Die Vierlande des Schwarzwaldes

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Autor: Hugo Scheube
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Titel: Die Vierlande des Schwarzwaldes
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 484–486
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Vierlande des Schwarzwaldes.


Ein heißer Wandertag lag hinter mir. Bei vierundzwanzig Grad Réaumur im Schatten war ich von Baden-Baden aus über den weitschauenden Mercuriusberg nach dem Städtchen Gernsbach hinabgestiegen, dort einen alten Freund zu besuchen, der seit Jahren schon seine Sommerfrische im tannenumgürteten Murgthale hält, und nun sollte es in der Abendkühle auf dem neuen Schienenwege über Rastatt und Oos wieder heimwärts gehen nach meinem zeitweiligen Asyle auf der stillen Seelach, von deren Waldhöhe das schöne Schloß des russischen Grafen Kreptowitsch über das baum- und wiesengrüne Gelände schimmert.

Der kleine Bahnhof an der Murg sah ziemlich öde aus – die Mehrzahl der vielen Sonntagsausflügler, denen ich an allen Ecken und Enden begegnet war, mochte wohl erst spätere Züge zur Rückfahrt benutzen wollen – über dem menschenleeren Perron aber lag ein eigenthümlicher, intensiver Wohlgeruch, ein Arom, als sei die Luft ringsum mit Ananasduft erfüllt. Verwundert spähte ich nach der Ursache der auffälligen Erscheinung, denn weder rechts noch links gewahrte ich etwas, das einer größeren Blumen- oder Fruchtanlage glich, da trat einer der Beamten, der mein Erstaunen bemerkt haben mußte, aus der Thür der Güterexpedition und winkte mich freundlich zu sich heran.

„Davon kommt’s,“ sagte er lächelnd, indem er auf eine Menge oben mit Leinwand verwahrter Körbe zeigte, welche fast den ganzen Raum des Zimmers in Beschlag nahmen. „Davon kommt’s; ’s sind lauter Erdbeeren, nichts als Garten- und Ananaserdbeeren, und das geht nun seit vierzehn Tagen schon alle Abende so, immer centnerweise. Sehen Sie, die spedire ich nach Stuttgart, jene nach Würzburg, die andern dort nach Deidesheim in der Pfalz.“

„Gartenerdbeeren?“ wiederholte ich zweifelnd. „Und hier aus Gernsbach?“

„Aus Gernsbach selber nicht,“ gab er mir zur Antwort, „aber ganz aus der Nähe, drüben von Staufenberg, ein halb Stündchen von hier. Da baut das ganze Dorf Erdbeeren auf dem Felde, wie man anderwärts Kartoffeln zieht; Morgen und Aecker hat’s da, wo nichts als Erdbeeren gepflanzt sind. Das sollten Sie sich einmal betrachten. Und schauen Sie nur, ’s kommt noch fortwährend neuer Zufluß.“

Ich folgte der Richtung, nach welcher sein erhobener Arm wies, und bemerkte wohl ein Dutzend Weiber und Mädchen, jedes mit einem ähnlichen Korbe auf dem Kopfe, wie die im Güterzimmer stehenden, die von Gernsbach her dem Bahnhofe zuschritten. Den Schluß der Gruppe bildete ein Mann in städtischer Sonntagskleidung.

„Das ist der Erdbeerkönig,“ scherzte der Beamte. „Der Herr Schullehrer von Staufenberg. Der verschickt des Sommers seine paar Hundert Centner Erdbeeren, eigenes und aufgekauftes Gewächs. Das tragt was ab, sollt’ ich meinen.“

Die süßen Lasten wurden vor dem Stationsgebäude niedergesetzt, die schon vorhandene Waare hinzugestellt, und der mir als würdiger Bildner dörflicher Jugend bezeichnete Herr ging mit den rothen Frachtbriefen in der Hand und dem Bleistift hinter dem Ohr geschäftig zwischen den nach ihren verschiedenen Bestimmungsorten gesonderten Körben umher, um zu inspiciren, ob deren Anzahl und Signatur mit den Angaben in den Verladungsdocumenten stimmten.

Die Sache begann mich höchlich zu interessiren. Felder voller großer Gartenerdbeeren, welche der Dampf centnerweise in die weite Welt hinaus entführte, das überstieg alle meine bisherigen pomologischen Vorstellungen. Was wollen dagegen die berühmten Vierlande an der Unterelbe bedeuten, die ihre süßen Erzeugnisse blos im Einzelnen und Kleinen durch das nahe Hamburg hausiren tragen lassen? Und sonderbar! In keinem der vielen Reisehandbücher und Touristenführer findet man dieser merkwürdigen Schwarzwaldproduction auch nur mit einem einzigen Worte Erwähnung gethan; keine Zeitung und keine Zeitschrift haben auf das in der That einzige Erdbeerland noch aufmerksam gemacht, ja von den fünfzig- bis sechzigtausend Fremden, welche Jahr aus Jahr ein das benachbarte Baden aufsuchen, sind es sicher nicht hundert, die von der Staufenberger Culturspecialität eine Ahnung besitzen, und nicht zehn, welche es der Mühe werth erachtet haben, davon Einsicht zu nehmen.

Sobald deshalb der erdbeerzüchtende Pädagog sein Versandgeschäft erledigt hatte, begrüßte ich ihn und drückte ihm meinen angelegentlichen Wunsch aus, von einer so interessanten und anmuthigen volkswirthschaftlichen und commerciellen Leistung des deutschen Vaterlandes, die mir bis dato eine völlig unbekannte gewesen sei, mich des Näheren zu unterrichten. Der Angesprochene, Böcherer ist der Name des verdienten Mannes, erfüllte meine Bitte auf das Bereitwilligste und Liebenswürdigste; er sowohl, als seine Frau, selbst eine der gedachten Korbträgerinnen, wetteiferten, mir all die Belehrung und Aufkärung zu ertheilen, die ich nur wünschen konnte.

„Aber, bester Herr,“ meinte Böcherer freundlich, „Sie müssen selber bald einmal zu uns nach Staufenberg kommen, mit eigenen Augen unsere Erdbeerplantagen betrachten und sehen, wie wir unsere würzigen Ernten gewinnen und zu ihren Eisenbahnreisen ausrüsten. Jetzt während des Heuens habe ich vierzehn Tage Ferien; da stehe ich Ihnen ganz zu Diensten. Nur, bitte, kommen Sie vor fünf Uhr Nachmittags, denn, so wie heute, muß ich noch Wochen lang Abend für Abend nach Gernsbach hinunter, um den Transport meiner Pfleglinge zu überwachen.“

Seine Gattin unterstützte die Einladung ihres Eheherrn mit aufrichtiger Herzlichkeit, und natürlich versprach ich mit Freuden, an einem der ersten halbwegs vom Wetter begünstigten Tage mich einstellen zu wollen. Während wir uns scheidend die Hände schüttelten, läutete die Glocke zur Abfahrt. „Auf demnächstiges Wiedersehen in Staufenberg also!“ rief mir das wackere Paar in’s Coupé nach, und zugleich mit den Erdbeeren dampfte ich aus dem Murgthale der Rheinebene zu – ich, um mich von Rastatt aufwärts zu wenden, die Erdbeeren, um von da aus in’s Unterland zu ziehen, gen Schwaben und Franken, nach der Pfalz und nach Hessen.

Erst Sonnabends darauf schnitt der Himmel zu meiner Forschungsexpedition ein leidlich gnädiges Gesicht. Durch prachtvolle Tannenbestände, wie sie in Deutschland nur der Schwarzwald und Thüringen noch aufzuweisen haben, marschiere ich meinem Ziele zu. Nach zwei recht sauren Stunden, während deren bald bergauf, bald bergab die armen Kniee arg in’s Gedränge kamen, lagen die beiden Staufenberg, das obere und das untere, mir zu Füßen, in einer tiefen Thalmulde, an deren steilen Rändern Rebpflanzungen, Erdbeer- und Gemüsebeete mit einander abwechselten. Unmittelbar unter mir zog sich ein ansehnlicher Hain von Edelkastanien die Schlucht hinunter, während Gruppen von mächtigen Wallnußbäumen ihr braungrünes Geblätter um die ländlichen Häuser beider Ortschaften woben. Das Ganze faßte ein wahrer Wald von Obstbäumen ein. Die südlich-milde Lage des Geländes springt dem Ankömmling somit auf den ersten Blick schon in’s Auge; eine gleich üppige Vegetation von Nuß- und Kästenlaub entsinne ich mich kaum an der vielgepriesenen Bergstraße gesehen zu haben. Denkt man sich dazu als Rahmen des Bildes die stattlichen Berge des Murgthales, zwischen denen die Bauten von Gernsbach heraufschimmern, und im Rücken die schroffe Waldwand [485] des Mercurs hinzu, so wird man begreifen, daß ich überrascht und gefesselt das vor mir entrollte Landschaftsgemälde überschaute. Weniger entzückt war ich von dem letzten Abstieg in den lieblichen Grund hinunter; auf Geisenpfaden mußte ich zwischen den Erdbeerbeeten und Weinhängen fast senkrecht zum Dorfe niederklettern.

Welcher herzige und süße, buchstäblich süße Empfang harrte dafür meiner im Schulhause! Zwar dieses selbst war augenblicklich in baulicher Erneuerung begriffen und dadurch eigentlich unbewohnbar, meine lieben Gastfreunde aber, denen ich mich angemeldet, hatten die Küche zum interimistischen Salon umgewandelt und ihre biedere Freundlichkeit ersetzte doppelt und dreifach, was sich darin von gewohnter Ausstattung und Bequemlichkeit allenfalls vermissen ließ.

„Willkommen im Erdbeerreviere!“ wiederholte der Lehrer, nachdem ich neben ihm und seiner Frau am Tische des improvisirten Gesellschaftsgemaches Platz genommen hatte; „herzlich willkommen in Staufenberg! Vorerst jedoch müssen Sie praktisch probiren, was wir hier am Fuße des einst dem alten Heidengotte heiligen Berges erzeugen. Ohnehin wird’s Ihnen gut thun nach den Anstrengungen der schweißkostenden Wanderung.“

Damit credenzte er mir nach der Reihe die auf einer Unterlage von Weinblättern in mehreren sauberen Glasschalen bereitgestellten Beeren, welche ein Arom aushauchten, wie die vereinigte Kunst sämmtlicher Parfumeure der Welt einen köstlichern Odeur nicht zusammen zu destilliren und zu mischen vermöchte.

„Sie haben hier,“ setzte er, mich zum Zulangen auffordernd, hinzu, „eine vollständige Sammlung der Beerensorten, die wir hier cultiviren. Es sind die beliebtesten der jetzt gezogenen Tafelerdbeeren; da die große rothe, daneben die sogenannte braune italienische, die gewöhnliche und die längliche große Ananaserdbeere, auch die edelste von allen, die Zimmeterdbeere. Diese dort ist’s auf dem kleinen Teller; sie sieht fast weiß aus und wird von den Nichtkennern leicht für unreif gehalten. Bitte, versuchen Sie nur! Hat sie nicht den zartesten Duft und den feinsten Geschmack? Aber trinken Sie auch ein Glas Wein! ’s ist ebenfalls Staufenberger Product, von der Schillergattung, doch ganz Natur, nicht eine Spur von Fabrication dabei!“

Und so letzte ich mich nach Herzenslust an den preiswürdigen Spenden des gesegneten Bodens, während das schulmeisterliche Ehepaar wetteiferte, meinen Wissensdurst in Bezug auf jene zu befriedigen.

„Wie ist man denn,“ frug ich zuvörderst, „gerade in dem abgelegenen, allen großen Städten der Menschen entrückten Staufenberg auf diesen besondern Culturzweig verfallen, da doch, so viel ich weiß, weder in Baden, noch in Gernsbach, noch in Rastatt, noch sonst in der Gegend ähnliche Bestrebungen wahrzunehmen sind?“

„Ja, sehen Sie,“ erwiderte Böcherer, „daran ist kein Anderer schuld als der Vater des jüngst verflossenen Kurfürsten von Hessen. Serenissimus besaß in Baden ausgedehnte Park- und Gartenanlagen, und aus diesen kamen nachweislich die ersten Setzlinge von Ananas- und frühreifenden rothen Erdbeeren nach unserm in jenen Tagen gar einsamen und armen Staufenberg. Der aristokratische Fremdling acclimatisirte sich trefflich in unseren gegen die rauhen Nord- und scharfen Ostwinde geschützten Bergen, und, ich möchte sagen, mit prophetischem Blicke nahm man alsbald einen feldmäßigen Anbau der neuen Pflanzen in Angriff. Heute ist in Ober- und Unterstaufenberg kaum noch eine Familie, die sich nicht mit der Erdbeerzucht befaßte, die schon seit fünfzehn Jahren im Großen betrieben wird und jetzt eine solche Ausdehnung gefunden hat, wie höchst wahrscheinlich auf keinem andern Punkte der Erde. Ohne uns der Uebertreibung schuldig zu machen, dürfen wir uns mithin berühmen, daß unser kleines Staufenberg, das, trotz seiner romantischen Umgebungen, trotz der Nachbarschaft von Baden-Baden und dem in jüngster Zeit so viel besuchten Gernsbach[WS 1], wie ich höre, nicht einmal in den speciellen Schwarzwaldführern figurirt, einzig dasteht in seiner Art. Und wahrhaftig! ich sollte doch glauben, unsere Eigenthümlichkeit wäre reizender und geschmackvoller Natur genug, um uns in der Leute Mund zu bringen,“ fügte er lächelnd hinzu.

„Ist denn Ihrer merkwürdigen Production in der That noch niemals öffentlich gedacht worden? In keinem Buche und keinem periodischen Blatte?“ frug ich.

„Nicht, daß ich wüßte,“ versetzte der Lehrer. „Zwar hat man mich aufgefordert, in einer landwirthschaftlichen Zeitschrift unseres Landes darüber Bericht zu erstatten; allein noch bin ich leider nicht dazu gelangt, dem Wunsche zu entsprechen. Die Zucht und der Vertrieb unserer Erdbeeren nehmen meine schulfreien Stunden viel zu sehr in Anspruch, als daß ich Zeit hätte, unsere Leistungen durch die Presse an’s Licht zu ziehen.“

„Meine Arbeit ist noch zehnmal größer als Deine, lieber Freund,“ fiel ihm die Gattin in’s Wort. „Denken Sie sich nur, jeden Morgen eile ich jetzt schon um drei Uhr aus dem Bett, denn die Erdbeeren müssen gepflückt werden, ehe die Sonne darauf fällt, sonst vertragen sie den Transport nicht, folglich entweder am frühesten Morgen oder am spätesten Abend. Und was ist dies Zupfen für ein entsetzlich mühsames Geschäft! Sie haben ja die steilen Gesenke gesehen, die man dabei auf- und abzuklettern hat. Und im Frühlinge erst das Ausjäten des Unkrauts! Gewiß, mancher Schweißtropfen rinnt uns die Stirn hinab, ehe wir die Körbe glücklich auf der Bahn haben. Schauen Sie nur meine Hände an, wie sie aufgesprungen und schwielig sind; das rührt Alles von den Erdbeeren her.“

„Aber die Plage lohnt sich, nicht wahr?“ entgegnete ich.

„Nun, ja,“ nahm der Mann wieder das Wort, „das läßt sich nicht leugnen. Vor zwanzig Jahren noch fristete unsere Gemeinde ein recht kümmerliches Dasein, und auch heute darf sie sich noch keineswegs unter die reichen zählen; ist doch der Grundbesitz des Einzelnen ein verhältnißmäßig sehr unbedeutender. Unsere zweihundert begüterten Bürger, wie wir in Baden sagen, haben zusammen ein Areal von nur vierhundert Morgen, von denen die wohlhabendsten höchstens acht bis zehn ihr eigen nennen. Doch nähren wir uns gegenwärtig recht erträglich und haben das angenehme Bewußtsein, noch im steten Aufsteigen begriffen zu sein. Das Alles danken wir jenem sonst so übel berufenen Monarchen der Hessen und seinen Erdbeeren. Und alljährlich mehrt sich die Zahl der Haushaltungen, die sich auf die Cultur der würzigen Frucht verlegen, und die Menge der Aecker, welche ihr eingeräumt werden. Gar mancher Bewohner Staufenbergs hat bereits mehr als einen Morgen Bodenfläche mit Erdbeeren bestellt.“

„Und wie hoch veranschlagt man den Ertrag eines solchen Erdbeermorgens?“ suchte ich mich weiter zu unterrichten.

„Im Durchschnitt,“ lautete die Antwort, „sechszehn bis zwanzig Centner im Werthe von je dreißig bis vierzig Gulden, nach Sorte und Qualität. Dieses Jahr bringen wir’s gar auf vierundzwanzig Centner pro Morgen, denn das in vielen anderen Beziehungen so ungünstige Regenjahr von 1873, das Sie und andere Herren Touristen sicher schier verzweifeln macht, ist für uns Erdbeerenbauern ein wahres Glücks- und Goldjahr, wie seit 1858 uns kein gleiches bescheert ward. Es scheint uns mit Zinsen vergüten zu wollen, was das böse Jahr 1872 versäumt hat.“

„Kommen dergleichen Mißernten in der Erdbeerzucht häufig vor?“ fragte ich.

„Gott sei Dank! im Ganzen sehr selten,“ entgegnete mein Gastfreund, „wenn wir selbst nur unsere Schuldigkeit thun, das heißt die Felder mehrere Male des Jahres von Unkraut reinigen, den Boden gehörig lockern und mit gutem Stalldünger befruchten. So behandelt, dauert die Erdbeere, von welcher wir gegenwärtig alle feinern Sorten zeitigen, auf einem Flächenraume von zusammen mindestens zwölf Morgen in der Regel ihre neun, ja zehn Jahre aus. Dazu kommt noch, daß sich gerade auf der Winterseite gelegene, für andere Anpflanzungen kaum taugliche und daher werthlose Grundstücke zur Erdbeerkultur als besonders geeignet erwiesen haben. An den südlichen Hängen reift die Beere nur früher und wird hierdurch für den Kleinverkauf einträglicher. Ja, ja, verehrter Herr, die Erdbeere ist unser Hort und Halt; sie hat in den fünfziger Jahren mehr als eine Familie Staufenbergs vom Untergange gerettet. Stoßen wir also an auf unsern süßen, duftenden, labenden kleinen Schutzgeist! Vivat, crescat, floreat!

Ich that von Herzen Bescheid und füllte meinen Teller mit einer neuen Dosis weißer Zimmetbeeren, deren Geschmack gewissermaßen an das Aetherische streift. Ohne Zweifel ist die [486] Ambrosia der alten Griechengötter aus diesen Beeren bereitet worden.

„Gestatten Sie mir nun noch eine Frage,“ hob ich wiederum an. „Nicht wahr, in Ihrer Hand concentrirt sich das gesammte Staufenberger Erdbeergeschäft? Sie sind Mittelsmann und Agent für das ganze obere und untere Dorf?“

„Keineswegs,“ erwiderte Böcherer. „Ist Ihnen nicht eine Schaar von Frauen und Kindern begegnet mit kleineren oder größeren Erdbeerkörben an den Armen oder auf dem Kopf? Sie alle führen ihre eigenen oder die Erzeugnisse ihrer Eltern auf den Markt, meist nach Baden, und besorgen den Detailhandel für eigene Rechnung und Gefahr. Außerdem aber haben wir hier eine Handelsgenossenschaft nach Schulze-Delitzsch’schen Principien, welche das Geschäft in’s Größere betreibt und ihre Waare ebenfalls mit der Eisenbahn bis nach Frankfurt am Main und weiter verschickt, namentlich jedoch den bekannten Curort Wildbad, drüben im Würtemberg’schen, mit Erdbeeren versorgt. Sie hat dort eine elegante Verkaufsbude etablirt, und alle Nächte tragen ihre Boten die am späten Abend frisch gepflückten Früchte auf dem Rücken durch die Waldberge an die Ufer der Enz hinüber, wo sie dann am andern Morgen auf der Promenade feilgeboten werden. Die Theilhaber dieser Association waren durchweg arme Leute, als sie ihre Gesellschaft gründeten; Keiner besaß mehr als ein paar Gulden im Vermögen. Heute sind sie, was wir hier, in unseren kleinen Verhältnissen, als wohlhabend zu bezeichnen pflegen.“

„Und Sie?“

„Ich darf mich, ohne unbescheiden zu sein, Ihnen als den bedeutendsten der Staufenberger Erdbeerproducenten und Händler vorstellen. Gleich den Mitgliedern der erwähnten Genossenschaft bebaue ich theils eigenes Land mit Erdbeeren, theils pachte ich in oder nach der Blüthezeit derart bepflanzte fremde Grundstücke, in guten Jahren wie heuer zu sechszig bis achtzig Gulden den Viertelmorgen, theils endlich, wenn ich die einlaufenden Aufträge von Karlsruhe, Rastatt, Straßburg etc. anderweit nicht ausführen kann, kaufe ich meinen Nachbarn die schon gepflückten Beeren selbst ab.“

„Kommen denn alle diese Massen von Beeren als Dessert auf die Tafel?“ frug ich, verwundert über dergleichen Ziffern.

„Nur der kleinste Theil davon,“ antwortete mein liebenswürdiger Wirth, „die meisten werden von den Conditoren und Fabrikanten conservirter Früchte bezogen und setzen eingesotten und eingezuckert dann ihre Weiterreise fort. Wer weiß, wer die schönen Zimmetbeeren verspeist, die meine Frau diesen Morgen hat pflücken lassen!“

Indem verkündete der Kukuk der landüblichen Schwarzwälder Uhr die sechste Stunde.

Eilig sprang ich auf.

„Kommen Sie!“ sagte ich, „es ist die höchste Zeit, wenn Sie mit dem Erträgniß Ihres heutigen Tagewerkes noch zur Bahn wollen. Kommen Sie! Ich begleite Sie nach der Stadt.“

Wir gingen die Treppe hinab; unten in einem großen Zimmer standen die zu befördernden Körbe auf langen Tafeln aufgepflanzt, daneben ihre Trägerinnen, die wohl schon ungeduldig des Aufbruchs geharrt haben mochten. Es war eine ansehnliche Zahl von Behältnissen verschiedener Größe, alle jedoch mehr flach als hoch; das kleinste enthält etwa acht, das größte nicht über zwanzig Pfund der aromatischen Waare, und jede einzelne Beerenschicht wird von der andern durch Lagen von Weinlaub getrennt.

Während wir durch die langgestreckte Gasse des Unterdorfes hinabwandelten, lenkte Böcherer meinen Blick noch einmal auf die steilen, streifenartigen Felder, welche zu beiden Seiten vom Orte höhwärts laufen. Meist sind Weinreben und Erdbeeren zusammengepflanzt; in der Regel wird die erstere indeß später ausgerodet, um so der letzteren Platz zu machen, weil der Anbau der Erdbeere einträglicher und insbesondere viel sicherer ist als derjenige des so vielen Chancen ausgesetzten Weinstocks. Hie und da kamen wir auch an Johannisbeeranlagen vorüber, die man gleicher Weise bereits im Großen begonnen hat, ohne von dieser Cultur indeß schon nennenswerthe Ergebnisse nachweisen zu können.

Im Pfeifer’schen Badhôtel zu Gernsbach sagte ich meinen Staufenbergern Dank und Lebewohl. Dann trat ich über Ebersteinschloß, von wo eben die letzten Wagen gen Baden abrollten, durch den bereits dämmernden Tannenforst meinen Rückweg in’s Oosthal an. Als ich, müde vom gestrigen Marsche, andern Tags später als gewöhnlich die Augen aufschlug, fielen sie auf ein Körbchen der erlesensten Zimmetbeeren – es war ein noch thaufrischer Morgengruß meiner Gastfreunde in den Vierlanden des Schwarzwaldes, jenem Staufenberg bei Rastatt, wie man den Ort auf der Erdbeerbörse benannt hat.
H. Scheube.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gernsdorf