Die Wassersnoth in Sachsen

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Titel: Die Wassersnoth in Sachsen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34–36, S. 490–491, 504–407, 516–519
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Wassersnoth in Sachsen.
I. Glauchau

Die letzten Tage des Juli bis zum 3.–4. August waren für Sachsen und einen großen Theil von Böhmen und Schlesien Tage der Angst und des Schreckens, wie sie seit langen Jahren nicht verlebt wurden. Nach wochenlanger drückender Hitze stürzte endlich am 28. Juli der langerwartete Regen, aber in so furchtbaren und anhaltenden Strömen herab, daß sehr bald alle Bäche und Flüsse austraten und die benachbarten Fluren überschwemmten. Mit jeder halben Stunde hob sich die Wassermasse zu einer früher nicht gekannten Höhe, und stürmte zerstörend und Brücken, Dämme und Häuser mit sich fortreißend, in die Tiefe der Thäler und Ebenen hinab. Besonders war es in Sachsen das Muldenthal, von Zwickau bis nach Wurzen herab, dessen Fluren und Ortschaften nach allen Seiten hin in schreckenerregender Weise überschwemmt wurden. Zwickau, Glauchau, Penig, Colditz, Wolkenburg, Grimma standen tagelang bis über die erste Etage in Wasserfluthen, an einigen dieser Orte sind 50 und mehr Häuser weggerissen und eben so viele dem Einsturz nahe. Eisenbahnstrecken von 200 und mehr Ellen wurden vernichtet, und Menschenleben in Masse gingen verloren. Neben der Mulde waren es indeß auch die Pleiße, Elster, Chemnitz und Weiseritz, die aus ihren Ufern traten und furchtbare Verheerungen anrichteten, so daß Millionen kaum hinreichen werden, den Schaden zu decken.

Die Redaction der Gartenlaube hat sofort nach Eingang der betrübenden Nachrichten tüchtige Künstler an die am meisten dem Wasser ausgesetzten Ortschaften gesandt, um naturgetreue Abbildungen aufzunehmen, die ein deutliches Bild des Unglücks geben. Außerdem sind Veranstaltungen getroffen, daß die detaillirten Schilderungen nur von Augenzeugen geliefert werden, und so dürfen sich unsere Leser der Ueberzeugung hingeben, daß sie keine aus Zeitungsberichten zusammengerafften Beschreibungen, sondern authentische, auf eigene Anschauung gegründete Schilderungen lesen.


Schon oft und zu verschiedenen Zeiten ist die Mulde entweder in Folge des Thauwetters oder durch bedeutende Regengüsse zum Strome angeschwollen und hat dann, die Ufer überschreitend, ihr schönes Thal unter Wasser gesetzt, was sich indeß stets in kurzer Zeit wieder zu verlaufen pflegte.

Mit diesem Ereignisse waren die Bewohner der Stadt Glauchau durch die fast gleichmäßige Wiederkehr im Laufe der Zeiten so bekannt und vertraut geworden, daß sie meinten, Höhe, Umfang und Dauer einer solchen Ueberströmung ziemlich sicher im Voraus bestimmen zu können. Der höchste Wasserstand und die gewaltigste der Ueberfluthungen hatte seit Menschengedenken einen größeren Schaden kaum angerichtet, als daß vielleicht das große Wehr eingerissen, oder die dem Muldenflusse nächstgelegenen Felder und Wiesen mit Sand und Schlamm belegt, oder höchstens eine Hausflur der wenigen Anwohner der Mulde eingenäßt worden war.

Daher kam es auch, daß besonders seit dem zweiten Jahrzehent unseres Säculums, als die Industrie Glauchau’s sich entfaltete, man kein Bedenken trug, in unmittelbarer Nähe der Mulde Wohnungen aufzubauen, denn bis dahin war solches nur von Seiten der Leute geschehen, die zu ihrem Gewerbe hauptsächlich des Wassers bedurften.

Während die alte Stadt Glauchau auf der an östlicher Seite des Muldenthales befindlichen Höhe lag, entstand so im Thale selbst, zu beiden Seiten des Mühlgrabens und der Mulde, nach und nach ein neuer Stadttheil, den man mit dem Namen des Wehrdigts belegte, während man das ursprüngliche, auf der Höhe liegende Glauchau die Oberstadt oder auch kurzweg die Stadt zu nennen anfing.

Dieser sogenannte Wehrdigt hat nun von Jahr zu Jahr sich vergrößert und erweitert und auch verschönert. Aus Gassen sind Straßen geworden und inmitten der bekannten großen Etablissements in Spinnerei, Färberei, Druckerei und Tuchscheererei, in Fabrikation wollener, baumwollener und halbseidener Waaren, in Eisengießerei und Maschinenbauwesen stehen die vielen Häuser und Häuschen der Musterschläger, Weber, Handwerker, Arbeiter und verschiedener anderer Leute, welche das Thal der Höhe vorgezogen haben, so daß man die Bewohner dieses Stadtteiles jetzt mit Bestimmtheit über dreitausend annehmen kann.

Die auf der Höhe sich lang ausdehnende Oberstadt mit ihren beiden Schlössern der erlauchten Grafen von Schönburg, mit ihren großen und kleinen Thürmen und mit ihren vielfensterigen Häusern der verschiedensten (alten und neuen) Bauart schaut von oben herab auf den Wehrdigt, wie eine achtbare, ehrwürdige Mutter auf die muntere, rührige Tochter.

Besonders in neuester Zeit war für die Erweiterung und Verschönerung Glauchau’s Vieles und für die Hebung des Lebens selbst in allen Beziehungen Bedeutungsvolles und Wichtiges geschehen. – Die Eisenbahn, welche, von Chemnitz her über Glauchau nach Zwickau sich ziehend, mit ihrem hohen Damme, mit ihrer schönen Muldenbrücke und ihrem aus vielen Bogen bestehenden Viaducte das Thal quer durchschneidet, sollte nächstens feierlich eröffnet werden; schon waren überall in Glauchau die Gasröhren gelegt und deren aufgestellte Candelaber harrten dem Abende ihrer ersten Lichtströmung entgegen; auf dem Wehrdigt waren längst des Muldenflusses zu Fahrstraßen aufgefüllte Dämme ihrer Vollendung nahe; die Oberstadt war mit Schleußen und mit einer künstlichen Wasserleitung versehen worden, welche das flüssige krystallene Element bis in die obersten Stockwerke der Häuser treiben kann; der Bau einer neuen großen Bürgerschule ist längst in Angriff genommen, und nur des letzten Werkes, einer durchgehenden Pflasterung mit Trottoirs, bedurfte es noch, um Glauchau in vollendetem Zustande der Zukunft übergeben zu können.

Man freute sich dieser durchgängigen Vervollständigung, wie viele Opfer sie auch schon gekostet hatte und wie viele Opfer sie auch noch kosten mußte; die Tafeln, so zu sagen, woran die nachfolgenden Geschlechter speisen sollten, waren schon fast durchgängig [491] und reichlich gedeckt – – da brachen die unglückseligen Tage anhaltender Regenwetter an, welche die Oberstadt bis zum Einbruche verschiedener Kellerstrecken erweichten und den Wehrdigt mit einer nie dagewesenen Wasserfluth heimsuchten, wodurch die Dämme und Straßen zerrissen, die Brücken des Verkehrs nach außen abgebrochen und fortgeführt, die Wohnungen vieler Menschen zerstört, Waarenlager beschädigt, Candelaber der Gasbeleuchtung umgestürzt, der Damm der Eisenbahn durchbrochen, deren Viaduct ruinirt, Hunderte von Menschenleben in Gefahr gebracht und die Geschäftsthätigkeit, diese nährende Mutter Glauchau’s, theils unterbrochen und gehemmt, theils auf längere Zeit zur Unmöglichkeit herabgedrückt worden ist.

Zwar ist der Umfang des durch dieses Ereigniß herbeigeführten Schadens und Unglückes noch nicht allseitig ermittelt und kann es auch nicht sein, und es müßte daher voreilig erscheinen, wenn man schon jetzt Alles als genau bemessen darstellen wollte, doch so viel ist mit voller Bestimmtheit zu behausten, daß Glauchau aus diesem Unglücke sich nicht sobald wieder aufrichten kann, wofern nicht die hülfreiche, allgemeine Theilnahme und namentlich die Vermitteln des Staates ihr Mögliches thun.

Die vorliegende Mitteilung kann nur den Zweck haben, vor dem Auge der Welt ein wahrheitsgetreues Bild der Angsttage und Schreckensnächte aufzurollen, welche die erwähnte Wasserfluth über Glauchau’s Bewohner gebracht hat.

Am 30. Juli d. J. begann die Mulde, durch anhaltende Regenwetter genährt, zu schwellen, und vielleicht mancher Knabe hoffte, in Erinnerung an frühere Zeiten, auf die Gelegenheit, wieder einmal mit Fug und Recht im Wasser umherwaten, oder die Vortrefflichkeit seiner Juchtenstiefeln erproben, oder in Gemeinschaft mit seinen Cameraden in gewohnter Weise eine kleine Flottille von Bretern und alten Thüren improvisiren zu können. Diese Hoffnung wuchs, da der Himmel sich nicht aufheiterte.

Sonnabends den 31. Juli früh fand man schon ein Stück der Terrassenmauer am Meisterhause der Weberinnung in Folge der den Grund lockernden Nässe eingestürzt, welches in chaosähnlicher Lagerung am Berge hinab bis auf den vorüberführenden Fußweg gerollt war. Aehnliches nahm man auch an anderen Stellen des Berges wahr, worauf die Oberstadt gelegen ist; ja, eine herabgestürzte Bergmasse hatte bereits die Wand einer am Fußwege gelegenen Schankwirthschaft eingedrückt, was Alles um so unheilverkündender erschien, als der Regen noch immer fortdauerte. Die Mulde drohte und begann endlich, ihre Ufer zu überschreiten, und zwar von früh neun Uhr an mit sichtbarer Geschwindigkeit. Schon kamen verschiedene Holzstücke u. s. w. geschwommen, welche die Freunde und Liebhaber des Strandrechtes zu vielfacher von sonst schon gewohnter Thätigkeit veranlaßten. Gegen elf Uhr wurden schon hier und da die Wege und Gassen ungangbar, Zusammenrottungen Neugieriger zeigten sich und es entwickelte sich nach und nach jenes Umherwogen der Menschenmassen, was, durch unbestimmte Erwartungen und Befürchtungen verursacht, lawinenartig zuzunnehmen pflegt. Es regnete fort, – das Wasser stieg mehr und mehr, zuletzt von fünf Minuten zu fünf Minuten.

Pferde und anderes Vieh wurde in die Ställe der Oberstadt gebracht. Um zwei Uhr schon watete man in den meisten Gassen und Straßen bis an die Knie und höher im Wasser. Jetzt nun, und leider zu spät, wurde geahnt, daß noch nie Dagewesenes bevorstehe. Aeltere Leute namentlich konnten aber immer noch nicht sich zum Glauben an das Schlimmste bequemen. Indessen wurde schon wacker gerettet. Die Gemüther waren aufgeregt und erglühten in jener kühnen Verachtung aller Gefahr, welche noch vor Sonnenuntergange sich zum Heldenmuthe steigern sollte, wie ihn nur die verzweifelte Liebe oder die Sorge für das eigene Herzblut eingeben kann.

Kähne waren nicht vorhanden. Die Mulde ist in der Regel so seicht, daß man sie nur an sehr wenigen Stellen befahren könnte, und der Gedanke an Beschaffung derartiger Fahrzeuge mußte den Bewohnern Glauchau's fern bleiben, da die Stadt zeither zwei große hölzerne Brücken zum Verkehre nach außen halte, die sogenannte obere und die niedere Wasserbrücke, so bezeichnet zum Unterschiede von drei anderen Brücken, die in Nord und Süd die durch Thalwindungen getrennten Theile der Oberstadt verbinden. Aber die erwähnten beiden Muldenbrücken wurden schon im Laufe des Nachmittags von den immer höher gehenden Wogen beleckt und bespült und sind in der mächtigen Finsterniß zwischen Sonnabend und Sonntag krachend gebrochen und in großen Stücken von den Wogen fortgetragen worden. Vorher aber und noch vor Eintritt der Abenddämmerung waren eiligst zusammengefügte Fähren bei dem Rettungswerke in voller Thätigkeit, und die geringe Tragfähigkeit derselben zeugte theils von der Unkunde ihrer hülfseifrigen Verfertiger, theils war sie Ursache, daß mancher edle Retter bis an den Hals im Wasser gehen mußte, um das Fahrzeug nur einigermaßen zu dirigiren, und war auch Ursache, daß die Rettungsbedürftigen oft nicht ohne eine Angst- und Nothtaufe in Sicherheit gebracht werden konnten. Schon am späten Nachmittag begannen Häuser zu wanken und endlich einzustürzen. Nothschüsse erfolgten, Hülferufe wurden gehört, hier und da sah man weiße Nothfahnen ausgesteckt. Welche Stunden der Angst und Trostlosigkeit habt ihr durchleben müssen! Der Griffel sinkt mir aus der Hand, wenn und so oft ich jener Seelenkämpfe gedenke. Ach, ihr hülfeflehenden Seelen, die ihr fast nicht mehr auf Rettung hoffen durftet, weil die Wasser höher wogten und immer reißender strömten, und weil der Tag sich neigte und in die tiefste Finsterniß versank! — Ach, ihr bebenden Herzen, die ihr die Noth der Unglücklichen tausendfach mitfühltet, ohne helfen zu können, und, wenn in der Finsternis drüben die Häuser krachend in den Tumult der Wasser sanken, nicht ahnen konntet, wen das Schicksal erreicht haben mochte!

Alles ward gedacht, versucht und gethan, was umsichtige Fürsorge, Herzensangst und Heldenmuth denken, versuchen und thun können. Säle wurden geheizt und erwärmende Tränke bereitet für Retter und Gerettete, ja sogar an den Rettungsstellen selbst stellte zuvorkommendes Mitleid seine gastlichen Tische unter freiem Himmel auf. Man telegraphirte von Seiten des Stadtrates nach Chemnitz um Kähne, welche aber wegen dortiger Ueberschwemmung nicht zu erlangen waren. Man wandte sich in gleicher Weise nach Zwickau, von wo die Nachricht einging, daß die neue Eisenbahn füglich nicht zu befahren sei. Hiesige Zimmermeister sagten zu, mit Anbruche des Sonntags brauchbarere Rettungsfähren zu schaffen; — und damit die in der Wassersnoth Befindlichen Wahrzeichen der allgemeinen aufgeregten Wachsamkeit und Hülfsbereitschaft haben sollten, wurden an vielen Stellen Pechpfannen angezündet, und namentlich in der langen Fronte des Meisterhauses Lichter in die zahlreichen Fenster gestellt. Ach, die Unglücklichen verstanden diese Trostreichen der Liebe nicht! Die nebelige Beschaffenheit der nächtlichen Finsterniß verdoppelte, und verdreifachte den scheinbaren Umfang der leuchtenden Pechflammen, und zu der Trostlosigkeit inmitten der tobenden Gewässer gesellt sich nun noch der schreckliche Wahn, daß zu der Wassersnoth, auch noch die Feuersnoth gekommen, sei. Inzwischen wagte und vollbrachte in wirklicher Todesverachtung der Heldenmuth Einzelner göttliche Werke der Hülfe und Rettung.


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Die Neugasse in Glauchau während der Ueberschwemmung.

[504] Ach, daß es möglich wäre, ohne der Bescheidenheit und dem Zartgefühle aller jener Helden zu nahe zu treten, ihre Namen auszurufen, und die Welt aufzufordern, ihnen im Namen der Menschlichkeit zu huldigen! Die Dichter würden manches Lied von manchem „braven Manne“ zu singen haben, das erbaulich wie Orgelton und Glockenklang in den Herzen guter Menschen wiedertönen müßte. Und in all solcher Noth hörten die bedrängten Bewohner Glauchau’s die Sturmglocken des weiter unten gelegenen, ebenfalls überflutheten Dorfes Jerisau, und erhielten zeitweilig Hiobsposten von den höher an der Mulde gelegenen Dörfern Wulm und Schlunzig. Auf dem Wehrdigt brachen sich die bedrängten Insassen der unsichern oder sinkenden Häuser mit der Gewalt der Verzweiflung einen Weg in festere Häuser, indem sie die Giebelwände durchschlugen und so durch Löcher aus einem Hause in das andere krochen. Auf solche Weise wurden die festeren Häuser in Casernen der Verzweiflung verwandelt. Ja, auf den Dächern ist man weiter gerutscht, und an Seilen und ausgespannten Leinen hat man die Orte der Angst verlassen. Aus dem Fenster eines wankenden Hauses hat sich die zahlreiche Bewohnerschaft desselben mit Hülfe eines der elendesten Fahrzeuge auf einen im Garten aufgestellten Breterhaufen eines Tischlers gerettet, hat daselbst in schwebender Pein die dunkle Nacht zugebracht und ist erst mit dem Grauen des Tages auf derselben elenden Fähre an ein entfernteres Nachbarhaus gerudert, um dort durch’s Fenster aufgenommen zu werden.

Sonntags früh telegraphirte man nach Dresden, um Schiffe und Kähne herbeikommen zu lassen, und in gleicher Weise wurde das hohe Ministerium des Kriegs um eine Pionnier- und Pontonnier-Abtheilung mit Schaluppen gebeten. Beide Gesuche waren von Erfolg, und schon Mittags 12 Uhr ging der erste Extrazug mit Privatkähnen und später ein zweiter Extrazug mit Militair und Kähnen von Dresden ab. Unterdeß ward in Glauchau das Rettungswerk vom frühen Morgen an unausgesetzt fortbetrieben, was namentlich dadurch sehr unterstützt wurde, daß wenigstens vom Bade Hohenstein ein kleiner Kahn angekommen war, mit und auf welchem aus einer der schon oben erwähnten Verzweiflungscasernen gegen 64 Menschen gerettet wurden. Ein wahres Trostwort war für Glauchau die Zusage von Dresden. Aber der Hülfsbdürftige ist ungeduldig und kann die Zeit nicht erwarten. Darum schmeichelte man sich, die Dresdner Hülfe könne schon Nachmittags 4 Uhr eintreffen. Der etwaigen Hindernisse gedachte man nicht. Der Nachmittag verging, aber die Hülfe war noch nicht da. Auch hatten die Fluthen den Eisenbahndamm zerrissen, was die Aufmerksamkeit vieler Leute auf sich zog und Veranlassung ward, daß eine Menge Menschen die Eisenbahn in nächsten Augenschein nahm. Die auf dem Viaducte, der Sonntags noch unbeschädigt war, stehenden Leute bemerkten bald einen Mann, der scheinbar zu seinem Vergnügen auf der weit ausgedehnten Wasserfläche, von dem sogenannten Feldschlößchen her, in einem Backtroge, aber mit einer großen Ruderstange versehen, anscheinend ganz gemüthlich thalabwärts schiffte. Je mehr er aber der Eisenbahn sich näherte, desto mehr konnte man seine Rührigkeit und Anstrengung bemerken, von der Richtung, die das fluthende Wasser nach dem Viaducte zu nahm, ab und nach den Feldern hinzukommen. Seine Mühe war vergebens. Die Strömung führte ihn nach der Ueberbrückung der Waldenburger Straße zu, auf welcher das Wasser sich wie ein Golfstrom hinwälzte, und man sah ihn bald darauf unterhalb der Eisenbahn, von seinem Backtroge getrennt, in den Fluthen verschwinden. Alle harrten gegen Abend den Schiffern und Soldaten entgegen, welche nun bald eintreffen mußten, und während Tausende gespannter Augen, von den Höhen der Stadt aus, der Gegend zugewandt waren, wo sie, von Gößnitz oder Zwickau kommend, in der Ferne erscheinen mußten, entfaltete sich am westlichen Horizonte ein Schauspiel, das unter günstigeren Verhältnissen für die Reifen ein Gegenstand der heitersten Bewunderung und für aufknospende Herzen die Ursache zu einem Seufzer und zum Wunsche nach allem Namenlosen geworden wäre.

Noch sah man an vielen Häusern die Nothfahnen flattern, noch hörte man Schüsse und Hülferufe und noch lag der Schatten grauer Wolken über dem Schauplatze des Unglücks, der Angst und der Zerstörung, als mit einem Male die zum Untergange sich neigende Sonne, groß, wie ein feuriges Rad, ihre blutrothe Scheibe aus den Wolken drängte, den ganzen Himmel färbte und aus jedem Diamanttröpfchen der nebeligen Athmosphäre tausendfarbig zurückgestrahlt wurde. Die Wogen, Wellen und Wellchen der über das ganze Thal fast bis nach Gesau ausgedehnten Wasserfluth tanzten gleichsam und spiegelten den rothen Glanz des Himmels zurück und manches bange und verzagte Herz fühlte dabei wohl eine Anwandelung von Trost und Muth und von Erinnerung an jene kindliche Erzählung des alten Testamentes von Noah und dem Regenbogen. War es doch, als ob selbst die Nothschreie der Bedrängten bei solchem Erscheinen der Himmelskönigin verstummten und der Kampf des Elementes sich zum Frieden neigen wollte. Dieser schöne Moment dauerte nicht lange; die Sonne verhüllte sich wieder und in Wasser und Luft und in der zunehmenden Geschäftigkeit der Menschen kündigte sich der nahende Abend und die ihm folgende Nacht an.

Viele, Viele waren schon gerettet und die Geretteten liefen theilweise umher, sich gegenseitig suchend. Manches Kind wußte – vielleicht nur in Folge der Bestürzung oder der Freude über seine Rettung – nicht, wem es angehöre und wo es gewohnt habe. Die zur Aufnahme der Geretteten geöffneten und geheizten Säle füllten sich von Stunde zu Stunde mehr. Auch war man durch die anhaltende Uebung im Retten geschickter, gewandter und schneller geworden. Spät des Abends kamen endlich die Dresdner Schiffer mit ihren Kähnen von Dresden an. Sie hatten den Weg über

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Ansicht von Glauchau während der Ueberschwemmung.

[506] Gößnitz und Zwickau nehmen müssen, wo sie erst um sieben Uhr ungefähr eingetroffen waren, und von da aus hatten sie bis nach Glauchau drei langer Stunden bedurft, weil sie theilweise nöthig gehabt hatten, ihre auf Bahnwagen verpackten Kähne eigenhändig vorwärts zu schieben. Die ermüdeten und doch helfbegierigen Männer dachten auch nicht erst an ihre Erholung, sondern setzten ihre Kähne sofort in’s Wasser, und obschon der grauenhaften Finsterniß wegen ihre Ordre dahin lautete, während der Nacht nicht über den Strom zu setzen, sondern an der linken Seite der Mulde zu bleiben, so hatte doch der eine Kahn, durch eine Pechpfanne verleitet, den weiten Weg vom Eisenbahndamme ab zwischen dem Feldschlößchen und dem Waisenhause nach der Muldenstraße (genannt Westphalen) und von da über den Sandanger querein durch den furchtbaren Strom bis zum Gründeldamme gefunden. Nun war Trost für Glauchau vorhanden und bis früh gegen zwei Uhr ward theils gerettet, theils Nahrung zugeführt. Mit Tagesanbruch schwammen auch schon die Schaluppen des nachgekommenen Militairs auf der Hochfluth. Schiffer, Soldaten und die beherzten Männer und Jünglinge der in Glauchau bald von selbst gebildeten Schaar der Rettung vereinten nun ihre Kräfte, erst, um die Personen, dann, um die nachgelassene Habe zu retten; – und wer sollte es meinen?! Alle sind gerettet worden, bis auf ein siebenjähriges Kind, welches dem mit seiner Rettung geschäftigten Vater durch einen stürzenden Balken vom Arme geschlagen und von einer einstürzenden Mauer überschüttet wurde. Die Gewässer verliefen sich endlich, so daß man schon Dienstags in verschiedenen Straßen theils gehen, theils waten konnte, und Mittwochs konnte man das fast bloß liegende Elend überall in Augenschein nehmen. Die Muldenstraße, die Wehrgasse, Neugasse, die breite Gasse, die kleine Druckergasse, die Kaiserstraße, Mühlgrabengasse und der Lehngrund sind die hauptsächlichsten Schauplätze der Zerstörung, und man kann nicht durch dieselben gehen, ohne mit Ovid auszurufen:

Si licet in parvis exemplis grandibus uti,
Haec facies Trojae, cum caperetur, erat!

Soweit man jetzt durch genauere Besichtigung ermittelt hat, sind 26 Hauptgebäude, 10 Nebengebäude und 28 unbewohnte Gebäude ganz zerstört. Ferner sind wegen Beschädigung abzutragen 25 Hauptgebäude, 11 Nebengebäude und 15 andere Gebäude. Rathsam ist es ferner abzutragen 19 Hauptgebäude, 2 Nebengebäude und 6 andere Gebäude. Bedeutend beschädigt sind, ohne die Scheunen, 75 Hauptgebäude und 18 Nebengebäude. Jedenfalls stellt sich bei nochmaliger Besichtigung der Nachtheil an Gebäuden noch weit umfassender heraus.

So beklagenswerth auch Alle sind, die an Hab’ und Gut verloren haben, so müssen Aller Herzen sich darüber freuen, daß die übertriebenen Zeitungsberichte von Verlusten an Menschenleben sich auf den Tod eines einzigen Kindes zurückführen, denn das Schicksal jenes freiwilligen Piloten im Backtroge kann nicht der Ueberschwemmung schuldgegeben werden.

Nächst Gott haben wir diese wunderbare Errettung so Vieler den Veranstaltungen der gemeinsamen Bereitwilligkeit zur Hülfe und dem Muthe und der Ausdauer Einzelner zu danken.

Wie Viele gerettet werden mußten, sah man erst Montags, als aus den Kähnen alle die herübergebracht wurden, welche aus Sorge und Angst in den gefährdeten Häusern geblieben waren, statt den schwankenden und wasserschöpfenden Fähren sich anzuvertrauen; und welchen Hunger und Durst Manche in ihren unheimlichen Aufenthaltslocalen gelitten hatten, sah man ihnen beim Aussteigen an’s Land an. Heldenthaten sind von den Rettenden ausgeführt worden: nicht allein durch die Fluthen, auch über die schwankenden Dächer sogar hat man die Verlorenen gerettet.

Wenn der Mensch genöthigt wird, sich und Alles, was er sein nennt, gegen die Uebermacht der Elemente zu schützen, ereignen sich an verschiedenen Plätzen gleichzeitig und in nicht festzuhaltender Reihenfolge Scenen, die eben so unbeschreiblich, wie unvergeßlich sind. So auch zu Glauchau in den Tagen seiner Wassersnoth.

Schon am 31. Juli, also Sonnabends, Nachmittags, als alle Straßen mit Wasser gefüllt waren und immer noch die Fluth höher stieg, watete in der Schießgasse ein Mann, der offenbar im Begriffe war, der Gefahr noch rechtzeitig zu entfliehen, bis an die Brust langsam im Wasser dahin, dessen fortwährendes Steigen ihn endlich nöthigte, sich an eine geschlossene Hausthür zu lehnen. Sein Anklopfen war vergebens. Die Insassen des geschlossenen Hauses hörten es entweder nicht oder getrauten sich nicht zu öffnen. Glücklicherweise kam ein hölzerner Bock, dergleichen Maurer und Zimmerleute zu benutzen pflegen, geschwommen, welchen der schon Verzweifelnde erfaßte, mit vieler Mühe hart an der Wand aufstellte und nun selbst seinen Stand darauf nahm. In dieser Stellung verharrte er, gleich einem christlichen Säulensteher, stundenlang, bis die Leute im gegenüber befindlichen Hause bemerkten, daß er zu wanken begann und sein Gesicht sich veränderte. Zufruf und Gebehrden machten endlich die Bewohner der Seite, woran der Unglückliche stand, darauf aufmerksam, was unter ihren Fenstern vorging, und ein aus dem Fenster geworfenes Seil erfaßte noch der Wankende, schlang sich dasselbe um den Leib und ward so zum Fenster emporgezogen.

Auf der Neugasse wollte ein Familienvater mit den Seinigen der Einladung in das vielleicht noch festere Haus seines Nachbars folgen, aber ein Zwischenraum von neun Ellen mit vier Ellen hohem Wasserstande machte dies unmöglich. Endlich wurde eine Leine aus einem Hause in das andere geworfen, eine ladenartige Kiste auf das Wasser gesetzt und dieselbe noch an eine andere Leine gebunden, damit man sie nach beiden Häusern hin- und herziehen konnte. Ein Knabe bestieg zuerst die Kiste und gelangte glücklich in das andere Haus. Die zweite Fahrt sollte nun die ältere Schwester des gedachten Knaben machen. Auch sie bestieg das elende Fahrzeug, verstand aber nicht, Gleichgewicht zu halten, die Kiste schlug um, das Mädchen lag im Wasser und wäre verloren gewesen, wenn nicht ein junger Mann aus dem Hause, wohin die Fahrt beabsichtigt war, sich in das Wasser gestürzt und die Sinkende wieder so weit gehoben hätte, daß der Vater sie am Haare noch erfassen und in’s Fenster ziehen konnte. Den Anderen war natürlich der Muth zur Ueberfahrt vergangen.

In einem äußerlich fest und gut aussehenden Hause der Neugasse war durch den Einsturz der Hinter- und Bund-Wände auch die Decke der Oberstube eingesunken, wohin sich die Bewohner des Hauses zurückgezogen hatten. Denselben blieb also nichts übrig, als sich in die offenen Fenster zu setzen und unter entsetzlichem Angstgeschrei die Hülfe Anderer anzurufen. Ein junger, aber eben nicht starker Mann aus dem gegenüberstehenden Hause, wohin sich, wie verlautet, nach und nach 23 Familien gerettet hatten, schwamm, mit einer langen Leine versehen, hinüber, verband beide Häuser durch diese Leine, er selbst aber nahm auf seinem Rücken eine der bedrängten Seelen wieder mit zurück. Bei Wiederholung dieser Hülfe reichte aber seine Schwimmerkraft nicht mehr aus und er wäre selbst umgekommen, wenn nicht der starke Besitzer des von so Vielen besuchten Hauses aus dem Fenster gesprungen wäre und ihn selbst gerettet hätte. Derselbe starke Mann holte nun auch nach und nach die in den erwähnten Fenstern Sitzenden zu sich und zwar in der Weise, daß er, selbst bis ziemlich an den Mund im Wasser gehend, sie auf seinen Achseln trug, und diese, weil er selbst füglich nicht gut sehen konnte, durch ihr Festhalten an der erwähnten ausgespannten Leine ihn auf dem geraden Wege nach seinem Hause erhalten mußten. (Siehe nebenstehende Abbildung.)

Wie erwähnt, war der Tag, an welchem die Ueberfluthung der Stadt eintrat, ein Sonnabend. Weil nun der regelmäßig des Sonnabends geschehende Einkauf des Proviants für die einzelnen Wirthschaften unterblieben war, stellte sich bald überall in den bedrängten Häusern der Mangel an Nahrungsmitteln, selbst an Trinkwasser ein. Wie viel Hunger und Durst gelitten worden war, konnte man auf dem Antlitz derer lesen, die endlich am dritten Tage durch die Dresdner Rettungskähne aus ihren Nothwinkeln hervorgetragen wurden. Am gräßlichsten war aber der Mangel in den Häusern, wohin sich theils auf schlechten Fähren, theils schwimmend oder getragen, oder durch eingeschlagene Giebelwände kletternd, so Viele versammelt hatten.

Aus den wankenden und stürzenden Häusern der Druckergasse hatte sich namentlich eine Menge Menschen vermittelst brückenartig übergelegter Breter in die Fenster des nahestehenden Fabrikgebäudes der größten Druckerei gerettet. Niemand hatte Etwas mitgebracht, und Nahrungsmittel waren in dem Fabrikgebäude selbstverständlich nicht zu finden. Nichts blieb übrig, als den Schmachtenden wenigstens Kaffee in Gießkannen vermittelst ausgeworfener Leinen vom Wohnhause des Besitzers aus zuzuschwenken.

So reichte sich, so weit thunlich, der gute Wille überall die Hand.

Gräßlich besonders ist die Noth einer Familie gewesen, welche in einem elenden Bleichhäuschen in der Nähe des Muldenwehres [507] bis zum Montag früh hatte verweilen müssen. Glücklicher Weise und zufällig hatten in der Nacht vom Sonntag zum Montag zwei der von Dresden angekommenen Kähne in der Finsterniß den Weg bis zu jenem Häuschen eingeschlagen, und die Nacht über daselbst angelegt.

Die in den entfernteren Theilen des überschwemmten Wehrdigts Wohnenden hatten von den Rettungsversuchen anfänglich nicht eben viel bemerkt, und namentlich diejenigen, deren Häuser der gewaltigen Strömung wegen für die bloßen Fähren unzugänglich waren, hatten angefangen, zu zweifeln, ob man überhaupt etwas zu ihrer Rettung thun werde. Manche, durch diesen Zweifel erbittert, hatten ihrem Unmuthe endlich durch heftige Worte Luft gemacht. Ein Solcher, der wahrscheinlich heftiger und lauter, als alle Andern, auf die Mitbürger schimpfte, welche nicht herüberkämen, um zu retten, wurde von seiner Nachbarschaft durch den freundlichen Ruf unterbrochen:

„Holla, Herr Nachbar! Kommen Sie herüber zu mir!“

„Ja, wie kann ich denn durch das Wasser kommen?“ lautete die Antwort.

„Sehen Sie, Herr Nachbar," mußte er sich nun belehren lassen, „die guten Leute da drüben, auf die Sie schimpfen, können noch weit weniger zu Ihnen kommen, als Sie zu mir.“


Rettungsscene in der Neugasse.

Nicht unbeachtet darf auch die Hülfe von außen bleiben. Die Nachbarstädte und selbst ganz entfernte Orte, wie Dresden, Leipzig u. s. w. waren rechtzeitig mit ihrer rettenden Hand in jedem Bezuge da. Kleider und Nahrung und auch Geld ist uns reichlich gespendet worden. Tief aber hat uns die Theilnahme unserer Nachbarstadt Meerane gerührt. Von der ersten Nachricht unserer Heimsuchung durch Wassersnoth an hat daselbst der Edelmuth in permanenter Sitzung Berathungen über Hülfe für uns gepflogen und nicht mit Rath allein, mit That und Erweisungen der Güte in jedem Bezuge ist uns Meerane nahe gewesen in jedem Augenblicke. Die mitleidige Theilnahme daselbst ist so weit gegangen, daß man das Geld, das eine Abtheilung der dortigen Schützengilde, der sogen. „schwarzen Jäger“, zu einem Vergnügen bestimmt hatte, sofort der bedrängten Stadt Glauchau zuzuwenden beschlossen hat.



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II. Zwickau.

Vorüber sind die Tage des Schreckens, der Verwüstung, der Gefahr. Der Geist, für den Augenblick fast erdrückt von der Großartigkeit und Gewalt der in rascher Folge an ihm vorüberziehenden Erscheinungen, hat sich wieder sammeln können, läßt Bild für Bild von dem Geschehenen und Erlebten an dem Spiegel der Erinnerung vorüberziehen, durchlebt gleichsam das Einzelne noch einmal, aber ruhiger und bewußter, und webt nach und nach ein großes Gesammtbild zusammen, dessen Umrisse in scharfer Zeichnung für alle Zeit in seiner Erinnerung eingegraben bleiben werden.

Freilich wäre es ein vergebliches Bemühen, wenn wir diesem Bilde durch das Wort entsprechenden Ausdruck geben wollten: die großartigsten Ereignisse sind immer am wenigsten geeignet, sich treu in den engen Rahmen des Wortes fassen zu lassen; – aber doch gelingt es uns vielleicht, auch in denen eine mehr oder minder deutliche Vorstellung von der Macht der entfesselten Naturkraft hervorzurufen, welche sie bis jetzt nur in ihrem friedsamen Zustande sahen.

Ein schon lange anhaltender, über das ganze Muldengebiet verbreiteter Regen hatte sich in der Nacht vom 30. zum 31. Juli so gesteigert, daß der Muldenstrom bei dem Grauen des Tages, schmutzigrothes Wasser führend, in vollen Ufern brausend, an Zwickau vorbeischoß, und daß der Mühlgraben, nicht im Stande, die Wassermasse des in ihn mündenden hoch angeschwollenen Planitzer Baches zu fassen, anfing, den untern Theil der Eselswiese und den Turnplatz zu überfluthen. Auch die Mulde selbst wuchs zusehends, trat aus und vereinigte ihre Wasser mit denen des Mühlgrabens zu einem den Asch, die Lindenstraße und den Silberhof unter Wasser setzenden Strome. Vormittags 8 Uhr stand das Wasser schon 4 Zoll höher, als bei dem Sommerhochwasser im vorigen Jahre, welches für das höchste galt, das seit 1830 vorgekommen war. Und der Regen ergießt sich weiter; auf der Mulde treiben schon Breter, Stämme und Brückentrümmer, und bedenklich fragt Einer den Andern, was das so werden solle. Doch hat noch Niemand eine klare Vorstellung von der drohenden Gefahr, und die Menschen glauben noch, sie könnten ihre Werke vor dem weiter und weiter dringenden Feinde bewahren.

Um elf Uhr Vormittags ist von dem Wassermesser an der Bierbrücke, welcher bei mittlerem Wasserstande noch 51/2 Ellen über dem Spiegel emporsteht, kaum noch eine Elle zu sehen und unterhalb der Brücke ergießen sich die Fluthen rechts und links in mächtigen Strömen über die Ufer, setzen den größeren Theil der Leipziger Vorstadt unter Wasser und verwandeln die breite Aue, so weit das Auge reicht, in einen kochenden und brausenden See.

Aber auch der inneren Stadt ist ihre Stunde gekommen. Vom Silberhofe her schlängeln sich kleine Bäche der Mühlgasse zu, froh begrüßt von der Schaar der Kinder, die sich, nicht ahnend, für welche Ereignisse wohl diese unschuldig spielenden Wellen die Vorboten sein könnten, mit lärmender Lust darin umhertreiben; aber mit ernster Miene und unter Kopfschütteln betrachtet von den Männern, welche mit möglichster Eile die Kellerlöcher verschließen und die Thüren verrammeln. Dazu läßt der strömende Regen weiteres Steigen befürchten und die Befürchtung wird durch telegraphische Nachrichten aus dem Obergebirge zur Gewißheit.

Man gewinnt nun endlich eine klarere Vorstellung von der Gefahr; der Gedanke, daß das Wasser, welches die Menschen schon in ihren Wohnungen aufsucht, diesen wohl auch an das Leben gehen könne, gewinnt Raum. Darum ordnet der Stadtrath an, daß die Kähne vom großen Teiche hereingeschafft und an verschiedenen, am meisten bedrohten Punkte der Stadt vertheilt werden. Zugleich wird die Erbauung von Flößen kräftig in Angriff genommen. Freilich erfordern diese Geschäfte erhebliche Zeit, und inzwischen wächst das Wasser so weit, daß der Messer an der Bierbrücke ganz unter der Fluth verschwunden ist.

Um drei Uhr Nachmittags erhebt sich der ganze Vorrath von Floßholz von seinem Lager; in ruhiger Majestät und in geordneten Zügen setzen sich, gleichsam einem geheimen Befehle folgend, 3000 Klaftern Holz in Bewegung; aber bald werden die Schragen durch Anstoßen an Bäume oder Zäune umgeworfen und in ein wildes Chaos von Holz dringt stoßend und wirbelnd mit unwiderstehlicher Gewalt durch die Gärten am linken Muldenufer, um sich von da in kleineren oder größeren Abtheilungen weithin über das Land zu verbreiten. Auf dem Hauptstrome der Mulde treiben in fast ununterbrochener Folge Hausgeräthe aller Art, Trümmer von Häusern, Brücken, Mühlen und Wehren, mächtige Stämme und Bäume mit Kronen und Wurzeln. Die Ueberbrückung des Rechens, aus gewaltigen, zusammengeschraubten Balken bestehend, weicht von ihrem Lager, zertheilt sich in Stücke und diese schaukeln und tanzen wie spielende Fische über die Wogen hin, und Fässer, dem communlichen Pichschuppen entrissen, Hüpfen in langer Reihe von Welle zu Welle.

Um sechs Uhr ist der größte Theil der Stadt unter Wasser gesetzt; mächtige Ströme dringen von verschiedenen Seiten in die Straßen, füllen die Keller und zwingen die Bewohner von Paterrestuben, ihre Habe dem Wasser zu überlassen und in die Oberstuben zu flüchten. An der Fleischerpforte stürzt das erste Haus zusammen und sendet seine Trümmer mit trauriger Mahnung an das Geschick, welches noch vielen Gebäuden bevorsteht, durch die Straßen. Nur noch das einzige Schneeberger Thor ist vom Wasser frei und Taufende von Menschen sind in ihrer oder Anderer Wohnungen abgesperrt und sehen mit Grausen, wie sich die Fluthen mit jeder Stunde neuen Raum verschaffen.

Nun galt es, die Kähne mit muthigen und geschickten Männern zu besetzen, hinauszufahren in die reißenden Fluthen und dem Menschen die helfende Hand zu reichen oder wenigstens anzubieten. Nur Wenige aber konnten sich schon am Sonnabend entschließen ihre Wohnungen zu verlassen; von Stunde zu Stunde hofften Alle, daß der Regen nachlassen und das Wasser wieder zurückgehen werde. So kam es, daß ein Kahn, welcher von der Treppenmühle [517] aus am Sonnabend drei mühevolle Fahrten nach dem Asch und der Lindenstraße ausführte, nur acht Menschen nebst einigen Hausthieren und Habseligkeiten an das Land bringen konnte. Es war aber der Kahn so groß, daß er ohne Ueberfüllung außer den sechs Schiffern noch funfzehn Mann aufzunehmen vermochte. So große Kähne wurden gewählt, weil es sich schon bei den ersten Versuchen zeigte, daß die kleinen keineswegs im Stande waren, dem Andrange der Fluthen nur einigermaßen zu widerstehen. Ebenso waren die meisten Flöße, weil sie wegen ihres zu geringen Umfanges zu wenig tauchen, nicht zu gebrauchen.

Mit dem Anbruche der Nacht mußten die Fahrten in das Freie ganz eingestellt werden, denn sie hätten bei einem Terrain, das allenthalben durch Zäune und andere Hindernisse durchzogen war und die Kähne bald vorn oder hinten, bald rechts oder links der heftigsten Strömung aussetzte, nur zum Verderben führen können. In den Straßen der innern Stadt aber, in welchen das Wasser weniger strömte, fuhren die ganze Nacht Kähne auf und ab, wenn auch nur wenig Hülfesuchende bei der Finsterniß der Nacht ihre Personen denselben anvertrauen mochten und die Meisten es vorzogen, ihr Leben bei drohender Gefahr auf andere Weise in Sicherheit zu bringen.

Die Erlmühle bei Zwickau nach der Wasserfluth.

Aber die schrecklichen Stunden waren nun mit der Nacht herangenaht, schrecklich nicht nur für die vom Wasser Umgebenen, sondern schrecklich auch für die der Gefahr noch nicht Ausgesetzten. Die Fluth nahm immer riesigere Verhältnisse an, das Gefühl der Hülflosigkeit wurde von der Finsterniß verstärkt und das Toben und Brüllen des Wassers brachte die Gefahr in vergrößertem Bilde vor die geängstigten Gemüther.

Bleich sitzen die Glieder der Familie in der Stube umher; du wankt der Boden unter den Füßen und die Mauer, worauf er ruht, sinkt, erweicht vom Alles durchdringenden Wasser, in sich zusammen. Der Vater und die Mutter ergreifen entsetzt die schreienden Kinder und fliehen in ein anderes Zimmer; auch hier dieselbe Gefahr. Sie rufen nach Hilfe, aber diese zu erwarten, ist nicht Zeit. Es bleibt ihnen nichts übrig, sie nehmen die Kinder auf den Rücken und den Arm, steigen hinunter in die kalte Fluth, waten bis unter die Arme im Wasser über den Hof, erzwingen sich mühselig über Zäune und Gärten den Weg und kämpfen, bis sie in des Nachbars festem Hause einen sicherern Aufenthalt gewonnen haben. Andere brechen, wenn ihr Haus dem Einsturz droht, durch den Giebel des Nachbars, müssen sich aber, weil auch hier ihres Bleibens nicht ist, mit den Nachbarn vereint gewaltsam weiter den Weg von einem Hause zum andern bahnen, bis ein festes und sicheres erreicht ist. Auf diese Weise erhielt der Stadtförster Richter in der Leipziger Vorstadt 64 Gäste, denen er in seinen beiden Stuben nicht nur nothdürftiges Lager, sondern auch, so weit seine Vorräthe reichten, Erquickung durch Speise und Trank angedeihen ließ.

Einer nahm den Andern gern und willig auf, theilte mit, so viel und so lange er etwas hatte. Man hat nicht gehört, daß ein Hülfesuchender da, wo überhaupt Hülfe noch möglich war, zurückgewiesen oder verabsäumt worden wäre. Solche Zeiten machen die Herzen weit und groß; die kleinlichen Rücksichten fallen und die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens sind nicht mehr maßgebend; der Mensch wird Mensch und erkennt in jedem Andern ein gleichberechtigtes Wesen; selbst Feinde reichen sich, wenn sie ihr Weg zusammen führt, schweigend die Hand und feiern ein stilles Fest der Versöhnung.

So nur, indem Alles half, wo nur zu helfen war, ist es möglich geworden, da in der grausigen Nacht vom 31. Juli zum 1. August bei hundertfacher Lebensgefahr auch nicht ein Menschenleben zu Grunde gegangen ist. Wem die verzweifelten Hülferufe und Nothschreie während der ganzen Nacht in fast allen Theilen der Stadt durch die Seele gedrungen sind; wer die Wuth des noch immer steigenden Wassers gesehen und gehört hat, welche um Mitternacht einen unerschrockenen Mann bewog, von seinem ihm gegenüberwohnenden Nachbar über das Brausen des unten strömenden Mühlgrabenarmes hinüber laut mit den Worten Abschied zu nehmen: „Nachbar, wir sehen einander nicht wieder; leb’ wohl, leb’ auf ewig wohl, wir sehen einander nicht wieder!“ – dem muß es als ein Wunder erscheinen, wie dem Wüthen des Alles verschlingenden Elementes auch nicht eines einzigen Menschen Leben zur Beute geworden ist.

Endlich früh ½ 2 Uhr hatte das Wasser seinen Höhepunkt erreicht und behauptete diesen eine halbe Stunde lang; dann aber fing es an, langsam zu fallen, und mit dem Dämmern des Tages dämmerte auch in den am meisten geängstigten Seelen der Glaube [518] an Erlösung und Rettung wieder auf. Sofort nach dem Anbruche des Tages wurden die Kahnfahrten nach den in der oberen Stadt vereinzelt stehenden Häusern des Asches und der Lindenstraße wieder aufgenommen. Die Schiffer, deren Hülfe man am Abend vorher noch nicht gebrauchen zu können glaubte, wurden jetzt mit dem größten Verlangen erwartet und mit Freudestrahlen auf den bleichen Gesichtern begrüßt. In zehn Fahrten, die alle glücklichen Verlauf hatten, wurde der Asch fast vollständig geräumt und aus den neuen Häusern der Lindenstraße kamen Alle, die es wünschten, an’s Land. Gegen Mittag war hier das Rettungswerk, so weit es sich auf Menschen erstreckte, zu Ende; nur die Bewohner des Silberhofes mußten noch, weil der Zugang zu ihnen durch eine mächtige Barrikade von Langholz gesperrt war, weiter in ihren theilweise nicht unerheblich beschädigten Häusern aushalten, konnten aber doch wenigstens wieder Menschen sehen und wahrnehmen, wie die Fluth, zwar langsam, doch stetig sank.

In der inneren Stadt hatte man alle Hände voll zu thun, um in der Eile die dem Einsturz drohenden Häuser zu stützen. Der Stadtrath hatte zu diesem Behufe schnell Stammholz herbeischaffen lassen und Zimmerleute beordert, überall, wo nöthig, beim Stützen behülflich zu sein. Gar manches Haus würde ohne solche Vorsicht weit mehr beschädigt oder wohl ganz eingestürzt sein.

In der Leipziger Vorstadt, welche mit der inneren Stadt bis jetzt ganz ohne Verbindung gewesen war, ertönten Vormittags acht Uhr Nothschüsse und auf dem an dem linken Ufer der Mulde liegenden Stadtkrankenhause wurden auf dem Dache Nothfahnen aufgesteckt. Die Verbindung konnte, da erst noch ein großer Kahn vom großen Teiche hereingeschafft werden mußte, erst um die Mittagsstunde hergestellt werden und man fürchtete traurige Nachrichten; doch ergab es sich, daß die Menschen in den festen Häusern zusammengepfercht waren und daß meist Mangel an Lebensmitteln die Ursache zu den Nothsignalen abgegeben hatte. Diesem Mangel wurde denn auch so schnell als möglich, wenn auch in dem Stadtkrankenhause nur nach ziemlich gefährlichen Fahrten, abgeholfen.

Inzwischen hatte die Rettung von Menschen, deren Leben mehr oder minder gefährdet war, den ganzen Tag hindurch ununterbrochenen Fortgang und der Berichterstatter glaubt, den Lesern dieses Blattes eine nicht unwillkommene Gabe zu bieten, wenn er bei einigen Rettungen die näheren Umstände vorführt.

Nur wenig oberhalb des über die Mulde führenden Röhrensteges soll für eine neue Kohleneisenbahn nach Hohendorf und Reinsdorf eine Brücke über die Mulde gebaut werden. Als Bauexpedition ist auf dem rechten Ufer ein kleines Haus von Steinfachwerk errichtet worden. Darin wurden zwei Baubeamte von dem Hochwasser so überrascht, daß sie den Rückzug durch das Wasser nicht für räthlich hielten. Als sie die zunehmende Gefährlichkeit ihrer Lage erkannten, suchten sie durch verschiedene Zeichen die Aufmerksamkeit Anderer auf sich zu richten. Es gelang dies auch, indem sie in der etwa 300 Schritt davon liegenden Hering’schen Bierbrauerei bemerkt und verstanden wurden. Dort wurde sofort ein Floß, soweit sich Materialien dazu vorfanden, hergerichtet und ein Brauerbursche und noch einige Andere unternahmen es, auf diesem gebrechlichen Fahrzeuge, das von hinten her zu wenigstens einiger Sicherheit an einem Seile gehalten wurde, nach der im vollen Strome stehenden Bauhütte zu fahren. Als sie aber in die unmittelbare Nähe derselben kamen, zerbrach in dem starken Strome ihr Floß, sie stürzten in das Wasser und mußten nun auf ihre eigene Rettung bedacht sein. Der Brauerbursche rettete sich in die Bauhütte an einer Stange, die ihm von dort aus entgegengehalten wurde, und die Uebrigen gelangten glücklich wieder an’s Land. Nun waren in der Bauhütte drei Menschenleben gefährdet. Die Lage der Gefangenen fand namentlich in dem nicht fernen Hohendorf die regste Theilnahme.

Am Sonnabend war wegen der eingebrochenen Nacht nichts mehr zu thun. Aber am Sonntag wurde das Rettungswerk mit wahrer Begeisterung angegriffen. In verhältnißmäßig kurzer Zeit wurde ein festes Fahrzeug kahnartig hergestellt. Man besetzte dasselbe mit fünf kräftigen Männern und ließ es vom Fuße des Hohendorfer Berges aus, etwa 8–900 Ellen von der Bauhütte entfernt, an zwei aneinander gefügten langen Schachtseilen langsam hinaus in die Fluth. Die Männer kamen unter harter Arbeit und Gefahr hinunter bis zur Bauhütte, waren aber nicht im Stande, den zwischen ihnen und der Hütte befindlichen reißenden Strom zu überwinden. Unverrichteter Sache kehrten sie wieder zurück und mußten bei ihrer Erschöpfung die Weiterführung der Rettung fünf anderen noch vollkräftigen Männern überlassen. Diese nahmen bei ihrer Fahrt eine Leine mit und banden an deren Ende einen Stein. Glücklich erreichten sie dieselbe Stelle, an welcher der Versuch ihrer Vorgänger gescheitert war. Von hier warfen sie das durch den Stein beschwerte Ende ihrer Leine nach der Bauhütte, wo man es begierig auffischte. Von der Leine gehalten, vertraut sich einer der Gefangenen den Fluthen, wird kräftig durch den Strom gezogen und steigt gerettet in den Kahn, und ihm folgen glücklich die beiden Gefährten. Nachmittags fünf Uhr lief der Kahn mit den Geretteten unter allgemeinem Jubel im Hafen wieder ein.

Ein Maurerlehrling, ein kräftiger Bursche von achtzehn Jahren, der als vater- und mutterlose Waise schon seit Jahren Wohnung und Verpflegung im Armenhause hat, wollte am Sonntag gegen Mittag, nachdem er etwas vorwitzig in das Stadtkrankenhaus und von da in ein Haus der Leipziger Vorstadt, immer in tiefem Wasser watend, gekommen war, wieder in das Armenhaus zurückkehren. Als er sich aber diesem nähert, ergreift ihn der Strom und reißt ihn fort, bis er dem Armenhause gegenüber, etwa 12 bis 15 Ellen von diesem entfernt, an einem kleinen Apfelbaume wieder einigen Halt gewinnt. An diesem klebend, wird ihn der Aufseher im Armenhause gewahr und ruft ihm zu, am Baume in die Höhe zu klettern. Als er dies gethan hat, versucht man, ihm vom Armenhause aus Hülfe zu bringen; aber Stangen fehlen und den Strom kann Niemand passiren. Es muß gewartet werden, bis andere Hülfe erscheint.

Endlich kommt von der Leipziger Vorstadt her ein Kahn, geführt von einem jungen Manne, dem Zeichner der unserem Texte eingefügten Bilder. Der einsame Schiffer bemerkt bald das Rufen vom Baume her und richtet seinen Weg dahin. Die Strömung faßt ihn, aber noch zu rechter Zeit drängt er seinen Kahn seitwärts und legt an dem erstrebten Baume an. Der Lehrling jedoch, jedenfalls von der Nässe, Kälte und gezwungenen Haltung etwas erstarrt, zögert mit dem Einsteigen und muß nun sehen, wie der Kahn von der Fluth gepackt und ohne ihn niederwärts gerissen wird. Noch einmal gelingt es dem Schiffer, mit Aufbietung aller Kraft stromaufwärts zu kommen und an dem verhängnißvollen Baume anzulegen. Hier drängt er zur Eile, streckt ermuthigend die Hand entgegen; aber leider dieselbe Zögerung. Und wieder packt die Fluth den Kahn mit solcher Macht, daß an ein Halten nicht mehr zu denken ist. Wie ein Pfeil schießt er davon, und sein Führer gilt in den Augen derer, die ihn sehen, für einen verlorenen Mann. Aber dieser springt, als er über ein Kornfeld weggerissen wird, mit kühner Entschlossenheit aus dem verrätherischen Fahrzeuge, arbeitet sich mit Aufbietung der letzten Kraft, an zusammengerafften Kornähren einigen Halt gewinnend, aus der ärgsten Strömung heraus, erreicht endlich die höher liegende Straße, und kommt nach einer Stunde, bis zur Ohnmacht erschöpft, in einem zur Stadt gehörigen Gute an, wo er freundliche Aufnahme und Pflege findet.

Es ist nun schon die sechste Stunde gekommen, und unser armer Lehrling hängt immer noch auf dem Baume. Da kehrt ein Floß mit neun Zimmerleuten vom Stadtkrankenhause zurück, wohin sie Lebensmittel und Kohlen gebracht haben. Auch sie bemerken den auf dem Baume klebenden Menschen, und schlagen sofort die Richtung nach ihm ein. Doch auch sie werden von der Strömung fortgerissen, und können sich nur mit größter Mühe bis an einen dem Apfelbaum zunächst stehenden Kirschbaum wieder heraufarbeitene. Hier stemmen sie sich ein, halten dem Gefährdeten eine Ruderstange entgegen, fordern ihn auf, dem Floß zugewendet in die Fluth zu springen, und sobald als möglich die Stange zu fassen. Er läßt sich endlich bewegen, thut, wie ihm geheißen ist, es geht Alles gut, – er ist gerettet, nachdem er sechs Stunden auf dem schwachen Baume in Todesangst zugebracht hat.

Drei Männer gingen am Sonntag Nachmittag unterhalb der Bergkeller am Bergrand hin, um Kunde über das Schicksal der Erlmühle, von der es hieß, daß sie ganz verschwunden sei, einzuziehen. Da kommt es Einem vor, als habe sich in dem gerade gegenüber einsam am Muldenufer stehenden und schon arg beschädigten Würker’schen Hause noch ein Mensch am Fenster hin bewegt. Während sie nun scharf nach dem Hause hinblicken, kommt eine Frau desselben Weges und erzählt ihnen, daß allerdings noch ein alter Mann in dem Hause sei. Man habe schon versucht, ihn herauszuholen, aber es sei nicht gegangen, und der Schwimmmeister, der auch mit dabei gewesen sei, habe gesagt, man könne ihm tausend [519] Thaler geben, er führe nicht mehr mit. Auf diese Rede kehren die Männer sofort um, steigen in den dort bereitstehenden großen Kahn, verstärken sich durch zwei andere Männer, worunter sich der Schwiegersohn des zu rettenden Alten befindet, und fahren hinunter nach den rings von den Fluthen umtobten Hause. Sie dringen in den Garten und gelangen, mit Macht kämpfend, unter einigem Schutze der Bäume bis in die Nähe des Hauses. Hier aber wird der Strom so reißend, daß mit dem Kahne kein Fortkommen mehr ist. Da springen drei der Männer heraus in die Fluth, und arbeiten sich, gegenseitig sich haltend und stützend, hinüber in das Haus. Oben finden sie den alten 72jährigen Mann, anscheinend ganz unbesorgt.

„Nun, Alter,“ wird er angeredet, „macht, daß Ihr mit fort kommt.“

„Iech kah net miet,“ antwortete er, „iech hoh kähne Stiefeln ah.“

Aber Zeit ist nicht zu verlieren, die Weigerung des eigensinnigen Alten wird nicht beachtet. Der Stärkste der Männer nimmt ihn auf den Rücken, die beiden Andern decken von hinten, der Widerstand des Alten durch Einstemmen in der engen Treppe und in der Thüre wird schnell überwunden, und der Strom bis zum Kahn, wie das erste Mal, mit vereinter Kraft glücklich durchschritten. Als der Alte gerettet das Land betritt, meint er: es sei doch gut, daß er nun aus dem Wasser sei, und zwanzig Minuten darnach war das Haus, aus dem er geholt wurde, ein Trümmerhaufen.

Wir könnten noch andere hochherzige Handlungen dieser und anderer Art erzählen; aber wir dürfen die Geduld unserer Leser nicht allzusehr auf die Probe stellen. Wir bemerken nur noch, daß den ganzen Sonntag hindurch das Wasser fortwährend langsam fiel. Die niederen Stadttheile waren zwar sämmtlich noch bedeutend überfluthet; aber neue erhebliche Unglücksfälle kamen nicht vor, und am Montag ging die Mulde beinahe ganz in ihr durch die Eroberungen der Fluth allerdings erweitertes Bette zurück. Von allen Hochwassern, die Zwickau erlebt hat, ist das gegenwärtige das größte gewesen; denn seine Höhe hat die der Fluth vom Jahre 1694, welche die größte in Zwickau vorher dagewesene war, um eine halbe Elle überstiegen.

Der Schaden, den diese Ueberschwemmung an Gebäuden angerichtet hat, ist sehr groß: 112 zur Stadt Zwickau gehörige Häuser sind beschädigt, darunter mehrere so arg, daß ihre Ruinen nur noch zum Abbruch taugen. Aber der Schaden an Ufern, Wehren, Brücken, in Gärten, auf Wiesen und Feldern ist ungeheuer.

Sehr erfreulich ist, daß trotz der vielen großen Verluste die Thatkraft der Leute nicht gebrochen worden ist. In den Häusern hat man sofort nach dem Rückzug des Wassers die Ausbesserung der Schäden kräftigst begonnen; auf den Straßen und Wegen verschwinden mit jedem Tage mehr und mehr die traurigen Spuren der Fluth; die gebrochenen Dämme sind nothdürftig wiederhergestellt, und theilweise sind die Mühlen schon wieder in Gang gekommen. Es wird nicht lange mehr dauern, so wird Zwickau sein altes Aussehen, vielleicht sogar etwas schöner und solider, wieder gewonnen haben. Nur die Fluren werden noch manches Jahr trauriges Zeugniß ablegen von der verheerenden Wasserfluth des Jahres 1858.

Das Würker’sche Haus am Muldenufer.