Die begrabene Wahrheit

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Die begrabene Wahrheit
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aus: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung) S. 74–76
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Google und Commons
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Die begrabene Wahrheit.


Nur Gott ists, der die Todten erweckt; es sei dann, daß er seiner Lieblinge Einem diese Wundergabe verleihet. Unsre Pflicht ists, verstorbene Heilige zu ehren, und sie als Wohnungen himmlischer Geschenke andrer Nachahmung zu empfehlen.

So gaben es einst viele Anzeigen, daß irgend hier die Wahrheit begraben sei; man scharrte die Erde auf, grub einige Tage, und fand endlich einen unkostbaren Sarg, auf dem nichts als die wenigen Worte standen: zu meiner Zeit! –

Man hob den Deckel auf und sahe einen Leichnam, zerfetzt, verunreinigt, mit Dingen bedeckt, die ich zu nennen mich scheue. Offenbar wars, daß man ihn nicht mit Würz’ und Balsam, sondern mit Unrath eingesargt und versenkt hatte.

Als man den Körper endlich mit vieler Mühe reinigte, fand man zu Haupt ihm eine schöne, eherne Tafel mit dieser Inschrift:

Ich, die Wahrheit, Gottes Tochter;
durch Satans Trügerei,
der Welt ansteckend Gift,
durch der Tyrannen Gewaltthätigkeit,
der Priester Trägheit,
der Staatsmänner Bosheit,
durch Leichtsinn der Geschichtenschreiber,
durch der Gelehrten Narrheit,
und durch des Volks Stupidität
ermordet,
lieg ich hier
im Schlamm der Lügen.
Nach hundert Jahren siehet mich
die Sonne wieder.
Sey mir gegrüsset, Nachwelt!

Als diese Grabschrift bekannt gemacht wurde, mischete sich Schmerz mit Freude. Man schalt die Vorwelt; man pries die jetzige Zeit. Ein Marmor-Grabmahl ward der Wahrheit errichtet, und sie darinn wiederum prächtig und kostbar begraben. Aufgehänget ward die gefundene Tafel, und die stolzen Worte dazu gefügt.

Wären Wir
zu unsrer Väter Zeit gewesen;
wir hätten nicht Theil genommen
am Morde der Wahrheit.