Die deutsche Philologie (1914)
Am 20. September d. J. war ein halbes Jahrhundert verflossen, seit in Berlin, wo der hochherzige König Friedrich Wilhelm IV. ihm und dem Bruder eine neue Heimat bereitet hatte, 78jährig von der Arbeit Jacob Grimm abberufen wurde, in dessen gewaltigem Lebenswerk die Wissenschaft vom deutschen Altertum nach Umfang und Zielen umschrieben schien. Er war von der Sagen- und Märchenforschung zur Literaturgeschichte, von ihr zu Grammatik und Lexikographie gelangt, denen er ein völlig neues, breites und tiefes Fundament gab; er lieh der Geschichte des deutschen Rechtes neues Leben und ungeahnten Reiz, er schuf die deutsche Mythologie und lieferte zahlreiche Beiträge zu einer Geschichte der deutschen Sitte. Seine Kenntnis der Quellen germanischen Wesens schien unerschöpflich und ist von keinem zweiten Gelehrten je erreicht worden. In der germanischen Welt und weit darüber hinaus nahm er eine fast königliche Stellung ein.
Am Tage nach dem Begräbnis brachte die Spenersche Zeitung einen Nekrolog aus der Feder eines jungen Wiener Gelehrten, Wilhelm Scherer, der den überreichen Ertrag dieses Gelehrtenlebens und die Größe des Verlustes klar und warm zum Verständnis der Laien zu bringen wußte; aus diesem Zeitungsartikel erwuchs die bisher einzige Biographie Jacob Grimms (2. Aufl. 1885), in der die unvergleichliche Leistung des Einzelnen auf tiefem historischem Hintergrunde gewürdigt und zugleich ein Ausblick auf das weite Feld der ungelösten Aufgaben geboten wurde. Wenn sich das Arbeitsgebiet der deutschen Philologie in Ausdehnung und Beschränkung heute wesentlich anders darstellt, als die deutsche Altertumswissenschaft Jacob Grimms, so liegt das zum Teil an dem Zug zur Arbeitsteilung, den die Entwicklung aller Wissenschaften heute aufweist, zum bessern Tell aber ist es das Verdienst Wilhelm Scherers, der nachdrücklich und mit Erfolg jenem Zug und damit der verstärkten Gefahr des Banausentums entgegengearbeitet hat: er hat die Bande aufs neue gefestigt, welche gerade die deutsche Grammatik seit ihrer wissenschaftlichen Begründung mit der vergleichenden Sprachwissenschaft verknüpfen, er hat den philologischen Betrieb auch der neueren Literaturgeschichte aus vereinzelten Anfängen kräftig entwickelt und seine Verbindung mit den altdeutschen Studien festgehalten. Auf den beiden Hauptgebieten der Sprache und Literatur lehrte er vorbildlich das fruchtbare Prinzip der gegenseitigen Erhellung: so hat er den Grammatiker auf die Umgangssprache und die lebenden Mundarten hingewiesen, von dem Literaturforscher verlangt, daß er mit den literarischen Bestrebungen der Gegenwart Fühlung halte. Als Schüler Karl Müllenhoffs war er auch mit dem besonderen Arbeitsgebiet des Meisters der Altertumsforschung nach Quellen, Zielen und Methode vertraut, und nach dem Tode Müllenhoffs (gest. 19. Februar 1884) faßte er den Entschluß, [1195] den Rest des eigenen Lebens zwischen den selbstgewählten Aufgaben und der Vollendung von Müllenhoffs Lebenswerke zu teilen, als ihn selbst, 45jährig, der Tod ereilte (6. August 1886). Die Mahnung, die Einheit der Wissenschaft festzuhalten, wie sie Jacob Grimm geschaffen und er selbst sie fortgebildet hatte, wirkt in vielen Schülern Scherers nach, aber nur wenige haben die Kraft und Beweglichkeit zugleich, sie in produktiver Arbeit zu verwirklichen, und nur einem ist es möglich gewesen, großen Werken über Goethe und die Literatur des 19. Jahrhunderts eine altgermanische Religionsgeschichte folgen zu lassen (Richard M. Meyer). Die reiche Wirksamkeit, welche Scherers Nachfolger auf dem Berliner Katheder, sein Schüler Erich Schmidt als Schriftsteller und Lehrer entfaltet hat, ist zum guten Teil doch in der Beschränkung auf die neuere Literatur begründet, zu der er nach einer gründlichen Schulung im Sinne Scherers frühzeitig gelangt war.
Erich Schmidts (gest. 29. April 1913) 26jährige Berliner Lehrtätigkeit umspannt reichlich den Zeitraum, dem sich die folgende Betrachtung zuwendet, und sie beleuchtet im Verein mit der Arbeit seines Wiener Kollegen Jacob Minor (gest. 28. November 1912) am hellsten den Aufschwung, den speziell das Studium der neueren Literaturgeschichte in dieser Periode genommen hat, ein Aufschwung, der in der Begründung einer großen Anzahl neuer Professuren seinen Ausdruck fand, und von dem fast alle deutschen Hochschulen Zeugnis ablegen in einer wachsenden Zahl wissenschaftlicher Erstlingsarbeiten.
Dieser gelegentlich etwas übereifrige Betrieb war wohl kaum vorauszusehen, als es Hermann Paul vor genau 25 Jahren unternahm, in einem „Grundriß der germanischen Philologie“ zum ersten Male das Gebiet unserer Wissenschaft unter Ausschluß der neueren Philologie enzyklopädisch zusammenzufassen: mit einem Stabe von 30 Mitarbeitern. Das Werk, dem ein starker buchhändlerischer Erfolg beschieden war, und das in einer zweiten Auflage wesentliche Lücken der ersten ausfüllte, strebte die Wissenschaft Jacob Grimms zu umspannen, konnte dies aber nur durch Heranziehung einzelner Hilfskräfte von außerhalb der deutschen Philologie erreichen. Die deutsche Rechtsgeschichte hat sich seit den Tagen von K. Fr. Eichhorn und Jacob Grimm zu einer mächtigen Disziplin ausgewachsen, der die Philologen kaum zu folgen vermögen, geschweige denn, daß ihnen selbst noch ein wesentlicher Teil der Mitarbeit zufiele. Die Geschichte der bildenden Künste ist ein Arbeitsfeld von so großem Reichtum und so eigenartigen Schwierigkeiten, daß wir sie den Spezialgelehrten überlassen müssen und nicht einmal eine Verbindung erreicht haben, wie sie zwischen klassischer Philologie und Archäologie zum Heile beider besteht und gewiß immer bestehen wird. In der Tat ist die direkte Befruchtung unserer Studien von der Kunstgeschichte her nicht in dem Maße erfolgt, wie man es wohl gelegentlich erwarten durfte, und der Historiker des mittelalterlichen Kunst seinerseits mag immerhin der literarischen Quellen eher entraten, als der klassische Archäologe. Aber daß aus einer tiefer bohrenden literargeschichtlichen Betrachtung sich auch hier wichtige Zusammenhänge ergeben, haben die Forschungen Konrads Burdachs über die böhmische Renaissance des 14. Jahrhunderts gezeigt, deren Wirkung vorläufig auf dem Gebiete der Kunstgeschichte deutlicher zutage tritt, als in unserer eigenen Wissenschaft. Die mittelalterliche Musik steht mit dem Minnesang und Volkslied in so innigen Zusammenhang, daß wir hoffen müssen, auch nach dem Tode Rochus von Liliencrons (gest. 5. März 1912), der Literaturgeschichte [1196] und Musikwissenschaft aufs glücklichste vereinigte, stets einen und den andern der Unsrigen für dies Gebiet gerüstet zu wissen und auf ihm tätig zu sehen. Eigentümlich steht es mit der mittelalterlichen Realien, insbesondere den Haus- und Kriegsaltertümern. Hier war Moriz Heyne (gest. 1. März 1906) nach Wilhelm Wackernagels Tode die erste Autorität, eine berufenere als Alwin Schultz, und er wirkte stark auf seine Schüler: diese aber sind vielfach Museumsbeamte geworden und halten die Beziehungen zur Sprachphilologie nur zum kleinen Teil aufrecht. Doch eröffnet sich uns von zwei Seiten die Aussicht, daß die notwendige Fühlung wieder erstarken wird: die vorgeschichtliche und frühgeschichtliche Forschung üben auch auf die Germanisten eine starke Anziehungskraft, und daß die Sprachwissenschaft ihrerseits auf die Kenntnis der Realien nicht länger verzichten will, zeigt die Begründung der Zeitschrift „Wörter und Sachen“ (1909). Mit der Geschichtswissenschaft im engern Sinne, der politischen und der Wirtschaftsgeschichte, sind die Beziehungen von vornherein nur lose gewesen, und wenn unser Altmeister Jacob Grimm sowohl 1819 bei der „Gründung der Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde“ durch den Freiherrn von Stein, wie 1858 bei der Errichtung der „Historischen Kommission“ durch den König Maximilian II. von Bayern herangezogen wurde, so geschah es hauptsächlich, weil man den Beirat und die direkte Mitarbeit der Germanisten bei Herausgabe der Geschichtsquellen nicht entbehren mochte. In der Tat sind die „Deutschen Chroniker“ der Monumenta Germaniae historica in der Mehrzahl von deutschen Philologen bearbeitet worden, aber auch bei andern Editionen, nicht nur in deutscher Sprache, wäre Ausrüstung oder Rat des Germanisten öfter nötig gewesen, als man es erkannt und zugestanden hat.
Während die Würdigung ausgewählter Denkmäler der lateinischen Dichtung des Mittelalters naturgemäß früh den Germanisten zufiel (Jacob Grimm und Schmeller), andere den Historiker anziehen mußten (Köpke, Wattenbach, Dümmler), ist die eigentliche Begründung einer mittellateinischen Philologie von den klassischen Philologen Wilhelm Meyer aus Speyer und Ludwig Traube (gest. 19. Mai 1907) ausgegangen. Die persönlichen Beziehungen sind allezeit die besten gewesen, die wissenschaftliche Fühlung hinüber und herüber könnte wohl reger und intimer sein.
Wenn hier überall mehr oder weniger von einer anerkannten und zum Teil notgedrungenen Einschränkung des weiten Arbeitsfeldes die Rede war, das im Vergleich etwa mit der klassischen eine germanische Altertumswissenschaft in Anspruch nehmen könnte, sind andere Zweige der Wissenschaft von deutscher Sprache und deutschem Volkstum gerade in den letzten fünfundzwanzig Jahren zu einer mächtigen Blüte gediehen und haben aus den Kreisen der Gelehrten wie der Dilettanten Scharen von Jüngern und Hilfskräften herangezogen.
Karl Weinhold (gest. 15. August 1901), einer der letzten und gewiß der treueste Schüler Jacob Grimms, hat das Glück gehabt, im letzten Jahrzehnt seines Lebens, seit der Begründung der Gesellschaft für Deutsche Volkskunde, deren Zeitschrift 1891 zu erscheinen begann und heute von Joh. Bolte, dem ausgezeichneten Märchenforscher, geleitet wird, einen Aufschwung des Interesses an Glaube und Brauch, Sage und Sitte, Märchen und Lied zu erleben, der ein frühgehegtes Ideal für ihn verwirklichte: eine neue [1197] gesteigerte und tiefer schürfende Sammeltätigkeit anzuregen, die der starken Wirkung der Brüder Grimm immerhin verglichen werden kann. In den meisten deutschen Landschaften sind Vereine für Volkskunde entstanden, nicht alle unter so glücklichem Stern und so strenger erster Leitung wie in Weinholds Heimatprovinz Schlesien, manche befangen in den Kinderkrankheiten, die dieser immerhin nicht ungefährliche Boden erzeugt, aber keine ohne eigenes Verdienst, und einzelne wie die für Deutschböhmen und für die Schweiz von einer Arbeitskraft und Produktivität, die uns Hochachtung abnötigt.
Dieser Beschäftigung mit den Erzeugnissen der Phantasie und den Lebensäußerungen des Volkes bei der Arbeit und an festlichen Tagen geht zur Seite eine gesteigerte und wissenschaftlich gehobene Beschäftigung mit den Mundarten. Das Interesse dafür war auch Jacob Grimm keineswegs fremd, und von seinen Mitarbeitern hat sich der Erforscher der Bayrischen Mundarten Joh. Andreas Schmeller unvergänglichen Ruhm erworben. Die Richtung, welche Wilhelm Scherer der Sprachwissenschaft gab und die tiefgreifenden prinzipiellen Erörterungen Hermann Pauls drängten auf das Studium der lebenden Sprache hin, und zwar an ihren lebendig sprudelnden Quellen, in den Volksmundarten. Aber den stärksten Anstoß gab Eduard Sievers, der erkannte, daß die Phonetik nur indirekt, auf dem Umwege über das Studium der Mundarten, für die historische Sprachwissenschaft nutzbringend gemacht werden könne, und so der Anreger der ersten streng wissenschaftlichen Monographie über einen deutschen Dialekt wurde (Winteler, Die Kerenzer Mundart 1877), der dann anfangs zögernd, später in größerer Zahl und zum Teil in dichten Gruppen Beschreibungen deutscher Mundarten gefolgt sind. Wenn dabei anfangs das Alemannische, später das Bayrisch-Österreichische, Thüringische und Obersächsische, neuerdings auch das Schlesische und Niederrheinische stark hervortreten, so macht sich darin der Einfluß einzelner Lehrer deutlich geltend. Durchaus unabhängig von Sievers war nur Georg Wenker (gest. 17. Juli 1911) in Marburg, der aus eigenster Initiative den Sprachatlas des Deutschen Reiches begründete und, bis im Jahre 1888 das preußische Kultusministerium das große nationale Unternehmen übernahm, diesen Atlas jahrelang auf eigenen Schultern getragen hat. Mit den Ergänzungsblättern wird das Riesenwerk nicht viel weniger als 2000 Wortkarten umfassen: damit ist der deutschen Dialektgeographie eine Grundlage geboten, die durch alle vorauszusehenden und erwiesenen Mängel im einzelnen in ihrer Festigkeit als Ganzes unerschüttert bleibt. Es ist Aussicht vorhanden, daß das Werk in einer Auswahl von Karten auch zur Publikation gelangt. Inzwischen ist die Tätigkeit von Wenkers Nachfolger Ferd. Wrede auch darauf gerichtet gewesen, in Einzelpublikationen die historische Bedingtheit von Mundarten zu ermitteln und an Stelle der vagen Vorstellung von alten Stammesgrenzen deutlichere Begriffe zu setzen.
Neben die beschreibende Einzelforschung und die Dialektgeographie stellt sich als drittes die Lexikographie der Mundarten. Durch ein halbes Jahrhundert stand das Bayerische Wörterbuch von J. A. Schmeller auf einsam ragender Höhe. Dann begann, durch ein einzigartiges Zusammenwirken gelehrter und volkstümlicher Kräfte ins Leben gerufen und getragen, das „Schweizerische Idiotikon“ (Bd. I, 1881) es zu überragen, und ihm tritt das „Schwäbische Wörterbuch“ ebenbürtig zur Seite (Bd. I. 1904), das, [1198] lange vorbereitet, Hermann Fischer ans Licht gebracht hat. In zwei stattlichen Bänden ist ein „Wörterbuch der Elsässischen Mundarten“ von Ernst Martin (gest. 13. August 1910) und Heinrich Lienhart schon 1907 zum Abschluß gebracht, 1908 begann, von H. Schullerus geleitet das „Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch“ zu erscheinen; Idiotiken des Deutsch-Lothringischen und des Deutsch-Luxemburgischen liegen vor, von kleineren Sammlungen nicht zu reden, und mehr als ein Dutzend größerer Unternehmungen sind gegenwärtig im Werke, allen voran das auf breitester Basis der gesamten Volkskunde aufzubauende neue Bayrisch-Österreichische Wörterbuch, dem Jos. Seemüller die tüchtigsten seiner Schüler zuführt.
Die Lexikographie nimmt überhaupt gegenwärtig eine große Anzahl älterer und jüngerer Kräfte in Anspruch. Durch das hervorragende Geschick, mit welchem Friedrich Kluge in seinem „Etymologischen Wörterbuch“ auf engem Raume eine Fülle von Tatsachen und Vermutungen zur Wortdeutung vorlegte, ist das Ansehen und der Glaube an die Etymologie stark angewachsen, obwohl der Verfasser selbst, wie vor allem seine „Zeitschrift für deutsche Wortforschung“ (seit 1901) zeigt, mehr und mehr den Akzent auf die Wortgeschichte legt. Der Wortgeschichte in erster Linie dient auch das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm, das, durch Todesfälle und andere widrige Umstände vielfach gehemmt, in den letzten Jahren in rascherem Tempo dem Abschluß entgegenschreitet, nachdem das Deutsche Reich die Kosten der Weiterführung großenteils auf sich genommen und der „Deutschen Kommission“ die Fürsorge und Oberaufsicht über das Unternehmen übertragen hat, für das in Göttingen eine Zentralsammelstelle eingerichtet wurde.
Berlin hat zu allen Zeiten für die Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur seine Bedeutung gehabt: von J. Vorstius, dem Bibliothekar des Großen Kurfürsten, ab bis auf Müllenhoff und Scherer und ihre Nachfolger. Die älteste gelehrte Korporation der Hauptstadt freilich, die Königl. Preußische Akademie der Wissenschaften, hat die Germanisten wohl als geschätzte Mitglieder aufgenommen, aber größern Unternehmungen auf dem Gebiete unserer Wissenschaft sich lange versagt; es war eine Ausnahme, als das mächtige vielbändige Korpus der „Althochdeutschen Glossen“ von Elias Steinmeyer und Eduard Sievers (1879 ff.) mit ihrer Unterstützung ans Licht trat.
Das ist anders geworden unter der Regierung Sr. Majestät des Kaisers und Königs Wilhelms II, insbesondere seit dem Jubiläum der Akademie im Jahre 1900, das recht eigentlich einen Jubeltag für die Wissenschaftsgebiete der deutschen Sprachkunde, Literaturgeschichte und Altertumswissenschaft bedeutet. Drei neue akademische Stellen wurde für ihre Vertreter begründet, und von den reichen Mitteln, die für wissenschaftliche Aufgaben und Zwecke ausgeworfen wurden, erhielten die deutschen Studien einen beträchtlichen Anteil zugewiesen. Eine ganze Reihe von neuen, zum Teil umfassenden Unternehmungen sind von der „Deutschen Kommission“ entweder direkt ins Leben gerufen oder unterstützt worden. Der mundartlichen Lexikographie greift sie tatkräftig unter die Arme im Osten und im Westen der Monarchie; in großen kritischen Ausgaben legt sie die Werke Wilhelm von Humboldts und Wielands vor und läßt weitere Leistungen ähnlicher Art erhoffen; sie ermöglicht die weitausgreifende Forschungen Konrad Burdachs zur Geschichte der deutschen Bildung, die unter dem Titel „Vom Mittelalter zur Reformation“ [1199] ans Licht treten; im eigenen Heim sammelt sie ein umfassendes Repertorium der deutschen Handschriften, das neben den Höhen auch die Flachgründe der literarischen Kultur eingehend beleuchten wird; und sie hat, gestützt vor allem auf die Arbeitskraft und vielseitige Sachkunde Gustav Roethes, einen Herzenswunsch aller Freunde der alten Literatur erfüllt, und in rascher Folge eine lange Reihe von wichtigen und interessanten deutschen Texten des Mittelalters in vorsichtig gesäuberter handschriftlicher Überlieferung ans Licht gebracht, auf deren nähere Bekanntschaft wir lange und schmerzlich verzichten mußten. Seit den Jugendtagen unserer Wissenschaft ist unsere Kenntnis des wichtigsten Quellenstoffes nie in ähnlicher Weise bereichert worden. Hier liegt Material zu sprachlichen und literargeschichtlichen Untersuchungen in Fülle vor uns ausgebreitet, und ganze Gebiete der Epigonenliteratur, wie z. B. die Dichtung des Deutschen Ordens, sind uns neu erschlossen worden.
Wir haben bisher im wesentlichen von der Beschränkung und der Ausbreitung der Forschungsgebiete gesprochen, wir holen nach, was von der Zusammenfassung der Arbeit, von der Vertiefung der Forschung und von den[WS 1] Fortschritten der Methoden in den letzten fünfundzwanzig Jahren noch zu berichten ist. Auf allen Gebieten herrscht, wie wir sahen, eine rege Tätigkeit, aber die zusammenfassende Darstellung hat sich meist auf die enzyklopädische Form im größeren Rahmen beschränkt. Seit Scherers Literaturgeschichte ist keine einheitliche Darstellung der geistigen Entwicklung der Nation, wie sie sich in der schönen Literatur spiegelt, erschienen, wenigstens keine, die einen wissenschaftlichen Charakter trüge; und mit Ausnahme des 19. Jahrhunderts hat auch kein größerer Zeitraum die Gelehrten zu wissenschaftlicher Darstellung verlockt. Von einer Darstellung des 18. Jahrhunderts hat Albert Köster Proben gegeben, die viel versprechen, für die Romantik bot uns Oscar F. Walzel vorläufig eine durchaus eigene Darstellung auf engem Raume. Biographie und Edition haben für Lessing das Beste geleistet in den Arbeiten Erich Schmidts und Franz Munckers, sind für Goethe und Schiller überaus ergiebig gewesen, haben aus der vorklassischen Periode Gottscheds Andenken bald mit kritischer Methode, bald in unkritischem Übereifer von Schlacken zu befreien gesucht, aus den Männern des Sturms und Drangs Klinger und Lenz mit besonderer Vorliebe behandelt. Während uns kritische Ausgaben von Opitz und Gryphius fehlen, schreitet die große Luther-Ausgabe unter ihrem neuen Redaktor (K. Drescher) mit raschen Schritten der Vollendung entgegen.
Für das Mittelalter hat Anton E. Schönbach (gest. 25. August 1911) durch Erschließung der geistlichen Quellen mehr als alle anderen getan, während er die Forschung über Walther v. d. Vogelweide kaum zu fördern vermochte, die überhaupt seit den Arbeiten von Burdach und Wilmanns keine nennenswerten Fortschritte aufzuweisen hat. Aber die Vorgeschichte des Nibelungenliedes und der Kudrun, über die Quellen des Parzival und den Bildungsumfang Wolframs hat ein reger Meinungsaustausch stattgefunden, ohne zu völliger Klarheit zu führen. Sicherer Gewinn ist die Festlegung der Reihenfolge für die Werke Hartmanns von Aue und Konrads von Würzburg. Um die Geschichte des Minnesanges und der Spruchdichtung haben sich die Anfänger in Ausschnittarbeiten fast zu viel, die reiferen Gelehrten zu wenig gekümmert. Die Neubearbeitung von „Minnesangs [1200] Frühling“ durch F. Vogt verspricht wenigstens für die Frühzeit eine Belebung der Diskussion. Den engern Zusammenhang der Literatur des Mittelalters mit der zeitgenössischen Gesellschaft und den führenden Kreisen zu ermitteln, ist man von mehr als einer Seite erfolgreich bemüht gewesen.
Die Technik der Edition, die in den Arbeiten Lachmanns und seiner Schüler früh gereift war, ist in der Folgezeit und gerade auch im Anfang unseres Zeitabschnittes unter dem überwiegenden Einfluß der grammatischen Studien hier vernachlässigt worden, dort auf Abwege geraten, von denen auch Erscheinungen der letzten Jahre noch Zeugnis ablegen: das Vertrauen auf die Sicherheit sprachlicher Kriterien führte die einen zu gewagten Umschriften und Rekonstruktionen, die falsche Andacht vor der überlieferten Sprachform ließ die andern auf jede Betätigung der philologischen Kritik verzichten. Da war es eine erlösende Tat, als zwei Schüler Richard Heinzels (gest. 5. April 1905), Carl von Kraus und Konrad Zwierzina, sozusagen die Lachmannsche Methode wieder entdeckten und durch eine Fülle neuer Beobachtungen über die Sprache und Sprachkunst der großen mittelhochdeutschen Dichter bereicherten. Die neue Diskussion metrischer Fragen, welche hauptsachlich durch Sievers hervorgerufen wurde, hat der Textkritik mittelhochdeutscher Dichter direkt nur geringen Ertrag gebracht.
Auf dem Gebiete der Grammatik haben die Germanisten einerseits durch die Dialektforschung und anderseits durch das Studium der Entwicklung der Schriftsprache, an dem sich von Konrad Burdach bis Max Jellinek zahlreiche Gelehrte beteiligt haben, neue Gesichtspunkte und eine Verfeinerung der Methode gefunden, die auch solchen zugute kamen, die diesen Arbeitszweigen selbst fernerstanden. Ihre Fruchtbarkeit erwies sich vor allem in dem ersten Versuch einer zusammenfassenden deutschen Grammatik, den Wilhelm Wilmanns (gest. 29. Januar 1911) unternahm und der nach dem jähen Tode dieses ausgezeichneten Gelehrten, der wie kein zweiter unter uns Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft vereinigte, nun leider ein Torso geblieben ist.
Wie die Dialektforschung der historischen Grammatik, so ist die Volkskunde der deutschen Mythologie zugute gekommen; sie hat ihre Entwicklung zu einer germanischen Religionsgeschichte wesentlich gefördert und zeitigt bei uns ähnliche Erscheinungen wie in der klassischen und orientalischen Altertumswissenschaft. Und hier zeigt sich stärker als auf irgendeinem anderen Gebiete das Bedürfnis und der Drang zu zusammenfassender Darstellung; in den letzten fünfundzwanzig Jahren sind von dem kleinen Büchlein F. Kaufmanns ab bis zu dem jüngst erschienenen Werke von K. Helm reichlich ein halbes Dutzend Versuche erschienen, System und Geschichte, religiösen und dichterischen Gehalt der der germanischen Mythologie im Zusammenhang klarzulegen.
Auch in der Heldensage ist durch die Volkskunde neues Leben gekommen, zum Teil vermittelt durch die Anregungen von außen her, besonders von dem genialen Dänen Axel Olrik. Aber auch durch die Initiative deutscher Forscher, die zum Teil von Müllenhoff und Heinzel ausgingen, ohne an deren Lehren zu haften: O. L. Jirizek, A. Heusler, F. Panzer, F. v. d. Leyen, H. Schneider u. a. Wenn bei Müllenhoff die Beschäftigung mit der Heldensage noch hauptsächlich der Aufdeckung verschütteter Mythen galt, ist es heute das Bestreben der Gelehrten, dem dichterischen Wesen und Gehalt der Sagen [1201] gerecht zu werden; was für die Mythologie dabei abfällt, ist längst nicht mehr das höchste oder einzige Ziel.
Die Deutsche Altertumskunde, soweit sie von Dichtung, Sage und Mythus absieht, also die Geographie und Ethnographie des alten Germaniens und die Ermittelung des ältesten Kulturstandes und der ältesten Kulturbeziehungen unserer Vorfahren, wie sie in umfassender Weise Müllenhoff in seinem Lebenswerke anstrebte, ist im Anschluß an diejenigen Bände, die aus seinem Nachlaß ans Licht traten, in rege Aufnahme gekommen. Ihr kommen von Jahr zu Jahr die Fortschritte der Bodenforschung, der prähistorischen und frühgeschichtlichen Anthropologie und Archäologie, worin uns die Skandinavier lange voraus waren, mehr zugute: sowohl in den Arbeiten derer, die sich ganz diesem Zweige gewidmet haben, wie Gustav Kossinna und seine Schüler, wie in der Tätigkeit derer, die, wie Rudolf Much und Friedrich Kauffmann der Philologie treu geblieben sind. Soeben erscheint von Friedrich Kauffmann der erste Versuch einer zusammenfassenden Darstellung: wir begrüßen ihn freudig trotz der Gewißheit, daß er bald genug von der Arbeit dieser Generation überholt werden wird.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: der