Die ersten Abiturientinnen in Berlin
[387] Die ersten Abiturientinnen in Berlin. Wie wir schon wiederholt berichtet haben, macht die Sache des Frauenstudiums auch bei uns jetzt erhebliche Fortschritte. Einen weiteren Beweis dafür liefert die im Frühjahr von sechs Schülerinnen der „Gymnasialkurse“ von Fräulein Helene Lange abgelegte Reifeprüfung vor der königlichen Prüfungskommission eines Berliner Gymnasiums. Es hat sich in letzter Zeit überall die früher so schroff ablehnende Haltung der Behörden gegenüber den Frauenbestrebungen gemildert, in Berlin aber ist jetzt der Weg beschritten, auf welchem Begabte und Tüchtige zum medizinischen Studium in Deutschland gelangen können. Nicht zum kleinsten Teil ist dies das Verdienst der maßvollen Besonnenheit und Thatkraft, mit der die Führerinnen der Bewegung ihr langjähriges Streben verfolgten. Schon seit Jahren leitete die wahrhaft ausgezeichnete Helene Lange Realkurse für erwachsene Mädchen, zum Zweck der Vorbereitungen auf das medizinische Studium in Zürich; unter der Mitwirkung eines aus angesehensten Berliner Persönlichkeiten zusammengesetzten Komitees haben sich 1893 die Real- in Gymnasialkurse verwandelt, deren Lernstoff genau dem der Knabengymnasien entspricht, die aber für die künftigen Aerztinnen etwas mehr Naturwissenschaft in ihren Plan aufnahmen, als dort dem alten Herkommen gemäß getrieben wird. Die Schülerinnen treten mit 18 Jahren in diese Kurse ein, gelangen also, da der Kursus auf 31/2 bis 4 Jahre berechnet ist, ungefähr im gleichen Alter wie viele junge Männer auf die Universität, sie können in den zwei der Schule folgenden Jahren, also in dem Alter von 16 bis 18 Jahren, ihren Körper kräftigen, alle die praktischen und häuslichen Fertigkeiten erwerben, welche doch jedem weiblichen Wesen geläufig sein sollten, sie haben – und dies ist gewiß sehr wichtig – auf diese Weise auch volle Zeit, dem ernsten Schritt der Berufswahl reifliche Ueberlegung vorausgehen zu lassen. Wer in diesen zwei Jahren nicht imstande ist, die auf der Töchterschule erworbenen Kenntnisse zu bewahren, der besteht später die strenge Aufnahmeprüfung ins Gymnasium nicht und sieht, zu seinem eigenen Heil, die Illusionen über seine Leistungsfähigkeit zerstört.
Offenbar bewogen durch das abgelegte gute Examen der ersten sechs Gymnasiastinnen, hat nun der preußische Kultusminister neuerdings eine Verordnung erlassen, nach welcher den regelrechten Abiturientinnen auf eine Eingabe hin im Einvernehmen mit Professoren und Docenten der Besuch der Vorlesungen an der Universität gestattet werden kann. Es ist dies vorerst nur eine vorsichtig bedingte Erlaubnis; an den studierenden Mädchen wird es nun sein, durch Fähigkeit und Charakter das Vorurteil gegen weibliches Studium zu zerstreuen und ihren nachfolgenden Schwestern das als Recht zu erwerben, was für sie selbst heute ein hochwichtiges Geschenk bedeutet. Bn.