirens, weil der ewige Weg vom und zum Tintenfaß viel zu viel Zeit wegnimmt, auch ein unglücklicher Klex leicht ein Wort, ja einen halben Satz der so gedrängten Schrift verdecken könnte. Bei größeren Versammlungen, beim Reichstage, bei Landtagen etc. wird ein stenographisches Bureau von acht, zehn bis zwölf Personen gebildet. Je zwei versehen, der größeren Sicherheit halber, den Dienst gleichzeitig; sie schreiben zusammen einen gewissen, vorher gesetzten Zeitraum hindurch, gewöhnlich zehn bis fünfzehn Minuten, und werden dann pünktlich von den folgenden Beiden abgelöst. Sobald die Ablösung Platz genommen, verlassen Jene den Sitzungssaal und begeben sich in das Uebertragungszimmer, in welchem bereits zwei flotte Dictandoschreiber ihres Winkes gewärtig harren. Die beiden Stenographen theilen Das, was sie soeben niedergeschrieben, in zwei gleiche Hälften, und jeder dictirt die auf ihn treffende Hälfte. Hatten sie zehn Minuten zu stenographiren, so hat also jeder nur das Ergebniß von fünf Minuten in gewöhnliche Schrift umschreiben zu lassen; das nimmt indeß, wenn die betreffenden Redner gerade danach waren, recht wohl dreißig bis vierzig Minuten in Anspruch. Während dieser Zeit arbeiten nun die übrigen Abtheilungen wechselsweise im Sitzungssäle, und wenn die Ersten mit dem Dictiren fertig sind, bleibt ihnen gewöhnlich gar nicht viel Zeit übrig, ehe sie wiederum an die Reihe kommen.

Ist das Bureau stark genug besetzt und geht Alles glatt ab, so kann die Uebertragung der gesammten Verhandlungen einer Sitzung gleich nach Schluß derselben fertig in Currentschrift vorliegen und den betreffenden Rednern zur Durchsicht und etwaigen Verbesserung überreicht werden. Ganz ohne Nachhülfe kann selten eine Rede gedruckt werden, wenn sie auch buchstäblich getreu niedergeschrieben worden ist; es geht den todten, schwarzen Zeichen auf dem Papier so Manches ab, was der lebendigen Rede zu Gebote stand: Ausdruck und Betonung, langsamer Nachdruck und stürmisches Feuer, Blick, Geberde und Bewegung des Sprechers. Es kann eine Stelle, eindringlich gesprochen, sehr wirksam gewesen sein, auf dem Papiere aber blaß verschwimmen. („Der Vortrag macht des Redners Glück!“) Etwas Feilen wird daher in vielen Fällen wohl angebracht sein. Kleinen Unebenheiten oder Versehen, welche in der Hitze der Debatte auch dem geschultesten Redner unterlaufen können, wird der Stenograph schon beim Umdictiren abgeholfen haben – mehr zu thun ist er nicht berechtigt. Desto freier schaltet mancher Sprecher mit seinen Reden, obschon diese, einmal öffentlich erklungen, gar nicht mehr sein alleiniges Eigenthum sind. Namentlich früher kam das ziemlich häufig vor; es geschah zum Beispiel, daß ein Redner ein leidenschaftliches Wort beseitigte, welches ihm den Ordnungsruf des Vorsitzenden zugezogen hatte. Dicht hinterher folgte dann natürlich diese ebenfalls im Stenogramm verzeichnete Zurechtweisung, und der verblüffte Leser suchte vergeblich nach dem Grunde derselben.

Solche elastische Zustände bestehen jetzt wohl nirgends mehr, sonst würde auch für die Stenographie die Möglichkeit aufhören, ihrer schönsten Aufgabe im öffentlichen Dienste gerecht zu werden: Hüterin der Wahrheit zu sein.

Welcher Kunstmittel bedient sich nun der Stenograph? Wie ist seine Schrift beschaffen? Früher hatte so ziemlich jeder einzelne Stenograph sein eigenthümliches Verfahren, so daß Jeder nur seine eigene Schrift lesen konnte, und nur zu oft verließ er sich darauf, das gute Gedächtniß werde das ergänzen, was der Stift bösartig unterschlagen hatte. Das ist jetzt anders. In England, Frankreich, Italien und anderen Ländern, ganz besonders aber in Deutschland, giebt es Systeme, welche den Stenographen in den Stand setzen, das geflügelte Wort in sichtbare Zeichen zu bannen, ohne daß er seinem Gedächtniß etwas bei der Wiedergabe des Geschriebenen zuzumuthen braucht. Auch kann Das, was der Eine geschrieben hat, stets von dem Andern gelesen werden, der das System kennt. Darin liegt zugleich ausgesprochen, daß die Stenographie nicht nur für das Nachschreiben von Reden geeignet ist, daß sie vielmehr auch für jede Verwendung im Geschäftskreis und im Privatleben vollkommen ausreicht und jeden Gebildeten aus den Banden der Currentschrift zu befreien und ihm vorzügliche Dienste zu leisten vermag.

Wir sprachen eben von einem System der Stenographie und kommen damit auf die Qual der Wahl, auf die Reichthumsverlegenheit, welche auch in stenographischer Beziehung obwaltet, und zwar bei den Deutschen ebensowohl wie bei den Völkern anderer Zunge. Wenn wir von jenen Systemen absehen, welche sich nicht auf die Dauer oder noch nicht in hinreichendem Maße Geltung verschaffen konnten, so sind es zwei ganz verschiedene Arten der Kurzschrift, welche alle anderen in den Hintergrund gedrängt haben, die Stenographie von Gabelsberger und die von Stolze, von welchen die letztere sich noch dazu neuerdings in Folge gewisser einschneidender Umgestaltungen in zweierlei Schrift gesondert hat. Thatsache ist, daß beide Systeme, das Gabelsberger’sche wie das Stolze’sche, begeisterte, ja manchmal fanatische Anhänger gefunden und daß tüchtige Vertreter beider Systeme treffliche praktische Arbeiten geliefert haben. Beim deutschen Reichstage arbeiten sechs Stolze’sche und sechs Gabelsberger’sche Stenographen, Stolzeaner und Gabelsbergerianer vereint versehen auch den Dienst beim ungarischen Landtage. Beim österreichische Reichstage, bei den Landtagen von Baiern, Sachsen, Württemberg etc. arbeiten nur Gabelsbergerianer. Gabelsberger’s Schrift hat sich auch – in der Uebertragung auf die betreffenden Sprachen – bei den Versammlungen der Volksvertreter von Dänemark, Schweden, Finnland, Dalmatien, Illyrien, Italien und Griechenland seit Jahren bewährt. Gabelsberger’s System wird zur Zeit von etwa hundertachtzig Vereinen gepflegt, die beiden Stolze’schen Systeme (Alt- und Neu-Stolzisch) haben über hundert Vereine aufzuweisen. Jedes dieser Systeme behauptet das bessere zu sein, während ein drittes, noch wenig in den Vordergrund getretenes, das von Arends in Berlin, sich in ausgeprägter Bescheidenheit als die einzige, wirklich und wahrhaft „rationelle Kurzschrift“ zu bezeichnen beliebt. Es fällt uns nicht ein, an diesem Orte in einen Streit über die Vorzüge der verschiedenen Systeme einzutreten; dazu haben wir stenographische Fachblätter zu Dutzenden.

Gabelsberger’schem wie Stolze’schem (wenigstens Alt-Stolze’schem) Systeme gemeinsam sind folgende Grundzüge:

1) Die Orthographie der Wörter wird dem hochdeutschen Laute gemäß etwas vereinfacht, so jedoch, daß das Wort noch leicht erkennbar bleibt; man schreibt z. B. „Tal“ für „Thal“, „tot“ für „todt“, „di Hare“ für „die Haare“. Schon durch diese Reinigung der Schreibweise von unnützen Zeichen ergiebt sich eine nicht zu verachtende Ersparniß. Aufgabe des Stenographen ist ja nur, schnell zu sein, nicht aber jedem Worte den Stammbaum seiner Herkunft auf das Gesicht zu drücken. Er beachtet daher sogenannte orthographische Unterscheidungen nur da, wo eine Verwechselung zu befürchten wäre, was weit seltener der Fall ist, als ein im Schulzwange ängstlich Gewordener glaubt. Andererseits vermag die Stenographie solche Wörter der Sprache, welche verschieden klingen, aber dennoch in der Currentschrift ganz gleich aussehen, wohl zu unterscheiden (z. B. „modern“ und „modern“, „Gebet“ und „gebet“).

2) Die Buchstaben des stenographischen Alphabets sind äußerst kurz und einfach; zu der gewöhnlichen Schreibschrift verhalten sie sich ungefähr so, wie diese zu der alten ägyptischen Monumentalschrift, oder wie die Ziffern 1888, zu den Zeichen MDCCCLXXXVIII, oder genauer wie die Ziffern 1888 zu den Buchstaben eintausendachthundertachtundachtzig. Die Züge aber, welche die stenographischen Buchstaben bilden, sind nichts Ungewöhnliches; sie finden sich überall in der Currentschrift wieder, und jeder unserer Leser hat schon Millionen stenographischer Buchstaben geschrieben, nur – ohne es zu wissen.

3) Wichtiger als die Einfachheit der Buchstabe ist ihre Verbindungsfähigkeit. Es war eben ein Irrthum fast aller französischen und englischen Kurzschriften, daß sie zu den [69] verschiedenen Formen der einfachen geometrischen Linie griffen, um recht kurze Theilzüge zu erhalten. Man übersah, daß diese sich oft nicht ohne Schwierigkeit aneinanderreihen. Wie wenig die Currentschrift in dieser Hinsicht leistet, zeigen z. B. die Wörtchen „So“, „Sie“, die man bei all ihrer Kürze in zwei Absätzen schreiben muß, sobald sie mit großem S anfangen.

4) Die Vocale inmitten der Wörter werden nicht ausdrücklich, nicht durch besondere Buchstaben bezeichnet, sondern durch ein für die Hand des Schreibenden nicht aufhältliches, dem Leser aber leicht ins Auge fallendes Kennzeichen ausgedrückt.

5) Für manche besonders häufige Vor- und Nachsilben, sowie für eine Anzahl von Wörtern giebt es feststehende Abkürzungen wie in Currentschrift (z. B. Febr., Dr., Thlr., etc.).

6) Die Bezeichnung der runden Zahlen geschieht auf eigenthümliche kurze Weise.

7) Die Anwendung der Interpunctionszeichen beschränkt sich auf das Unentbehrlichste. [69] Wenn wir auf eine einzelne Erläuterung einiger dieser Grundsätze eingehen, so ist es der Klarheit halber gerathen, daß wir uns auf ein System beschränken. Wir legen daher dem Folgenden das Gabelsberger’sche System zu Grunde, welches das verbreitetste ist, in einer großen Zahl von Schulen Baierns, Oesterreichs und Sachsens, auch Preußens, bereits Eingang gefunden hat, in Sachsen von einer besondern Staatsanstalt, dem „Königlichen Stenographischen Institut“, sorgsam gepflegt wird.

Wir sprachen von einem stenographischen Alphabet. Damit ist die früher verbreitete Ansicht abgethan, als sei die Stenographie eine Wort- oder Silbenschrift. Stenographische Wörter setzen sich ebensogut aus einzelnen Buchstaben zusammen, wie in der Alltagsschrift, nur auf geschicktere Weise. Unser Alphabet ist um einige Buchstaben reicher, als das der Currentschrift, und seine Zeichen sind so gewählt, daß sie nicht leicht, auch wenn sie äußerst flüchtig geschrieben werden, miteinander zu verwechseln sind. Schlechte Stenographie ist viel eher wieder zu lesen, als undeutliche Currentschrift, ja selbst in der Druckschrift können Verwechselungen (zum Beispiel zwischen s und f, r und x, u und n, e und c) vorkommen, die beim eiligen Stenographiren geradezu unmöglich sind, weil den stenographischen Zügen eine gewisse unverlöschbare Charakterfestigkeit innewohnt. Endlich ist bei der Auswahl der stenographischen Buchstaben auch darauf Rücksicht genommen, die bequemsten Zeichen für die am häufigsten in der Sprache wiederkehrenden Laute zu bestimmen. Wie geschmeidig aber die Gabelsbergerschen Buchstaben sind, möge man daraus abnehmen, daß es öfters möglich ist, zwei bis drei Zeichen in eins zu verschmelzen, das noch nicht den Umfang eines Currentzeichens hat und dennoch die Einzelzüge, aus welchen es zusammengesetzt ist, deutlich erkennen läßt (so in den Verbindungen der zusammenlautenden Buchstaben mp, mpf, schm, cht, dr, spr, str und andern). Das ist für eine consonantenreiche Sprache, wie die deutsche, von wesentlichem Nutzen.

Die Mitlauter bilden den eigentlichen Körper der Wörter, die Vocale sind in unzähligen Fällen von selbst zu errathen. Frühere, namentlich die englisch-französischen Systeme der Stenographie, unterdrückten daher die Selbstlauter ganz, englische und französische Praktiker thun es wohl auch jetzt noch. Daß es wohl möglich ist, ganze Sätze zu lesen, in welchen nicht ein einziger Vocal geschrieben ist, möge folgendes Beispiel zeigen: „Jdrmnn ht snr Zt dvn ghrt, dß S. M. Ksr Npln dr Drtt b Sdn d shnlchst gwnscht Kgl schlchtrdngs ncht fndn knnt.“

Nicht, daß wir in der deutschen Stenographie soweit gingen, die Vocale über Bord zu werfen, aber wir betrachten sie inmitten der Wörter nicht als selbstständige Dinge, sondern nur als Eigenschaften der sie begleitenden Consonanten; diese müssen den Selbstlaut gleich mit angeben, und zwar geschieht dies durch eine gewisse Färbung, die ihnen auch in der größten Eile noch gegeben werden kann, durch eine leichte Schattirung der Zeichnung, durch eine besondere Stellung und dergleichen, Merkmale des Lautes, welche meist in der Sprache ihre Begründung haben.

[70] Feststehende Abkürzungen waren sonst die Hauptwaffe der Stenographie; auch das Alt-Stolzesche System hat noch ein reich ausgestattetes Zeughaus solcher Geschosse aufzuweisen, während die Zahl solcher Abkürzungen (Sigel genannt) bei Gabelsberger nur unbedeutend ist. Bei Aufstellung dieser Kürzungen hat man keineswegs darauf zu sehen, besonders lange Wörter zu verkürzen; man sorgt vielmehr für kurze Bezeichnung solcher Wörter, welche in der Sprache jeden Augenblick vorkommen; man kürzt also die Artikel, die Hülfszeitwörter, die Fürwörter, die gebräuchlichsten Bindewörter und Verhältnißwörter.

Die runden Zahlen werden nicht nur kürzer, sondern auch übersichtlicher, unverwechselbarer geschrieben, als in der gewöhnlichen Schrift. Unsere Ziffern sind dieselben, wie sie Jedermann schreibt. Um nun die Zehner auszudrücken, setzt man der Ziffer eine kleine Null auf der Zeile bei; es ist also 10 gleich 10. Bei den Hunderten dagegen tritt diese kleine Null oben neben die Ziffer, mithin ist 100 gleich 10, 800 gleich 80. Für die Tausende dient ein oben neben die Zahl gesetztes Komma, zum Beispiel 4’ gleich 4000. Aus der Verbindung der Null und des Komma ergiebt sich dann die Bezeichnung der Zehntausende, der Hunderttausende etc.

Diese Schrift, wie wir sie in allerdings nur dürftigen Zügen geschildert haben, ist mindestens fünfmal kürzer, als die gewöhnliche Schrift, das heißt, mit ihr kann man in einer Stunde schreiben, was bei Currentschrift fünf Stunden erfordert. Für den alltäglichen Gebrauch, für jede schriftliche Arbeit, wie auch für den Briefwechsel ist sie im allerhöchsten Grade empfehlenswerth. Ich habe diese Schrift nunmehr dreißig Jahre hindurch Tag für Tag angewandt, und zwar zu den verschiedenartigsten Aufzeichnungen, auch zu philologischen Arbeiten, wo es vorkam, daß auf einer Seite drei, vier oder noch mehr Sprachen sich mischten, aber nirgends hat sie mich im Stich gelassen, selbst bei Anlegung von Listen nicht, welche nur abgerissene deutsche, lateinische, griechische und arabische Namen enthielten. Ich halte es für eine schwärmerische Ansicht, wenn man die Currentschrift vollständig durch die Stenographie verdrängen und ersetzen zu können glaubt („caviare to the general!“), aber ich meine auch, jeder Gebildete, und nun vollends gar ein Gelehrter, sollte froh sein, durch die Stenographie sich von den Fesseln und Fußangeln der lästigen und langweiligen Currentschrift frei machen zu können, um so mehr, da das Erlernen dieser so reichlich lohnenden Kunst durchaus nicht mit besonderer Schwierigkeit verknüpft ist. Das Schriftthum beider Stenographiesysteme bietet eine reiche Auswahl von Lehrmitteln, auch für den Selbstunterricht, die Jedermann leicht zugänglich sein dürften. Gelegenheit zu der allerdings erforderlichen Uebung findet sich im Gang der Geschäfte oder der Studien ganz von selbst. Nicht zum Stenographen von Fach möchten wir jeden Gebildeten machen, aber wir würden es jedem Gebildeten gönnen, sich der angenehmen Vortheile der Stenographie zu erfreuen, der einzigen sich für praktische Menschen im neunzehnten Jahrhundert noch geziemenden Schrift.

Vor Allem würde die Stenographie sich als Unterrichtsgegenstand für jede Lehranstalt mit etwas höherem Ziele eignen, sie ist, im Anschluß an den Sprachunterricht, vielfacher Erfahrung nach ein werthvolles formales Bildungsmittel, wird gerade von jugendlichen Schülern gern aufgenommen und lohnt auch bald ihren Eifer.
Karl Albrecht.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beschagenheit