| Dritter Abschnitt.
Untersuchung gewisser Integrale, welche hin erstreckt sind über geschlossene Curven.
Es enthält dieser Abschnitt gewisse Betrachtungen, welche voranzuschicken erforderlich ist, falls langwierige Unterbrechungen in den nächstfolgenden Abschnitten vermieden werden sollen.
§. 14. Ueber diejenigen Unterscheidungen, welche mit Hülfe der Worte Links und Rechts ausgedrückt zu werden pflegen.
(1.) Erste Definition. Denkt man sich eine bestimmte Richtung festgesetzt auf der Peripherie einer Kreisfläche, und ferner eine bestimmte Richtung festgesetzt auf der Achse[1] der Kreisfläche, so sollen diese beiden Richtungen positiv zu einander genannt werden, sobald der in Liegende und nach dem Mittelpunct der Kreisfläche Hinsehende die Richtung markirt mit ausgestreckter Linken.
Wir haben uns also, falls die Richtung
in gewöhnlicher Weise durch einen Pfeil angedeutet ist, eine ihrer Länge nach mit diesem Pfeil zusammenfallende menschliche Figur vorzustellen, in solcher Lage, dass ihre Füsse am Schweif, ihr Kopf an der Spitze des Pfeils sich befinden, und gleichzeitig ihre Augen nach dem Mittelpunct der Kreisfläche hingewendet sind. Die beiden Richtungen
und
heissen
positiv zu einander, sobald diese Figur die Richtung
markirt mit ihrem ausgestreckten
linken Arm. Es wird mithin z. B. die scheinbare Bewegung der Sonne um die Erde
positiv zu nennen sein in Bezug auf diejenige Richtung der Erdachse, welche vom Nordpol zum Südpol geht.
| Durch
ist ein geradliniges Fortschreiten, andererseits durch
eine gewisse Drehung indicirt. Sind
und
positiv zu einander, so werden jenes
Fortschreiten und diese
Drehung ebenfalls als positiv zu einander zu bezeichnen sein.
Sind im Raume irgend zwei Linien und jede von festgesetzter Richtung, gegeben, welche ohne sich zu treffen in irgend welchem Abstande an einander vorübergehen, so wird, falls man die eine derselben, z. B. als Achse betrachtet, gleichzeitig durch die andere eine gewisse Umdrehungsrichtung um diese Achse markirt sein[2]. Oder anders ausgedrückt: Betrachtet man als das so wird gleichzeitig durch ein gewisses markirt sein. Mit Bezug hierauf gilt folgender Satz:
Sind die Linien respective als betrachtet, positiv zu einander, so sind dieselben, respective als betrachtet, ebenfalls positiv zu einander.
Der Satz ist leicht zu beweisen, wenn wir ihn zunächst ein wenig anders aussprechen. Die beiden Linien
mögen durch die Linie
ihres kürzesten Abstandes starr mit einander verbunden sein; und diese starre Figur
sei gegeben in zwei (congruenten) Exemplaren. In dem einen Exemplar sei
mit
mit
bezeichnet, in dem andern umgekehrt
mit
mit
Darzuthun ist alsdann, dass wenn
positiv zu einander sind, Gleiches auch gilt von
Hiefür aber ergiebt sich der Beweis augenblicklich. Denn jene beiden Exemplare können, wie leicht zu übersehen, in
doppelter Weise mit einander zur Deckung gebracht werden, einerseits so dass
mit
mit
zusammenfällt, andererseits aber auch so, dass das
des ersten Exemplars mit dem
des zweiten, und das
des ersten mit dem
des zweiten zur Deckung gelangt
[3]. Jene beiden Exemplare
welche respective bezeichnet waren mit
und
sind also unter einander congruent nicht nur im Sinne
son
| dem ebenso auch im Sinne
Aus der Voraussetzung, dass
positiv zu einander sind, folgt daher, dass
ebenfalls positiv zu einander sind. W. z. b. w.
Aus diesen Betrachtungen entspringt die Berechtigung für folgende Bezeichnungsweise[4]:
(2.) Zweite Definition. Zwei im Räume aneinander vorbeigehende, unter irgend welchem Winkel gegen einander geneigte Linien mögen positiv zu einander genannt werden, sobald angedeutet werden soll, dass jene Linien zu diesem Namen berechtigt sind, falls man die eine als Achsenrichtung, die andere als Umdrehungsrichtung ansieht.
Oder anders ausgedrückt: Sie mögen positiv zu einander genannt werden, sobald der in der einen Linie Liegende und nach irgend einem Puncte der andern Linie Hinsehende die Richtung dieser andern mit ausgestreckter Linken markirt.
Die in (1.) speciell für eine Kreisfläche getroffene Festsetzung lässt sich ohne Schwierigkeit ausdehnen auf jedes beliebige Flächenstück, einerlei ob dasselbe eben oder krumm ist; man gelangt alsdann zu folgender Definition:
(3.) Dritte Definition. Ist längs des Randes eines gegebenen Flächenstücks eine bestimmte Richtung festgesetzt, und ist ferner in irgend einem Puncte dieses Flächenstücks eine Normale von bestimmter Richtung construirt, so wird man zunächst bei einer auf dem Flächenstück um beschriebenen unendlich kleinen Kreislinie diejenige Richtung anzugeben im Stande sein, welche mit jener Umlaufsrichtung gleichsinnig ist. Solches ausgeführt gedacht, sollen und positiv zueinander genannt werden, sobald und positiv zu einander sind[5].
Endlich mag noch hinzugefügt werden folgende
(4.) Vierte Definition.
Sind drei Strahlen, welche von ein und demselben Punct ausgehen, so mag der Cha| rakter dieses Strahlenbündels positiv genannt werden, sobald die durch die Reihenfolge indicirte Umlaufsrichtung positiv ist in Bezug auf irgend einen vierten von ausgehenden Strahl, dessen Neigungen gegen kleiner als sind.
Bezeichnet man also diesen vierten Strahl mit und bezeichnet man ferner mit dasjenige sphärische Dreieck, welches auf einer um beschriebenen Kugelfläche durch die Strahlen markirt ist, so wird das Strahlenbündel seinem Charakter nach positiv zu nennen sein, sobald die durch die Reihenfolge indicirte Umlaufsrichtung des sphärischen Dreiecks positiv ist in Bezug auf die durch repräsentirte Normale.
(5.) Determination. Für alle folgenden Untersuchungen sei festgesetzt, dass das zu Grunde gelegte rechtwinklige Achsensystem ( oder oder ) jedesmal von positivem Charakter ist.
Von der Definition (4.) aus gelangt man (und zwar am einfachsten wohl durch unmittelbare Anschauung) zu folgendem
(6.) Satz. Bilden drei von demselben Punct ausgehende Strahlen ein Strahlenbündel von positivem Charakter, so wird ein in Liegender und in der Richtung von Fortsehender die Richtung von markiren mit ausgestreckter Linken.
Wir gehen nunmehr über zu sich anlehnenden analytischen Betrachtungen. Es sei ein rechtwinkliges Achsensystem mit dem Anfangspunct und die Verlängerung von über hinaus. Dann ist von positivem, hingegen von negativem Charakter; was angedeutet werden mag durch
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Es sei nun ferner ein beliebig gegebenes von ausgehendes Strahlenbündel, und derjenige vierte Strahl, welcher gegen unter gleichem, und zwar spitzem, Winkel geneigt ist. Setzt man also
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so wird sein; während gleichzeitig unter diejenigen Winkel verstanden werden sollen, unter welchen die Ebenen von in der Linie zusammenstossen.
Indem wir die Linie
ungeändert lassen, ertheilen wir den Strahlen
um den Punct
derartige Drehungen, dass zunächst
| und dass sodann
wird. Diese Bewegung lässt sich offenbar immer in stetiger Weise, und zugleich in solcher Weise ausführen, dass die Strahlen
während des ganzen Verlaufes der Bewegung
niemals in dieselbe Ebene zu liegen kommen. Nach Ausführung dieser Bewegung wird das Strahlenbündel
ein rechtwinkliges sein.
War nun das Strahlenbündel zu Anfang von positivem Charakter, so wird dasselbe während jener Bewegung, bei welcher niemals alle drei Strahlen in dieselbe Ebene fielen, diesen Charakter beibehalten, und also zu Ende jener Bewegung congruent sein mit dem Achsensystem War andererseits das Strahlenbündel zu Anfang von negativem Charakter, so wird es nach Ausführung jener Bewegung congruent sein mit dem Systeme Demgemäss wird es nachträglich nur noch einer gewissen Drehung des rechtwinklig gewordenen Strahlenbündels um den Punct bedürfen, damit dasselbe im einen Falle mit im andern mit zur wirklichen Deckung gelange.
Ein beliebig gegebenes Strahlenbündel von positivem Charakter wird also durch eine stetige Bewegung seiner Strahlen, und ohne diese Strahlen jemals in dieselbe Ebene zu bringen, zur Deckung gebracht werden können mit dem Systeme Und in analoger Weise wird ein Strahlenbündel von negativem Charakter zur Deckung gebracht werden können mit dem Systeme
Sind nun die Richtungscosinus der Strahlen in Bezug auf die Axen so wird die Determinante
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während der eben genannten Bewegung sich verwandeln
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jenachdem der Charakter des Strahlenbündels positiv oder negativ ist. D. h. die Determinante wird im erstem Fall in im letztern in übergehen.
Dieser Uebergang wird, weil jene Bewegung der Strahlen eine stetige ist, ebenfalls ein stetiger sein, und wird gleichzeitig, weil jene Strahlen bei ihrer Bewegung
niemals in dieselbe Ebene fallen, in solcher Weise erfolgen, dass die Determinante inzwischen
niemals Null wird.
| Die Determinante
kann also, in stetiger Weise und ohne inzwischen Null zu werden, in
oder in
übergeführt werden, jenachdem das gegebene Strahlenbündel
von positivem oder negativem Charakter ist. Hieraus aber folgt sofort, dass jene Determinante
auch schon während ihres ursprünglichen Zustandes im erstern Fall einen positiven, im letztern einen negativen Werth besessen haben muss. Wir gelangen daher zu folgendem Ergebniss:
Satz. Der Charakter eines beliebig gegebenen Strahlenbündels
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wird jederzeit positiv oder negativ sein, jenachdem die zugehörige Determinante
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einen positiven oder negativen Werth besitzt.
Es ist ferner das analytische Kriterium zu eruiren, für zwei Linien welche zu einander positiv sind [vergl. (2.)]. Die Linie mag durch zwei Puncte markirt, und demgemäss mit bezeichnet sein; ebenso bezeichnet sein mit Liegen nun und positiv zu einander, so wird (wie die unmittelbare Anschauung zeigt) das Strahlenbündel ebenfalls von positivem Charakter sein, was angedeutet sein mag durch:
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Sind und die Coordinaten von und ferner und die Richtungscosinus von und so werden
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die rechtwinkligen Projectionen von und
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die rechtwinkligen Projectionen von vorstellen; dabei ist unter eine positive Zahl, nämlich die Länge von zu verstehen. Aus (8.) folgt daher durch Anwendung des Satzes (7.) sofort:
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oder was dasselbe ist:
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| Hiefür endlich kann geschrieben werden:
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Somit gelangen wir zu folgendem Resultat:
Satz. Sind im Raume irgend vier Puncte gegeben, sind ferner und die Coordinaten von und und sind endlich und die Richtungscosinus von und so werden die beiden Linien und positiv oder negativ zu einander liegen, jenachdem die Determinante
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einen positiven oder negativen Werth besitzt.
Es sei gegeben ein ebenes Flächenstück, begrenzt von einer convexen Randcurve [6]; und es seien und die Coordinaten für irgend zwei aufeinanderfolgende Puncte dieser Randcurve; ferner seien die Coordinaten eines beliebigen Punktes im Innern des Flächenstückes. Endlich seien die Richtungscosinus derjenigen in errichteten Normale, welche positiv liegt zu der durch die Reihenfolge indicirten Umlaufsrichtung. Alsdann wird, weil die Curve überall convex ist, die Linie positiv liegen zur Normale Folglich wird, nach (9.), die Relation stattfinden:
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d. i. die Relation
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Andererseits ergeben sich, weil gegen und gegen senkrecht steht, sofort die Relationen:
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wo einen noch unbekannten Factor vorstellt. Dieser Factor bestimmt sich durch die bekannte Relation:
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| man erhält also :
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oder einfacher geschrieben:
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wo und die Längen der beiden Linien und vorstellen, während den Winkel bezeichnet, unter welchem diese beiden Linien gegen einander geneigt sind. Somit folgt:
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oder was dasselbe ist:
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wo den Flächeninhalt des durch den Punct und das Linienelement bestimmten Dreiecks vorstellt. Somit ergiebt sich :
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Demgemäss nehmen die Werthe von (11.) folgende Gestalt an:
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Substituirt man aber diese Werthe in die Gleichung (10.a, b), so ergiebt sich sofort, dass die bisjetzt noch zweifelhafte Grösse den Werth besitzen muss [7]. Man erhält also schliesslich:
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Summirt man die erste dieser Gleichungen über sämmtliche Elemente der gegebenen Randcurve, so erhält man:
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Nun ist offenbar ebenso und ferner falls man nämlich unter den Flächeninhalt des gegebenen Flächenstückes versteht. Somit ergiebt sich:
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| Diese Gleichungen (15.) sind vorläufig nur bewiesen für ein ebenes Flächenstück von
convexer Randcurve. Doch lässt sich nachträglich leicht zeigen, dass sie allgemeinere Geltung besitzen. Ist nämlich ein ebenes Flächenstück gegeben von
beliebig geformter Randcurve; so wird man dasselbe offenbar zerlegen können in
kleinere Flächenstücke, jedes von
convexer Randcurve, z. B. zerlegen können in lauter unendlich kleine Dreiecke. Die Gleichungen (15.) gelten alsdann für jedes dieser
kleineren Flächenstücke. Hieraus aber folgt sodann durch Summation sofort, dass sie auch gültig sind für das
gegebene Flächenstück. Somit gelangen wir zu folgendem Resultat:
Satz. Sind [mit Bezug auf irgend ein rechtwinkliges Axensystem[8])], und zwei aufeinanderfolgende Puncte am Rande eines beliebig gegebenen ebenen Flächenstückes, sind ferner die Richtungscosinus derjenigen auf dem Flächenstück errichteten Normale, welche positiv liegt zu der durch indicirten Umlaufrichtung[9]), und bezeichnet endlich den Quadratinhalt des Flächenstücks, so werden jederzeit die Relationen stattfinden:
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die Summation (oder Integration) ausgedehnt gedacht über den ganzen Rand des Flächenstückes.
- ↑ Unter der Achse ist die auf der Kreisfläche in ihrem Mittelpunct errichtete Normale zu verstehen.
- ↑ Man kann sich nämlich die Linien enthalten denken in einem starren Körper, als eine feste Achse des Körpers, aber als eine auf den Körper einwirkende Kraft ansehen. Durch diese Kraft wird alsdann der Körper um jene Achse in einem bestimmten Sinne in Umdrehung versetzt werden.
- ↑ Dass die erste Deckungsart möglich ist, folgt unmittelbar aus der vorausgesetzten Congruenz der beiden Exemplare. Denken wir uns nun aber die beiden Exemplare in dieser Lage, also mit mit folglich auch mit zusammenfallend, und lassen wir vom Mittelpunct der Linie eine Achse ausgehen, gleich geneigt gegen die beiden Richtungen und so wird das eine Exemplar falls man dasselbe um die Achse um 180° dreht, von Neuem mit dem andern Exemplar zur Deckung gelangen, diesmal aber so, dass und respective mit und zusammenfallen. Dies aber ist die behauptete zweite Deckungsart.
- ↑ WS: Satzfehler korrigiert: Bezeichungsweise → Bezeichnungsweise
- ↑ Sind die Richtungen und (im eben angegebenen Sinne) positiv zu einander, so pflegt man auch positiv zu nennen in Bezug auf diejenige Seite des Flächenstücks, auf welcher die Normale errichtet ist, z. B. positiv zu nennen in Bezug auf die obere Seite, indem man als obere Seite kurzweg diejenige bezeichnet, auf welcher errichtet ist. In solcher Weise tritt die hier gegebene Definition in volle Uebereinstimmung mit der von mir bei einer früheren Gelegenheit ausgesprochenen Definition (Vorlesungen über die Riemann’sche Theorie der Abel’schen Functionen. Verlag von Teubner in Leipzig. 1865. pag. 71).
- ↑ Dieses Flächenstück kann also z. B. auch dargestellt sein durch eine Dreiecksfläche oder überhaupt durch ein ebenes convexes Polygon.
- ↑ Es ist nämlich zu beachten, dass die Grösse den Flächeninhalt eines Dreiecks vorstellt, und folglich von positivem Werthe ist.
- ↑ Selbstverständlich soll das Axensystem in Einklang gedacht werden mit der ein für alle Mal getroffenen Determination (5.).
- ↑ Unter der Umlaufrichtung ist diejenige zu verstehen, welche angedeutet wird durch die Aufeinanderfolge der beiden Puncte:
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