Die Wahltage im bairischen Gebirg

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Autor: Dr. Karl Stieler
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Titel: Die Wahltage im bairischen Gebirg
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 615–618
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Wahltag im bairischen Gebirge.
Nach der Natur aufgenommen von Julius Nörr in München.

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Die Wahltage im bairischen Gebirg.
Mit Abbildung.

Der Zusammentritt der bairischen Kammer, welcher vor Kurzem stattfand, lenkt die Aufmerksamkeit von neuem auf die Tage ihrer Wahl zurück. Eigentlich lebt man in Baiern still: das Naturell der Bewohner ist ein behagliches, die Physiognomie des Landes eine friedliebende. Ganz besonders gilt dies für Südbaiern, wo der Landbau vorherrscht, wo man den regsamen Lärm und die Strapazen der Industrie weit weniger kennt, als in Franken. Dennoch ist der letzte Frühling auch hier ein stürmischer gewesen: eine eigenthümliche Erregtheit, ein fast nervöser Zug ging durch das öffentliche Leben. Wer nur ein mäßiges Feingefühl für die öffentliche Stimmung besaß, der mußte dies fühlen, der mußte bemerken, daß die Atmosphäre entzündlicher geworden war. Dichter als sonst war der politische Stoff in der Luft gelagert und theilte sich auch denen mit, die am wenigsten politische Sensibilität besitzen – dem Bauernstande. So lagen die Dinge in Baiern zu Anfang Mai, als die Wahlen zum Landtag ausgeschrieben waren: die Urwahl auf den 12., die Hauptwahl auf den 20. Mai.

Wer in diesen Tagen durch die Gebirge ging, der konnte sich einem eigenthümlichen Eindruck nicht entziehen. Ueber Berg und Thal der erste Frühlingshauch. Die Luft war so licht und die Sonne so mild, blaue Blumen und keimendes Farrenkraut blühte am Wege. Auf dem Buchenzweig, der die ersten Knospen trieb, schaukelte der Fink, auf dem Boden, wo noch das Herbstlaub lag, raschelten die Thiere des Waldes. Wie klar und einfach ist dieses Werden, wie leicht sind die Athemzüge dieses Lebens! Und wie mühevoll gestaltet der Mensch sein Dasein; wie schwer und verwickelt sind die Gesetze, mit denen er Organismen schafft und die Gesammtheit zusammenhält! Dieser Gegensatz fiel scharf in die Sinne. Wenn man herauskam in’s Thal, wo die Menschen wohnen, ging eine andere Luft. Um eine Mühle, die im Thalgrund lag, war das Volk versammelt … die Schüsse krachten, die Jodler tönten, ein Festschießen ging zu Ende. Es war ein milder Abend im Mai, es war zur Zeit, wo noch keine Fremden im Gebirg weilten, wo das bäuerliche Element sich noch unbeengt und unverstellt bethätigen darf. Hier und dort standen Gruppen beisammen und ereiferten sich in lauter Rede. Man sprach von den Wahlen. Einzelne aus den älteren Männern hatten erklärt, daß sie diesmal freisinnig handeln wollten, weil sie einsähen, wie der Clerus ihre Unerfahrenheit mißbrauche. Sie sagten das ohne Erbitterung, aber mit jener starken unbiegsamen Zähigkeit, mit der der Bauer seine Entschlüsse bekundet. Mancher Neugierige schloß sich an, mancher, dem die Natur das Wort und die Gedanken versagt hatte, nickte befriedigt. Ueber der Mühle lag ein waldiger Hügel, nach welchem die kleine Schaar der Berathenden gezogen war. Hier fühlte man die stille ergreifende Mainacht, und unwillkürlich war es, als ob der Gedanke der Freiheit einen plötzlichen Zauber erhalten hätte. Grüne Matten flimmernde Sterne und dazu der schlichte Ernst der Worte, die hier gesprochen wurden, wie tief ging das zu Herzen! Mit gekreuzten Armen standen die kräftigen Gestalten im Kreise, und dann drückten sie sich die Hände und gelobten, diesmal der Freiheit die Ehre zu geben. Das war die erste Wahlversammlung, es war ein Rütli im Kleinen.

Für den nächsten Tag ward eine öffentliche Versammlung berufen, die von einigen liberalen Männern ausging, um die Candidaten zu besprechen. Als diese Absicht ruchbar wurde, da war großes Halloh unter einem Theile der „Honoratioren“. Es giebt rühmliche Ausnahmen, aber es giebt auch Bureaukraten, denen von vornherein jede Versammlung vorkommt, wie ein Skandal. Mit ungewohnter Behendigkeit liefen diese hin und wider; die ganze Phalanx der Autorität sollte aufgestellt werden gegen solche Vermessenheit. Wie man in Zeiten der Noth aus dem Zeughaus die alten Kanonen holt, so drangen sie in den Pfarrhof ein und wollten den geistlichen Herrn holen, daß er die liberale Armee mit dem Granatenfeuer seiner heiligen Flüche bombardire.

Die Versammlung bot ein merkwürdiges Bild. Seit dem Schluß der vierziger Jahre war keine politische Zusammenkunft mehr gewesen bis zur Zollparlamentswahl, die Landtagswahlen hatten ohne innere Betheiligung des Volkes stattgefunden. Und nun auf einmal in aller Ruhe und Ordnung eine liberale Versammlung!

Der Schauplatz derselben war eines jener schönen langgestreckten Häuser, wo der Weg nach vielen Richtungen sich kreuzte. Von allen Seiten kamen die Bauern in ihrer Sonntagstracht. Neugier und Spannung lag auf allen Gesichtern. Auch die Schwarzgesinnten unter den Honoratioren waren da, ein peinliches Geflüster, das dem Bewußtsein der Gegensätze entspringt, ging durch die Reihen. Endlich zog man hinauf in den großen Saal, und ein schlichter Mensch, der in der Gegend daheim war, ergriff das Wort. Er widerlegte zuerst das Lieblingsthema der Priester, als ob die Begriffe „freisinnig sein“ und „preußisch werden“ sich deckten. Aber er sei ein guter Baier und darum bitte er die Leute, sie sollten sich nicht über Preußen den Kopf zerbrechen. Die deutsche Frage wird nicht von Baiern und noch weniger von den Bauern gelöst, sondern von der Weltgeschichte. Unsere Sorge kann nur die sein, daß die Stunde der Entscheidung uns vorbereitet findet. Je tüchtiger, je freisinniger Baiern im Innern entwickelt ist, desto wohlgehaltener wird es dann aus diesen Tagen der Krisis hervorgehen.

Zu dieser inneren Entwickelung mitzuwirken ist aber der Bauernstand hervorragend berufen. Hier kann der Einzelne durch seine Stimmführung bezeugen, ob er den Nutzen freisinniger Gesetze verstehe und ob er das Beste des Landes wolle.

Auf dem Lande wird der Fortschritt vielfach verlästert, und nur weil man ihn zu wenig kennt, gilt er für ein Gespenst. Man soll ihm frisch in die Augen schauen. An der Hand der neuen Gesetze entwickelte nun der Redner, was denn der Fortschritt in Wahrheit bedeutet. Wenn im Gewerbsgesetze Jedem die Verwerthung seiner Kraft gewährt wird, so ist dies doch nicht gefährlich, und wenn das Wehrgesetz auch intelligente und vermögliche Leute unter die Waffen ruft, ist das nur gerecht. Mit der Oeffentlichkeit des Verfahrens wird die Rechtspflege unter die Garantie des Publicums gestellt; durch die neue Gemeindeordnung begiebt sich der Staat einer Vormundschaft, die ihm nicht gebührte. Jedem das Seinige. Wenn man das Facit zieht, dann kommt der Fortschritt gerade dem gemeinen Mann am meisten zu Gute. Ihm werden Lasten abgenommen, die er allein vorher getragen, und Vortheile zugewendet, die er allein vorher entbehrte. Er braucht die Bildung am meisten und darum gewinnt er am meisten, wenn sie auf eine liberale Weise dem Volke vermittelt wird. In Baiern ist jetzt ein Ministerium am Ruder, das von dieser Ueberzeugung geleitet wird, und dem die vernünftige Erziehung des Volkes eine Herzenssache ist. Was in anderen Zeiten schrittweise erobert werden mußte, wird uns jetzt als ein ganzes einheitliches Werk und aus freier Hand geboten.

Daß wir diese Reformen verstehen, daß wir annehmen, was die Zeit von uns fordert, und die Zeit uns giebt, das ist der echte Fortschritt, und in diesem liegt weder eine Gefahr für die Ruhe des Landes, noch des Gewissens.

Wir sind loyal, indem wir liberal sind. So wählt denn Männer, welch diese Grundsätze vertreten!

Nicht mit diesen Worten, aber in diesem Geiste sprach der ländliche Redner, und ein wohlthätiges Gemurmel lief durch die Reihen. Das effectvolle Bravo und die künstliche Claque, in der [617] die Städte ihren Beifall spenden, ist auf dem Boden der Nagelschuhe noch nicht heimisch geworden; nur mezza voce äußert sich dort die Sympathie. „Ja, wenn das der Fortschritt ist,“ sagte Einer, „dann ist's ja soweit nit g'fehlt mit ihm, da sind wir ganz nahe bei einander.“ „Grad so hab' ich mir's immer vorgestellt, aber fürbringen kann ich's halt nit,“ erwiderte ein Anderer. Hier und dort nickten die Leute einander zu, es war nicht nur ein gewisses Verständniß, es war eine Stimmung geschaffen unter denselben. Sie fühlten bereits das, was sie dachten, und diese Stimmung ist der mächtigste Factor, der eine versammelte Menge beherrschen kann.

Um gegen den Strom zu schwimmen, muß man ein guter Schwimmer sein, und die Einfachheit zu besiegen, fordert vielleicht am meisten Kunst. Darauf aber sind „Honoratioren“ nicht vorgesehen. Sie hatten auf eine knüppelhafte wilde Rede gewartet, um ihren Knüppel aus dem Sack zu lassen auf eine liberale Orgie, um dann ihre „patriotischen Phantasien“ an den Mann zu bringen: die Mäßigkeit entwaffnete sie. Sie selber empfanden das, denn keiner von ihnen ergriff das Wort. Unbehaglich schoben sie sich hin und her unter der bewegten Menge, und die äußere Würde reichte nicht mehr aus, um ihr Selbstgefühl zu ernähren. Sie fühlten, daß sie innerlich unbetheiligt – d. h. daß sie überflüssig waren.

Das Schicksal der Wahl aber erschien von dieser Stunde an gesichert, denn als der 12. Mai kam, waren sämmtliche Urwahlen des Bezirkes liberal. So verlief die Agitation zum ersten Wahltag an einem der gefeiertsten Punkte des Gebirgs. Nicht überall hatte die freisinnige Partei frische Vertreter und Wortführer gefunden, und darum war Grund, daß man der Hauptwahl mit Sorge entgegensah. Sie fand am 20. Mai statt.

Denken Sie sich ein kleines Städtlein im bairischen Vorgebirge: durch die Lücken, welche die Gassen bilden, schauen die Berge herein mit tiefblauem Tannenwald. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße sind dicht zusammengerückt, und einige stehen so schief, als ob es ihnen zu enge würde. Manche sind im alten Styl mit dem breiten Vordach und der braunen Altane, andere haben sich modern geputzt und tragen statt des verwitterten Florian ein elegantes Marienbild. Hier und dort thront ein altertümliches Thor oder ein steinerner Bogen und allenthalben ist das Pflaster entsetzlich. Das ist ungefähr die Physiognomie des Städtchens: eine seltsame Mischung von Stadt und Land. Auf dem Marktplatz steht nach alter Sitte der mächtige Brunnen, auch die Amtsgebäude stehen daselbst, und das große Wappen mit dem blauweißen Schild sieht aus, als ob die Häuser eine Dienstmütze trügen. Heute bietet die Stadt ein bewegtes Bild; alle Welt ist auf den Gassen. Auch die besagten Amtsgebäude sind in Uniform, denn eine blauweiße Flagge hängt bis auf die Erde hernieder, und die Buben springen darnach, ob sie die Zipfel erreichen können. Vor den Thüren drängen sich die Gäste – eine wahre Wagenburg ist vor den Wirthshäusern aufgefahren.

Es ist der Vorabend der Landtagswahl. Um die Vorberathungen nicht zu versäumen, sind die meisten Gäste schon Nachmittags eingetroffen, und der Conflict der Meinungen, der Wohnungs- und Nahrungssorgen erzeugt jenes liebliche Durcheinander.

Trotz des Regens stehen die Menschen in dichten Gruppen auf dem Platze. Jede Hausthür ist eine Tribüne, jeder Wirthshaussessel ein Parlamentssitz geworden. Mitten im Knäuel aber steht Einer, der in ungebundener Rede die Lage schildert und für den Gebrauch der Ellenbogen ein feines Verständniß besitzt. Beifallsrufe und Zeichen der Entrüstung unterbrechen den Redner unter seinem Regenschirmzelt, aber er läßt sich nicht unterbrechen; Neugierige aller Sorten umdrängen ihn, aber er läßt sich nicht von seinem Standpunkt verdrängen. Jeder spricht, Jeder hört auf seine eigene Weise. Der Eine hat die Pfeife im Mund, der Andere stemmt die Arme in die Seite, wasserdichte Naturen halten den Regenschirm in der Hand und sind zu faul, ihn aufzumachen. Das ist die Politik des Volkes.

Wenn man die Wahlmänner, die hier gekommen sind, von außen (und noch mehr von unten) betrachtet, so sieht man fast lauter Lederstiefel und schwarze Röcke, das heißt die Mehrzahl der Wahlmänner sind Bauern oder Geistliche, und bei manchen war es schwer, den Unterschied gleich zu entdecken.

An und für sich ist der Typus des altbairischen Landpfarrers weder unbekannt, noch zu genauerer Bekanntschaft verlockend, allein in dieser Scala wurde er wahrhaft interessant. Etwa hundert Cleriker waren hier versammelt, von der Gestalt des Falstaff herab bis zum hageren grausamen Shylock. Mit jener Zuversicht, welche bei unfeinen Naturen stets durch die Quantität erzeugt wird, wanderten sie durch die Straßen, bald in eifriger Rede, bald mit nachlässiger Güte an's Publicum sich wendend. Man fühlte, daß die Straße ein politisches Lager war, und wußte, wer das Commando in demselben besaß. Man wußte auch, wer die morgige Schlacht gewinnen würde. Hier und dort fiel die alte, vom Clerus ausgegebene Parolen „Wir wollen nicht preußisch, wir wollen nicht lutherisch werden.“ Der Parlamentär, den die Liberalen sandten, um Vergleiche zu offeriren, kam unempfangen wieder. Tapfer und rührig kämpfte die kleine Schaar, die die Fahne der Freiheit trug, aber der Sieg war den schwarzen Fahnen beschieden.

Wer hier auf der Straße stand, der konnte erkennen, wie das Volk die Politik behandelt. Der Grundfehler aber ist, daß der Begriff des Staates, daß der Sinn für’s Ganze so wenig entwickelt ist. Da der Horizont der Meisten nicht über die Sphäre ihres Hauses oder ihres Geschäftes hinausreicht, so hält Jeder dieselben Maßregeln, die im Hause nöthig sind, auch im Staate für möglich. Jedes Opfer, das der Staat ihm auferlegt, hält der Bauer nicht für ein Opfer, das er dem Ganzen bringt, sondern für eine Belästigung, für eine Chicane, die dem Einzelnen angethan wird, denn Jeder geht vom individuellen statt vom gemeinen Bedürfniß aus.

Diesen Zug haben die Geistlichen wohl erkannt und daran knüpfen sie ihre wirksamste Agitation. Allen gemeinnützigen Bestimmungen, die nicht ihrer Richtung dienen, gewinnen sie die subjective Seite ab und hemmen dadurch die Popularität derselben. So war es beispielsweise beim Schulgesetz. Auf das Heftigste wurde von Seiten des Clerus betont, welche Last hierdurch auf die Eltern, welcher Zwang auf die Familie fällt. Welche Wohlthat es aber ist für ein Land, wenn das Niveau der Volksbildung sich hebt, das ward mit keinem Worte gesagt (und vielleicht auch nicht empfunden).

Dem Clerus fehlt der staatliche Gemeinsinn. Berufs- und gewohnheitsmäßig ist er geneigt, sich mit einer Summe von Einzelnen abzugeben, der geheime Vertrauensmann ihrer Seelen zu sein. Er faßt mehr denn jeder Andere den Menschen als Individuum, und der corporative Begriff (die Vereinigung der Menschen) hat für ihn nur Interesse auf dem religiösen Gebiet. Mit einem Worte: sein Staat ist die Kirche. Bei den meisten Geistlichen wirkt schon die Erziehung in dieser Richtung; bei den wenigsten schafft die persönliche Bildung ein Gegengewicht. Deshalb lag auch der Schwerpunkt clerikaler Agitationen von jeher in der individuellen Pression. Dem Einzelnen gegenüber sind ihre Waffen am wirksamsten, denn sie sind in das feine Gift der Subjectivität getaucht.

Am Abend vor der Wahl war große Versammlung. Auf Tischen und Bänken standen die Hörer, die liberale Partei empfahl ihre Candidaten und lud zu Gegenvorschlägen in collegialer Weise ein. Bürger und Beamte, selbst Bauern traten als Redner auf aber kaum ein einziger Priester. Die geistlichen Herren agitiren nicht gern in Versammlungen, der Intelligenz des Ganzen gegenüber. Nur unter Parteigenossen, nur auf der Kanzel, wo die Einrede fehlt, streben sie nach Massenwirkung, im Verkehr des Lebens aber wenden sie sich stets an’s Ich, und das Ich ist die Achillesferse eines Jeden.

Ohne Täuschung über das, was kommen würde, ging man Abends auseinander – zur ruhelosen Ruhe. Obgleich alle Gasthäuser überfüllt waren, war man dennoch trefflich aufgehoben, denn die Bewohner des Städtchens stellten mit Freuden ihre Räume zur Verfügung. Die meisten waren wohlhabende Bürgerfamilien und die Staatszimmer des Hauses wurden heute geöffnet. An den Wänden hingen die Portraits der Eigentümer, er mit dem Blumenstrauß im Knopfloch, sie mit siedend rothen Wangen, Beide vom „Künstler“ schauerlich mißhandelt. Die Geschichte der heiligen Genofeva in Farbendruck und goldenem Rahmen wirkte ergänzend nach und wurde nur von einigen Heiligenbildern übertroffen. Auf den Betten war eine weiße gehäkelte Decke, auf dem Tisch ein noch niemals gefülltes Tintenzeug – das waren die Zeichen dieser Wohnlichkeit. Ueberall waren die Leute liebenswürdig und zuvorkommend, überall zeigte sich der Stempel eines [618] sicheren, aber geschonten, unbenützten Wohlstandes. Und nun kamen die schweren Wahlmännerstiefel und trabten auf der gescheuerten Diele umher, wie die Soldaten im Quartier. Ach, es waren ja die Truppen zur morgigen Wahlschlacht!

Sie ward von den „Patrioten“ mit einem großen Hochamt eröffnet. In dem gewaltigen Saal, wo die Wahl vollzogen wurde, prangten Fahnen und Wappen, an einem blaudrapirten Tisch saß der Ausschuß und der Wahlcommissär der Regierung, der die Zettel vertheilte. Rechts und links waren die Tische der Parteigenossen, welche ein förmliches Schreib- und Werbebureau errichteten. Mitten drinnen endloses Menschengewühl. Namen aller Parteien tönten hin und wider; Anträge wurden gemacht und verworfen, Unmuth und Witz, Rohheit und Würde ließen sich vernehmen. Ein mißliebiger Name wurde gerufen. „Jawohl,“ schrie ein Bauer dazwischen, „wählen wir den; der sagt heute so und morgen so, der gilt gleich für Zwei. Dann ersparen wir uns die halbe Arbeit, denn die ganze ist doch umsonst.“

Nach den gesetzlichen Bestimmungen ist es gestattet, daß ein Anderer den Wahlzettel ausfüllt, wenn derselbe nur vom Wähler selbst unterzeichnet ist. Gerade hierdurch entsteht zu Unterschleifen mancherlei Gelegenheit, indem die Inhaber solcher Wahlzettel getäuscht oder gar nicht um ihre Meinung gefragt werden. Ein Fall der letzteren Art kam zur Anzeige.

„Der Herr Pfarrer von F. soll vortreten,“ rief der Regierungscommissär. Durch die schmale Gasse, die sich im Menschengewühl gebildet hatte, durch die allgemeine Sensation wand der Gerufene sich erröthend hindurch.

„Sie haben für die beiden Bauern N. und N. die Wahlzettel ausgefüllt?“

„Ja.“

„Ist dies im Auftrag derselben geschehen?“

„Ja.“

„Wo sind die Beiden? Sie sollen vortreten!“

Das kleine Auge des Angeschuldigten stach zuckend durch den Saal. „Sie sind fort!“ sprach er befriedigt.

Unter allgemeiner Erregung wurden die Beiden aufgesucht und kamen zur Stelle.

„Habt Ihr dem Herrn Pfarrer von F. Auftrag gegeben, Eure Wahlzettel auszufüllen?“ redete der Commissär sie an.

„Ja,“ antworteten Beide übereinstimmend.

„Hat er auch die Namen der zu Wählenden in Eurem Auftrage geschrieben?“

„Ja.“

„Gut – und welche Namen habt Ihr ihm aufgetragen?“

„Die, welche auf dem Zettel stehen,“ erwiderten Beide kurz.

„So – und welche stehen denn auf dem Zettel?“ Keiner der Beiden wußte auch nur einen einzigen der Namen anzugeben, für welche der Pfarrer die Unterschrift ihnen abgenommen hatte.

Sofort wurden durch Beschluß des Ausschusses beide Wahlen vernichtet, der Vorgang aber zur weiteren Behandlung in’s Wahlprotokoll eingetragen. Von acht Uhr Morgens bis Abends sechs Uhr dauerte der Kampf – der Sieg aber blieb den Ultramontanen. –

Wäre dies Ergebniß der wahre Ausdruck der Volksmeinung, dann hätte ein liberales Regiment in Baiern schweren Stand. Allein man darf nicht vergessen, wie viele dieser Wahlen gemacht sind und daß der Clerus fast allein am Platze stand, als es sich darum handelte, sie zu machen. Nur die Partei, welche die Freiheit organisirt und handhabt, fehlt auf dem Lande; die Freiheit selbst ist dort nicht verrufen. Das werden spätere Wahlen

darthun. Auch Baiern ist besser als sein Ruf.
Dr. Karl Stieler.