Die fünfte Elegie

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Autor: Rainer Maria Rilke
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Titel: Die fünfte Elegie
Untertitel:
aus: Duineser Elegien
S. 20–23
Herausgeber:
Auflage: Erste Auflage
Entstehungsdatum: 1912–1922
Erscheinungsdatum: 1923
Verlag: Insel-Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: UB Bielefeld S. 20–23
Kurzbeschreibung:
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[20]
DIE FÜNFTE ELEGIE
Frau Hertha Koenig zugeeignet
 
WER aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig
Flüchtigern noch als wir selbst, die dringend von früh an
wringt ein wem – wem zuliebe
niemals zufriedener Wille? Sondern er wringt sie,

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biegt sie, schlingt sie und schwingt sie,

wirft sie und fängt sie zurück; wie aus geölter,
glatterer Luft kommen sie nieder
auf dem verzehrten, von ihrem ewigen
Aufsprung dünneren Teppich, diesem verlorenen

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Teppich im Weltall.

Aufgelegt wie ein Pflaster, als hätte der Vorstadt-
Himmel der Erde dort wehegetan.
                    Und kaum dort,
aufrecht, da und gezeigt: des Dastehns

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großer Anfangsbuchstab…, schon auch, die stärksten

Männer, rollt sie wieder, zum Scherz, der immer
kommende Griff, wie August der Starke bei Tisch
einen zinnenen Teller.

Ach und um diese

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Mitte, die Rose des Zuschauns:

blüht und entblättert. Um diesen
Stampfer, den Stempel, den von dem eignen
blühenden Staub getroffnen, zur Scheinfrucht
wieder der Unlust befruchteten, ihrer

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niemals bewußten, – glänzend mit dünnster

Oberfläche leicht scheinlächelnden Unlust.



[21]
Da, der welke, faltige Stemmer,
der alte, der nur noch trommelt,
eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher

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zwei Männer enthalten, und einer

läge nun schon auf dem Kirchhof, und er überlebte den andern,
taub und manchmal ein wenig
wirr, in der verwitweten Haut.

Aber der junge, der Mann, als wär er der Sohn eines Nackens

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und einer Nonne: prall und strammig erfüllt

mit Muskeln und Einfalt.

O ihr,
die ein Leid, das noch klein war,
einst als Spielzeug bekam, in einer seiner

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langen Genesungen.....


Du, der mit dem Aufschlag,
wie nur Früchte ihn kennen, unreif
täglich hundert Mal abfällt vom Baum der gemeinsam
erbauten Bewegung, (der, rascher als Wasser, in wenig

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Minuten Lenz, Sommer und Herbst hat) –

abfällt und anprallt ans Grab:
manchmal, in halber Pause, will dir ein liebes
Antlitz entstehn hinüber zu deiner selten
zärtlichen Mutter; doch an deinen Körper verliert sich,

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der es flächig verbraucht, das schüchtern

kaum versuchte Gesicht… Und wieder
klatscht der Mann in die Hand zu dem Ansprung, und eh dir

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jemals ein Schmerz deutlicher wird in der Nähe des immer
trabenden Herzens, kommt das Brennen der Fußsohln

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ihm, seinem Ursprung, zuvor mit ein paar dir

rasch in die Augen gejagten leiblichen Tränen.
Und dennoch, blindlings,
das Lächeln.....

Engel! o nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.

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Schaff eine Vase, verwahrs! Stells unter jene, uns noch nicht

offenen Freuden; in lieblicher Urne
rühms mit blumiger, schwungiger Aufschrift:
                     „Subrisio Saltat.“.
Du dann, Liebliche,

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du, von den reizendsten Freuden

stumm Übersprungne. Vielleicht sind
deine Fransen glücklich für dich –,
oder über den jungen
prallen Brüsten die grüne metallene Seide

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fühlt sich unendlich verwöhnt und entbehrt nichts.

Du, auf alle des Gleichgewichts schwankende Wagen
immerfort anders
hingelegte Marktfrucht des Gleichmuts,
öffentlich unter den Schultern.

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Wo, o wo ist der Ort, – ich trag ihn im Herzen –,

wo sie noch lange nicht konnten, noch voneinander
abfieln, wie sich bespringende, nicht recht
paarige Tiere; –
wo die Gewichte noch schwer sind;

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wo noch von ihren vergeblich


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wirbelnden Stäben die Teller
torkeln.....
Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich
die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig

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unbegreiflich verwandelt –, umspringt

in jenes leere Zuviel.
Wo die vielstellige Rechnung
zahlenlos aufgeht.

Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz,

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wo die Modistin, Madame Lamort,

die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder,
schlingt und windet und neue aus ihnen
Schleifen erfindet, Rüschen, Blumen, Kokarden, künstliche Früchte –, alle
unwahr gefärbt, – für die billigen

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Winterhüte des Schicksals.

.........................
Engel: es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten,
auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier
bis zum Können nie bringen, ihre kühnen
hohen Figuren des Herzschwungs,

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ihre Türme aus Lust, ihre

längst, wo Boden nie war, nur aneinander
lehnenden Leitern, bebend, – und könntens,
vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:
Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten,

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immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig

gültigen Münzen des Glücks vor das endlich
wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem
Teppich?