Die Waage
Menschen haben die böse Gewohnheit, daß wenn sie jemand lieben, sie alles, auch die unnützesten Kleinigkeiten an ihm bewundern; hassen sie ihn, so wird auch das Lobwürdige an ihm getadelt.
Diesem Uebel wollte die Königin der Sitten, die Philosophie, steuren. Im Vorhofe der Vernunft ward also eine Waage aufgehängt, deren Eine Schaale das Gute, die andre das Böse wägen und durch das Uebergewicht der Einen oder der andern Lob oder Tadel bestimmt werden sollte. Der geschickteste Waagekünstler, Archimedes, ward zum Aufseher darüber gesetzt, damit ja kein ungerechtes Pöbelurtheil aufkommen, und einen Unschuldigen drücken könnte.
Alle diese Sorgfalt der Philosophie fruchtete wenig. Die Menschen konnten nicht dahin gebracht werden, zu loben, wen sie sich vorgenommen hatten zu tadeln, zu tadeln, wer einmal der Gegenstand ihrer Bewunderung war.
Da stand ein Christ auf und zeigte ihnen, „das Gute in einem Menschen sei Gottes Gabe, das Böse an ihm eines bösen Geistes Werk. Jenes müsse man ehren, dies bedauren, und bei beiden den Nächsten tragen, wie er auch wäre, und mit Klugheit ihn etwa bessern.“
Dem stimmeten Mehrere bei, und als sie gefragt wurden, wie sie dies sonderbare Gesetz bei sich in Uebung bringen könnten, antworteten sie: gar leicht! Denn eigentlich sei jeder Mensch wohlthätig. Der Gute sei uns liebenswürdig, der Böse merkwürdig; der Freund ein Gefährte, der Feind ein Lehrer; der Offene uns ein Gesellschafter, der Falsche ein Wächter.