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Die friesischen „Schlickrutscher“

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Textdaten
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Autor: Schulte vom Brühl
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Titel: Die friesischen „Schlickrutscher“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 554–557
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[554]

Die friesischen „Schlickrutscher“.

In Wort und Bild geschildert von Schulte vom Brühl.

Dangaster Fischerhütte.

Es ist still geworden im Reich von den deutschen Friesen und ihren Thaten. Gemächlich sitzen heutzutage die Nachkommen der alten Stedinger, der Wangerer, Harlinger, der Ostringer, Rustringer und Butjadinger auf den fetten Marschen an der Weser, am Jadebusen und am Dollart, züchten schweres Rindvieh und die berühmten oldenburgischen Pferde, und die Getreuen in Jever senden dem großen Alten im Sachsenwald alljährlich die 101 Eier-Erstlinge, die der ihren Weiden so charakteristische Kiebitz, der freundliche Vogel „Kywitt“, extra für ihn legt. Vätersitte und Väterstärke, Ausdauer und Stetigkeit sind dem Stamm treu geblieben, und lebendig auch ist den Friesen die ruhmreiche Tradition ihres Volkes, das schon in grauer Vorzeit angewiesen war auf den Kampf mit dem tückischen Element, auf die Erwehrung der räuberischen Dänen und Normannen, auf die Abwehr benachbarter Fürsten, welche die selbstherrlichen „eddelfreen Vresen“ unter ihre Botmäßigkeit zu bringen trachteten.

Die alten Friesen, die ursprünglich an den Küsten zwischen Ems und Rhein saßen, hatten sich nach und nach bis nördlich an die Eider ausgebreitet. Die in schweren Kämpfen mit den Nachbarstämmen errungenen Uferstrecken waren freilich kein Land, darinnen Milch und Honig floß, und nur ein armseliges Leben konnten die unbedeichten Marschgegenden und Geest-(d. h. Dünen-, Sand-)Landschaften gewähren.

„Zweimal schwillt hier,“ erzählte bereits der römische Schriftsteller Plinius der Aeltere, „in einer Tages- und Nachtlänge der ungeheure Ocean auf und sinkt. Zweifeln möchte man bei diesem ewigen Kampf der Natur, ob es Land sei oder Meer, was man sieht. Hier und da ragen von der Natur aufgeworfene Hügel (heute ‚Wurten‘ genannt) hervor, welche Menschenhände nach den Erfahrungen der höchsten Fluten noch erhöhten. Auf diesen wohnt das ärmliche Volk in Hütten. Umringt von der Flut, sind diese Menschen Schwimmenden und, fällt das Wasser, Schiffenden gleich. Zu ihrer Nahrung haben sie weder Vieh noch Milch. Auch die Beute der Jagd fehlt in diesen Gegenden, wo kein Gesträuch gedeiht. Dürftig ist selbst der Fischfang. Aus Binsen flechten sie ihre Netze, worin sie die mit dem Wasser zurückeilenden Fische fangen. Um ihre Speise zu kochen und die von der Kälte starrenden Glieder zu erwärmen, trocknen sie, am Winde mehr als an der Sonne, hervorgeholten Schlamm und brennen ihn. In Gruben vor ihren Hütten fangen sie das Regenwasser auf und dies ist ihr einziges Getränk.“

Merkwürdig, wie manches von dieser Schilderung, die der alte Römer vor fast 1800 Jahren nach den Berichten anderer Schriftsteller entwarf, noch bis in die neuere Zeit, ja, bis in unsere [555] Tage, seine Gültigkeit hat. Diese Erkenntnis muß sich besonders jedem aufdrängen, der den 200 Quadratkilometer umfassenden Jadebusen, eine starke Einbuchtung der Nordsee, besucht und seine Natur erkundet hat. Ein kleines Flüßchen, die Jade, mag ursprünglich, in Verbindung mit dem gierigen Ocean, für die Bildung der ersten Ausbuchtung gesorgt haben. Und der „blanke Hans“, die stürmische Nordsee, fand Freude am Landverderb im Großen. Furchtbare Fluten verschlangen im Laufe der Jahrhunderte wiederholt weite Länderstrecken, Ansiedlungen und Hab’ und Gut der Menschen. Der Schiffer, der heute über die seichten Fluten dahinsegelt, fährt über versunkene Dörfer, und die feuchten Watten, über welche des Granatfischers „Schlöpe“ gleitet, waren ursprünglich lehmhaltiger, fruchtbarer Mutterboden.

„Schlöpen“ am Strande.

Und doch wußte der Mensch vielfach auch in diesen Gegenden seine Herrschaft zu behaupten! Langgezogene Deiche umsäumen jetzt weithin das niedrig gelegene Land am Jadebusen und bändigen die wilden Wogen, die bei den großen Sturmfluten der letzten Jahrzehnte vergebens ihre Kraft an diesen Menschenwerken maßen; und im Schutze jener Dämme hat sich denn auf dem fruchtbaren Schwemmboden, auf den Marschen sowohl als auch auf dem Geestlande, ein gesundes, bäuerliches Leben entfaltet, das meist zu behäbigem Wohlstand führte. Gern schweift der Blick von der Deichkrone hinaus in das ebene Binnenland, wo zwischen Hecken und Gehölzen die niedrigen Stroh- oder Ziegeldächer wohlgehaltener Gehöfte hervorschauen, wo weite, mit stattlichen Rinderscharen und grasenden Pferden besetzte saftgrüne Weiden mit wogenden Aehrenfeldern abwechseln, auf fernem Hügel mächtige Windmühlenflügel kreisen und ein blauduftiger Wald den Horizont begrenzt. Das alles hat viele Jahrhunderte langer Kampf dem Meere abgerungen oder gegen dessen Üebergriffe gefestigt. Am Strande selbst aber mag man heute noch der Worte des Plinius innewerden. Noch steigt mit der Flut und sinkt mit der Ebbe zweimal täglich das Meer, sich gewaltig durch die Enge bei dem starkbefestigten Kriegsport Wilhelmshaven hinein- und hinausdrängend. Noch möchte man auch jetzt zweifeln, ob man Meer oder Land sieht, wenn die Wasser bei der Ebbe die breiten Watten des Jadebusens verlassen haben und nur in den schmalen Fahrrinnen, den „Tiefen“, das salzige Naß steht. Schreiende Möwenschwärme tummeln sich auf den Flächen, an zurückgebliebenen Krabben und Fischen reiche Atzung findend, und der meist wolkenbedeckte Himmel spiegelt sich, gleichwie in der Flut, im feuchten Schlick.

Das Ufer selbst bietet wenig Reize. Spirriger, blaugrüner Strandweizen und Sandhaargras schießen zwischen dem Sande empor. Ein kleines, am Boden kriechendes, dickblätteriges Pflänzchen, die Salzmiere, Schachtelhalm, Strand-Astern, -Nelken und -Wegerich, die distelartige Meerstrandsmännertreu und Röhricht fristen da ein karges Leben; doch eine kräftige Grasnarbe zieht sich an den mit Marschland gefestigten Deichen hinauf. Nur an vereinzelten Stellen läßt der fast stets wehende, scharfe Wind, der sich oft zum Sturme steigert, eine höhere Vegetation aufkommen, und wo an den Uferhöhen Baum oder Strauch sich eine mühselige Existenz erkämpften, da haben sie ihre Stämme nach der bedrohten Windseite hin dicht mit schützendem Moose umkleidet.

Im harten Kampfe gegen die feindseligen Naturgewalten fristen hier auch die Menschen ihr Dasein. In kleinen, äußerlich meist gut gehaltenen, einzeln stehenden Häuschen wohnen sie, um sich her ein Stückchen Kartoffel- und Gartenland, vor den Fenstern ein enges Blumengärtchen. Oft nennen sie eine Kuh ihr eigen, gewöhnlich aber nimmt die Ziege, die „Kuh des armen Mannes“, ihre Stelle ein. Viele halten sich auch ein Schwein, das als Allesfresser von den Abfällen der Fischerei lebt. Hühner und Enten fehlen selten. Das Brennmaterial, das Plinius als getrockneten Schlamm bezeichnete, ist Torf, der auf ausgiebigen Mooren überall in diesen Gegenden gestochen wird und mit dem man der Billigkeit halber sogar vielfach die Brunnen ausmauert.

Strandfahrer auf der Ausfahrt.

So stellt sich denn das Leben jener Leute sehr ärmlich dar und sie sind von der Natur zu einer Bedürfnislosigkeit und Kargheit erzogen, vor welcher der Fabrikarbeiter im Lande sich bedanken würde. Dennoch haben sie sich durch die Jahrtausende hin eine hohe und kräftige Statur bewahrt. Ungemein dicht ist ihr im Grunde strohfarbenes, in verschiedenen Abtönungen spielendes Haupt- und Barthaar, und aus dem lederfarbenen Antlitz blicken helle Augen scharf hervor.

Aeußerst mühsam ist das Gewerbe dieser friesischen Strandfischer, das dazu keineswegs den Reiz des an Gefahren reicheren und lohnenderen des Hochseefischers bietet und ziemlich eintönig sich gestaltet. An wertvollen Fischen liefern die Wattengewässer nur geringe Ausbeute, und da auf ein regelmäßiges Erscheinen und Vorkommen derselben nirgends gerechnet werden kann, so beschränkt man sich fast ausschließlich auf den Faug des den Dollart und den Jadebusen, wie überhaupt die Küstengewässer, zu Milliarden bevölkernden Granat (Crangon vulgaris). Dieses scherenlose, bis zur Größe des kleinen Fingers sich auswachsende, glasartige Krebschen, das auch Garneele oder Crevette genannt wird, bietet namentlich in dem Fleisch seines Schwanzes einen vorzüglichen Leckerbissen, der freilich nur Dem ungeschmälert zu gute kommt, der durch einen geschickten Handgriff das delikate Fleisch von seiner Hülle zu befreien weiß. Erprobte Granatesser im Oldenburgischen, wo das Krebschen eine ebenso beliebte Zuspeise zum Bier ist wie etwa in München der „Radi“, sollen imstande sein, in fünf Minuten ein ganzes Liter dieses Seetiers zu enthülsen.

Man stellt dem Granat am Jadebusen auf verschiedene Art [556] nach. In Butjadingen (von buten – außen der Jade) fängt man ihn in engmaschigen Netzen, im Jeverlande meist mit kleinen Fischhamen, „Hoplade“ genannt, und am Vareler Geest, insbesondere auf der Halbinsel Dangast, in Körben. Die letztere Fangmethode, als die eigenartigste, möge hier kurz dargestellt werden!

Die Flut hat sich nahezu verlaufen. Da stellt der Fischer einige aus Weidenruten geflochtene Fangkörbe auf einen Schiebekarren und sucht auf schmalen Pfaden zwischen Deich und Düne den Strand zu erreichen. Dort liegt umgestürzt, um vor Regen geschützt zu werden, das eigenartige Fahrzeug, das ihm das Fortkommen über den schlammigen Schlick ermöglicht. Die „Schlöpe“ heißt es im Volksmunde und ist ein Mittelding zwischen Boot und Schlitten. Unsere Abbildungen auf S. 555 zeigen uns diese Kasten, die etwa einen Meter lang, halb so breit und etwa ein drittel Meter hoch sind. An dem etwas erhöhten Vorderbord sind sie mit einer aus Latten und Stangen gezimmerten Handhabe versehen. Auf die Schlöpe werden nun die Körbe gesetzt und der Fischer rutscht in das schlammige Element, in den Schlick, der mit dem Schmutz einer zerfahrenen und durch starke Regengüsse aufgeweichten Landstraße die größte Aehnlichkeit besitzt. Die untere Zeichnung führt uns den Mann auf seiner Rutschpartie vor. Er hat die Seitenlehnen der Handhabe ergriffen, kniet bei vorgebeugtem Körper mit dem einen Beine auf dem Hinterbord der Schlöpe und stößt mit dem freien Fuß ruderartig in den Schlamm. Indem er abwechselnd die Füße benutzt, „schlittert“ oder rutscht er vorwärts. Bald versinkt der Fuß des Rutschers nur bis an den Knöchel in den Schlick, bald taucht das Bein bis fast ans Knie in den Schlamm, aber der Mann ist in diesem Rutschen wohlgeübt und gleitet mit erstaunlicher Schnelligkeit auf der trüben Masse dahin. Zunächst sucht er eine der Wasserrinnen, die „Tief“, zu erreichen; dort ist sein Ruderboot verankert; er macht es flott, nimmt seine Schlöpe ins Schlepptau und setzt nach dem jenseitigen Ufer über; dann rutscht er wieder über den Schlick, bis er an einer für den Granatfang günstigen Stelle anlangt. Diese liegt gewöhnlich am Rande einer „Tief“ oder bei einer „Priel“, der natürlichen Abflußrinne bei der Ebbe. Hier werden nun die Fangkörbe durch eingerammte Pfosten derart festgelegt, daß ihre offene Seite der Ebbe zugekehrt ist. Wie unsere Abbildung S. 557 zeigt, sind sie kegelförmig gestaltet, nahezu zwei Meter lang, mit einer dreiviertel Meter im Durchmesser haltenden Oeffnung versehen und aus Hasel- oder Weidenruten so geflochten, daß ein Raum von der Breite eines Bleistifts zwischen den einzelnen Stäben entsteht. Ein zweiter, einer Aalreuse ähnlicher, engerer Korb wird in den äußeren, der ihm gleichsam als Hülse dient, hineingeschoben. In der Reuse nun sammelt sich die Beute, nachdem ihr der größere Korb gewissermaßen „die Direktive gegeben“. Mit der Flut zu Milliarden den tieferen Stellen des Küstenmeeres entsteigend, wird der Granat von der zurückgehenden Ebbeströmnng zweimal täglich in die Fangkörbe hineingetrieben.

Krabben und Granaten.

Der Fischer zieht den Fangkorb hervor, löst den in die Spitze gesteckten Pflock und schüttet die Granaten, zwischen denen sich vereinzelt auch wohl ein Aal, eine Butte, eine Seenadel oder gar ein Katzenhai, immer aber ein paar Krabben aller Größen befinden, in die mitgebrachten Behälter und schiebt dann die Körbe wieder ineinander, der nächsten Ebbe das rein selbstthätige Fangwerk vertrauensvoll überlassend.

Auf dem Wege, den er kam, kehrt der Fischer vor der langsam steigenden Flut zurück. Zur Nachtzeit, während welcher der Fang der kleinen Nachttiere, denn das sind die Granaten wie alle Krebse, meist reicher ist, und bei nebligem Wetter zeigen ihm tief in den Schlick gesteckte Reiser den Heimweg an. Am Ufer bringt er seine Beute auf den Schiebekarren, reinigt in einem Tümpel seine Beine, welche immer aussehen, als seien sie in der Tinte gewesen, vom Schlick und schiebt dann nach Hause. Sein Werk ist aber noch nicht beendet. Mit weiblicher Hilfe werden die Granaten sogleich gesiebt und die größeren alsdann etwa zwei Minuten in Salzwasser gekocht, wobei sie eine schmutzig rötliche Farbe annehmen, während die höher gewerteten Ostseekrabben und die französischen Crevetten nach dem Kochen blaß rosenrot erscheinen. Das ausgesiebte kleinere Zeug – das Liter hiervon kostet nur einen Pfennig – wird als Dünger verkauft oder wandert zur Darre, um zu Hühnerfutter oder zu „Guano“ verarbeitet zu werden, hingegen verschickt man in entsprechender Verpackung die frische, große Ware als billige Delikatesse nach den Städten der Gegend oder gar, gut konserviert, weit ins Inland.

Der harten Mühe Lohn ist jedoch bei diesem Krebsfang nicht groß. Ein Fischer fängt im Durchschnitt täglich zwei bis zweieinhalb Scheffel eßbaren Granat. Der Scheffel wiegt 13 bis 14 Kilo und enthält 25 Liter, aber das Liter der besseren Krebschen wird nur mit neun Pfennig bezahlt! Die Fangzeit dauert meist vom April bis zum Eintritt der Kälte und die Ergiebigkeit ist im allgemeinen keinen besonderen Schwankungen unterworfen. So belauft sich der Jahresgewinn eines Fischers, der seine 30 bis 35 Fangkörbe hat, durchschnittlich auf 600 Mark.

Das ist in der That kein großer Verdienst für die eintönige und mühselige Arbeit, die den Fischer zweimal während 24 Stunden und fast allnächtlich auf das oft von Stürmen überbrauste Watt führt und ihn meist drei Stunden auf dem feuchten Schlick festhält, auf dem es im Frühjahr und Herbst keineswegs gemütlich ist.

Man kann rechnen, daß sich im Oldenbnrgischen, rings um den Jadebusen, ungefähr hundert Familien mit der Granatfischerei befassen. Dangast, ein Dorf, oder richtiger eine „Bauerschaft“ mit dem vor etwa einem Jahrhundert vom Grafen Bentinck gegründeten ersten Nordseebad, das sich überdies vor allen Nordseebädern durch einen waldähnlichen Park auszeichnet und einen angenehmen, idyllischen Aufenthalt bietet, ist der Hauptort der Korbfischerei. Dort gab es vor zehn Jahren nur ein viertelhundert Fischer, während heute fast 40 dem Granatfang obliegen. Man kann rechnen, daß im Jadebusen jährlich zum mindesten eine halbe Million Kilogramm eßbare Tierchen gefangen werden, mit den für andere Verwendung gewonnenen Granaten sicherlich eineinhalb Millionen Kilogramm dieser kleinen Krebse. Das ist eine ungeheure Summe, und da drängt sich wohl die Frage auf, ob nicht dieser Massenfang die Ausrottung des Granats zur Folge haben könne. Die Landesregierung hat bereits entsprechende Untersuchungen angestellt, doch [557] ist man zu sehr entgegengesetzten Ansichten gekommen. Die einen halten den Granatreichtum bei der ungeheuern Fruchtbarkeit dieser Tiere – das Weibchen setzt mehrere tausend sandfeiner Eier ab – für unerschöpflich, die andern wünschen Schonungsmaßregeln. Es wurde angeordnet, daß die Zwischenräume der Stäbe an den Fangkörben weiter zu machen seien. Dadurch finden die allerkleinsten Krebse Gelegenheit, zu entkommen und dem traurigen Schicksal zu entgehen, als Dünger ausgesät zu werden. Uebrigens ist die Dungkraft der Granaten außerordentlich groß, und auf dem leichtesten, unfruchtbarsten Sandboden gedeihen die damit gedüngten Früchte auffällig gut. Schauderhaft ist jedoch der Aasgeruch, den die verwesenden Krebse auf den Feldern ausströmen. Mag nun aber auch der Dünger noch so wirksam sein, man muß doch den kleinen Krustentieren einige Schonung wünschen, und diese bietet ihnen von Zeit zu Zeit die Natur. Es giebt Jahre, in welchen die Quallen in ungewöhnlich großen Mengen erscheinen. Diese füllen dann die Fangkörbe aus und machen dadurch den Granatfang unmöglich. Der Fischer ärgert sich wohl über das schleimige Zeug, das ihm sein Geschäft verdirbt, aber das nächste Jahr bringt ihm Trost, da die Granaten sich inzwischen reichlich vermehrt haben und nach einem Quallenjahr die Fänge um so ergiebiger ausfallen.

Granatkörbe an einer „Tief“.

So zieht sich denn das Leben des friesischen Granatfischers eintönig und mühsam hin, kaum, daß ab und zu ein fortgespültes Boot und ein paar von der Flut fortgerissene Körbe, die im Winter an Land geschafft werden, eine unangenehme, ein gefangener Seehund oder ein erbeuteter Delphin (Tümmler) eine angenehme Unterbrechung seiner Tagesbeschäftigung bilden. Auch das Wort „Saure Wochen, frohe Feste“ scheint für ihn nicht bestimmt zu sein, denn äußerliche Vergnügungen, Tanzmusiken und Kneipenleben finden bei dem ernst angelegten Volke keinen rechten Boden. Ein vereinzeltes Schützenfest, ein meist in Verbindung mit bäuerlichen Pferderennen stattfindendes kleines Wettrutschen mit den Schlöpen und im Winter das eigenartige „Klootschießen“, das zwischen zwei Parteien oder ganzen Kirchspieleinwohnerschaften nach einem bestimmten, oft stundenweiten Ziele vereinbarte Fortschleudern einer Kugel über den gefrorenen Boden, das sind die Volksbelustigungen in diesen Gegenden. Die farbenheitere Festesfreude der südlichen und westlichen deutschen Stämme mangelt den friesischen Strandbewohnern. ––

Dem Granat verwandte Krebse werden, wie wir noch hinzufügen möchten, auch an anderen Meeresküsten gefangen. Die Ostseekrabbe oder Garneele (Palaemon squilla) hat zwar keinen besseren Wohlgeschmack, wird aber wie schon gesagt höher geschätzt, da sie beim Kochen sich schön rot färbt. Besonders hoch ist der Garneelenfang in Holland entwickelt, von wo aus jährlich gegen zwei Millionen Liter nach England verschifft werden. Auch im Mittelmeer blüht dieser Zweig der Seefischerei, und zwar seit uralten Zeiten; haben doch bereits die Küsten des alten Karthago Garneelen für die Tafel der römischen Kaiser geliefert! In Indien verwendet man ein mit Gewürzen vermengtes Garneelenpulver als Nahrungsmittel und die chinesische Hafenstadt Tschi-fu verfrachtet jährlich gegen 9000 Centner dieser kleinen Krebschen in getrocknetem Zustande. Aehnliches ist an den Küsten Amerikas der Fall, überall nährt sich der Mensch von der Ueberfülle der Kruster des Meeres. Neuerdings haben die Garneelen noch eine andere nützliche Verwendung gefunden. Sie werden nach dem Kochen getrocknet und zu Granatmehl und Granatschrot vermahlen, um ein ausgezeichnetes Fisch- und Vogelfutter für die Volieren des Vogelfreundes oder für Fischzuchtanstalten zu liefern. Daß sie in gedörrtem Zustande als Hühnerfutter versandt werden, haben wir oben schon erwähnt.