Die ersten Emigranten und ihre Schicksale

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Autor: Eduard Schulte
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Titel: Die ersten Emigranten und ihre Schicksale
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 684–687
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die ersten Emigranten und ihre Schicksale.

Von Eduard Schulte.

Am 10. Juli 1789 erhielt der Kommandant von Valenciennes, Graf Eßterhazy, ein in französischen Diensten stehender Offizier aus einem bekannten ungarischen Hause und mit der französischen Königsfamilie persönlich befreundet, spät abends die Aufforderung, sich auf dem Postamt einzufinden. Als er dieser Weisung nachkam, traf er den eben aus Paris angelangten jüngsten Bruder des Königs, den Grafen von Artois, an, und Briefe von der Hand Ludwigs XVI. und Marie Antoinettens wiesen ihn an, Sorge zu tragen, daß der Graf, seine Söhne und seine Begleiter ungefährdet die Landesgrenze erreichen könnten. Wenige Tage vorher, am 14. Juli, hatte die Erstürmung der Pariser Bastille die Reihe der Gewaltthätigkeiten der Revolutionszeit eröffnet, und der König hatte seinem Bruder, der als Führer des hochmüthigen Hofadels in der Hauptstadt besonders verhaßt war, zu dessen eigener Sicherung den Befehl gegeben, das Land so lange zu verlassen, bis der Unwille gegen ihn sich gelegt habe. Am folgenden Tage kamen auch die Söhne des Grafen von Artois, der Herzog von Angoulême und der Herzog von Berry, in Valenciennes an. Mit ihnen und den Begleitern berieth sich der Graf, wohin er sich wenden solle, und er beschloß, sich zunächst nach Brüssel zu begeben. Eßterhazy versah die Reisenden mit einer berittenen Schutzwache und begleitete den Grafen von Artois bis zur Grenze. Dieser sagte gleichmüthig: „In drei Monaten kommen wir wieder.“

In Brüssel stellte sich Artois der Regentin der damals österreichischen Niederlande, des heutigen Belgiens, vor, der mit dem Herzoge von Sachsen-Teschen vermählten Erzherzogin Marie Christine. Diese befragte ihren Bruder, den Kaiser Joseph II., wie sie sich gegen die Fremden zu verhalten habe. Der Kaiser fürchtete Unzuträglichkeiten von dem Aufenthalte des Grafen und verlangte, daß er Brüssel verlasse. Der Graf reiste darauf in langsamen Tagereisen südwärts durch die Schweiz, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß sein Schwiegervater, der König von Sardinien, ihn aufnehmen werde, ließ er sich in Turin nieder. Seine Gemahlin, seine beiden Söhne und einige Herren und Damen des hohen französischen Adels nahmen dort ebenfalls ihren Aufenthalt. Nach ihnen kamen viele andere Franzosen. Man führte drohende Reden gegen die Machthaber in Paris. Choiseul, der französische Gesandte in Turin, bemerkte mit Unruhe, daß die Franzosen sich gegenseitig aufregten und in Drohungen überboten. Ebenso wie der sardinische Hof fing er an, ihre Gegenwart als unbequem zu empfinden. Er meldete nach Paris, daß der Graf von Artois viele Berathungen mit seinem Haushofmeister habe, denn das Geld sei knapp; der Hofhalt des Grafen bestand aus zweiundachtzig Personen.

Mit dieser Wanderung des Grafen von Artois beginnt die französische Emigration, und des Grafen Beurtheilung der politischen Lage, sein Verhalten und seine Schicksale schon bis zu diesem Augenblicke sind für die Emigranten unter dem Hofadel gleichsam vorbildlich. Er und seine Freunde und Genossen meinten, man habe die Schreier in Paris und Versailles nicht rechtzeitig zur Ruhe verwiesen; es sei nothwendig, daß man das bald nachhole, damit der Aufenthalt in der Fremde sich nicht auf halbe Jahre erstrecke. Er und die Seinigen wurden zugleich lästige Gastfreunde, denn sie waren unruhig, anspruchsvoll und nur für eine kurze Reise mit Geld versehen, und ihre Haltung zu den Vorgängen in Frankreich mußte den Fürsten und Staatsmännern, in deren Ländern sie sich niederließen und die mit den Behörden des mächtigen Nachbarlandes keine Weiterungen haben wollten, unbehaglich und bedenklich sein.

Von der unbedingten und ausschließlichen Berechtigung der Königsmacht und der Adelsprivilegien, wie sie sich bis dahin entwickelt hatten, fest überzeugt, genußsüchtig, leichtlebig, oberflächlich, unbelehrbar, selbstbewußt und mißtrauisch, war der Graf von Artois das Oberhaupt und der vornehmste Vertreter jener Emigranten, die für Frankreich, für die königliche Sache und für sich selbst [685] zum Verhängniß wurden. Er hauptsächlich hat die Lehre ausgebildet, daß man nicht Frankreich bekämpfe, wenn man die Regierungen bekämpfe, welche unrechtmäßigerweise dort beständen.

Dem Satze, daß die Emigration ein Fehler gewesen sei, darf man gewiß den anderen entgegenstellen, daß es gerathener war, auszuwandern, als sich guillotinieren zu lassen. Aber wer auswanderte, betrat einen mißlichen Weg, wenn er die fremden Mächte zu einem Kriege gegen Frankreich aufstachelte und gegen die vaterländischen Heere stritt. Selbst ein Bürgerkrieg, von dem für seine und des Königs Vorrechte eintretenden Adel allein ausgefochten, konnte der Sache, für welche dieser Adel eintrat, nicht so unheilbaren Schaden bringen wie die Verbindung mit dem Auslande. Freilich ist es leichter, aus der Kenntniß der Ereignisse nachträglich in kühler Erwägung eine solche Lehre zu ziehen, als es für den Grafen Artois und seine Gesinnungsgenossen war, dieser Lehre nicht entgegenzuhandeln; die überkommene Stellung und Lebensanschauung trieb sie einmal auf diesen Weg.

Der Graf von Artois betrachtete sich, da sein älterer Bruder, der Graf von Provence, erst im Juni 1791 Frankreich verließ, zunächst als den geborenen Leiter der französischen Politik im Auslande, und sein Beirath war der starrsinnige und verblendete Calonne, der frühere Finanzminister. Von Turin aus, auf Reisen durch Italien und Deutschland, durch Zusammenkünfte mit den Monarchen von Oesterreich und Preußen, und seit dem Juli 1791 von Koblenz aus suchte er einen Feldzug verbündeter Herrscher gegen das neue Frankreich zustande zu bringen, damit dort, mit Ludwig XVI. oder auch ohne ihn und selbst gegen ihn, das alte Königthum und die alten Adelsvorrechte wiederhergestellt würden. Daß Frankreich an Oesterreich und Preußen den Krieg erklärte – es geschah im April 1792 – war nicht zum geringsten Theile die Schuld des Grafen Artois. Enttäuschungen und Demüthigungen, die ihm die fremden Höfe bereiteten, die Geldverlegenheiten, die ihn fast beständig drückten, die Mahnungen Ludwigs XVI. und die Bitten der Königin, sich ruhig zu verhalten und die ihnen drohenden Gefahren nicht zu vermehren, machten ihn nicht besonnener und vorsichtiger. Kein Emigrant hat so verderblich auf das Schicksal des Königspaares und auf den Gang der Dinge in Frankreich eingewirkt wie der Graf von Artois, und als er im Jahre 1814 aus England nach Frankreich zurückkehrte, war er unter den Bourbonen derjenige, auf den am meisten der Vorwurf paßte, daß sie „nichts gelernt und nichts vergessen“ hätten.


Träumerei.
Nach einem Gemälde von George v. Hoeßlin.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.


Weniger unbesonnen als der Graf von Artois war dessen älterer Bruder, der Graf von Provence, der ebenfalls nach Koblenz kam und nun, im Wetteifer mit Artois und auf das Vorrecht des Aelteren gestützt, in die Parteileitung mit eingriff. Obwohl er in jenen Jahren alle Einbildungen der Emigranten theilte, lernte er in entbehrungs- und erfahrungsreicher Verbannung die Menschen und Dinge richtiger schätzen, so daß er, im Jahre 1814 auf den französischen Thron als Ludwig XVIII. berufen, wenigstens den übertriebensten Ausschreitungen seiner ehemaligen Genossen entgegenzutreten wußte und überhaupt mehr Herrschergaben entfaltete als seine Brüder.

Der dritte Leiter der Emigration, und zwar der militärischen, ist der Prinz von Condé, der unter den hervorragenden Emigranten am meisten Kriegserfahrung hatte. Er war mit seinem Sohne, dem Herzog von Bourbon, und mit seinem Enkel, dem Herzog von Enghien, auch erst in Turin und hielt sich dann meist in Worms auf.

Die Versuche dieser Prinzen, von Turin aus eine Erhebung königlich gesinnter Bauern und der dem Könige treu gebliebenen Regimenter zu bewirken, hatten geringen Erfolg. Dagegen blieben ihre Aufforderungen, daß waffenfähige Adlige zu ihnen stoßen und Soldaten zu ihnen desertieren möchten, nicht wirkungslos, und auf eine erste Emigration derer, die sich im Auslande in Sicherheit zu bringen suchten, folgte eine zweite, die man die „ehrenhalber“ oder zur Vertheidigung von Thron und Altar unternommene nannte. Außer dem Hofadel und adligen und bürgerlichen Soldaten gehörten zu ihr auch viele Geistliche, welche die sie zu Staatsdienern erklärende Verfassung nicht beschwören wollten, und Mönche und Nonnen, die man aus ihren Klöstern vertrieben hatte; der Umlauf der Assignaten, jenes Papiergeldes, das Zwangskurs haben sollte und dessen Werth beständig sank, und die willkürliche Festsetzung der Getreidepreise veranlaßten zahlreiche Geschäftsleute, Länder aufzusuchen, wo Handel und Wandel besser geschützt und gesichert waren. Die zunehmende Auflösung der öffentlichen Ordnung, die Machtlosigkeit der ordentlichen Gerichte, die Möglichkeit, gemeine Rachsucht und Habsucht dadurch zu befriedigen, daß man auf aristokratische oder freiheitsfeindliche Gesinnung denunzierte, um dann den Denunzierten verhaftet zu sehen und von der Einziehung und dem Verkauf der Güter desselben selber Nutzen zu haben, vergrößerte von Woche zu Woche die Zahl der Auswanderer.

Hatten die ersten Emigranten gemeint, daß der Aufenthalt in der Fremde eine Art Vergnügungsreise von einigen Monaten sein werde, so nahm man nun die Sache ernster und richtete sich aus eine längere Abwesenheit ein. Belief sich die Zahl der Emigranten, die im Sommer 1789 auswanderten, auf Hunderte, so zählte man im folgenden Jahre schon Tausende; man rechnet, daß im Herbst 1790 täglich durchschnittlich 75 Reisewagen mit Emigranten Paris verließen. Im November 1791 wurde die Zahl der Emigranten amtlich auf mehr als 200 000 geschätzt.

[686] Dem Zuge der Emigranten hätte das Königspaar, wenn es auf dem Wege zur Ostgrenze keine treuen Truppen mehr vorfand, mit seinen Kindern sich gern angeschlossen, aber bekanntlich wurde es, nachdem es Paris heimlich und unbehelligt verlassen hatte, am 21. Juni 1791 in Saint-Menehould erkannt, in Varennes angehalten und nach Paris zurückgeführt. Einige Monate früher waren zwei Tanten des Königs, Töchter Ludwigs XV., noch glücklich über die Grenze gekommen, freilich erst, nachdem sie unterwegs vielfach belästigt und zwölf Tage gefangen gehalten worden waren.

Anfangs legten die Behörden der Auswanderung keine Hindernisse in den Weg, verlangten auch keine Pässe, und es galt dann nur, dem rohen und unberufenen Eingreifen des Pöbels zu entkommen, der hier und da die Reisenden als Aristokraten festhielt. Im November 1791 aber wurde auf die Ansammlung bewaffneter Landesangehöriger an den Grenzen Todesstrafe gesetzt, und seit dem März 1792 durfte niemand das Land verlassen, ohne mit einem Passe versehen zu sein. Meinte die Behörde, Grund zum Mißtrauen zu haben, so verweigerte sie den Paß. Wie die Dinge einmal standen, wurde nun die Ausstellung der Pässe von höheren und niederen Beamten zu Erpressungen benutzt. Man knüpfte die Bewilligung eines Passes an Geldzahlungen, und es kam vor, daß ein Paß 10 000 Franken kostete. Es wurde Sitte, in allerlei Verkleidungen über die Grenze zu gehen, wie denn der Graf von Provence als Diener seines Begleiters gekleidet entkam. Frau von Staël, die sich in jenen Jahren in der Schweiz aufhielt, rettete eine Anzahl von ihren bedrohten Freundinnen in Paris, die ihres vornehmen Namens wegen auf keine Pässe rechnen durften, auf folgende Weise: sie suchte in der Schweiz eine Frau, deren Signalement dem einer bestimmten Freundin ungefähr glich, und bestimmte sie durch Geschenke, mit einem schweizer Passe nach Paris zu reisen. Dort lieferte die Schweizerin den Paß an die betreffende Freundin ab, und diese konnte nun, indem sie den Paß als den ihrigen vorwies, als angebliche Schweizerin ungefährdet Paris und Frankreich verlassen. War sie in der Schweiz in Sicherheit, so wandte sich die Schweizerin in Paris an den dortigen Vertreter ihrer Heimath und ließ sich, weil sie den ersten Paß verloren habe, einen zweiten ausstellen, mit dem sie dann nach der Schweiz zurückkehrte. Auswanderungslustige Damen, welche allein standen oder, um die Entdeckung zu erschweren, ohne die männlichen Mitglieder ihrer eigenen Familie oder getrennt von ihnen reisen wollten, verfielen auf folgendes Auskunftsmittel: sie wandten sich an Ausländer, namentlich an Schweizer, und gewannen sie gegen Entgelt dafür, daß sie sich mit ihnen in bürgerlicher Eheschließung zum Schein verheirateten. Ein solches junges Paar suchte dann um einen Reisepaß nach, und die Behörden verweigerten diesen einem Ausländer und seiner Frau nicht, nachdem sie sich durch Einsicht in das die Eheschließung bekundende Aktenstück überzeugt hatten, daß das nachsuchende Paar wirklich verheirathet, die französische Frau also nunmehr die Bürgerin eines anderen Staates war. Der Mann brachte hierauf mit Hilfe des Passes seine angebliche Frau über die Grenze und kehrte nach Paris zurück, um sich mit einer anderen Frau, die sich seiner Beihilfe bedienen wollte, wieder trauen zu lassen und dasselbe Spiel zu wiederholen. Ein Schweizer, der diese Art von Paßbeschaffung geschäftsmäßig und mit beträchtlichen Einnahmen betrieb, wurde erst abgefaßt, als er sich auf einem der Pariser Standesämter zu seiner achtzehnten Eheschließung anmeldete.

Weitere Gesetzesbestimmungen gegen die Emigranten blieben nicht aus. Im Oktober 1792 wurde die Rückkehr nach Frankreich bei Todesstrafe verboten, und selbst Kinder, welche über zehn Jahre alt waren, sollten wie erwachsene Emigranten abgeurtheilt werden. Die Güter der Emigranten wurden eingezogen. Ihre im Lande gebliebenen Frauen, Kinder und sonstigen Verwandten sollten getödtet werden, und wenn dieses Gesetz auch nicht überall zur Ausführung kam, so sind ihm doch Hunderte zum Opfer gefallen. Selbst die Absendung von Geld, ja nur von Briefen an Emigranten hat wiederholt die Hinrichtung der Absender zur Folge gehabt. Schuldner durften ihren Verpflichtungen gegen Emigranten bei Todesstrafe nicht nachkommen. Im März 1793 wurde umgekehrt der Tod denjenigen Emigranten angedroht, welche nicht zurückkehrten, und seit dem Oktober 1794 sollte die Thatsache der Emigration die Ehe ohne weiteres aufheben.

Die Länder, wohin sich der Strom der Auswanderer ergoß, waren besonders die Nachbarländer, die Schweiz, Italien, England, Belgien, die Niederlande und Deutschland; Bern und Turin, Rom und Venedig, London und Brüssel, Koblenz und Mainz, später auch Hamburg beherbergten in den ersten Jahren die zahlreichsten Emigrantenkolonien. Aber auch die übrigen europäischen Länder wurden aufgesucht, ferner die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Kanada, Persien, Indien und sogar Siam. Die reichsten Familien traf man in London und Brüssel, die Militärs in Koblenz, Mainz und Worms, die ärmeren Leute, die ihr früheres Gewerbe oder Handwerk nun in der Fremde betrieben, meist in der Schweiz, weil die Lebensmittel damals dort am billigsten waren. Die Geistlichen, Mönche und Nonnen gingen in der Regel nach den überwiegend katholischen Ländern, wie denn Italien etwa 2000, Spanien etwa 3000 Personen geistlichen Standes aufnahm.

Nur wenige Emigranten hatten noch rechtzeitig Gelegenheit gefunden, ihr Vermögen zu Gelde zu machen und ganz oder zu einem erheblichen Theile mit in das Ausland zu nehmen. Die meisten waren auf die Gastlichkeit und Mildthätigkeit ihrer besser versehenen Schicksalsgefährten und der Fremden, dann auch auf den eigenen Erwerb angewiesen. Viele, die anfangs in Ueberfluß oder doch ohne Entbehrung gelebt hatten, geriethen früher oder später in große Bedrängniß, weil die eigenen Mittel nicht vorhielten, Gastlichkeit und Mildthätigkeit erlahmten oder sich erschöpften und die eigene Erwerbsthätigkeit nicht lohnend war. Die nach Italien und Spanien geflüchteten Welt- und Klostergeistlichen, zunächst auf die Unterstützung durch ihre geistlichen Brüder und Schwestern angewiesen, litten, da ihrer gar zu viele kamen, mit wenigen Ausnahmen Mangel. Einer Minderheit von bevorzugten Emigranten gelang es, in fremden Hof-, Staats- und Kriegsdiensten ein Unterkommen zu finden, wie z. B. der Herzog von Richelieu russischer Offizier und Verwaltungsbeamter wurde; er zeichnete sich im Kriege gegen die Türken aus und erwarb sich Verdienste um das Aufblühen von Odessa. Am österreichischen Hofe und in der österreichischen Armee fanden Emigranten namentlich lothringischer Abkunft Aufnahme, weil das aus Lothringen stammende Herrscherhaus sie begünstigte.

Die glänzendste, an Hoffnungen und Einbildungen reichste Zeit verlebte die Emigration während der ersten Monate ihres Aufenthalts in Koblenz. Der Kurfürst und Erzbischof von Trier, ein sächsischer Prinz und Oheim der königlichen Brüder von Frankreich, gewährte dort als Landesherr seinen beiden Neffen, den Grafen von Provence und Artois, eine königliche Gastfreundschaft und räumte ihnen das Schloß Schönbornlust bei Koblenz als Wohnung ein. Die beiden Grafen theilten ihre Zeit zwischen dem, was sie Regierungsgeschäfte nannten, und zwischen Vergnügungen aller Art. Die Anwesenheit der Gräfin von Provence verhinderte den Grafen nicht, ihrer Ehrendame, der ehrgeizigen, trotz ihrer achtunddreißig Jahre noch immer schönen Frau von Balbi zu huldigen; sie, nicht die Gräfin, war der Mittelpunkt seines Hofes. Wenn sie abends von ihrem Dienst bei der Gräfin in ihre in demselben Schlosse gelegene Wohnung zurückkehrte, fand sie dort den Grafen und eine auserlesene Gesellschaft von Herren und Damen schon vor; mit der diesen Kreisen damals eigenen Unbefangenheit erneuerte sie dann, ein munteres Gespräch führend, vor aller Augen ihre Toilette vom Kopf bis zu Fuß. Der Graf von Artois, dessen Gemahlin in Turin geblieben war, hatte die Frau von Polastron zur Freundin, und die beiden Höfe, deren jeder unter den Emigranten seine Anhänger hatte, intriguierten gegen einander. Man stritt sich bereits um die Aemter und Ehrenstellen, sogar um die Ministerien, die man sich nach dem siegreichen Einzuge in Paris zutheilen lassen wollte. Der Prinz von Condé hatte, obwohl sein Enkel schon neben ihm die Waffen trug, an seinem Hoflager in Worms und später im Felde auch noch eine Freundin, eine Prinzessin von Monaco, Gesellschaften und Feste, Konzerte und Bälle, Liebeshändel, Kartenspiel und Duelle füllten die Zeit der Emigranten aus, und der Uebermuth der jungen Edelleute stellte die Geduld der Einwohner nicht selten auf eine harte Probe.

Durch Besuche und Gesandtschaften bei den mächtigsten Höfen erreichten die Grafen, daß ihnen in den ersten Jahren für ihren Hofhalt, für ihre Diplomatie und für ihr Heer ansehnliche, wenn auch nicht zureichende Mittel zuflössen. Die Kaiserin Katharina II. von Rußland gab im ganzen vier Millionen Franken; andere [687] Fürsten zahlten ebenfalls entweder einmalige Beiträge oder Jahrgelder; reiche Franzosen gaben ihr Vermögen her, wie Calonne das seinige, das nach Millionen zählte. Außerdem wurde bei Fürsten, Bankiers und Privatleuten geborgt. Im Jahre 1792 verausgabten die Prinzen 25 300 000 Franken, wovon der Hofhalt und die Diplomatie 1 300 000, das Heer 19 Millionen beanspruchte; der Rest wurde durch die Kosten des Uebermittelns und Wechselns von Geldanweisungen und barem Gelde verschlungen. Die größere Hälfte dieser Summe war geliehen. Selbst die Herstellung von falschen Assignaten, welche die Prinzen als einen erlaubten Akt der Nothwehr gegen die Einziehung der Güter in Frankreich ansahen und eifrig betreiben ließen, half ihnen nicht auf. Im November 1792 wurde der Graf von Artois, der spätere König Karl X., zu Maestricht in Schuldhaft genommen. Die Schulden wurden erst nach der Rückkehr der Bourbonen auf den Thron und auch dann nicht vollständig bezahlt.

Das Emigrantenheer, das sich in der Stärke von 20 000 Mann um die Grafen und um den Prinzen von Condé am Rhein sammelte, erwies sich als wenig brauchbar. Es gab zu wenig kriegserfahrene Führer, zu wenig gemeine Soldaten, zu viele Offiziere und endlich zu viele Offiziersaspiranten, die, ohne Offizierstellen erhalten zu können, doch den Anspruch auf solche erhoben und sich nur murrend und krittelnd darein fügten, vorläufig Gemeine zu sein. Die jungen Edelleute prahlten und paradierten und freuten sich der Lorbeeren, die sie im Felde erringen würden; dabei wurden sie so unbotmäßig, daß binnen acht Monaten zweihundert von ihnen durch förmliche lettres de cachet, Verhaftsbriefe, wie man sie früher für die Bastille ausstellte, auf Ehrenbreitstein gefangen gesetzt wurden. Die Truppen wurden bei Beginn des Feldzuges im Sommer 1792 in drei Heereskörper getheilt, welche sich, geführt vom Prinzen von Condé, dem Herzog von Bourbon und den beiden Prinzen, den in Frankreich einrückenden österreichischen und preußischen Heeren anschlossen. Der Feldzug war nicht sehr rühmlich für diese deutschen und französischen Verbündeten, auch nicht für die von ihnen bekämpfte Armee Frankreichs, obwohl diese Siegerin blieb. Von den Emigranten kamen nur wenige ins Gefecht; wer von ihnen den französischen, seit dem September 1792 republikanischen Truppen in die Hände fiel, wurde erschossen.

Die Emigranten litten durch Mangel an Nahrung und Kleidung, durch Regengüsse und Nachtwachen, durch Anstrengungen und Krankheiten dermaßen, daß ihr Heer, als es, von den Republikanern verfolgt, nach ungeheuren Verlusten wieder nach Deutschland kam, dem nicht unähnlich sah, welches zwanzig Jahre später aus Rußland zurückkehrte. Von den deutschen Städtern und Bauern gehaßt und bedroht, tödteten manche Emigranten sich selbst. Die Truppenkörper lösten sich gegen Ende des Jahres 1792 auf. Einige Regimenter gingen in holländische Dienste. Condé behielt noch einige Tausende um sich, die erst in österreichische, dann in russische und endlich in englische Dienste traten und deren letzte Reste auf Malta und in Portugal für England stritten. Nur ein kleiner Bruchtheil dieser militärischen Emigration sah die Heimath wieder.

Das siegreiche Vordringen der republikanischen Heere vertrieb die Emigranten, welche sich in den deutschen Rheinlanden und in Belgien niedergelassen hatten, weiter in das mittlere und nördliche Deutschland und nach England, und die Mittellosen und Mittellosgewordenen unter ihnen, deren Zahl sich im Laufe der Jahre vermehrt hatte, schlugen sich durch, wie es eben ging. Viele sahen sich gezwungen, ihre letzten Habseligkeiten von Werth, wie goldene und silberne Geräthe, Juwelen und Spitzen, zu veräußern. Sie mußten noch froh sein, wenn die staatlichen und städtischen Behörden, die es mit den Machthabern in Frankreich nicht verderben wollten, oder die der Fremden überdrüssige einheimische Bevölkerung sie nicht von Ort zu Ort trieben. Wie schwer diese Verfolgungen, Entbehrungen und Demüthigungen von den am meisten davon betroffenen Familien des hohen Adels empfunden wurden, wird erst ganz verständlich, wenn man sich der Stellung erinnert, welche diese Familien im alten Frankreich einnahmen. Der hohe Adel hatte trotz des Erstarkens der ihn mehr und mehr einengenden französischen Königsmacht immer noch Vorrechte, die ihm wenigstens in Aeußerlichkeiten eine fürstliche Stellung gaben. Ein französischer Herzog dünkte sich einem deutschen Herzoge, etwa dem von Braunschweig, ein französischer Marquis einem deutschen Markgrafen, etwa dem von Baden, mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Daß auf manchen französischen Adelsgütern die Bauern nachts die Froschteiche peitschen mußten, damit die Frösche den Schlaf der Herrschaft nicht störten, ist keine Fabel. Die hohe französische Gesellschaft galt auf dem Festlande als die erste und tonangebende, und in der Verfeinerung der Lebensgenüsse war sie vielleicht die anspruchsvollste und verwöhnteste. Kein Wunder, daß diese Gesellschaft den Gegensatz von Einst und Jetzt bitter schmerzlich empfand!

In Hamburg, das wegen seiner Entlegenheit von den Kriegsschauplätzen eine mit Vorliebe aufgesuchte Zufluchtsstätte bot, sah man eine Gräfin von Neuilly einen Laden mit Modewaren, fertiger Wäsche und Parfümerien einrichten. Ein Marquis von Romans und eine Gräfin von Asfeld legten gemeinsam eine Weinhandlung an. Ein Herr von Milon übernahm die Küche in einem großen Gasthofe. Einige vertriebene Geistliche verkauften gedruckte Lieder und sangen sie auf den Straßen, auf die Mildthätigkeit der Zuhörer bauend. Zwei Edelleute, Ritter des Ludwigskreuzes, vermietheten sich als Hafenarbeiter. Eine Frau von Tessé, aus dem Hause Noailles, war noch bemittelt genug, um nicht weit von Hamburg eine große Milchwirthschaft einzurichten, ein Erwerbszweig, worin dann noch eine größere Zahl von ärmeren Schicksalsgefährten und -Gefährtinnen beschäftigt wurde. In Erlangen war ein Herr von Vieuxville Kommissionär, ein Herr von Mailly Buchdrucker, und ein Herr von Coigneux lernte die Schuhmacherei. In Bamberg hielt eine Marquise von Guillaume ein Kaffeehaus, und die Schönheit ihrer Tochter lockte zahlreiche Gäste an. In London sah man als bezahlte Komödianten Herren auftreten, die ihren Stammbaum bis zu den Kreuzzügen zurückführten. Eine Marquise von Chabannes hielt dort eine Kleinkinderschule, und eine Gräfin von Boisgelin gab Klavierstunden. Anderswo war eine Gräfin von Périgord Lehrerin, eine Marquise von Vivieu Näherin, eine Frau von Lamartinière Stopferin, eine Marquise von Jumilhac Wäscherin und eine Herzogin von Guiche Krankenwärterin. Fertigkeiten und Beschäftigungen, die als Liebhaberei in glücklicheren Tagen die Mußestunden ausgefüllt hatten, wurden jetzt, zur Meisterschaft ausgebildet, zu einer Erwerbsquelle. Die Damen fertigten und verkauften Stickereien, Putzwaren, Papparbeiten, Malereien und Haararbeiten. In einigen Städten erleichterten Vereinigungen der Ortsangehörigen den Verkauf dieser Handarbeiten, wie z. B. in London, wo überhaupt für die Emigranten viel geschah, ein großer Bazar dafür eingerichtet und mit erheblichem Gewinn verwaltet wurde. Hochadlige Herren waren Fechtlehrer, Tanzlehrer, Köche, Liqueurfabrikanten, Buchhalter oder Hausirer. Nicht immer waren die Beschäftigungen, denen die Emigranten sich hingaben, „eingestehbar“. Es gab einige Leute unter ihnen, die sich von Paris aus dafür gewinnen ließen, ihre Schicksalsgefährten zu beobachten und über sie zu berichten, also Spionendienste zu thun. Andere fertigten, dem Vorgange der Prinzen folgend, Assignaten, und von den Damen in London, Brüssel, Rom und Koblenz waren einige „Verkäuferinnen von Küssen“. Gingen manche Emigranten zu Grunde, blieben Streit und Mißmuth unter ihnen nicht aus, so konnte man doch noch häufiger beobachten, daß sie sich durch freundliches Zusammenhalten und Frohmuth ebenso sehr auszeichneten wie durch Genügsamkeit und Findigkeit. Die altfranzösische Lebenslust bewährte sich und behauptete ihr Recht; das eigene Leid suchte man hinwegzuscherzen und hinwegzuspotten, man klagte nicht, und die Leidenden suchte man zu erheitern.

Die Jakobiner in Paris empfanden es als eine Genugthuung, wenn sie den früheren Gutsunterthanen adliger Familien davon Nachricht geben konnten, daß die einst so anspruchsvolle Herrschaft zu gewöhnlichen und erniedrigenden Dienstleistungen gezwungen sei. Von vielen einst angesehenen Emigranten kannte man freilich den richtigen Namen nicht, und ihre Spur ging verloren; manche verheimlichten ihren Namen selbst vor ihren Landsleuten und führten einen angenommenen; zuweilen erfuhr man erst nach ihrem Tode, wer sie gewesen waren.