Ein unbedachtes Wort

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Autor: Mary Misch
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Titel: Ein unbedachtes Wort
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20–23, S. 336–339, 352–355, 367–371, 382–387
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[336]

Ein unbedachtes Wort.

Novelle von M. Misch.

Zur Freude vieler hatte der Musentempel in C. endlich wieder seine Pforten aufgethan. Die Wintercampagne konnte beginnen. Die Eröffnung hatte diesmal auf sich warten lassen, da es dem energischen, strebsamen Direktor gelungen war, eine gründliche Renovierung des Theaters bei den Vätern der Stadt durchzusetzen. Trotz aller Eile war es aber nicht möglich gewesen, zur rechten Zeit fertig zu werden, und so konnte zum Schmerze aller Theaterfreunde die Saison erst am 1. November, statt wie üblich am 1. Oktober, beginnen. Das Theater spielte in der mittelgroßen, aber sehr wohlhabenden und wegen der zahlreichen Pensionäre, die sie bewohnten, Pensionopolis genannten Stadt eine wichtige Rolle. Es war der Sammelpunkt der besseren Gesellschaft. Der Direktor mußte daher für gute Kräfte und ein gutes Repertoire sorgen, wenn er sich halten wollte, und vor allem dafür, daß die engagierten Künstlerinnen jung und schön waren – Anforderungen, die für den Leiter gar nicht so leicht zu erfüllen sind, da gerade Jugend und Schönheit sich erstaunlich selten mit Talent und Können vereinen. Trotzdem aber glaubte der Direktor, sein Personal auch dieses Jahr glücklich zusammengestellt zu haben, und sah, wenn auch etwas erregt, doch siegessicher dem ersten Abend entgegen.

Es wurde ein neues Lustspiel gegeben, in welchem die ersten Kräfte hervorragend beschäftigt waren. Gefielen sie der Kritik, welche in C. weniger von berufenen Schriftstellern als von einigen Theaterenthusiasten gehandhabt wurde, so konnte er sie behalten; gefielen sie nicht, mußte er sie sofort entlassen, wozu ihm die abgeschlossenen Kontrakte das Recht gaben. Die engagierten Künstler fürchteten sich mit Recht vor dem Abend, und mancher begab sich beklommenen Herzens und Schlimmes ahnend in die Garderobe. Kurz vor sieben Uhr füllte sich langsam der Zuschauerraum. Es war Sitte in C., für das Theater Toilette zu machen, und so tauchten in den Logen und im ersten Parkett elegante Damen in knisternden Seidenkleidern, junge Mädchen in hellen Spitzenblusen auf, von einer Loge zur andern hinüber grüßend, mit den Nachbarn ein paar Worte plaudernd, während die Augen im ganzen Hause rasche Umschau hielten und bald ein Blick, bald ein Lächeln zu den Bekannten im Parkett hinunterflog. Die wohlthuende Wärme in dem hübschen, hellerleuchteten Raume rief bei allen Anwesenden eine heitere Behaglichkeit hervor. Sie ahnten ja nicht, die Glücklichen, die im Theater nur ein leichtes Vergnügen, eine schnell vorübergehende Unterhaltung suchten, daß Die hinter dem Vorhang zu gleicher Zeit für ihre Existenz bangten und sorgten.

Der erste Rang, das Parkett und Parterre sowie die Galerie waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Nur in den beiden linken Prosceniumslogen gähnte noch öde Leere. Schon spielte die Musik die Schlußaccorde der Ouvertüre, als die Thüren der beiden Logen endlich mit großem Geräusch geöffnet wurden. Säbelgeklirr und laute Stimmen sorgten dafür, daß das Publikum seine Aufmerksamkeit dorthin lenkte. Die Eintretenden, etwa zehn junge oder jung sein wollende, elegante und „schneidige“ Herren, nahmen mit möglichst viel Geräusch ihre Plätze ein und führten, ungeniert schwatzend, ihre mächtigen Operngläser an die Augen. Es waren die tonangebenden Lebemänner und zugleich einflußreichsten, bekanntesten Theaterfreunde der Stadt, die auf diese Weise die allgemeine Aufmerksamkeit erregten. Alle unverheiratet, reich, nicht mehr allzujung, der jüngste bereits über Dreißig, sämtlich Mitglieder eines Klubs, in welchem oft und hoch gespielt wurde. Die interessantesten Klatschereien von C. drehten sich fast ausschließlich um sie. In den wohlhabenden Familien, die größere Geselligkeit pflegten, waren sie gern gesehene Gäste.

Das Klingelzeichen ertönte. Langsam verstummte der Lärm; der Vorhang hob sich. Die Einleitungsscene verlor sich in dem Stühlerücken der Verspäteten und dem Räuspern, das den Anfang eines Stückes zu begleiten pflegt.

Es war ein feines und doch lustiges Stück, das bald herzliches Gelächter hervorrief. Die am ersten Akte beteiligten Schauspieler gaben ihre Rollen gut, besonders gefiel die muntere Liebhaberin, ein hübsches, noch sehr junges Persönchen, das seine Rolle durch kecke und temperamentvolle Darstellung zur besten Geltung brachte. In den linken Prosceniumslogen richteten sich die großen Operngucker aufmerksam auf sie, und bei ihrem Abgange wurde aus diesen Logen das Zeichen zum Applaus gegeben. Sie hatte gewonnenes Spiel beim Publikum; der Direktor selbst sagte es ihr mit zufriedenem Lächeln. So verlief der erste Akt mit bestem Erfolg, und nachdem am Schluß der Beifall verrauscht war, erhob sich ein Teil der Zuschauer, um Bekannte zu begrüßen und die Eindrücke auszutauschen.

Ein alter, dicker Gutsbesitzer, der seinen Platz im Parkett hatte, trat an den Rand einer der Prosceniumslogen und schüttelte lebhaft die ihm entgegengestreckten Hände. „Wie gefällt Ihnen die Kleine, Schindler?“ fragte er. „Nett, was?“

Der Gefragte strich sich über seinen langen, rotblonden Vollbart. „Weiß nicht, finde heute überhaupt alle Weiber unausstehlich!“

„Schindler hat zu viel Sekt getrunken,“ schnarrte ein Rittmeister, der neben ihm stand, „da ist er immer Weiberfeind!“

Ein scharfes Klingelzeichen erschallte jetzt und machte der Unterhaltung ein schnelles Ende. Der Vorhang hob sich zum [338] zweiten Akt. Neue Dekorationen, andere Personen! Nach der dritten Scene, in welcher eine Kammerzofe mit sich selbst sprach, als ob das ihre tägliche Gewohnheit sei, und dabei mit einem Staubwedel über die unmöglichsten Gegenstände wischte, erschien abermals die junge Naive auf der Bühne. Lustig kam sie hereingehüpft, plauderte ein wenig und warf schelmische Blicke in die Logen. Dann wandte sie sich befehlend an die Zofe: „Gehen Sie, Lina, und sagen Sie meiner Schwester, ich müsse sie sofort sprechen!“, worauf sich die andere entfernte, um ihren Auftrag auszuführen. Im Publikum wurde eine Bewegung bemerkbar; man zog den Zettel zu Rat. Die erste Liebhaberin mußte jetzt auftreten. Der Direktor hatte in seinen Kreisen ganz enthusiastisch von ihrem Talent geschwärmt. Na, man würde ja sehen! Die Leinwandthür der ersten Coulisse wurde geöffnet, die Operngläser flogen an die Augen. Eine junge Dame trat rasch auf die Bühne und begann sogleich zu sprechen. Ihre Stimme klang weich und angenehm, die vollkommen natürliche Betonung erwies ihre Befähigung für das Konversationsstück. Sie befand sich in Balltoilette. Nach einigen flüchtig gewechselten Reden zeigte sie auf ihr Kleid mit den Worten: „Es ist zu dem morgigen Ball, Grete; ich möchte recht schön sein! Sage mir aufrichtig, wie sehe ich aus?“

„Scheußlich, einfach scheußlich!“ tönte es da halblaut geflüstert, aber deutlich aus der Prosceniumsloge über die Bühne und die ersten Parkettreihen hin.

Die muntere Liebhaberin verlor für eine Sekunde die Fassung, dann sprach sie resolut weiter. In das Antlitz der Beleidigten stieg es heiß unter der Schminke empor. Der Fächer entfiel ihrer zitternden Hand. Mit einem unsagbar traurigen, hilflosen Ausdruck richtete sie ihre Augen nach der Loge. Der den Eckplatz inne hatte, mußte das grausame Urteil gesprochen haben, man las es an seinem Gesichtsausdruck. Langsam wandte sie sich ab und spielte ihre Scene mühsam zu Ende.

Wahrhaftig, sie war nicht schön! Wenigstens beim ersten Anblick nicht. Eine große, schlanke Gestalt in einer Toilette, die zum Unglück ihren überzarten Wuchs erst recht auffällig machte. Auch das längliche, schmale Gesicht mit der gut geformten, aber großen Nase und dem nicht allzukleinen Mund machte beim ersten Anblick einen beinahe unschönen Eindruck. Nur wenn sie die Augen aufschlug, große, dunkle Kinderaugen mit einem warmen, zärtlichen Blick, war sie plötzlich eine andere, lieblichere.

Und wie sie spielte! Der Direktor hatte recht, sie war eine Künstlerin. Als sie abging, ertönte Applaus, der von den ersten Parkettreihen ausging. Sie verbeugte sich flüchtig und warf einen finsteren Blick ins Publikum. Als der Freche sie beleidigte, hatten sie da vorne leise gelacht – sie hatte es wohl gehört. Es war ihr wie ein Dolchstoß gewesen, dieses erbarmungslose Lachen über eine Roheit, einem wehrlosen Weibe gegenüber. Als der Applaus anhielt, mußte sie, so schwer es ihr ward, noch einmal heraustreten. Sie dankte kaum für den Beifall und trat sofort wieder zurück. Hinter dem Prospekt war es still und einsam. Die Schauspieler, welche aufzutreten hatten, standen in den Seitencoulissen, auf ihr Stichwort lauschend. Sie drückte ihre Hände krampfhaft gegen die Schläfe, auf die brennenden Augen. Plötzlich machte sie eine heftig abwehrende Bewegung, als weise sie etwas Quälendes von sich. Es mußten wohl ihre eigenen Gedanken sein, denn sie sagte laut: „Nicht jetzt!“

Wie sie so stand und vor sich hinstarrte, kam von links her der Direktor und ging schnellen Schrittes nach der andern Seite. Ein kurzer, kalter Blick streifte sie. Für sie hatte er kein freundliches Wort wie für ihre Kollegin, die Naive. Sie wußte, was das am ersten Abend zu bedeuten hatte: in zwei Wochen, nach der vertragsmäßigen Frist, war sie entlassen. Und nun hielt sie nicht mehr stand. Ein heißer Strom schoß in die traurigen Augen, ein kurzes, heftiges Schluchzen erschütterte den zarten Körper. Aber nicht lange! Nicht einmal die Wohlthat der Thränen durfte sie sich gönnen. Um Gotteswillen, die Schminke! – Vorsichtig drückte sie das Tuch gegen die nassen Wangen.




Das Theater war aus. Das Stück und auch der größte Teil der Schauspieler hatten gefallen; das Publikum entfernte sich angeregt und befriedigt. Langsam schoben sich die Leute aus den verschiedenen Thüren, stießen im Vorraum, welcher die Garderobe enthielt, wieder zusammen, kämpften da mit einer aller guten Lebensart hohnsprechenden Rücksichtslosigkeit um ihre Kleider und drängten sich dann gemeinsam durch das Hauptportal, mit einer Hast, als versäumte jeder einzelne etwas ungeheuer Wichtiges.

Nicht alle hatten es aber so eilig. In einer geschützten Ecke des Vestibüls stand eine Gruppe von Menschen in lebhafter Unterhaltung. Die kleine, distinguiert aussehende Gesellschaft sprach über den Vorfall, der ja fast allgemein bemerkt worden war. Die Herren zuckten die Achseln. Man sei an derbe Rücksichtslosigkeiten ja bei Schindler schon gewöhnt, immerhin sei es ein starkes Stück, was er heute abend geleistet habe. Sich der beleidigten Schauspielerin besonders anzunehmen, fiel keinem ein; im Grunde hatte ja Schindler nicht so unrecht mit seiner Kritik: reizlos war das Mädchen, darüber bestand kein Zweifel. So schickte man sich bereits zum Auseinandergehen an, und ein pensionierter Hauptmann, Herr von Schmidtlein, that die abschließende Aeußerung: „Außerdem – diese Schauspielerinnen sind an dergleichen gewöhnt!“

Er hielt gerade seiner Gattin den Mantel hin und war erstaunt, als diese, statt hineinzufahren, sich erregt zu ihm umdrehte.

„Du sollst nicht so gedankenlos reden, Otto!“ sagte die Dame, ihre gescheiten, grauen Augen auf seine kleinen, gutmütigen heftend. „Erstens sind Schauspielerinnen so etwas durchaus nicht gewöhnt; auch war es eine Taktlosigkeit an sich, und dann hatte das Mädchen so traurige Augen und sah so unglücklich aus. Mir hat sie leid gethan; aber Ihr Männer habt ja kein Herz. Ja, ja, kein Herz!“ wiederholte sie unverzagt in das Lachen der Zunächststehenden hinein. „Und wenn ich den Schindler sehe, werde ich ihm den roten Kopf waschen, darauf kannst Du Dich verlassen!“

Blonden Kopf, ich muß sehr bitten, blonden, meine Gnädigste!“ ertönte es plötzlich hinter ihr.

Sie wendete sich hastig um. Herr von Schindler begrüßte sie mit überlegenem Lächeln.

„So, da sind Sie!“ sagte sie ohne alle Verlegenheit. „Na, da will ich Ihnen also ebenfalls vor versammeltem Publikum sagen, daß Sie selbst heute ‚scheußlich‘ waren.“

„Das bin ich leider immer, Gnädigste.“

„Wenn Ihnen das für Ihre Person Vergnügen macht, wird niemand etwas dagegen haben. Aber ein armes wehrloses Mädchen zu beleidigen, Herr von Schindler, ihr ein solches Wort ins Gesicht zu schleudern –“

„Ins Gesicht? … Das kann sie ja gar nicht gehört haben, höchstens die Nächstsitzenden ...“

„Sie hat es gehört, darauf verlassen Sie sich nur ganz sicher. Man sah ja, wie sie zusammenschreckte. Und was soll das arme Ding dagegen machen? Ein Mann könnte sich Genugthuung verschaffen, aber so ein Mädchen! Die wird heute abend in ihrer Stube sitzen und weinen mit ihren prächtigen Augen –“

„Nicht wahr, prächtige Augen!“ unterbrach sie Herr von Schindler ganz unbefangen.

„Ja gewiß,“ fuhr die Dame erbittert fort, „die hat sie! Und daß Sie das jetzt in so entzücktem Tone zugeben, finde ich, offen gestanden, höchst merkwürdig!“

„Genug, Fanny,“ mahnte ihr Gatte halblaut, worauf sie plötzlich innehielt und ihn ansah.

„Wir wollen gehen, komm!“ Er drehte sie dabei mit sanftem Drucke der übrigen Gesellschaft zu und begann, sich von den Anwesenden zu verabschieden. Seine Frau wurde dunkelrot, wodurch ihr großes, energisches Gesicht einen fast kindlichen Ansdruck bekam, und folgte sofort seinem Beispiele.

„Sie sehen, er ist ein Tyrann,“ sagte sie lächelnd, „aber man muß sich fügen!“ Und zu Herrn von Schindler gewendet, setzte sie hinzu: „Wenn mein Mann einmal nicht dabei ist, kommt die Fortsetzung, Sie grausamer Mensch!“

Hierauf rasches Händeschütteln, Gutenachtrufen, noch eine letzte Verbeugung, und die Gruppe löste sich auf.

Das Ehepaar Schmidtlein hatte noch keine zwanzig Schritte in der nächtlichen Straße zurückgelegt, als ein rascher Schritt sie einholte und eine wohlbekannte Stimme sagte: „Wir haben denselben Weg. Gestatten die Herrschaften, daß ich nebenherlaufe?“

„Wie ceremoniös!“ lachte der Hauptmann. „Das ist man ja gar nicht von Ihnen gewohnt, Schindler!“

Frau Fanny unterdrückte eine in gleicher Richtung gehende, aber weniger harmlose Bemerkung und schritt, scheinbar ohne auf den Begleiter zu achten, gemütsruhig am Arme des Gatten dahin. Es gab eine kleine Stille, plötzlich sagte er: „Gnädige Frau!“

„Herr von Schindler?“

[339] „Glauben Sie wirklich, daß dieses Fräulein Sinders meine Worte verstanden hat?“

„Ja, wie soll denn das anders möglich sein?“

„Nun, die Entfernung zur Bühne ist doch ziemlich groß.“

„Aber es war eine Sekunde lang völlig still. Man hörte Ihr ‚Scheußlich!‘ scharf genug zwischen die Reden der beiden hinein!“

„Dumme Geschichte!“ brummte Schindler vor sich hin.

„Thut es Ihnen jetzt leid?“ fragte Frau von Schmidtlein voll Siegeshoffnung.

„Na, eine schlaflose Nacht werde ich darum nicht haben,“ versetzte er bockbeinig, „so ’was fährt wohl jedem einmal heraus! Aber ...“

„Na – aber ..?“ half sie seinem Zögern nach.

„Aber es ist nicht einmal wahr, und das ärgert mich hinterher, sie ist gar nicht garstig. Das untergräbt mein kritisches Ansehen! Na, einerlei, zu ändern ist jetzt nichts mehr an der Sache.“

„Sehen Sie, Herr von Schindler,“ sagte die Frau Hauptmann stehen bleibend. „Sie sind innerlich viel besser, als Sie es andere glauben machen wollen. Das Gewissen drückt Sie jetzt, das ist recht heilsam, und weil Sie eines haben, deswegen sind Sie überhaupt gar nicht der Roué und Spötter, den man aus Ihnen macht. Ich habe noch andere Anzeichen dafür,“ fuhr sie eifrig fort, als jener Miene machte, sich gegen dieses unerwünschte Lob zu wehren, „Sie sind wohlthätig und kümmern sich auch menschlich um die Leute, die Sie unterstützen, das weiß ich aus sicherer Quelle …“

„Nur, um die Langweile zu vertreiben, gnädige Frau, aus keinem andern Grund!“

„Und warum haben Sie denn überhaupt Langweile?“ fuhr die kleine Frau hitzig fort. „Ich muß Ihnen sagen – laß nur, Otto, ich thue ihm nichts! – daß es schade um Sie ist. Das Lotterleben mit den andern Müßiggängern brauchten Sie nicht zu führen, Sie könnten auf Ihrem Gut ein tüchtiger und ein glücklicher Mann sein, nähmen sich eine nette Frau ..“

Die beiden Herren brachen gleichzeitig in ein Lachen aus. „Nun ist sie beim Ehestiften angelangt,“ sagte der Hauptmann, „nun gnade Ihnen Gott, Schindler!“

„Glücklicherweise sind wir da an meiner Straßenecke,“ sagte dieser, „und ich kann mich eben noch retten. Gute Nacht, gestrenge Richterin, und von nun an offene Feindschaft zwischen uns!“

„Sind Sie mir böse?“ fragte sie gutmütig, zweifelhaft in sein grimmiges Gesicht blickend.

„Ja, Sie haben heute meinen blonden Schopf rot genannt, das kann ich Ihnen in Ewigkeit nicht vergeben.“

„Ach, Sie unverbesserlicher Spottvogel, mit Ihnen ist wirklich kein ernsthaftes Wort zu reden!“ rief sie halb ärgerlich, halb belustigt. „Ich ziehe meine Hand noch gänzlich von Ihnen ab! Komm, Otto, Du darfst mir nicht länger in der Gesellschaft bleiben!“

Und mit einem lachenden Gutenachtgruß entfernte sich das alte Pärchen. Herr von Schindler blieb stehen, schlug seinen Kragen hoch und sah ihnen nach, wie sie Arm in Arm dahinschritten, eng aneinandergeschmiegt. Es war feucht auf dem Boden, denn während der Theaterstunden waren die ersten Schneeflocken gefallen und hatten sich sofort wieder in schmutziges Wasser verwandelt. Er sah, wie sich Frau Fanny bückte, um ihr Kleid aufzunehmen, und hörte noch den Hauptmann mit seiner lauten Stimme lachend sagen: „So ist’s recht, Fanny, schone Dein neues Herbstkleid vom vorvorigen Jahr!“

Wieder fiel ihm auf, mit welcher Heiterkeit diese Leutchen ihre Armut trugen. Sie lebten von der Pension des Hauptmanns, der seinen Abschied wegen einer chronischen, übrigens ungefährlichen Krankheit hatte nehmen müssen, und besaßen außerdem nur noch die ‚Kaution‘, in welcher das ganze Vermögen der Frau bestanden hatte. Sie mußten sich sehr einschränken, waren aber immer zufrieden und vergnügt. Weil sie sich gern haben! fuhr es dem Lebemann durch den Sinn. „Gern haben sie sich, die beiden, und fühlen sich glücklich in ihrer Liebe!“ Während er ihnen unwillkürlich nachblickte, verfolgte er diesen Gedankengang weiter.

„Da gehen sie nun nach Hause, die Frau bereitet einen gemütlichen Theetisch und zieht ihrem alten Schatz die warmen Pantoffeln an. Macht mein Diener übrigens alles genau so! Dann setzen sie sich nebeneinander aufs Sofa und plaudern. Hand in Hand – Philemon und Baucis! Einer kennt des andern Herz, keine Falschheit, keine Lüge! Wenn sie sagt, ich hab’ Dich lieb, so ist’s Wahrheit. – Uebrigens verdammt kalt heute! Da stehe ich nun, philosophiere und bekomme nasse Füße. Diese Frau Fanny hat entschieden einen schlechten Einfluß auf mich. Ob sie wohl recht hat, daß die Sinders jetzt weinen wird? Na, wird schon wieder aufhören! Nun aber schleunigst!“

Den Hut tiefer ins Gesicht ziehend, wendete er sich hastig um und eilte mit raschen Schritten die Straße hinunter dem Klub zu, dessen hellerleuchtete Front ihm einladend entgegenstrahlte. – Marie Sinders hatte sich nach Schluß des Stückes, in welchem sie besonders im letzten Akte noch sehr gefallen hatte, langsam in ihre Garderobe begeben. Sie war müde geworden und ließ sich ganz erschöpft auf dem harten Stuhl nieder, der vor ihrem Toilettenspiegel stand. Die Probe am Vormittag hatte sich bis gegen 3 Uhr hingezogen, und um 5 Uhr war sie bereits wieder zum Ankleiden im Theater gewesen. Endlich war es nun zu Ende! Aber sie empfand heute nicht das zufriedene Behagen wie sonst nach Schluß einer Vorstellung. Sie fühlte sich gedrückt und unglücklich. Sie kam sich so einsam, so verlassen vor. Freilich war das immer so beim Antritt einer neuen Stellung. Aber heute doch mehr als sonst.

Forschend glitten ihre Augen über die anwesenden Kolleginnen, die mit ihr zusammen an dem langen Tisch saßen, von dem jede nur geradeso viel Raum beanspruchen konnte, daß ein großer Toilettenspiegel, die Schminkschatulle und allerlei Kleinkram darauf Platz fanden. Die Damen saßen ziemlich schweigsam da und wischten sich in höchster Eile die Schminke vom Gesicht. Alle sahen müde und abgespannt aus; nur die muntere Liebhaberin plauderte fieberhaft erregt mit ihrer Nachbarin. Schließlich begann sie auch von den Herren in der linken Prosceniumsloge zu sprechen und meinte: „Das sind aber freche Bengels!“ Dabei sah sie mit einem bedauernden Lächeln zu Marie hinüber. Auch die andern blickten auf und sahen die Sinders an.

Diese wurde dunkelrot und beugte sich weit vor, bis ihr geöffneter Flügelspiegel sie den Blicken entzog. O, diese Demütigung! Und wenn es nur dabei bliebe! Aber wenn sie vorhin recht gesehen hatte, wenn das finstere, unzufriedene Gesicht des Direktors ihr gegolten hatte, dann blieb sie nicht lange in dieser Stadt!

Sie erschrak plötzlich vor ihren eigenen Augen, die ihr aus dem Spiegel ganz verzweifelt und entsetzt entgegen starrten. Schreckliches Los des Schauspielers in der Provinz! Wenn der Direktor sie entließ, dann mußte sie in vier Wochen wieder fortziehen, in eine andere Stadt, zu einem anderen Direktor, um dort wieder einen Monat in Langen und Bangen zu verleben. Wieder eine neue Wohnung, neue Kollegen, ein neues Publikum! Und dabei neben sich die Mutter, die arme, so leicht erregbare Mutter, die Ruhe brauchte und von früher her so sehr an Behaglichkeit gewöhnt war! Nein, nein, es durfte nicht sein! Warum denn auch? Sie war doch eine gute Schauspielerin! Ja, das durfte sie sich selbst zugestehen, so bescheiden sie sonst von sich dachte! Freilich, sie war nicht schön, auch das wußte sie. „Scheußlich“ aber war sie denn doch nicht! Gewiß nicht! Ganz erregt musterte sie sich im Spiegel, vor dem sie mechanisch die Arbeit des Abschminkens beendet hatte. Das Gesicht war angenehm, nur zu fahl – die Wangen eingefallen. Aber, guter Gott, das kam eben von der Unruhe, von den Sorgen, dem schrecklichen Kampfe ums Dasein, den sie für Zwei führen mußte und an den sie so gar nicht gewöhnt gewesen war. Sie kämpfte mutig die Thränen hinunter, die ihr bei dieser Erinnerung heiß aufstiegen. Es that so weh, für all das Elend und die Not noch beschimpft zu werden!

So sehr war sie in ihre Gedanken versunken, daß sie ganz vergaß, sich umzukleiden. Und erst auf die zarte Anspielung der Garderobiere, ob Fräulein gleich bis zur morgigen Vorstellung sitzen bleiben wolle, blickte sie erstaunt um sich. Die anderen hatten sich bereits entfernt, eine nach der anderen war mit einem kurzen „Gute Nacht!“ verschwunden. Erschreckt sprang sie auf, warf ihr Kostüm ab und vollendete ihre Straßentoilette. Sie dachte an ihre Mama, mit der sie verabredet hatte, sie solle sich gleich nach der Aufführung in ihre Wohnung begeben. Wie hatte sie die Aermste warten lassen, die ohnehin sich in der fremden Stadt noch so einsam und unheimisch fühlte! Wenn nur nicht auch sie das beleidigende Wort gehört hatte! Sie besann sich. Nein, das konnte nicht sein! Beruhigt ermaß sie im Geiste die beträchtliche Entfernung zwischen der Bühne und dem Sitz, den ihre Mutter gehabt hatte. Nur ihr nichts sagen! Mit diesem Entschluß nahm sie ihren Mantel um, band ein großes Tuch um den Kopf und eilte die enge Treppe hinunter, wo ihr Mädchen auf sie wartete. Der Regen schlug ihr auf der Straße entgegen, ein heftiger Wind trieb ihr die Tropfen unbarmherzig ins erhitzte Gesicht. „O welch ein Leben!“

[352] Der nächste Morgen brachte herrliches Wetter. Ein lauer Wind hatte die Nässe vom Boden aufgetrocknet. Die Sonne bemühte sich, nach Kräften noch ein wenig Wärme auszustrahlen. Hell und warm schien sie auf die beiden Lindenbäume nieder, die vor einer reizenden Villa am Ende der Stadt ihre Zweige ausbreiteten, und ließ die großen gelben Blätter durchsichtig schimmern, als wären sie aus flüssigem Gold.

Ringsum herrschte vornehme Ruhe, und selbst der alte Straßenkehrer am oberen Ende der Straße scharrte das abgefallene Laub mit seinem Besen so vorsichtig zusammen, als scheute er sich, die tiefe Stille durch das raschelnde Geräusch zu unterbrechen.

Die kleine, einstöckige, in zierlichem Renaissancestil gebaute Villa gehörte Wolf von Schindler. Er hatte sich dieselbe vor einem Jahrzehnt nach dem Tode seines Vaters bauen lassen. Das große Gut, auf dem er geboren war, gab er in Pacht. Erst müsse er mindestens vierzig Jahre alt sein, ehe er sich „ins Joch“ spanne, erklärte er damals den alten Freunden seines Vaters, die ihm diskret zu verstehen gaben, daß ihm eine Beschäftigung not thäte. Dann war er auf Reisen gegangen und erst nach Jahren wieder heimgekommen. Das Gut blieb verpachtet, und die kleine Villa wurde nun der Schauplatz einer auf Junggesellen sich beschränkenden Gastlichkeit, von welcher sich die nachsichtigen Mitbürger ganz Erstaunliches zu erzählen wußten.

Die alten Freunde seines Vaters, soweit sie noch am Leben waren, zuckten über dieses Treiben die Achseln. Wolf von Schindler war nun bereits sechsunddreißig Jahre alt, alt genug, um zu arbeiten, wie die Väter – alt genug, um zu heiraten, wie die Mütter meinten. Wolf aber kümmerte sich weder um die einen noch um die anderen; er lebte, wie er wollte, und wartete, bis er seiner Freiheit überdrüssig werden würde. –

Durch die kalte, klare Luft drangen gerade neun Schläge von der großen Turmuhr herüber, als ein Fensterflügel im ersten Stock der Villa aufgestoßen wurde und Schindlers rotblonde Mähne zum Vorschein kam. Im braunsammetnen Morgenjackett, das ihm vortrefflich zu Gesichte stand, beugte er sich weit hinaus und sog in tiefen Zügen die frische Morgenluft ein. Die Sitzung im Klub mußte wohl lange gedauert haben; er sah müde und abgespannt aus, und einige kleine Fältchen um die Augen ließen ihn älter aussehen, als er war.

Welch herrlicher Morgen! Keine Spur war von dem gestrigen verfrühten Schnee übrig geblieben. „Die Sonne, die gegen ihn zu Felde zieht wie eine schöne Frau gegen den ersten Schnee auf ihrem Haupte, hatte ihn hinweggefegt“ – dachte er sich. Wolf von Schindlers Stärke bestand im allgemeinen nicht in poetischen Bildern; deshalb schüttelte er sorgenvoll das Haupt, als er sich bei obigen Gedanken überraschte.

„Nächstens fange ich noch an zu dichten,“ murmelte er bekümmert. „Schauderhafter Gedanke!“

Der alte Straßenkehrer war indes mit seiner Arbeit immer weiter vorgerückt und näherte sich langsam der Villa. Als er Schindlers ansichtig wurde, beeilte er seine Schritte und blieb unter dem Fenster stehen.

„Guten Morgen, Herr Baron!“

Die Hand mit dem dicken Fausthandschuh legte sich salutierend an das rote Sacktuch, das er sich zum Schutz um die Ohren gebunden hatte.

„Morgen, Josef! Wie geht’s der Frau?“

„Danke scheen, Herr Baron, sie jeht, weil se nich fahren kann! Aber Spaß beiseite, ich soll von ihr dem Herrn Baron millionenundeenmal danken wejen dem Wein. Aber wat wahr is, muß wahr sind: der Wein, sagt der Doktor, den der Herr Baron die Jüte hatten, meiner Ollen zu schicken, bringt sie wieder uff’n Damm. – Des is eine von die neien Schauspielerinnen“ – wechselte er plötzlich das Thema, als er, dem Blicke Schindlers folgend, die Straße herauf eine junge Dame kommen sah. „Ich kenn’ sie, weil sie meinen kleenen Friedel zum Korbtragen ins Theater engaschiert hat. Eene sehr anständige Dame – hat meinem Friedel umjehend eine Mark und’n Theaterbillet jeschenkt“ …

„Gehen Sie zum Teufel, Josef, und machen Sie, daß Sie da von meinem Hause wegkommen!“ sagte Wolf halblaut, sein Monocle einklemmend.

Josef hob verblüfft seinen Besen auf und marschierte auf die andere Seite, von wo er mit gekränkter Miene zu Schindler hinüber sah. Die schlanke hohe Mädchengestalt näherte sich elastischen Schrittes und wollte eilends vorübergehen, als Josef sie aufhielt.

„Hat Friedel den Korb jut getragen, Freilein?“ fragte der gesprächige alte Bursche und fügte auf den verwunderten fragenden Blick der jungen Dame hinzu: „Ick bin nämlich der Vater von Ihrem Korbjungen.“

„Ah so! O ja, es scheint ein gefälliger, braver Junge zu sein! Geht es hier nach dem hohen Aussichtspunkt?“

Sie zeigte mit der elegant behandschuhten Hand die lange Allee hinauf, in welche die Straße mündete.

„Jawoll, immer jrade aus, den Pappelbäumen nach!“ bestätigte eifrig der glückliche Vater, worauf Marie lächelnd und ihm freundlich zunickend ihren Weg fortsetzte.

Wolf von Schindler hatte die Scene aufmerksam beobachtet und trat nun hastig zurück. Ein Druck auf die elektrische Klingel rief seinen Diener herbei.

„Karl, ich will ausgehen!“

Mit Karls Hilfe machte der Baron Toilette. Alles, was er anlegte, entsprach der neuesten Mode, von den spitzen Lackstiefeletten angefangen, bis zu der langen, moosgrünen Krawatte aus indischer Seite, die er gewandt zu einem kunstvollen Knoten schlang. Schnell und ohne seinen Gebieter mit Fragen zu belästigen, brachte Karl den für so einen frühen Ausgang geeigneten Ueberrock, spritzte einen Strahl feinsten Parfums darüber, legte einen weichen Hut, dicke Handschuhe und ein kleines Stöckchen auf den Tisch.

„Cigaretten!“ befahl Schindler kurz.

Er trat vor den hohen Spiegel und musterte sich befriedigt. Verschwunden war das übernächtige, verdrießliche Aussehen. Frisch, elegant, selbstbewußt blickte ihm sein Spiegelbild entgegen. Den Stock zwischen den Fingern drehend, eilte er hinunter. Vor der Thür, in einem großen Haufen welker Blätter stochernd, stand Josef, der die Kränkung bereits wieder vergessen hatte und ihm diensteifrig zulächelte.

„Zur ‚Scheenen Aussicht‘ is sie,“ flüsterte er mit verständnisvollem Augenzwinkern, hatte aber auch diesmal kein Glück bei seinem Gönner, der ihm in barschen Tone zurief: „Kümmern Sie sich um Ihre Straße, Josef!“ Wolf schritt elastischen Ganges die Allee hinauf, deren Bäume in der Sonne in herrlichstem Gelb und Rot leuchteten.

Gewöhnlich lag er um diese Stunde noch unter der seidenen Decke, um den Schlaf nachzuholen, den er des Nachts im Klub versäumt hatte. Heute war er ausnahmsweise früh aufgestanden. „Der Zufall kommt ihr zu Hilfe,“ murmelte er lächelnd und fühlte sich merkwürdig mild und reuevoll gestimmt.

Die „Schöne Aussicht“ befand sich auf dem Plateau eines mäßig hohen Berges, um den sich der Weg in weiten Windungen und fast unmerklichen Steigungen hinaufschlängelte.

Am Nachmittag pflegte hier die Gesellschaft der Stadt zu lustwandeln. Ein gutgeführtes Restaurant krönte die Höhe. Um diese frühe Zeit aber war es hier meist ganz einsam. Auch heute begegnete dem rasch Dahinschreitenden kein Mensch, und mit Entzücken genoß er die köstliche Ruhe, den tiefen Frieden ringsumher, den nur hier und da das lärmende Gezwitscher zankender Spatzen oder das rauhe Gekrächze einer Krähe unterbrach.

Vor der letzten Windung des Weges blieb er stehen. Noch ein paar Schritte, und er war oben. Aber was, zum Teufel, wollte er eigentlich hier? Etwa die Schauspielerin um Entschuldigung bitten? Nein, das denn doch nicht! Doch wozu ihr dann nachlaufen? Er spitzte die Lippen zu einem leisen Pfiff, strich sich verlegen über den Schnurrbart und suchte an anderes zu denken.

Als er das Plateau erreicht hatte, sah er sie am Fuße eines Denkmals auf einer kleinen Bank sitzen, die schlanke biegsame Gestalt in sich zusammengesunken, den Ellbogen auf das Knie gestützt. So starrte sie träumerisch in die Weite. Sie war eigentlich nur heraufgestiegen, um hier in Ruhe eine Rolle zu lernen. Aber das Heft war ihren Händen entglitten, ganz versunken bewunderte sie das herrliche Landschaftsbild. Sie ahnte nicht, daß [354] wenige Schritte hinter ihr sich jemand besand, der sie nicht minder aufmerksam betrachtete. Plötzlich fuhr sie erschrocken auf und erhob sich unwillkürlich. Wolf von Schindler stand mit seiner gewohnten blasierten Hochmutsmiene vor ihr und lüftete leicht seinen Hut.

„Mein Fräulein!“

„Mein Herr?“

„Wie gefällt Ihnen die Aussicht?“

Marie, deren bleiches Gesicht eine helle Röte überzog, richtete ihre Augen mit einem befremdeten, stolzen Ausdruck auf den Sprecher.

„Danke, gut!“ sagte sie kühl und trat von ihm fort an die Steinbarriere, welche das Plateau umsäumte.

Schindler folgte ihr lächelnd. Teufel, die Kleine war bei Tage bedeutend hübscher als auf dem Theater, wo ihre feinen Züge nicht so augenfällig wirkten wie manches gröber geschnittene Gesicht! Sie besaß wohl nicht die landläufige Schönheit mit dem weichen Gesichtsumriß, dem Kindermund und kleinem Näschen, sondern eine Anmut von feinem seelischen Reiz, jene durchgeistigte Schönheit, die auf eine vornehme Denkungsweise und auf Charakter schließen läßt. Auch die ruhige damenhafte Haltung unterschied sich auffallend von der Manier so mancher Kollegin. Zögernd blieb er in einiger Entfernung stehen und überlegte. Es war doch verdammt peinlich, von der heikeln Sache selbst anzufangen und sich als Grobian zu bekennen, dem jede Entschuldigung fehlt … Ohne alle Not noch dazu, denn erkannt hatte sie ihn offenbar nicht! Warum also ihr eine unangenehme Aufregung und sich selbst einen höchst wahrscheinlich sehr fatalen Rückzug bereiten? … Je mehr er sie betrachtete, um so weniger geneigt fühlte er sich zu solcher Aufopferung im Dienste der Wahrheit. Es ging auch ohne das.

Also, ganz einfach – vorläufig eine kleine Unterhaltung anknüpfen! Das übrige findet sich dann von selbst. Diesen Schlußgedanken begleitete ein leichtes, frivoles Lächeln, dessen Ursprung in den Erfahrungen lag, welche Wolf mit einzelnen Damen vom Theater gemacht hatte.

„Sie haben gestern reizend gespielt, mein Fräulein,“ begann er, an ihre Seite tretend, leichthin.

Wieder der große, befremdete Blick aus den braunen Augen, der ihn beinahe in Verlegenheit setzte! Aber nur beinahe! Als er keine Antwort erhielt, wurde er ärgerlich.

„Haben Sie heute keine Probe?“ frug er von oben herab und sah ihr hochmütig ins Gesicht.

Wieder keine Antwort! Statt dessen wandte sich die junge Dame kurz ab und schritt, nicht zu schnell und nicht zu langsam, just als gäbe es gar keinen Wolf von Schindler, der ihr die Ehre seiner Unterhaltung hatte gönnen wollen, an ihm vorbei und über den freien Platz hinweg. An der ersten Biegnug des Weges verschwand sie im Walde.

„Das ist stark,“ murmelte der Baron verblüfft. „Laufe ich am frühen Morgen hier herauf, um dieser kleinen Schauspielerin etwas Angenehmes zu sagen, und sie dreht mir einfach den Rücken zu. Nun aber auch genug damit!“ Mit einer heftigen Bewegung warf er sich auf die Bank und begann, die Landschaft zu betrachten.

Die klare, reine Luft gestattete den Ausblick bis zu den Höhenzügen, die wie aus blauem Dunst gebildet ihre vielgestaltigen Häupter gegen den Himmel streckten. Dazwischen im Thal, so weit man sehen konnte, die Spuren menschlicher Kultur und menschlichen Fleißes – Dorf an Dorf, Feld an Feld.

„Ebensogut könnte ich eigentlich vom Berge herunter meine eigene Scholle betrachten,“ dachte er. „Es ist, weiß Gott, kein besonderes Vergnügen, in diesem langweiligen Nest seine Tage zu versitzen. Mein Alter würde es nicht leiden, wenn er noch lebte, soviel ist gewiß! Aber Krautjunker werden und bei seiner ‚tüchtigen Thätigkeit‘ so allmählich verbauern – brr! … Dazu muß man jung schon angehalten werden. Früher hätte ich’s einfach nicht gekonnt, da trieb es mich zu stark in die Welt. Jetzt kommt’s mir manchmal vor, als habe ich genug davon gesehen … Wenn ich ein ‚Muß‘ hätte, wie die da drunten, die ihre Felder mit Mühe und Schweiß bebauen, wär’ mir’s vielleicht auch recht … Ob die wohl arbeiteten, wenn sie nicht müßten? Kaum! Der Mensch ist von Natur zur Faulheit geboren, lehnen wir uns also nicht gegen die Naturbestimmung auf!“

Er blickte noch eine Weile dem Silberstreifen des Flusses nach, der zwischen Feldern und Wäldern sich schimmernd dahin wand, dann erhob er sich.

Genug des Nachdenkens und der Naturbetrachtung! Dazu war er nicht hierher gekommen; die eigentliche Expedition war mißglückt. Die Kleine lief davon wie ein scheues Reh. Schien merkwürdig empfindlich zu sein! Wolf hatte Schauspielerinnen kennengelernt, die bedeutend weniger zart besaitet waren. Nun, wie sie wollte!

Eine Operettenmelodie pfeifend, die Hände in den Taschen seines Ueberrocks vergraben, wandte er sich zum Gehen, als sein Blick auf ein weißes Heft fiel, das neben der Bank auf dem Boden lag. Zögernd hielt er inne. Lange konnte es noch nicht auf der Erde liegen, dafür war es zu sauber, also war es wohl von der Kleinen bei der schnellen Flucht vergessen worden. Mit zwei Fingerspitzen nahm er es mißtrauisch auf und betrachtete es von allen Seiten.

Mit großen Buchstaben stand auf dem Titelblatt: „Maria Stuart“, darunter ganz klein: „Fräulein Marie Sinders, Titelrolle.“

Richtig, das Eigentum der Schauspielerin! Das Heft langsam umblätternd, setzte er sich wieder auf die Bank. Er hatte zwischen den leidenschaftlichen und rührenden Reden der verstorbenen schottischen Königin, oder vielmehr des ebenfalls längst verstorbenen Schiller, welche ihn gerade jetzt nur wenig interessierten, kurze Aufzeichnungen der noch lebenden, ihm eben davongelaufenen anderen Maria entdeckt, und diese interessierten ihn viel mehr.

„Wird wohl kaum orthographisch schreiben können!“ lachte er leise und begann zu lesen.

Die Anmerkungen der jungen Künstlerin waren wegen des geringen freien Raumes ziemlich klein an den Rand der einzelnen Blätter gekritzelt, und es kostete ihn Mühe, sie zu entziffern: aber die Handschrift war nicht übel und die Orthographie tadellos. Wolf las mit immer größerem Interesse die Einschaltungen, welche Geist und volles Verständnis der dichterischen Absicht verrieten.

Als er die letzte Seite umwandte, fiel ihm ein kleines Heft entgegen. Ohne viel über die Berechtigung zum Weiterlesen nachzudenken, schlug er es auf und fand in Form von kürzeren und längeren Aphorismen eine ganze Menge von klugen und hübschen Sätzen über Menschen und Leben. Sie beobachtete gut, diese junge Person, und hatte eine merkwürdige Treffsicherheit im Ausdruck. Und keine Gefühlsduselei! Nichts von Liebesklagen und Herzensschmerzen: dies erfüllte den Leser mit besonderer Hochachtung. Aber hier, auf dem letzten Blatt, was war das?! … da stand:

„Gegen den Schicksalsschlag können wir uns waffnen mit Geduld und Ergebung, der gemeinen Roheit gegenüber sind wir wehrlos. O trauriger Stand der Schauspielerin! Die freche Beleidigung ins Gesicht empfangen und nicht mit der Wimper zucken dürfen, angstvoll erwarten, ob Direktor oder Publikum sich durch das Urteil eines solchen ‚Tonangebenden‘ nicht einschüchtern lassen; im Fall dies zutrifft, wieder den Wanderstab weiter setzen … o Gott, wie bitter ist dies alles! Wo soll ich in dieser furchtbaren Gedrücktheit die Kraft hernehmen, die ‚Maria‘ zu spielen, von der alles abhängt? Und wer soll mich schützen vor neuen Beleidigungen, wenn …“

Hier brach die Schrift ab. Schindler hielt sie in Händen und starrte darauf nieder, er brauchte lange Zeit, um die wenigen Zeilen noch einmal zu lesen. Hochrot im Gesicht, mit dem Gefühl des Horchers an der Wand, der seine eigene Schande eben gehört hat, klappte er endlich das Heftchen zu und legte es zwischen die andern Blätter hinein. Gemein und roh hatte sie ihn genannt! An diesen starken Ausdrücken richtete sich sein verwundetes Selbstgefühl zuerst wieder auf und allmählich fühlte er einen ganz gehörigen Zorn in seinem Innern aufsteigen. Er war wütend über den Zufall, der gerade ihm dieses Heft in die Hände spielen mußte, wütend über sich selbst und über „diese Person“, die so entsetzlich empfindlich war und aus der harmlosen Sache eine tragische Begebenheit zusammenphantasierte. Zwar konnte ihm die ganze Geschichte höchst gleichgültig sein, da er das dumme Mädel außer auf der Bühne vermutlich nie mehr wiedersehen und nie mehr sprechen würde. Im übrigen wußte sie ja auch nicht, daß er der „Tonangebende“ gewesen, und würde es hoffentlich auch nie erfahren. Und wie gesagt, es war ihm schließlich auch ganz gleichgültig!

Damit hatte Wolf von Schindler seine kühle Ruhe wiedergewonnen und machte sich hastig auf den Heimweg. Es war ihm plötzlich eingefallen, daß der Verlust bereits entdeckt sein müßte und die Verliererin sehr bald zurückkehren würde. Er hatte keine Lust, ihr wieder zu begegnen, der rabiaten, kleinen Person! Suchend schweifte sein Auge über den Weg hin, ohne indes die geschmeidige, schlanke [355] Gestalt zu erblicken. Das ärgerte ihn eigentlich, denn er sagte sich nicht ganz mit Unrecht, daß die junge Dame wohl deshalb nicht zurückkäme, weil auch sie eine Begegnung mit ihm vermeiden wolle.

Zu Hause angelangt, beauftragte er seinen Diener, das Rollenheft, das er säuberlich einpackte, Fräulein Sinders mit seiner Karte zu überbringen. Die Adresse solle er im Theater erfragen.

„Und nun fertig mit dieser Dummheit!“ beendigte er die Angelegenheit bei sich selbst. Etwas ermattet von der ungewohnten Morgenpromenade und der unerwarteten Aufregung, warf er sich in seinem Arbeitszimmer auf das Ruhebett, das ein riesiges Tigerfell bedeckte, um in behaglicher Ruhe die neuesten Morgenzeitungen zu studieren.




Am Nachmittage desselben Tages läutete es an der Wohnung des pensionierten Hauptmanns von Schmidtlein. Das öffnende Dienstmädchen sah eine ältere Dame vor sich.

„Die gnädige Frau zu Hause?“

„Jawohl.“

„So bringen Sie ihr meine Karte!“

Die Dame entnahm einem eleganten, goldgestickten Juchtentäschchen eine Visitenkarte, auf welcher das Dienstmädchen während des Hineingehens mühsam den Namen „Erna von Sindsberg“ entzifferte.

„Herein, schnell herein!“

Fanny von Schmidtlein warf die Weste ihres Gatten, an welcher sie eben genäht hatte, beiseite und eilte freudig dem Gaste entgegen. „Willkommen, Erna, in meinem Heim!“

„Guten Tag, Fanny!“ erwiderte diese und schlug herzlich in die dargebotene Hand. „Ich komme ein wenig schnell, aber Du wirst das begreifen, wenn Du bedenkst, daß ich nur noch in den alten Erinnerungen lebe; und ein Teil derselben, sogar einer der schönsten, hängt ja mit Dir zusammen!“ Die Dame streifte dabei ihre Handschuhe von den überaus zarten Händen, an welchen mehrere schöne und kostbare Ringe funkelten.

„Es geht Dir gut, Erna; das freut mich,“ sagte Frau von Schmidtlein, hielt aber befremdet inne, als ihr Gast in ein schrilles Lachen ausbrach.

„Gut!?“ rief die Dame aus. „O, wie sehr Du Dich irrst! Mir geht es so schlecht wie möglich. Als wir uns heute vormittag in dem Geschäftsladen trafen, mochte ich Dir nichts von meinen Verhältnissen erzählen, weil ich mir die Freude, Dich wiederzusehen, nicht verderben wollte. Aber ich hätte es doch thun sollen, Du würdest Dich dann vielleicht gehütet haben, mich einzuladen!“

„Erna!“

„Na, man kann nicht wissen; ich habe schlechte Erfahrungen gemacht. Im übrigen brauchst Du mich morgen schon nicht mehr zu kennen, ganz nach Belieben!“

„Ich begreife Dich nicht, Erna! Habe ich das verdient?“ fragte Frau von Schmidtlein ganz erschreckt und schlang den Arm um die Freundin.

Diese wehrte kühl ab. „Laß diese Zärtlichkeiten, meine Liebe, bis ich Dir alles gesagt habe! Weißt Du, wen Du hier vor Dir siehst? Eine Theatermutter! Verstehst Du? Eine alte Frau, die mit ihrer Tochter von Bühne zu Bühne heimatlos herumzieht. Ja, so weit habe ich es gebracht, oder vielmehr nicht ich, sondern andere!“ Ein hysterisches Schluchzen hinderte die Sprechende, fortzufahren.

„Aber Erna, ich begreife nicht,“ fragte kopfschüttelnd Frau von Schmidtlein, die ganz fassungslos dasaß.

„O, Du begreifst es schon, wenn Du bedenkst, daß mein Alex, mein guter Mann, gestorben ist und mir nichts hinterlassen hat!“ antwortete diese, sich die Augen trocknend. „Absolut nichts als eine kleine Pension und sehr viel Schulden. Ich will damit keinen Vorwurf gegen den armen Mann aussprechen, nein, gewiß nicht! Er hat die Schulden nur meinetwegen gemacht; ich war von Hause so sehr an Luxus gewöhnt, und er liebte mich so! Mit seiner Hauptmannsgage konnte er keine großen Sprünge machen, das weißt Du am besten, Fanny, und so ging er eben zum Wucherer. Dann starb er plötzlich und ließ mich hilflos zurück mit Marie und Paul.“

„Aber ich verstehe nicht, wieso Du jetzt beim Theater –?“

„Ach so! Nun, ganz einfach! Als alles zu Ende war und wir unsere ganze Habe verkaufen mußten bis auf meine Schmucksachen, die ich noch rettete, da zogen wir nach Berlin, weil wir dort in der Weltstadt unser Elend am leichtesten verstecken konnten. Die Verwandten steuerten eine Kleinigkeit zusammen, und so konnte ich mit den Kindern wenigstens leben. Meine Marie malte auf Porzellan, während sie noch zur Schule ging, und verdiente ein Paar Pfennige und ich – ich weinte über unser Unglück. Ich habe ja sonst nichts gelernt! Es war ein jämmerliches Leben, das wir in Berlin führten, aber wir hatten wenigstens ein Heim. Da kommt meine Marie plötzlich auf die Idee, zum Theater zu gehen. Das heißt, nicht plötzlich, denn schon als Kind war sie ganz theatertoll. Sie studierte und studierte, lernte alle Rollen auswendig und wenn sie ja einmal einen Wunsch aussprach, war’s um ein Billet für die Galerie. Schließlich nahm sie Unterricht, und auch der Professor meinte, daß sie ein großes Talent besäße. Was hätte ich thun sollen? Meine Marie setzt durch, was sie will! Sie ist nun Schauspielerin. Hoffentlich wird sie jetzt auch bald berühmt. Ich habe es satt, von einem Engagement ins andere zu reisen. Die Gagen sind klein, die Toilettenansprüche furchtbar, kurz, es ist ein schreckliches Leben!“

Frau von Schmidtlein sah überrascht auf. Jetzt fing sie an zu begreifen.

„Deine Tochter ist hier engagiert?“ fragte sie gespannt.

„Ja, unter dem Namen ‚Sinders‘!“ – Errötend fügte Frau von Sindsberg hinzu: „Ich verlange nicht, daß Du meine Tochter zu Dir einladest, trotzdem sie an Bildung und Takt sich mit jedem Mädchen aus der Gesellschaft messen kann.“ Das feine, bleiche Gesicht der Dame, das noch Spuren großer Schönheit zeigte, sah bei diesen Worten so gedemütigt und traurig aus, daß Frau Fanny sich schmerzlich berührt fühlte. Innig schlang sie den Arm um die Freundin und küßte sie herzlich.

„Du und Deine Tochter, Ihr seid mir stets von ganzem Herzen willkommen, und ich hoffe, Du kommst recht, recht oft zu mir. Ich habe sie übrigens gestern auf der Bühne gesehen, sie ist reizend!“

„So? Findest Du? Sie sieht meinem armen Alex ähnlich; aber sie ist sehr gut und lieb und verhätschelt mich, auch hat sie seine schönen Augen!“

Frau von Schmidtlein dachte bei diesen Worten an Wolf von Schindlers beleidigende Aeußerung über das Aussehen der jungen Künstlerin und freute sich innerlich auf seine verblüffte Miene, wenn er einmal die Damen bei ihr träfe. Vorläufig aber war die Reihe, verblüfft zu sein, an ihr, als Frau Erna plötzlich mit harmloser Miene fragte: „Kennst Du einen Herrn von Schindler?“

„Jawohl, wie kommst Du auf den? Kennst Du ihn denn?“

„Nein, er hat uns mit einem von Marie verlorenen und von ihm gefundenen Buch seine Karte geschickt.“

Mariens Mutter ließ in der so entstandenen Pause ihre Augen forschend durch den behaglichen Raum gleiten und seufzte dabei tief auf. „Ihr seid auch arm, aber es ist doch etwas anderes! Wo ist denn Dein Mann?“

„Er geht jeden Nachmittag ins Kasino, um die Zeitung zu lesen und Kaffee zu trinken. Das letztere wollen wir nun auch thun!“

Der Kaffee kam, und die Damen setzten sich an den gedeckten Tisch und schwelgten in alten Erinnerungen aus der Pensionszeit, wo man sie die beiden Unzertrennlichen genannt hatte. Sie hatten sich sehr lieb gehabt, trotzdem oder vielleicht weil sie so grundverschieden waren. Fanny nicht schön, aber energisch und thatkräftig, Erna ein reizendes, anschmiegendes, aber haltloses Geschöpfchen, das stets andere für sich sorgen ließ!

Leider ähnelten sich ihre späteren Schicksale mehr, als für ihre verschiedenen Temperamente gut war. Beide Töchter vornehmer, aber armer Familien, heirateten sie junge Offiziere, denen es gleichfalls an Vermögen fehlte. Der Unterschied zwischen ihnen zeigte sich bald. Fanny kämpfte mit frohem Wagemut gegen die Sorgen an und bereitete ihrem Gatten mit dem Wenigen, was sie besaßen, ein behagliches Heim. Erna hingegen stand allen Geldfragen verständnislos gegenüber. An Luxus gewöhnt, forderte sie ihn auch in ihrer neuen Lebensstellung, ohne sich über das „Woher“ den Kopf zu zerbrechen.

„Ich hätte nur einen Millionär heiraten dürfen, Fanny,“ versicherte sie ihrer Freundin, eine Wahrheit, von welcher diese jetzt nach all dem Gehörten erst recht durchdrungen war.

[367] Es dämmerte bereits in dem gemütlichen Stübchen der Frau Hauptmann Schmidtlein, als sich Frau von Sindsberg erhob, um Abschied zu nehmen. „Das war wieder einmal ein menschenwürdiger Nachmittag,“ lachte sie vergnügt und angeregt. „Ich habe bei Dir ganz vergessen, daß ich eine Theatermutter bin. Wenn Du erlaubst, bringe ich Dir morgen meine Marie.“

„Ich bitte Dich darum.“

Die Damen näherten sich der Thüre, als im Flur Stimmen laut wurden. „Mein Mann scheint Besuch mitzubringen,“ sagte Frau von Schmidtlein halblaut. „Soll ich Dich unter Deinem wirklichen Namen vorstellen, oder –?“

„Nur um Gotteswillen nichts vom Theater; ich kann es nicht vertragen!“

Die Herren traten ein. Fanny sah mit Vergnügen, daß Schindler dabei war, und begrüßte ihn mit einem so schelmischen Lächeln, daß er sie erstaunt anblickte.

„Liebe Erna, das ist mein Mann!“ begann Fanny nun heiter, und zu ihrem Gatten gewendet: „Und dies ist meine einzige, liebe Pensionsfreundin, die Du aus meinen Erzählungen bereits kennst! Frau Hauptmann von Sindsberg hat mir heute unerwartet die Freude gemacht, mich aufzusuchen. Herr Rittergutsbesitzer Berlau – Herr von Schindler, seines Zeichens Lebemann!“

„Ah, Herr von Schindler!“ drängte es sich auf die Lippen Frau Ernas, aber sie erstickte den Ausruf. Für die Uebersendung des Heftes danken, hieß sich verraten. Gewandt lenkte sie ab und nahm den von der Freundin gebotenen Sitz noch „für einen Augenblick“ ein. Das Gespräch kam bald auf ein Thema, das auch sie interessierte, die Jagd. Ihr Gatte war ein leidenschaftlicher Jäger gewesen, und sie entsann sich noch gut einiger Jagdabenteuer, die sie zum besten gab.

Man hatte um den runden Tisch Platz genommen; niemand wäre imstande gewesen, aus dem Aeußeren der Dame auf ihre jetzige bescheidene Stellung und Lebensweise zu schließen. Darauf hielt sie noch immer; und aus dem Schiffbruch ihrer Existenz hatte sie an Garderobe und Kostbarkeiten gerettet, was irgend ging. Den geöffneten Sammetmantel mit dem Nerzpelz – auch ein Ueberbleibsel früherer Zeiten – über den Stuhl zurückgeworfen, wahrte sie eine zugleich ungezwungene und gemessene Haltung. Die Herren benahmen sich denn auch mit großem Respekt gegen die plötzlich aufgetauchte Pensionsfreundin der Hausfrau, und sogar Schindler war nicht ganz so blasiert und herablassend wie gewöhnlich. Fanny saß still lächelnd dabei. Sie amüsierte sich köstlich über die ganze Situation und im besondern über ihre Freundin, deren gedrücktes Wesen von vorhin einer sicheren Ueberlegenheit Platz gemacht hatte. Sie plauderte und [368] lachte, erzählte Anekdoten; die Unterhaltung wurde fast ausschließlich von ihr, dem Hauptmann und Herrn von Schindler geführt.

Der Gutsbesitzer, ein noch junger Mann mit einem mädchenhaft zarten Gesicht, blickte, wie es seine Gewohnheit war, lächelnd von einem zum andern und sah dabei sträflich dumm aus. Er war der einzige Sohn seiner reichen Eltern. Nach dem frühen Tode des Vaters allein von der Mutter, einer ehemals berühmten Schönheit, erzogen, hatte er die rauhen Seiten des Lebens niemals kennengelernt. Verwöhnt bis zum Aeußersten, eigensinnig und rechthaberisch, machte er einen gründlich unbedeutenden Eindruck. Es war das ein Erbteil seiner Frau Mama, die niemals etwas anderes wollte und konnte, als schön sein und lächeln, und die noch jetzt bei jeder Gelegenheit, wo sie gesehen wurde, wie die Preisgekrönte einer Schönheitskonkurrenz aussah: den klassisch geschnittenen Mund leicht geöffnet, die Augen feucht schimmernd und weit aufgeschlagen, ein bewegtes Mienenspiel aber sorgfältig vermeidend, um die edlen Gesichtslinien nicht zu zerstören. So besorgt um seine Schönheit war nun allerdings Kurt Berlau nicht. Im Gegenteil ärgerte er sich wütend über seinen blendend weißen Teint und sein zart geformtes mädchenhaftes Näschen. Seine Freunde behaupteten, er hätte sich die kleine Glatze, in welche seine griechische Stirn seit einigen Jahren auslief, künstlich machen lassen, um männlicher auszusehen. Im übrigen war er bei allen Leuten beliebt, denn er störte niemand, hatte ungeheuer viel Geld, gab die entzückendsten, verschwenderischsten Junggesellenfrühstücke und zeigte seine unangenehmen Eigenschaften klugerweise nur zu Hause, wo die Mama und die Dienstboten vor ihm zitterten.

An dem Gespräche hatte er bis jetzt nur teilgenommen, so lange es sich auf dem Jagdgebiete bewegte, denn davon und von Hunden, deren er sich verschiedene Meuten hielt, verstand er etwas. Schließlich aber fühlte er doch lebhaft das Bedürfnis, sich auch wieder einmal bemerkbar zu machen. Er brachte das Gespräch auf die gestrige Theatereröffnung. „Waren Sie auch da, Gnädigste?“ frug er verbindlich Frau von Sindsberg. Sie wechselte einen verlegenen Blick mit Fanny, erzählte aber ruhig ihre Anekdote bis zum richtigen Ende, ohne die Frage zu beachten. Dann erhob sie sich plötzlich.

„Es ist Zeit. Meine Herrschaften, ich muß gehen! Herr Hauptmann, ich hoffe, Sie wiederzusehen. Meine Herren, es war mir ein Vergnügen!“

Die tiefen Verbeugungen der Herren huldvollst erwidernd, rauschte sie hinaus, den Eindruck einer amüsanten, vornehmen Frau hinterlassend. Draußen umarmten sich die beiden Freundinnen herzlich.

„Das hat wohlgethan, Fanny,“ sagte Frau von Sindsberg. „Das stärkt mich für die ganze Saison. Dein Mann ist prächtig, und auch dieser Schindler ist ein netter Mensch. Wirst Du ihnen nun sagen, daß ich eine Theatermutter bin?“

„Ich werde ihnen sagen, daß Deine Tochter die junge sympathische Künstlerin ist, die uns gestern schon ihr großes Talent erkennen ließ.“

Frau von Sindsberg wurde plötzlich ernst. Mit einer raschen Bewegung nahm sie die Hand ihrer Freundin in die ihrige und küßte sie, dann sagte sie nachdenklich: „Du bist viel besser und edler als ich, Fanny, ich muß mich schämen! Nicht darüber, daß ich Theaterm..., daß meine Tochter beim Theater ist, sondern weil ich ihr bei all ihrer Anstrengung auch noch das Leben sauer mache. Ich glaube nämlich wirklich, daß ich’s thue, obwohl sie niemals klagt. Also morgen bringe ich sie hierher. Sie hat ungeheuer viel Aehnlichkeit mit Dir. Auch Dein gutes Herz hat sie. Behüt’ Dich Gott, Liebste!“

[369] In das Wohnzimmer zurückgekehrt, setzte sich Frau Fanny neben Wolf von Schindler und begann ihn auszufragen. „Nun, wie hat Ihnen meine Freundin gefallen?“

„Sehr nette Dame! Muß mal schön gewesen sein!“

„Nicht wahr? Sie ist sogar jetzt noch sehr hübsch!“

„Hm!“

„Und hat solch’ scheußliche Tochter!“

„Was hat sie?“ Wolf blickte Frau von Schmidtlein überrascht an. Es war nicht ihre Art, sich so kräftig auszudrücken.

Fanny erwiderte harmlos lächelnd seinen Blick. „Ja, das Fräulein Sinders, welches Ihnen gestern so schlecht gefiel, ist die Tochter der Frau von Sindsberg.“

Ohne Wolfs Antwort abzuwarten, stand sie auf und begab sich nach der andern Seite, wo der Hauptmann eben dem „schönen Berlau“ seine neue Jagdflinte zeigte. Vorsichtig nahm er die Schloßteile auseinander und erklärte die Konstruktion so eifrig, daß er ganz rot davon wurde. Fanny betrachtete ihn liebevoll, während sie ihm nähere Auskunft über Frau von Sindsberg und ihre Tochter gab; sie freute sich über seine Lebhaftigkeit, und daß er trotz seines Leidens so gesund aussah. Wie reich war sie doch an der Seite dieses prächtigen Menschen, und wie arm alle rings um sie! Die beiden Lebemänner da, mit ihrem vielen Gelde, die ihr Glück beständig in öden, leeren Vergnügungen suchten und nichts fanden als Ueberdruß, wie bettelarm waren sie im Vergleich mit ihr! Und erst die bedauernswerte Erna, die ihren geliebten Gatten verloren hatte! O, nur das nicht!

Mit einer beinahe ängstlichen Bewegung legte sie ihren Arm in den des Hauptmanns, welcher dadurch in seinen lebhaften Darlegungen gehindert wurde! Ohne ein Zeichen der Ungeduld hielt er inne und drückte zärtlich ihren Arm. „Was willst Du, Fannutschka?“ fragte er freundlich.

„Nichts, Liebster!“

Bald darauf verabschiedeten sich die beiden Herren, nachdem sie mit dem Hauptmann eine Rebhuhnjagd für morgen verabredet hatten.

„Wann wirst Du zurückkommen, Otto?“ fragte Frau von Schmidtlein. „Ich habe Frau von Sindsberg mit ihrer Tochter für morgen abend zum Thee eingeladen, Du solltest dabei sein!“

Der Hauptmann begann mit unternehmender Miene seinen grauen Schnurrbart zu drehen und versprach, pünktlich zur Stelle zu sein, da er ein Rendezvous mit jungen Schauspielerinnen niemals zu versäumen pflege, eine Renommage, die Fanny gutmütig lächelnd anhörte. Berlau lachte noch im Korridor über diesen „famosen Witz“, während ihm der Hauptmann in den Ueberrock half.

Im Zimmer stand Wolf von Schindler vor Fanny und fuhr mißmutig durch seinen rötlichen Bart. „Sie müssen mir etwas versprechen, ehe ich gehe. Wenn die Damen jetzt öfters bei Ihnen verkehren werden, müssen Sie von –“

„Sie meinen, ich soll Fräulein von Sindsberg nichts davon sagen, daß Sie es waren, der –“

„Natürlich! Ueberhaupt, reden Sie ihr ein, sie hätte sich verhört!“

Fanny schüttelte mit gemachtem Ernste zweifelnd ihr Haupt. „Ich weiß doch nicht recht, ob Sie das verdienen! Wenn ich wenigstens wüßte, ob Sie es bereuen!“

„Bereuen ist gegen mein Prinzip,“ sagte Schindler achselzuckend, „aber ich will zugeben, ich habe ihr unrecht gethan.“

„Was heißt das?“

„Na, sie ist am Tage recht hübsch!“

„Sie haben sie gesehen?“

[370] „Jawohl! Also, abgemacht, Gnädigste! Sie schweigen?“

„Wo haben Sie sie denn gesehen?“

„Eine Frau, die alle Tugenden hat, darf auch nicht neugierig sein.“

Fanny machte aber keine Ausnahme von ihrem Geschlecht und wollte eben ihre Frage noch einmal wiederholen, als der Hauptmann die Thür öffnete. „Berlau will nicht mehr warten,“ rief er herein. „Er muß nach Hause.“

Mit einem Handkusse entfernte sich Wolf, und das Ehepaar war allein.

„Was hast Du denn mit dem Schindler gesprochen?“ fragte der Hauptmann.

„Geheimnisse, Alterchen! Er ist in mich verliebt,“ lachte Frau Fanny mit schelmischer Miene.

Lachend zog sie der Hauptmann in seine Arme, indem er sich für „den glücklichsten Ehemann Europas und der umliegenden Staaten“ erklärte.




Marie Sinders wurde nicht, wie sie gefürchtet hatte, entlassen, sondern im Gegenteil galt sie schon nach einigen Wochen als der ausgesprochene Liebling des Publikums. Mit jeder neuen Rolle eroberte sie sich die Gunst der Zuschauer mehr, während ihre Leistungen wiederum durch dieses Bewußtsein von Tag zu Tag freier und bedeutender wurden. Auch ihre gesellschaftliche Stellung gestaltete sich anders als je zuvor in einer andern Stadt. Frau von Schmidtlein führte sie mit der Mutter in die ihr befreundeten Familien ein und hatte die Genugthuung, daß die beiden Damen dort festen Fuß fassen konnten – Frau von Sindsberg durch ihre lebhafte und amüsante Unterhaltung, die einen frischen Zug in das Alltagsgespräch brachte, und Marie durch ihre sanfte, bescheidene Liebenswürdigkeit. Alle Damen schwärmten von ihr, und der Höhepunkt ihres Lobes gipfelte stets in den Worten: „Und sie ist absolut nicht kokett!“

Die Männer, die diese Schwärmerei teilten, konstatierten dasselbe mit einer kleinen Umänderung: „Sie ist reizend, aber absolut nicht kokett!“

Wurde eine solche Aeußerung in Berlaus Gegenwart gemacht, so lächelte er triumphierend und rieb sich erfreut die zarten blendendweißen Hände, als hätte man ihm persönlich eine Schmeichelei gesagt. Er machte kein Hehl daraus, daß er rasend in die junge Schauspielerin verliebt sei, und hatte zu seinem besonderen Vertrauten Wolf von Schindler erwählt. Als er diesem zum erstenmal davon sprach, hatte Wolf seine blitzenden blauen Augen weit geöffnet und ihn maßlos erstaunt angeblickt, dann über seinen blonden Bart gestrichen und gelächelt.

„Wie denken Sie sich denn das?“ hatte er gefragt und auf Berlaus verständnisloses Achselzucken mit merkwürdig drohendem Ton hinzugefügt: „Fräulein von Sindsberg ist keine kleine Choristin!“

Berlau schwieg verblüfft, nahm aber zu Hause, nachdem er seine Thür vorsichtigerweise verschlossen hatte, das Freiherrliche Taschenbuch und den Hofkalender zur Hand und zählte die Mesalliancen nach, welche in hohen und höchsten Häusern geschlossen worden waren. Zwar lag in seinem Fall die Sache eigentlich anders. Die Angebetete stammte aus einem alten, wenn auch verarmten Adelsgeschlecht, und er war ein Bürgerlicher. Sein Urgroßvater sollte ein schlesischer Weber gewesen sein. Aber jetzt war er reich und sie arm; er ein hochangesehener Gutsbesitzer, sie eine kleine Provinzschauspielerin. Eine Mesalliance war es also unbedingt, wenn er sich herabließ, sie zu heiraten. Anderseits aber war er völlig in sie vernarrt. Die Mama zwar würde sich mit aller Macht dagegen sträuben, aber das war das wenigste; schließlich geschah ja doch, was er wollte. Aber ob er überhaupt wollte, darüber war sich Kurt Berlau noch nicht ganz klar. Jetzt war es Januar, also hatte er noch volle vier Monate Zeit, bis die Saison zu Ende ging. Bis dahin konnte er sich die Sache noch gründlich überlegen. Und Marie? O, die würde schon wollen! Einen Kurt Berlau schlägt man nicht aus. Bei diesem tröstlichen Gedanken angelangt, klappte er beruhigt und siegessicher das Taschenbuch zu, ohne sich weiter mit unnützen Grübeleien aufzuhalten.

Als er Schindler das Resultat seiner Erwägungen mitteilte, blickte ihn dieser spöttisch an und murmelte: „Helena entfloh mit Paris … warum sollte Ihnen nicht auch das Glück blühen?“

Berlau suchte krampfhaft nach dem Zusammenhang dieser Bemerkung mit seinen Heiratsentschließungen, ohne indes einen solchen zu finden.

Wolf von Schindler wurde überhaupt im Laufe der Zeit überaus launisch. Nicht nur, daß er sich im Klub beim Spiel weigerte, bis zum frühen Morgen Revanche zu geben, er wurde auch sonst ein Spaßverderber. Die tollsten, lustigsten Streiche machte er nicht mehr mit, und seine besten Freunde beklagten sich: „Es ist nichts mehr mit ihm los, Schindler wird alt.“ Aber gerade damit trafen sie das Falsche. Schindler fühlte sich so jung wie seit langem nicht, „jünglinghaft“, wie er es selbst spöttisch bezeichnete. Wider seinen Willen hatte ihn eine starke Neigung gepackt. Mit aller Macht kämpfte er dagegen, rief seinen Pessimismus, seine Uebersättigung am Dasein zu Hilfe – umsonst, das Gefühl war stärker als alles und nahm triumphierend von seinem Herzen Besitz.

Jetzt waren es gerade fünf Wochen her, daß er die ersten Symptome an sich bemerkt hatte, bei einem ganz zufälligen Zusammentreffen. Und an welchem Orte! Die Klubgenossen würden sich schütteln vor Lachen, wenn sie es wüßten! Mußte ihn auch der Teufel am Weihnachtsabend zu der kranken alten Schachtel, dem Weibe des Straßenkehrers Josef hinführen! Nicht etwa, daß er den großherzigen Wohlthäter mit dem Weihnachtsbaum hatte spielen wollen, Gott bewahre! – es handelte sich einfach darum, einen Eselsstreich des besagten Josef zu verhüten. Schindler liebte es, sich und sein Haus gelegentlich auf eigene Faust medizinisch zu behandeln. Und da er neben seinen harmlosen Gaben stets doppelt reichliche Nahrung und guten Wein verschrieb und spendete, fand er dankbare Patienten, die den Ruhm ihres Herrn verkündeten. Als nun die Frau des alten Josef, der in der Villa allerhand Hilfeleistungen verrichtete und bei der Dienerschaft beliebt war, trotz der Behandlung durch den Armenarzt gar nicht wieder zu Kräften kommen wollte, da trug Karl seinem Herrn die Sache vor und dieser stürzte sich mit dem Eifer des Liebhabers auf den neuen Fall. Es war ihm Ehrensache, daß das Weib unter seinen Händen sich schleunigst wieder herausmache, und er hatte, als dies trotz Wein und Fleisch nicht rasch genug ging, gerade an jenem Tag durch Karl eine Flasche Pepton nebst Gebrauchsanweisung zu dem Alten hintragen lassen. Hinterher stiegen ihm Zweifel auf, ob dieser nicht am Ende das einfach für eine nene Suppenart ansehen und der Kranken unverdünnt reichen würde. Da hieß es, selbst nachsehen, damit keine Dummheit passierte, obgleich ihn ein solcher Besuch eine ziemliche Ueberwindung kostete. So tappte er denn, ohne viel nach rechts und links zu sehen, durch den schmutzigen Hof in das Hinterhaus. Und wie er durch die Thür, an welcher er sich noch tüchtig den Kopf anstieß, in die dumpfige niedere Stube mit dem schwülen Krankengeruche trat, schrie die Alte trotz ihrer kranken Lunge laut auf und brachte richtig den „edlen Wohlthäter“ aufs Tapet, dem der Himmel sein „mildthätiges Erbarmen“ lohnen werde! Er mußte den Redestrom über sich ergehen lassen. Beim Scheine des blakenden, qualmenden Petroleumlämpchens erkannte er dann Marie Sinders, die neben dem dürftigen Bett auf einem hölzernen Schemel saß. Sie stand auf, reichte ihm die Hand und sah ihn mit ihren großen Kinderaugen so bewundernd und liebevoll an, daß er – Wolf Schindler! – rot wurde. Wahrhaftig, er wurde rot; er fühlte es ordentlich!

Seit der ersten mißglückten Begegnung auf der „Schönen Aussicht“ hatte er sie öfters bei Frau von Schmidtlein und in anderen Familien getroffen und sich in seiner hochmütigen, herablassenden Weise mit ihr unterhalten. Auch an diesem Abend schlug er diesen Ton an; aber war es nun die Weihnachtsabendstimmung oder der Blick ihrer guten strahlenden Augen oder ihre süße Stimme, er fand seine kühle Gleichgültigkeit nicht wieder. Sie gingen miteinander fort, nachdem er der Kranken unbemerkt ein Zwanzigmarkstück zugeschoben hatte, und so schritten sie schweigend nebeneinander die Straße hinunter bis zum großen Marktplatz. Dort blieb sie stehen und verabschiedete sich, weil sie zur Bescherung für Mama noch Einkäufe zu machen hätte. Sie stand vor ihm wie damals auf der „Schönen Aussicht“ – in demselben Kleide. Ein kurzes, dunkelbraunes Plüschjackett, darunter ein schwarzer Rock, der die feinen, schmalen Füße sehen ließ.

„Du könntest notwendig einen warmen Pelzmantel brauchen, arme Kleine,“ fuhr es ihm durch den Sinn, als er sie in der Winterkälte zusammenschauern sah. Doch sie lächelte freundlich [371] und fragte ihn, von wem er denn heute beschenkt würde. Zu einer andern Stunde hätte er unfehlbar geantwortet, derartige Albernheiten seien nur für Kinder. Statt dessen seufzte er und deklamierte in rührendem Ton, er sei ein einsamer Mensch und hätte nieinand auf der Welt, von dem er etwas erwarten könne. Es war reizend anzuschauen, wie das Gesicht des jungen Mädchens plötzlich wehmütig wurde und sie ihn hilflos zögernd betrachtete. Das arglose, weichherzige Ding ging offenbar mit sich zu Rate, ob sie dem armen Einsamen nicht ein Plätzchen an ihrem Weihnachtstisch anbieten könne und dürfe. Und wie ihr dann der Mut fehlte und sie ihm ganz traurig „Gute Nacht“ und „Vergnügte Feiertage!“ wünschte und in ihrem Mitleid die große Männerhand unbewußt innig drückte – er hätte sie küssen mögen!

Seitdem interessierte sich Wolf ernstlich für die junge Schauspielerin, saß Abend für Abend, so oft sie spielte, im Theater, suchte ihre Nähe, ging dahin, wo sie verkehrte, und bemerkte plötzlich zu seinem Schrecken, daß er unheilbar verliebt sei und sich nach ihrem Besitz sehne mit der ganzen wilden Leidenschaftlichkeit seines ungezügelten Temperaments.




Kurt Berlau hatte für den Beginn der Woche eine gemeinschaftliche Schlittenpartie verabredet. Der Märzwind mußte bald dem Wintervergnügen ein Ende machen, deshalb sagten alle Bekannten mit Freuden ihre Beteiligung zu. Der Sonntag hatte Schnee und starken Frost gebracht; also war bis Dienstag gute Schlittenbahn zu erwarten. Dieser Tag wurde von Berlau festgesetzt und die Teilnehmer wurden davon benachrichtigt.

Zuvor hatte er natürlich genaueste Erkundigungen bei Fräulein von Sindsberg eingezogen, ob sie an diesem Tage bestimmt, aber auch ganz bestimmt nicht im Theater beschäftigt sei; denn nur ihretwegen fände die Partie statt. Sie mußte es feierlich beschwören und versprechen, nur in seinem Schlitten zu fahren, was sie lächelnd zugestand. Berlau war selig.

Als er von ihr fortging, begegnete er Wolf von Schindler. Sie blieben voreinander stehen und schauten sich fragend an. Es war sehr kalt; der Hauch ihres Mundes hatte sich an den sonst so sorgfältig gepflegten Schnurrbärten in Eis verwandelt, so daß dieselben schwer und naß über die Lippen hingen. Jeder scheute sich, den Mund zu öffnen, und hoffte, der andere würde den Anfang machen.

„Wohin?“ fragte Schindler endlich durch die Zähne.

„Ins Kasino,“ murmelte Berlau, die Eiszapfen fortblasend.

„Ah so!“ Schindler nickte ihm in seiner blasierten Art zu und machte Miene weiterzugehen.

„War bei den Damen Sindsberg!“ stieß der andere kurz hervor.

Schindler blieb plötzlich wie gebannt stehen. „Wieso? Was wollten Sie da?“

Die Temperatur mußte sich wohl verändert haben, denn Wolf von Schindler wurde es auf einmal siedend heiß. Berlau lächelte so vergnügt und machte eine ganz geheimnisvolle Miene.

„Habe Fräulein von Sindsberg zur Schlittenpartie eingeladen. Sie fährt – mit mir! Zähle die Minuten bis Dienstag! Uebrigens, seien Sie pünktlich um elf Uhr beim Rendezvous, Schindler!“

Wolf wandte sich mit einem vernichtenden Blick und kurzem Gruße ab und ließ den vorläufig vor Kälte zitternden Liebhaber etwas verblüfft stehen. Aber er konnte sich nicht mehr beherrschen. „Dummkopf, Dummkopf, warte nur!“ knirschte er durch die Zähne und eilte mit großen Schritten davon.

Dienstag Vormittag um elf Uhr lief Berlau in hellster Verzweiflung in seinem Zimmer auf und ab. Schindler stand mit sardonischem Lächeln vor ihm; er hatte die Nachricht gebracht, daß Fräulein Sinders nicht frei sei und sich vielmals entschuldigen lasse. Eine plötzliche Probe verhindere sie zu ihrem Leidwesen, von der freundlichen Einladung Gebrauch zu machen.

Berlau war ganz außer sich. Er wollte sofort zu Marie eilen, zum Direktor, zum Regisseur; aber Schindler hielt ihn zurück.

Das sei Unsinn, meinte er, und würde dem Fräulein nur Unannehmlichkeiten bereiten; außerdem sei sie bereits vor einer halben Stunde zur Probe gegangen. Also keine Rettung! Die Sache zu verschieben war der anderen Teilnehmer wegen unmöglich; es mußte also gefahren werden. Ohne sie … unerträgliches Pech! Seufzend begab sich Berlau hinunter zu seinem prächtigen Schlitten, in welchem seine Mama bereits Platz genommen hatte.

Wolf von Schindler wartete die Abfahrt nicht mehr ab. „Ich muß noch einmal nach Hause, aber warten Sie, bitte, nicht auf mich, ich hole Sie alle leicht ein,“ rief er Berlau zu und lief eilenden Schrittes davon.

Vor seiner Villa hielt schon der Schlitten mit einem Paar feuriger Ungarfüchse bespannt, die ungeduldig stampften. „Sie kommen mit, Karl – nur vorwärts, setzen Sie sich!“ rief er seinem Diener ungeduldig zu und sprang in das elegante Gefährt, das die Form einer Muschel hatte.

Wenige Minuten später hielt er vor dem großen, altertümlichen Hause, in welchem Frau von Sindsberg mit ihrer Tochter zwei einfach möblierte Zimmer innehatte. Der prächtige Schlitten erregte Aufsehen in der kleinen Straße, und bald stand die ganze Nachbarschaft an den Fenstern. Wolf warf dem Diener die Zügel zu und stieg hastig die Stufen hinauf mit einem Gefühl, wie er es nur als Schuljunge empfunden hatte, einer Mischung von fröhlichem Uebermut und schlechtem Gewissen.

Frau von Sindsberg öffnete ihm. „Sie, Herr von Schindler?“ fragte sie erstaunt und etwas verlegen. „Treten Sie näher, Herr Baron!“ Entschuldigend fügte sie hinzu: „Wir wohnen recht einfach, aber wir wohnen eben in Miete, da geht es nicht anders.“

Marie stand vor einem Spiegel und knüpfte sich eben den Schleier um den Hut. Als sie Wolf erblickte, überflutete eine dunkle Röte ihr Gesicht. „Wo ist Herr Berlau?“

Wolf lächelte gezwungen. „Dieser glückliche Berlau, er wird schwer vermißt!“ sagte er ironisch. „Er ist zu seinem größten Schmerze verhindert. Da darf ich wohl nicht hoffen, daß Sie einen Platz in meinem Schlitten annehmen?“

„O gewiß, es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen!“ rief Frau von Sindsberg lebhaft. „Marie braucht so notwendig Zerstreuung; sie überarbeitet sich noch, das arme Ding!“

„Es ist nicht so schlimm, wie Mama es macht,“ sagte Marie mit ihrer sanften Stimme und beugte ihr ernstes, bleiches Gesicht herab, um ihre Mutter zum Abschied zu küssen. Dann empfahl sich auch Schindler, lebhaft bedauernd, daß die gnädige Frau ihres Unwohlseins wegen nicht mitfahren wolle. Er schwebte dabei in Todesangst, daß sich die lebenslustige Dame etwa noch anders besänne, und atmete erst erleichtert auf, als er endlich neben dem jungen Mädchen allein im Schlitten saß. Den Diener hatte er nach Hause geschickt.

[382] Die Schneebahn war herrlich glatt; trotzdem verhielt Schindler den feurigen Pferden die Zügel, um die vorausgefahrene Gesellschaft ja nicht einzuholen.

„Werden wir bei Frau von Schmidtlein vorfahren?“ fragte Marie erstaunt, als Wolf an der betreffenden Straße vorüber und gegen die Landstraße lenkte.

„Frau von Schmidtlein fährt mit Berlau,“ erwiderte der Gefragte kleinlaut.

„Mit Herrn Berlau? Ich denke, der ist verhindert?“

Marie richtete ihre großen Augen fragend auf ihren Nachbar, der etwas verlegen lächelte.

„Durch mich!“ bekannte er aber dann offen. Und nun kam es heraus: daß er geflunkert, damit Berlau nicht mit ihr fahren könne, daß er jenem vorgeredet, sie sei heute nicht frei und bereits bei der Probe im Theater, und daß sie nun die Gewogenheit haben möchte, seine Intrigue nicht zu verraten!

[383] Wolf gestand seine Schuld in einem gleichmütigen Ton, als erzählte er etwas ganz Selbstverständliches, und vermied sorgfältig, Marie dabei anzusehen.

Diese hatte immer erstaunter zugehört und saß nun ganz still neben ihm, die große, brennende Frage im Herzen: Warum dies alles? Und neben dieser Frage auch schon die Antwort, und mit dieser Autwort ein merkwürdiges, wonniges Glücksgefühl!

Die Pferde durften jetzt laufen, so schnell sie wollten, denn die Gefahr, die Gesellschaft einzuholen, war nunmehr ausgeschlossen, und so flogen sie auf dem glatten Boden pfeilschnell dahin.

Auch Wolf schwieg. Es drängte ihn nunmehr, die Zeit auszunutzen, ihr von seiner Liebe zu sprechen, aber zugleich fühlte er sich befangen. Sein Herz schlug wild und stürmisch. Nun streifte er das erglühte Mädchen mit einem raschen Blick.

„Frieren Sie nicht?“ fragte er leise.

Marie schüttelte lächelnd den Kopf. „O nein, ich bin heute in Sammet und Pelz gewickelt – eine Anleihe bei Mama!“

Jetzt sah er erst, daß sie einen prächtigen Mantel um sich geschlagen hatte. Die arme liebe Kleine! Sie war keine von den erstaunlich wirtschaftlich befähigten Künstlerinnen, die von ihrer Gage kostbare Toiletten und Brillanten erschwingen können! Sie war anders als alle die anderen, bescheiden und anschmiegend wie ein kleines Mädchen und stolz wie eine Königin. Auch Berlau war ja so verliebt in sie, daß er die ernste Absicht hatte, sie zu heiraten! Es würde die erste kluge That seines Lebens sein. Aber Marie würde ihm unbedingt einen Korb geben! War das sicher? Berlau war immerhin reich und ein hübscher Kerl – wenigstens nach weiblichen Begriffen! Er selbst fand ihn unmännlich und beschränkt dazu, sehr beschränkt! Aber vielleicht sah sie das nicht oder wollte es nicht sehen! Wolf wandte sich ihr hastig zu.

„Sind Sie mir böse, daß ich Berlau den Streich gespielt habe?“

„O nein!“ Ein leises, frohes Lachen begleitete die Antwort.

„Wären Sie nicht lieber mit ihm gefahren?“

„Gewiß nicht!“

„Wissen Sie, daß Berlau in Sie verliebt ist?“

„Es schien mir so!“

„Er will Sie heiraten!“

„Will er?“ Die Frage klang so ironisch, daß Wolf lachen mußte.

„Werden Sie ihm einen Korb geben?“

„Ich liebe ihn ja nicht!“

„Marie!“

Der geliebte Name drang fast gegen seinen Willen über seine Lippen; er vermochte nicht mehr gegen seine Leidenschaft anzukämpfen. „Marie!“

Und als sie erschreckt aufblickte, sah sie den zärtlichen, flehenden Blick. Er beugte sich über sie und küßte sie zart, fast ehrfürchtig auf die roten Lippen.

Ein Augenblick nur war es gewesen, und Marie fragte sich, ob sie nicht geträumt habe. Vollständig fassungslos saß sie weit vorgebeugt und wagte nicht, den tief gesenkten Kopf zu erheben. Sie wußte nicht, sollte sie empört sein oder einer Empörung, die sie wirklich nicht empfand, Worte leihen. Sie wußte nur, daß sie furchtbar erregt war, daß ihr Herz statt des Zornes Jubel erfüllte und daß sie am liebsten geweint hätte – laut geweint, aber vor Freuden!

„Wir sind am Ziele,“ sagte nach einer Weile Wolf, der mit hochrotem Gesicht scheinbar gleichmütig neben ihr saß.

In Sehweite, am Rande der Straße, lag ein großes Haus, eine Art von besserer Bauernwirtschaft, die durch ihren guten Kaffee weit und breit berühmt war. Auf dem freien Platze vor demselben, unter einem einfachen Holzdache, befanden sich die Schlitten der Gäste.

Als Wolf hielt, stürzte Berlau zum Hause heraus und auf die Ankömmlinge zu. „Wie kommt das?“ stammelte er mit weit aufgerissenen Augen, von Marie zu Wolf und von Wolf zu Marie blickend. Diese errötete heftig.

„Herr von Schindler war so liebenswürdig – ich konnte mich doch frei machen … und da …“

„Da traf ich das Fräulein noch rechtzeitig. Uebrigens wünscht sie, mit überflüssigen Fragen verschont zu bleiben, lieber Berlau!“ kam ihr Wolf zu Hilfe, während er sich mit seinen Pferden zu schaffen machte.

„Aber auf dem Rückwege fahre ich Sie, nicht wahr?“ sagte Berlau schnell, und seine Stimme hatte einen flehenden Klang.

Marie lief rasch in das Haus, die Frage scheinbar überhörend. Der warme, zärtliche Händedruck Wolfs beim Aussteigen hatte ihr Herz wieder wärmer schlagen gemacht und mit glückstrahlendem Lächeln begrüßte sie die Gesellschaft.

Frau von Schmidtlein machte, als sie die Neuangekommenen sah, ein recht nachdenkliches Gesicht, und ihre forschenden Augen richteten sich oft auf Marie, die sich so ausgelassen, heiter und lebhaft gab, wie man es sonst nicht an ihr gewöhnt war. Aber wirklich besorgt wurde die mütterliche Freundin erst nach einem kurzen Gespräche mit Schindler.

„Sie sind nicht mehr nett gegen mich, Gnädigste!“ sagte dieser scherzend. „Sie laden mich viel zu selten zum Thee ein!“

Fannys Gesicht zeigte eine mißtrauische Miene.

„Warum denn?“ fragte sie kühl. „Was wollen Sie denn bei uns langweiligen alten Leuten? Wir sind viel zu solid für einen Lebemann wie Sie!“

„Eben deshalb! Ich will jetzt brav werden!“

„Brav werden?“ Fannys Ton klang beleidigend gedehnt. „Sie? – Da wollen Sie wohl heiraten?“

„Warum denn gleich heiraten?“ wagte Wolf zu erwidern, kam aber schlimm an.

„Na, das wäre doch ein Glück für Sie, wenn Sie eine gute, kluge Frau bekämen, die Sie auf den richtigen Weg brächte! Thorheiten hätten Sie nun bereits genug gemacht, um es dabei bewenden zu lassen! Und darauf können Sie sich verlassen, wo ich meine Hand im Spiel habe, da werde ich sie zu verhindern wissen; ich sehe, Gott sei Dank, scharf und werde ein wachsames Auge auf Sie – und noch jemand haben. Das merken Sie sich nur!“

Wolf entfernte sich mit etwas verdutztem Lächeln, wagte aber nichts zu erwidern, wodurch die kluge Dame sich in ihrem Verdacht nur noch bestärkt sah. Ihre Unruhe wuchs. Es lag in seinem heiteren Lächeln ein Gleichmut, der nichts übelnahm, ein Siegesbewußtsein und eine Sicherheit, die einen Grund haben mußten.

Und wer trug die Schuld daran? Sie selbst – sie, die beide zusammengeführt hatte! Heiraten wollte er ja nicht, das hatte er deutlich genug erklärt; aber verliebt war er, das konnte man ebenso deutlich sehen. Und Marie mit ihrem strahlenden Lächeln gab ihr ebenfalls zu denken. Die beiden sahen beängstigend glücklich aus! Am Ende waren sie bereits einig. Wie hatte es der gefährliche Mensch nur möglich gemacht, mit dem Mädchen allein zu fahren? Eine regelrechte Intrigue! Es mußte von ihrer Seite etwas geschehen, das war klar. Aber was?

Je weiter der Nachmittag vorrückte, um so heiterer wurde die Gesellschaft. Wolf von Schindler, der vor Uebermut und guten Einfällen sprühte, hatte Champagner mitgenommen, und der perlende Schaumwein regte die Gesellschaft bis zur Ausgelassenheit an. Der Hauptmann hielt eine zündende Ansprache, in der er den edlen Spender leben ließ.

Aber der Baron hatte noch eine andere Ueberraschung aufgespart, die von den Damen mit Jubel begrüßt wurde. Im Sitzkasten seines Gefährtes hatte er herrliche Bouquets mitgebracht, die er kurz vor der Heimfahrt verteilte. Marie erhielt den schönsten Strauß. „Zur Erinnerung!“ flüsterte er und sah ihr dabei tief und zärtlich in die Augen.

Berlau war wütend, daß nicht er auf diesen guten Einfall gekommen war, und beschloß, das nächste Mal Bonbonnieren mitzunehmen. Seine Stimmung war überhaupt nicht die beste. Marie hatte zwar versprochen, mit ihm zurückzufahren, aber seine Mama bestand darauf, ebenfalls dabei zu sein. Sie fürchte sich vor anderen Pferden; sie sei nur an ihre eigenen gewöhnt.

Berlau versuchte nach Kräften, sie noch anderen Sinnes zu machen; es wäre ihm auch beinahe gelungen, als der böswillige Schindler gerade im unpassendsten Augenblick eine schreckliche Geschichte von durchgehenden Pferden erzählte, welche die Fahrenden zu Tode geschleift hatten. Das genügte, um die furchtsame Dame bei ihrem Entschlusse verharren zu lassen.

Die Heimfahrt wurde angetreten und Marie kam nun neben Frau Berlau zu sitzen. Sie sah reizend aus mit ihren lebhaft geröteten Wangen und den glückselig strahlenden Augen. Schindler half ihr beim Einsteigen und ahnte nicht im entferntesten, daß der sanfte Händedruck, der ihn unendlich beglückte, für lange Zeit der letzte sein sollte. Weltvergessen, mit abgezogenem Hut und ohne Mantel, sah er dem davonfahrenden Schlitten nach und lachte übermütig, als Frau von Schmidtlein in trockenem Tone zu ihm sagte: „Sie werden den Schnupfen bekommen, nehmen Sie sich in acht!“

Marie saß träumerisch lächelnd im Schlitten und ließ Berlaus [384] Komplimente über sich ergehen. Sie war froh, als es auf dem halben Wege plötzlich zu schneien begann und er seinen Pelzkragen bis über die Ohren aufschlagen mußte. So konnte er wenigstens nicht mehr viel sprechen und sie brauchte nicht zu antworten. Es war so hübsch, ganz still dazusitzen und an die andere Schlittenfahrt von heute vormittag zu denken, sich alles zurückzurufen, jedes einzelne Wort, und alles in Gedanken noch einmal zu durchleben.

Die Dunkelheit brach plötzlich herein, und Mama Berlau drückte sich eng an ihre Nachbarin, sie schob sogar ihren Arm in den Mariens, trotzdem sie die „Schauspielerin“ eigentlich nicht mehr recht leiden mochte, seit sie Kurts „Verrücktheit“ ahnte.

In dem langsamen, gleichmäßigen Ton, der ihr eigen war, erzählte sie kleine Klatschgeschichten, ließ die heutige Gesellschaft Revue passieren und wußte jedem ein bißchen etwas anzuhängen.

Marie hörte ohne Interesse zu, traumbefangen, halb schlafend.

Plötzlich aber horchte sie auf. Ein Name schlug an ihr Ohr, der alle Müdigkeit verscheuchte. Jetzt stimmte auch Berlau in Mamas Kritik mit ein: die Gelegenheit, dem heimlich verwünschten Nebenbuhler etwas am Zeuge zu flicken, war doch zu verlockend. Marie richtete sich auf und übernahm die Verteidigung des „Abwesenden“.

„Aber liebes Fräulein,“ erwiderte Frau Berlau, „das sind doch alles stadtbekannte Sachen. Er ist ein ganz rücksichtsloser Mensch und daneben auch ganz unzuverlässig, immer nur nach seinen Launen handelnd. Ich weiß nicht, warum man sich gerade von dem so viel gefallen läßt. Aber alle thun es. Sie selbst – nehmen Sie mir’s nicht übel – hätten doch alle Ursache, ihm böse zu sein, nach dem, was er Ihnen an dem ersten Abend damals auf die Bühne gerufen hat!“

„Na, das sind aber alte Geschichten, Mama,“ fiel ihr Sohn rasch ein. „Daß er seine Ansicht über Fräulein Sinders seither gründlich geändert hat, das sehen wir ja alle!“

Marie saß regungslos mit weitgeöffneten Augen. Sie war dem gutmütigen Menschen dankbar, der das Gespräch sofort beflissen auf anderes wandte, und allmählich erholte sie sich auch soweit, um hier und da eine Antwort zu geben.

Der Schnee fiel heftiger, einzelne Lichter tauchten auf – die Stadt! Endlich hielt der Schlitten vor dem Haus, in dem Marie wohnte.

Als sie ausstieg, fiel Wolfs Bouquet zu Boden, achtlos hingeworfen. Leise sagte sie „Gute Nacht“ und „Besten Dank“ und stieg langsam die Treppe hinauf. Die Füße waren ihr so schwer, daß sie sich kaum hinaufschleppen konnte. Im Zimmer war es dunkel. Frau von Sindsberg war ausgegangen, vermutlich in die Leihbibliothek, wo sie fast täglich einen Roman einzutauschen pflegte. Marie freute sich über die Stille und Einsamkeit. Müde ließ sie den Pelzmantel von den Schultern gleiten. Im Finstern setzte sie sich auf den breiten, harten Diwan, in dem die Federn bei jeder Bewegung auf und nieder schnellten. Sie wollte nicht weinen – nein! Sie preßte die Hände gegen das Antlitz, um den Thränen zu wehren. Umsonst! Unaufhaltsam drangen sie hervor in dieser bittersten, schmerzlichsten Stunde ihres Lebens. Den Kopf in das Polster gedrückt, schluchzte sie mit zusammengepreßten Lippen. Gewaltsam rang sie dagegen an, aber immer wieder brach der Quell ihrer Thränen hervor. Endlich erhob sie sich mit einer energischen Bewegung.

„Genug – das ist vorbei!“ sagte sie zu sich selbst. „Jetzt gilt’s, vergessen und ein anderes Leben beginnen! Die Kunst wird nur helfen, die Arbeit!“

Als Frau von Sindsberg von ihrem Ausgang zurückkehrte, fand sie Marie mit ihrem gewöhnlichen ernsten Gesicht in ein Rollenheft vertieft und erhielt von ihr über den Ausflug in gelassenem Ton kurze Auskunft.

Marie liebte ihre Mutter innig, aber von ihrem Herzeleid mit ihr zu sprechen, das vermochte sie nicht. Was sollte sie auch sagen? Die Mama würde über diesen verspäteten Kummer nur lachen und ihn nicht begreifen. Sie ahnte glücklicherweise nichts. Und nun war ohnedies alles zu Ende. – Zu Ende! Marie wiederholte sich dies Wort während der schlaflosen Stunden der Nacht unbarmherzig immer wieder und weinte sich endlich mit heißen Thränen in den Schlaf.

Es hatte nicht gerade Sensation gemacht, war aber doch in dem kleinen Kreise ihrer neuen Bekannten bemerkt worden, daß sich Fräulein von Sindsberg plötzlich zurückzog. Man fragte ihre Mutter nach der Veranlassung, die etwas vom „Studium neuer Rollen“ murmelte, lud sie ein paarmal vergebens ein und begnügte sich endlich damit, sie nur auf der Bühne zu sehen. Nach einiger Zeit schwirrte – man wußte nicht, wer der Urheber war – ein Gerücht umher, das viel Heiterkeit und ein gewisses Erstaunen weckte. Berlau, der schöne reiche Berlau, sollte sich einen Korb geholt haben; als die Spenderin desselben wurde Marie genannt. Fräulein von Sindsberg, die Tochter eines Hauptmanns, spielt nur „zu ihrem Vergnügen“ Theater, fügte man erklärend hinzu. Das Gerücht erhielt seine Bestätigung, als Berlau plötzlich zu seiner Erholung auf einige Wochen nach Italien reiste. Man lachte darüber, wunderte sich, lud das junge Mädchen wieder ein, erhielt aber wieder nur Absagen. – – –

Im Kasino hatte man schon vor Wochen zu Ehren des heimgekehrten verlorenen Sohnes wenn auch nicht ein Kalb geschlachtet, so doch ein lustiges Fest gefeiert. Schindler saß wieder die halben Nächte am Spieltisch, trank unsinnig viel Champagner und hieß jede Zerstreuung willkommen. Nur das Theater besuchte er nie mehr. Erst als die Geschichte von Berlau umlief, besuchte er wieder eine Vorstellung, in der Marie beschäftigt war, verließ aber schon vor dem Ende das Haus. Es war ihm unerträglich, sie spielen zu sehen.

Er haßte sie beinahe. Er nannte sie, wenn er allein war und der Zorn ihn erfaßte, eine Kokette, eine Heuchlerin, eine Närrin. Vielleicht hätte er seine Ruhe wiedergefunden, wenn er ihr alles dies hätte ins Gesicht schleudern dürfen. Aber mit welchem Recht? Und außerdem bot sich ihm keine Gelegenheit. Sie zog sich gänzlich zurück und wich ängstlich jeder Begegnung aus. Er hatte sie aufgesucht, gleich am Tage nach der Schlittenfahrt; sie war für ihn nicht zu Hause. Sie war nie mehr zu Hause, wann er auch kam. Er wartete nach dem Theater auf sie, sie war niemals allein. Vergeblich suchte er sie bei Frau von Schmidtlein; Marie kam nicht mehr dorthin. Er wartete vormittags, wenn sie zur Probe ging; sie schritt mit einem kalten Gruße schnell an ihm vorüber, und er fand nicht den Mut, sie anzureden. Was war geschehen?

Eines Abends kam er nach längerer Zeit wieder einmal zu Frau Fanny. Sie war allein und plauderte in ihrer alten, herzlichen und vertraulichen Weise. Schon nach fünf Minuten fing er von Marie an und beschwor sie, ihm zu sagen, was das junge Mädchen veranlaßt haben könnte, sich so gänzlich von aller Welt zurückzuziehen. Fanny wußte so wenig wie er einen Grund. Sie verhehlte ihm nicht, daß sie nach der Schlittenfahrt um Marie besorgt gewesen sei. Zum Glück scheine sie sich damals getäuscht zu haben. Schindler schlich mit gesenktem Haupte von ihr fort. Also auch hier hatte er das Licht nicht gefunden, das er suchte.




Weiße Ostern! So früh wie in diesem Jahr war der Palmsonntag lange nicht gewesen, mitten in den März hinein fiel er.

Der Schnee wirbelte schadenfroh um die mißmutigen Gesichter der jungen Mädchen, die ihre neuen Osterkleider und die Frühjahrshüte im Schrank lassen mußten. Die Geschäftsleute verwünschten ihn, und nur der Theaterdirektor schmunzelte vergnügt bei seinem Anblick. Aber auch seine Freude war mit Wehmut gemischt. Die Saison der Provinztheater ist mit dem Palmsonntag zu Ende. Die Kontrakte laufen nur bis dahin, und die Schauspieler sind mit diesem Tage wieder frei. Sein Anerbieten, bei der frühen Jahreszeit und der schlechten Witterung noch vierzehn Tage weiter zu spielen, hatten sie alle mit größter Freude angenommen, bis auf Marie. Und gerade diese brauchte er, da sie außerordentlich beliebt war und alle ersten Rollen ihres Faches innehatte. Aber sie blieb unerbittlich. Mit einer ganz unnötigen Leidenschaftlichkeit wies sie seinen Vorschlag zurück. Um keinen Preis bliebe sie einen Tag länger, als sie müsse! Fort, nur fort! Direktor Hoffmann nahm an, daß sie einen sehr vorteilhaften Gastspiel- oder Engagementsantrag erhalten habe, da sie auch sein Anerbieten, ihren Kontrakt für nächstes Jahr zu erneuern, ablehnte. Sie danke ihm sehr, aber für keine Gage der Welt möchte sie in C. bleiben.

Frau von Sindsberg hatte Abschiedsbesuche gemacht, zuletzt bei Fanny, und kam mit rotgeweinten Augen nach Hause.

„Solch feinen, liebenswürdigen Verkehr finden wir nie mehr wieder,“ sagte sie gereizt. „Ich begreife Dich einfach nicht, weshalb Du es hier, in dieser angenehmen Stadt, nicht noch eine Saison aushalten willst! Schon aus Rücksicht auf mich! Aber Du hast nirgends Ruhe und bist entsetzlich eigensinnig!“ –

[386] Marie, die, mitten zwischen Körben und Koffern stehend, eifrig packte, erwiderte nichts. Sie war es seit einiger Zeit gewohnt, von ihrer Mutter nur Vorwürfe zu hören, und ließ sie stillschweigend über sich ergehen. Es mußte ja alles besser werden, wenn sie nur erst fort wären! Vorläufig wollte sie in Berlin einige Tage bei ihrem dort lebenden Bruder bleiben und dann in irgend ein Engagement gehen. Wenn nur der heutige Tag erst überstanden wäre und die Abreise morgen früh! Das war das Aergste! Sie wollte fort, ja, aber daß sie wollen mußte, that weh!

Es ging schon gegen den Abend, als sie endlich mit der unangenehmen Arbeit fertig war; die Gepäckstücke standen sauber geschnürt im Flur. Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht, machte sie Toilette, denn sie fühlte sich Frau von Schmidtlein gegenüber doch verpflichtet, nicht ohne einen Abschiedsbesuch bei ihr die Stadt zu verlassen. Es bangte ihr ein wenig vor diesem Besuch und den forschenden Augen der Dame; aber es mußte sein!

Fanny war allein. Sie empfing das junge Mädchen mit warmer Herzlichkeit. Es sei lieb von ihr, daß sie doch noch einmal sich bei ihr sehen lasse, und sie dürfe nicht eher fort, als bis der Hauptmann zurück sei, der ihr unbedingt Adieu sagen wolle. Marie war gerührt und versuchte, sich wegen ihres sonderbaren Benehmens in den letzten Wochen zu entschuldigen. Fanny unterbrach sie sofort. Sie werde schon ihre guten Gründe gehabt haben, die niemand etwas angingen. Jeder müsse wissen, was er zu thun hätte, und Marie sei ein viel zu gescheites, taktvolles Mädchen, um nicht stets das Richtige zu treffen.

Hätte sie anders gesprochen und vielleicht zudringliche Fragen gestellt, Marie hätte sich gewiß scheu in ihr Inneres zurückgezogen, während sie jetzt der diskreten Freundin gern alles anvertraut hätte. Aber sie fand nicht den Mut dazu.

Fanny ahnte wohl, was in der jungen Freundin vorging, sie brannte vor Verlangen, des Mädchens Geheimnis zu erfahren, aber sie hütete sich, direkt zu fragen. Ganz allmählich lenkte sie das Gespräch dahin, wo nach ihrer Meinung der Angelpunkt lag.

„A propos, daß ich’s nicht vergesse – Herr von Schindler sendet Ihnen noch seine achtungsvollsten Abschiedsgrüße. Er bedauert lebhaft, sie Ihnen nicht persönlich aussprechen zu können.“

„Danke sehr!“ klang es gepreßt aus dem Munde Mariens zurück.

„Er ist sehr indigniert über Sie! Ich sollte es zwar nicht sagen, aber jetzt, da Sie abreisen –“

„Ich auch über ihn!“

„Wie?“ Fanny saß da wie ein lebendiges Fragezeichen.

„Und ich habe sicherlich mehr Ursache,“ fuhr Marie in gereiztem Tone fort.

„Hat er Sie beleidigt, Kind? Ich dachte mir beinahe so etwas. Wohl auf der Schlittenfahrt?“

In Mariens Gesicht stieg eine flammende Röte, welche dank der hereinbrechenden Dunkelheit von Fanny nicht bemerkt werden konnte.

„Nein! Damals nicht!“

„Ah, also später?! So, so! – Denken Sie, Mariechen, ich bildete mir wahrhaftig ein, Schindler hätte sich in Sie verliebt!“

„In mich – er?“

„Ja, wirklich, und ich glaube es fast noch heute!“

„O nein! Ihm wäre ich viel zu – ‚scheußlich!‘“

Fanny zuckte zusammen. Sie hätte nicht das unterdrückte Schluchzen zu hören brauchen, um jetzt den Zusammenhang zu begreifen. Also das war es!

„Wer hat Ihnen das erzählt?“ fragte sie hastig.

„Frau Berlau! Als wir zusammen zurückfuhren bei jener Partie.“

„Und deshalb haben Sie uns, die wir doch an der Sache unschuldig sind, so grausam vernachlässigt?“

„Ich wollte dem Herrn nicht mehr begegnen.“

„Dem Herrn? Ist das der arme Wolf von Schindler? Aber Kindchen, er kannte Sie ja damals noch nicht und war zudem etwas angeheitert; Sie waren an jenem Abend auch wirklich ungünstig gekleidet ... Jedenfalls aber hat er das unbedachte Wort schon damals gar nicht so ernst gemeint und seitdem aufs tiefste bereut.“

„Nimmt Herr von Schindler denn überhaupt etwas ernst?“

Die Frage wurde in so bitterem, schmerzlichem Tone gesprochen und erschien der Frau Hauptmann leider so berechtigt, daß sie vergeblich nach einer Antwort suchte.

„Aber ich glaubte wirklich, er hätte Sie gern!“ sagte sie stockend.

Leise, wie ein Hauch kam es von Mariens Lippen, während zwei schwere Thränen langsam über ihre Wangen rollten: „Mich, über die er so urteilt? – O mein Gott, ich bin recht unglücklich!“

Die gutherzige Frau nahm die heftig Schluchzende in ihre Arme. „Beruhigen Sie sich, liebes Kind! Wenn Schindler glauben dürfte, daß Sie ihm gut sind –“

„Es wäre sehr amüsant für ihn – ja! Aber, gottlob, jetzt kann er es nicht mehr glauben – nicht wahr, jetzt nicht mehr?“

„Konnte er es denn einmal glauben?“

Marie senkte das Haupt.

Die schneeglänzende, weißschimmernde Landstraße, der dahinsausende Schlitten, der pelzumhüllte, blondbärtige Mann an ihrer Seite: sie sieht das alles so lebendig vor sich, als durchlebe sie es in diesem Augenblick aufs neue. Aufs neue fühlt sie seinen Kuß auf ihren Lippen brennen, sieht seine triumphierenden, übermütigen Augen tief in die ihrigen tauchen.

„Seien Sie offen gegen mich, Kindchen!“ drängt die Freundin. „Berechtigte ihn irgend etwas, an Ihre Zuneigung zu glauben?“

„Nein … nichts … das heißt … o quälen Sie mich nicht so!“

Fanny fragte nicht weiter. Sie löste ihre Hände sanft aus denen Mariens und lehnte sich schweigend in ihren Stuhl zurück.

Das junge Mädchen atmete schwer. Dann glitt sie plötzlich mit einer schnellen Bewegung an der Freundin nieder und verbarg wie in tiefer Scham das hocherrötende Antlitz in deren Schoß.

„Damals … im Schlitten … da glaubte ich seinen Worten. Er war so gut, so achtungsvoll – wie konnte ich denken, daß er mich nur verhöhnen wollte?! Ich hatte ihm doch nichts zuleide gethan! – Und dann erfuhr ich erst, wie er in Wahrheit über mich dachte, und daß er es gewesen, der mir für lange Zeit das Vertrauen zu mir selbst und die rechte Künstlerfreude geraubt! – Warum er sich das Vergnügen bereitet, die kleine häßliche Schauspielerin in sich verliebt zu machen, ich weiß es nicht. Vielleicht eine Klubwette – eine Laune, die Lust, zu zeigen, daß er imstande sei, ein Mädchen, das er so schwer beleidigt, doch für sich zu gewinnen! Und nun begreifen Sie, warum ich mich nicht mehr aus meiner Wohnung heraustraute, daß ich davor zitterte, ihm hier wieder zu begegnen? Er wußte ja, er hatte es ja gesehen, daß ich ihn lieb habe, und ich – ich wollte mich doch nicht auslachen lassen!“

Mariens Stimme erstarb in einem erstickten Schluchzen.

„Aber, Kind, Kind – was phantasieren Sie da alles zusammen!“ rief Fanny erschrocken. „Wie kann man sich so fürchterliches Zeug einbilden! Das traue ich dem Schindler denn doch nicht zu! Er war ja ganz unglücklich, daß er Sie nirgends mehr traf. Im Gegenteil, ich glaube jetzt erst recht, daß er Sie gern hatte – was allerdings noch nicht genug ist –“ fügte sie vorsichtig einlenkend hinzu.

„O nein – nein!“ rief das junge Mädchen schnell, während sie sich erhob. „Er hat mit mir nur gespielt. Vielleicht war ich ihm gerade gut genug, eine Liebschaft anzuknüpfen – für die Dauer der Saison! Sie sind es ja beim Theater nicht anders gewöhnt, diese Herren! Ich bin ja nur eine – Schauspielerin!“

„Und wenn er Sie nun hat heiraten wollen?“ warf Fanny plötzlich ein.

„Er – mich? Das glauben Sie ja selbst nicht! Nein, nein – nur fort aus dieser Stadt! Bin ich erst fort, so werde ich ihn vergessen! – Leben Sie wohl, Sie Liebe, Gute und tausend Dank für Ihre Liebe und Freundlichkeit!“

Fanny fühlte sich leidenschaftlich umschlungen, ein thränenüberströmtes Gesicht drückte sich an das ihre, zwei weiche Lippen preßten sich auf ihren Mund, und plötzlich war sie allein.

Als sie nach diesem jähen Abschied wieder zu sich selbst gekommen war, klingelte sie um Licht und setzte sich an ihren Schreibtisch. „Bist du so energisch, meine Kleine, bin ich es erst recht!“ – murmelte sie lächelnd, während ihre Feder schnell über das Papier flog.




Im Wartesaal zweiter Klasse saßen früh am andern Morgen Frau von Sindsberg und ihre Tochter. Die Gasflammen brannten noch und verbreiteten im Verein mit dem großen Füllofen eine glühende Hitze. Die Kellner sahen verschlafen aus und gähnten heimlich hinter ihren Servietten.

[387] In zehn Minuten sollte der Zug abgehen. Frau von Sindsberg trank schweigsam und verstimmt ihren Kaffee. Sie war ernstlich böse. Sie von hier fort, in die weite Welt hinaus zu schleppen, ins Ungewisse, ohne Engagement, mit wenig Geld: es war lächerlich und rücksichtslos! Und wenn Marie wenigstens zufrieden wäre! Aber saß sie nicht da wie eine Trauerweide, mit einem todestraurigen Gesicht? Sie hatte doch nun ihren Willen! In wenigen Minuten ging der Zug, der sie wieder in die fremde, lieblose Welt hinausführte.

Langsam erhob sich Marie und raffte das Handgepäck zusammen. Der Portier rief eben das erste Mal ab.

Sie fuhren natürlich dritter Klasse. Marie breitete für die Mama sorgsam eine Reisedecke auf den harten Sitz. Hoffentlich blieb man allein im Coupé. Sie beugte sich forschend hinaus; auf dem Perron waren keine Reisenden sichtbar. Plötzlich zuckte sie heftig zusammen und erblaßte. Sie wollte zurücktreten, sich verstecken, aber sie vermochte nicht, sich zu rühren. Sie sah, wie Wolf von Schindler mit dem Kondukteur sprach, wie dieser auf ihr Coupé deutete. Dann stand er vor ihr mit abgezogenem Hut, in der Rechten eine prächtige Rose.

„Ich wollte Ihnen noch Lebewohl sagen, Fräulein von Sindsberg!“

Er zitterte vor Erregung und war ebenso bleich wie sie, als er ihr die Blume reichte.

„Leben Sie wohl!“ stammelte Marie.

Frau von Sindsberg schrie erfreut auf. „Ah, das ist reizend von Ihnen; immer galant! Auf Wiedersehen, lieber Baron!“

„Auf Wiedersehen, gnädige Frau! – Ich muß unter vier Augen mit Ihnen sprechen, mein gnädiges Fräulein!“

Er öffnete die Thür und sah sie mit flehenden Augen an.

Marie, wie gebannt und hingerissen von dem leidenschaftlichen Ton seiner Worte, stieg fast mechanisch aus. Frau von Sindsberg blickte ihr mit großen erstaunten Augen nach.

„Fräulein Marie, ich habe Ihnen so vieles zu sagen und so wenig Zeit! Ich bitte Sie um Verzeihung!“

„O, das ist nicht nötig! Sie hatten ja das Recht zur Kritik durch Ihr bezahltes Billet!“ stammelte Marie mit bebenden Lippen.

„Wie habe ich diese Unart, diesen Wahnsinn bereut! Ich liebe Sie ja schon so lange, Marie!“ Er faßte mit krampfhaftem Druck ihre beiden Hände.

Der Schaffner näherte sich.

„Einsteigen, meine Herrschaften; es ist höchste Zeit!“

„Sehen Sie, es ist keine Zeit zu verlieren – können Sie mir vergeben?“

Marie rang nach Worten.

„Einsteigen, einsteigen!“

„Können Sie mich wieder ein wenig lieb haben?“

„Diese Frage, jetzt –?“

„Willst Du mein Weib werden?“

Sie zitterte so heftig, daß er sie stützen mußte.

„Ja oder Nein?“

„Ich weiß nicht … ich fürchte – ich –“

Doch ihre Augen sahen zu ihm vertrauensselig empor.

Wieder näherte sich der Schaffner. „Der Zug geht ohne Sie ab; steigen Sie doch ein, meine Herrschaften!“

Einen Augenblick noch zögerte Wolf, dann schob er Marie sanft beiseite, sprang in das Coupe und warf in rasender Eile das Handgepäck heraus.

„Was thun Sie? Um Gotteswillen, was thun Sie?“ rief Frau von Sindsberg entsetzt.

„Erlauben Sie!“

Schon hatte er ihr den Arm geboten und die Verblüffte herausgehoben. Die Reisedecke flog ihr nach.

„Fertig!“ schrie der Schaffner und schlug mit dröhnendem Knall die Thüre zu.

An den Fenstern der andern Wagen zeigten sich erstaunte Gesichter. Der Inspektor hatte sich genähert. Die Maschine pfiff; langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

„Aber Herr Baron! Erklären Sie …“ Frau von Sindsberg hauchte es nur, sie zitterte vor Aufregung und sank unwillkürlich auf ihren Koffer nieder.

Schindler sah sich rasch um: der Inspektor war diskret zurückgetreten, niemand in Hörweite, eben hatte der Zug die Halle verlassen und sauste nun in vollem Laufe dahin.

„Gnädige Frau,“ sagte er mit seinem alten übermütigen Lächeln, „ich nehme mir die Freiheit, Sie um die Hand Ihres Fräulein Tochter zu bitten!“

So sprachlos erstaunt, wie jetzt Mariens Mutter, waren dann auch alle anderen, als sie von der plötzlichen Verlobung hörten. Mit Töchtern gesegnete Mütter erklärten die Schauspielerin jetzt für eine raffinierte Kokette, und der Direktor nahm sich vor, die zukünftige Frau Baronin um ein Gastspiel zu bitten.

Frau von Schmidtlein hatte alle Hände voll zu thun. Sie besorgte im Auftrage Wolfs eine glänzende Ausstattung und „wühlte“ in echten Spitzen und duftigem Batist. Daneben aber wurden auch wetterfeste Mäntel und Lodenkleider bestellt, denn die künftige Gutsfrau wollte für die Gänge über Feld mit ihrem Manne gerüstet sein.

Wolf von Schindler versichert seiner Braut wieder und wieder, daß er jetzt erst erfahre, was echtes Glück sei. Aber zwei schwere Sorgen quälen ihn doch. Erstens, daß das Aufgebot so lange dauert, zweitens, und das ist sein wirklicher Kummer, ob er nicht zu alt und zu – häßlich für sie sei.

Wenn man Marie betrachtet, kann man ihm nicht so unrecht geben. Das Glück hat sie noch verschönert. Ein reizendes, schelmisches Lächeln umspielt ihren Mund, und ihre Augen strahlen und glänzen. Sie sieht, daß ihr zukünftiger Gatte sie wahrhaft liebt. Und wenn er sie gar zu überschwenglich bewundert, wagt sie sogar, an die Wunde zu rühren, und sagt lächelnd: „Uebertreibe doch nicht, Wolf! Es giebt viel Schönere als ich! Bitte, denke doch nur an die Prosceniumsloge!“

Wolf will aber davon nichts hören. Für ihn ist und bleibt sie die Schönste auf der Welt.