Die Nörgelsucht

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Autor: Dr. –r
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Titel: Die Nörgelsucht
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 487–490
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[487]
Die Nörgelsucht.
Vom Verfasser der „nervenkranken Damen.“ (Gartenlaube 1858. Nr. 13)

Mein Incognito hat mir Gelegenheit verschafft, die verschiedenen Urtheile und Gespräche zu belauschen, welche mein voriger Aufsatz im Publicum hervorrief. Bei dieser Gelegenheit hat ich unter Anderem wahrgenommen, daß man im Publicum eine Menge von Personen als „Hysterische“ oder „Hypochondrische“ betrachtet, welchen man durch eine solche Benennung viel zu viel Ehre [488] anthut. Es sind dies die sogenannten Nörgelsüchtigen oder Nörgelanten.

Unter „Nörgeln“ versteht man bekanntlich, wenn Jemand unablässig ohne zureichenden Grund seine Umgebungen mit Klagen, Tadel und sonstigen Aeußerungen von Unzufriedenheit belästigt. Mit dieser Sucht (welche in keinem ärztlichen Lehrbuche erwähnt ist) haben allerdings die Aerzte vorzugsweise häufig zu thun und sie ist oft schwer von wirklicher Krankheit zu unterscheiden. Aber sie ist keine solche, sondern ein Erziehungs- und Charakterfehler. – Die Hysterische und der Hypochondrist sind Beide wirklich nervenkrank; ihre Krankheitssymptome stehen immer im Verhältniß zu lhrer körperlichen Störung (wenigstens würden wir dies finden, wenn Letztere nicht oft für unsere Sinne unzugänglich wäre). Auch gehört das „Sichausklagen“ nicht nothtwendig in allen Fällen zu den Symptomen Beider, den es gibt Hysterische und Hypochendristen, welche trotzig Alles in sich zu verschließen streben. Außerdem befällt die Hysterie nur das geschlechtsreife Frauenalter und die Hypochondrie fixirt alle Aufmerksamkeit des Befallenen nur auf seine eigene Körperzustände. Die Nörgelsucht hingegen kommt in beiden Geschlechtern und in allen Lebensaltern vor und erstreckt sich auch auf nichtmedicinische Gegenstände (als Beispiel dienen: die Ehemänner, welche immer in die Töpfe gucken oder an dem Putze ihrer Frauen mäkeln; die Kinder, welche immer von anderen Menschen herumgetragen und beschäftigt sein wollen; die Greise, welche auf die gesammte Jetztwelt schmähen).

Auch der krankhafte Trübsinn, die Melancholie, wird leicht mit der Nörgelsucht verwechselt; aber Melancholie ist eine wirkliche Geisteskrankheit, in der Regel die erste Stufe zu den übrigen Seelenstörungsformen: hier klagt und weint der Kranke ohne Rücksicht auf seine Umgebungen; letztere kommen bei ihm nur in so fern in Betracht, als sie (gleich jeder anderen Berührung der Außenwelt) auf sein Gemüth einen schmerzerregenden Eindruck machen, also eine Veranlassung mehr zum Sichunglücklichfühlen geben. Der Nörgler hingegen will nicht sich, sondern seine Umgebungen quälen, um an ihnen seine üble Laune auszulassen. Daher sucht er[WS 1] sich seine Leute aus, und wenn er unter den Seinigen Niemand findet, der sich dazu eignet oder hergibt, so nimmt er (wenn er Geld hat) einen Arzt an, der sich für so und so viel jährlich etwas vornörgeln lassen muß.[1]

Nach diesen Charakterzügen wird es leicht sein, den Nörgelkranken von anderen wirklichen Kranken zu unterscheiden. Begreiflicher Weise sind die Symptome, welche er angibt, hauptsächlich „subjective“, d. h. Befindensveränderungen, Berichte über die mannichfachsten Empfindungen, Gefühle und Stimmungen. Doch kommen nachgeahmte oder unwillkürlich erzeugte Bewegungs- oder Krampfsymptome vor, besonders oft ein eigenthümliches kurzes Husten, sodan Räuspern, Racksen, Kurzathmigkeit, asthmatisches Athemholen, selbst Würgen und Brechbewegungen, Zittern, Zuckungen, Phantasiren u. s. w. Der scharfe Beobachter wird aber bald den unechten, nachgeahmten Charakter solcher Empfindungs- oder Bewegungssymptome ermitteln, namentlich durch die stattfindenden Uebertreibungen oder durch das Nichtzusammenstimmen mit den erfahrungsmäßig bekannten Nebenumständen, mit den typischen Zeit- oder anatomischen Ortsverhältnissen, vor Allem aber mit den Ergebnissen der objectiven physikalisch-ärztlichen Untersuchung. Am schwierigsten zu erkennen ist der nicht seltene (und entschuldbarste) Fall, wo wirkliche, besonders lange hinausgezogene Krankheit sich mit Nörgelsucht complicirt, wo dem Kranken das Mark der Körperkraft, die Hoffnung schwindet und er geneigt wird, alle seine gerechte Unzufriedenheit ungerechterweise dem Arzte (auch wohl den Arzneien und dem Apotheker) entgelten zu lassen.

„Aber wie in aller Welt kann man sich so etwas angewöhnen?“ fragst Du, lieber Leser.

Gemach! bedenke, ob Du nicht selbst in Dir einen Keim dieses Uebels trägst. Denn die Nörgelei beruht auf denselben Einrichtungen und Gesetzen des menschlichen Hirnlebens, welche wir im vorigen Artikel (Gartenlaube Nr. 13) als allgemeine Nervengesetze kennen lernten. Das Seelenorgan, unablässig mit Empfindungsreizen geladen, sucht sich derselben zu entledigen: durch Worte, Handlungen oder sonst auf eine Art. Gleichwie mein Kanarienvogel singt, um seinen Gefühlen Luft zu machen, so quält der Nörgler sich und Andere, weil er, kein besseres Mittel kennt, um seine Stimmungen hinauszulassen. Die Quelle dieser Unart aber, die Ursache, daß gerade dieses Mittel so häufig von den Leuten gewählt wird, liegt theils in dem allgemeinen Charakter unserer Zeit, theils in der Erziehung und den besonderen Lebensläufen gewisser Personen. –

Ein Grundübel unserer Zeit ist die Charakterlosigkeit, der Mangel an Thatkraft, an Energie. Thatkräftige Leute nörgeln nicht, weil sie handeln und sich dadurch Luft machen. Aber die Unentschlossenen, die Hamlete männlichen und weiblichen Geschlechts, haben immer die vorwiegende Neigung, Alles zu bekritteln und tadelnswerth zu finden. – Unsere Erziehung trägt oft schon vom Wickelbettchen an reichlich dazu bei, Nörgelsüchtige heranzubilden. Wie wird der Wilde erzogen? Als Säugling bindet ihn seine Mutter an Moos und Baumrinde und hängt ihn so stundenlang an einen Ast, bis sie gelegentlich wieder nach ihm sieht. Dabei gewöhnt sich der junge Weltbürger frühzeitig, auf sich selbst angewiesen zu sein, sich allein zu unterhalten und allerlei Unannehmlichkeiten (z. B. ein bischen Naß- oder Unbequemliegen) geduldig zu ertragen. Ganz anders bei uns. Da wird der künftige Weltbürger (in vielen Familien) von Klein auf gehätschelt und verwöhnt, dutzendmal umgebettet, herumgetragen, durch Schäkern, Spielen, Vorsingen u. s. w. frühzeitig daran gewöhnt, immer von Andern unterhalten und amüsirt zu werden. Namentlich die Erstgeborenen! Denn da in unsern Landen die Hauptvorbereitung der Mädchen auf ihr künftiges Mutteramt in dem Puppenspielen besteht, (was ich, wie das Soldatenspielen der Knaben in meinem Staate gesetzlich verbieten würde), so ist ein solches armes Erstgeborenes für seine jugendliche Mutter in der Regel nur Ersatzmittel oder neue Auflage der vor wenig Jahren zurückgeschobenen Lieblingspuppe. Den ganzen Tag wird das kleine Geschöpf herumgetragen und geherzt, sein zartes Gehirn durch Licht, Spielwerk und Schäkerei aufrecht erhalten, auf jedes Schreien (wäre es auch deutlich nur von Langeweile oder Ermüdung erzeugt) wird sogleich geachtet, vielleicht sogar deshalb zum Doctor geschickt oder doch das Dienstmädchen gescholten. Kein Wunder, wenn das dem Kinde zur Gewohnheit wird und sich so ein verwöhnter, anspruchsvoller Charakter bildet, der schon im Wickelbett seine Wärterinnen peinigt und im späteren Leben immer zum Unzufriedenwerden geneigt ist, sobald nicht Alles nach Wunsche geht oder Unterhaltung fehlt. Sind namentlich die Eltern reich genug oder sonst in der Gesellschaft hoch genug gestellt, daß ihre Kinder Schmeichler finden, so halten sich diese zeitlebens für etwas Besseres, als andere Leute, und damit spukt das unzufriedene Wesen unvertilgbar in solchen Köpfen. („Sie sehen stolz und unzufrieden aus, sie sind aus einem hohen Haus!“ Goethe, Faust.)

In den späteren Lebensjahren wirken als Quellen der Nörgelsucht: das leidige Stillsitzenmüssen in den Schulen, der gehemmte Bewegungstrieb bei Knaben und Mädchen mit seinen traurigen Folgen (Rückenmarks- und Genitalien-Reizung, Blutmangel, Muskelschwäche und Nervernschmerzen); – die Periode der Liebesaffairen, der verkehrten und verunglückenden Jugendträume, der getäuschten Hoffnungen und abwelkenden Ideale; – der Mangel an tüchtiger, in’s Leben eingreifender Berufsarbeit, das Müßiggehen und die Langeweile, die Unfähigkeit, ohne Anderer Beihülfe sich angenehm und nützlich zu unterhalten, sich selbst zu beschäftigen; im höheren Alter das immer Nüchterner- und Kahlerwerden des Lebens, das Schwinden jeder freudigen oder erhebenden Zukunft und die reuevollen oder unbefriedigenden Rückblicke in die Vergangenheit, endlich die specifische Eigensinnigkeit, Hartherzigkeit und Herrschsucht der alten Leute. – Vor allen sind Emporkömmlinge, Geldprotzen und Couponschneider, – Leute, die den ganzen Tag nichts zu thun haben und sich doch ihres Geldes wegen für besonders kostbare und wichtige Personen halten, – zum Nörgeln am meisten aufgelegt. Doch kommt Dies Uebel auch unter den ärmeren Classen vor. Weiße erzählt in dem alten Kinderfreund eine ganz hübsche Geschichte von so einem nörgelnden Frauenzimmer, das zuletzt, als sein Wohlthäter jeden andern Grund zu Klagen hinweggeräumt [489] hatte, über das Schreien eines Pfaues unglücklich wird. – Gutmüthige Aerzte werden oft genug von solchen Personen aus den ärmsten Volksclassen geplagt; freilich kann man bei Solchen am ersten noch das Klagen verzeihlich finden!

Es kann aber das Bedürfniß des Nörgelns auch künstlich erzeugt werden. Dies geschieht schon von jenen (nicht selten zu findenden) Eltern, welche immer in ihre Kinder mit gesundheitlichen Fragen dringen: „es fehlt Dir doch nichts? bist Du denn wohl? thut Dir etwas weh?“ u. s. w. – Namentlich aber geschieht dies durch die Aerzte und zwar fast alltäglich. Das Geschlecht der Aerzte erfällt in zwei Gattungen (natürlich mit Zwischennüancen): die wissenschaftlichen und die industriellen. Beide haben, je von ihrem Standpunkte aus, vollkommen Recht und so auch in den Consequenzen desselben. – Der industrielle Mediciner treibt sein Fach, um Geld zu verdienen und das auf Studien, Reisen und Doctorhut verwendete Capital nutzbar zu machen. Er denkt entweder ganz entschieden im Geiste „unseres Verkehrs“: „Laß Dir treten von die Leut’, laß Dir spucken in’s Gesicht, Du mußt doch werden reich!“ Oder als billigdenkender Christ: „Wir Aerzte wollen doch auch leben! Müssen wir nicht alljährlich eine Menge von Visiten, von schweren Operationen und wichtigen Curen ganz unentgeltlich oder für ein Spottgeld machen? Warum sollen wir uns nicht an den reichen Nörglern schadlos halten. Wenn ich’s nicht thue, so thut’s ein Anderer!“ Er hat durchaus keinen Grund, Jemand zu behindern, der ihm etwas vornörgeln will, dafern es nur ordentlich bezahlt wird. Im Gegentheil! Da es doch sein unvermeidlicher Tagesberuf ist, Klagen zu hören und zu beschwichtigen: so sind ihm jene Fälle eine wahre Erholung, wo dem Kranken eigentlich nichts oder doch nur sehr wenig fehlt, wo also die ärztliche Verantwortlichkeit weit geringer und ein grober Fehlgriff in der Behandlung gar nicht zu fürchten ist, – wo der Arzt demnach seinen Geist gar nicht anzustrengen braucht und sogar während des Zuhörens und Jajasagens nebenbei „an ganz andere Dinge denken kann.“ (Eigene Worte eines Collegen.)

So kommt es denn, daß ein solcher Arzt, besonders als wohlsalarirter und zu regelmäßigen Visiten verpflichteter Hausarzt, sich daran gewöhnt, durch sein herkömmliches „Wie befinden Sie sich?“ die Orgel der Klagen aufzuziehen, und eine halbe Stunde lang die bekannten Stückchen spielen zu hören. Namentlich ist die Homöopathie auch für diese Zwecke meisterlich ausgesonnen und mit Recht das Hätschelkind der blasirteren west- und der halbcivilisirteren ost-europäischen Aristokratie geworden. Der homöopathische Arzt ist durch sein System verpflichtet, kein Symptom und besonders kein subjectives (d. h. Klagen über Befindensveränderungen) gering zu achten, vielmehr nach Ergebniß derselben (ohne sich über ihren Grund den Kopf zu zerbrechen) seine Auswahl unter seinen Mitteln sorgsam zu treffen. So wird also schon sein bloßes Eintreten auf den Kranken gerade so viel, als ob er fragte: „Haben Sie denn nichts Neues zu klagen? Strengen Sie sich doch ein Bischen an!“ Eine Aufforderung, welcher nur zu gern entsprochen wird. Nimmt man hierzu die hingebende Aufmerksamkeit und geheimnißvoll erwägende Miene des Doctors, die pedantisch genaue, oft von beiderseitigen Erörterungen unterbrochene Auswählung des entsprechendsten, symptome-deckenden Mittelchens (es kommt sogar vor, daß der Doctor „des Nachs aufgewacht ist und nachgedacht hat, welches Mittel am besten passe!“) – nun, jeder Unbefangene muß zugeben, daß, wenn einmal Komödie gespielt und „viel Lärm um Nichts“ aufgeführt werden soll, es schwerlich auf unterhaltendere Weise geschehen kann. Unterhaltender jedenfalls als Patiencelegen und Grillenspiel, und weniger angreifend als Schach oder L’hombre. Denn von Nichts reden die meisten Menschen lieber, als von ihrem lieben Ich; dieser Gegenstand ist unerschöpflich, und strengt gar nicht an. Und so bildet sich denn eine süße Gewohnheit des täglichen Nörgelns, bei welcher beide Parteien, Arzt und Kranker, sich ganz wohlbefinden. ich sah fast ein Jahr lang täglich die Equipage unseres vornehmsten Homöopathen vor einem der schönsten Häuser unseres nobleren Stadtviertels halten, und zwar so lange, daß ich inzwischen meist zwei bis drei Krankenvisiten in meiner raschen Art vollbrachte. Endlich erfuhr ich zufällig, wer die vermeintlich schwere Kranke war: eine kürzlich verheirathete reiche Erbin, welche nach Abschied des Doctors regelmäßig spaziren fährt, und im Park aussteigt. Diese junge Dame hat zwischen Frühstück und Toilette täglich ein Stündchen übrig, welches der Doctor ausfüllen muß. Soll Er es ihr etwa ausreden? Soll Er ihr in’s Gesicht sagen, daß sie sich mit etwas Besserem beschäftigen möge, und daß es zweier vernünftiger Menschen unwürdig sei, solch eine tägliche Komödie mit einander zu spielen? – Im Gegentheil! – Es gehört vielmehr zu den besonderen Kunstfertigkeiten des industriellen Arztes, den Kranken an das Besucht- und Befragtwerden so sehr zu gewöhnen, daß derselbe endlich (wie Molière’s Malade imaginaire) ohne den Arzt gar nicht mehr leben zu können vermeint.

Der rationelle Arzt allerdings denkt anders; er wird zum Theil von gewissen naturwissenschaftlichen und sittlichen Bewegungsgründen geleitet, welche jedem andern Gewerbe der Welt fern bleiben. Er darf nicht blos auf seinen eigenen Vorteil achten. So fühlt er sich berufen, Leuten, denen eigentlich nichts fehlt, das Doctorn abzugewöhnen, und sich selbst gewissermaßen entbehrlich zu machen. Aber welche Summe von Mühe und Verdruß dieses Bestreben, die Leute zu ihrem eigenen Besten vernünftig zu machen, mit sich bringt, davon hat Niemand einen Begriff, der es nicht selbst versucht hat. Ja, wenn die Leute vernünftig sein wollten! Aber das fällt ihnen gar nicht ein. Die Meisten, und namentlich die Geldhabenden, wollen ihren Stimmungen und Eigenheiten und Launen so ungestört als möglich dahinleben. Wer sie darin stört, ist ihr Feind, und den Arzt bezahlen sie als den Lootsen, der auf diesem Meer am besten herumzusteuern versteht. – Nun werfe derselbe sich zum Nacherzieher, zum Leuteverbesserer und Kritiker auf! Abgedankt, als grob oder rauh, als Tyrann oder gefühlloser Mensch verschrieen zu werden, ist seine nächste Aussicht! Nur in einzelnen Fällen, und erst spät nach Jahren bringt er es vielleicht dahin, daß sein uneigennütziges Streben und und da mündliche Anerkennung findet. Aber während dessen hat sein industrieller College, der liebevoll Theilnehmende, längst seine klingende Anerkennung massenhaft in Sicherheit gebracht!

Aus dem Bisherigen geht hervor, daß man es nicht vom Arzt verlangen kann, daß er allein sich dem Volksübel der Nörgelsucht entgegenstemmen solle. Soll Er sich den Haß dieser Leute zuziehen, welche oft so einflußreich auf seine sociale Stellung sind? Denn dieselben Quängler sind es, welche zum Theil die öffentliche Meinung bestimmen, welche an öffentlichen Orten wie in Privatgesellschaften und Familiencirceln das Wort führen, hier und da etwas zu tadeln finden und, wenn sie nichts Anderes wissen, über den Werth oder Unwerth der Aerzte (deren sie gewöhnlich eine Mehrzahl gebraucht haben) aburtheilen und sich alle Mühe geben, um andere, bisher harmlose Menschen, mit ihrer Unzufriedenheit anzustecken und gegen den oder jenen Arzt, der ihnen einmal die Wahrheit gesagt hat, aufzuwiegeln.

So kommt es denn, daß ein umsichtiger Arzt sich nur sehr behutsam an die Behandlung dieses häßlichen Gebrechens wagt. Nur Schritt für Schritt, unter großem Aufwand von Geduld und Beharrlichkeit, durch Milde und Ernst, mit geschickter Benutzung jedes Zwischenfalles und unter consequenter Unterstützung der Angehörigen gelangt er dahin, einen solchen moralischen Einfluß auf den Kranken zu gewinnen, daß dieser nach und nach der Nörgelei sich schämen lernt, und sich in Selbstbeherrschung zu üben sucht. – Die Molière’sche Curmethode, den eingebildeten Kranken selbst zum Arzt zu machen, ist inzwischen durch Hahnemann’s Erfindung in’s Großartige getrieben worden. – Auch bei der Kaltwassercur spielt dieses Selbstdoctorn eine Rolle mit; doch hat diese Behandlungsweise hauptsächlich dadurch Werth gegen Nörgelsuchten, daß der Patient in die Hände eine fanatisch für Abhärtung und Naturheilungen begeisterten Mehrzahl fällt, welche ihn bald mit fortreißt und fernere Verweichlichungen unmöglich macht. Auf jede Klage eine neue Kaltwasser-Procedur, wobei er aus dem Regen in die Traufe kommt: das ist ein vortreffliches Mittel, um einem Solchen das Querulieren endlich ganz zu verleiden! – Auch das Turnen, besonders in Vereinen, ist ein hochzuschätzendes moralisches Hebungsmittel für Nörgelnde jedes Alters oder Geschlechtes; es steckt in ihm, bsonders in der edlen deutschen Turnkunst, ein merkwürdiges erfrischendes, geistig freimachendes und erheiterndes Element. Ein Turner, der nörgelt, ist fast gar nicht denkbar. – Im Nothfall thun es auch andere Körperbewegungen. Das Specificum, welches Cullen für Gichtische empfahl: „täglich einen Schilling zu verzehren, den man sich mit grober Körperarbeit verdienen müsse“, – paßt auch für Nörgelsüchtige! – Eine Mehrzahl derselben besuchen Jahr aus Jahr ein die Bäder: [490] zur Erholung – ihres Hausarztes und der daheim gebliebenen Angehörigen. Saphir schreibt ihnen die Erfindung der Badereisen zu: „Ich stelle sie mir vor, diese Frau mit dem mondscheinblassen Gesicht, dem petersilienfarbigen Teint und dem Leben einer Herbstfliege: wie sie nur vom Scheintod erwacht, wenn ihr das Kammermädchen eine Locke schief gewickelt hat. Ich höre sie über Appetitlosigkeit klagen, wie sie von den dreißig Speisen, welche den kleinen Mittagstisch ausmachen, überall nur ein Wenig kostet. Ich bemerke, wie die Dienerschaft nach allen vier Winden läuft, um den Doctor zu holen. Ich sehe, wie der Nachkomme des Aesculap seinen mächtigen Perrückenkopf schüttelt, keine Symptome eines Uebels findet, und endlich auf den Gedanken kommt, die Krankheit sei aus der Luft gegriffen und daher eine Luftveränderung nothwendig!“ In der That ist diese medicinische Mekkawallfahrt, wie Saphir sagt, contagiös geworden. Es mag wohl der vierte oder dritte Theil der gesammten Badereisenden zu den Nörgelanten gehören. Das Talent, mit ihnen umzugehen, bildet sogar ein Haupterforderniß eines guten Brunnenarztes, und sie sind es andererseits, welche denselben am raschesten abnutzen.

In der That, es ist keine Kleinigkeit, den ganzen Tag quängeln zu hören, mit und ohne Grund. Das bringt den Mann mehr herunter als Strapazen und Schreckdinge, welche ihm die Nerven stählen. Wer daher als Arzt straff bleiben, sich die Schärfe der Diagnose und die Entschiedenheit im Handeln bewahren will, der pflegt sich die Nörgelkranken thunlichst (und mit Manier) vom Halse zu halten. Denn sonst verfällt man leicht in den Gewohnheitsfehler, auch da an eingebildete Krankheiten zu denken, wo hinter den Klagen wirkliche, entschiedene Krankheiten (z. B. Neuralgia, Gallensteine, Bandwurm, Darmverengung, beginnende Krebs- oder Tuberkelbildungen, bevorstehende Seelenstörungen) verborgen sind. Wer in solchen, nicht seltenen Fällen weiter nichts zu thun weiß, als die Leute zu trösten und mit Scheinmittelchen hinzuhalten, der läuft Gefahr, daß zum Heil des Kranken ein schärfer sehender oder entschlossenerer Arzt herbeigeholt wird, welcher in den erstgenannten Fällen durch rasch durchgreifende Hülfe, in den letztgenannten durch eine rechtzeitig ausgesprochene Diagnose und Prognose den Fall in’s Klare stellt und die Wissenschaft über die gemeine Routine trimphiren macht.

Dr. –r. 

  1. Oder Andere halten ihm einen solchen als Blitzableiter! Einst berief man mich zu einr verheiratheten Dame, welche über ihr vermeintliches Lungenleiden und baldiges Ende mit so viel dramatischer Wirksamkeit zu klagen wußte, daß ihre jungen Töchter öfter in Thränen zerflossen. Sie that dies alltäglich von zwölf Uhr Mittags an, steifaufrecht von Crinoline und Seide umwallt, im Lehnstuhle sitzend. Vor zwölf Uhr war sie für Niemand, selbst nicht für den Arzt zu sprechen. – Ihr Gemahl war der größte Phlegmatiker, den ich jemals sah (ich zählte bei ihm in der Minute unter sechzig Pulsschläge und kaum mehr Worte, wenn er sprach). Er bezahlte seiner Frau einen Arzt, um selbst Ruhe zu haben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: suchter