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Fräulein Nunnemann

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Textdaten
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Autor: Eva Treu
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Titel: Fräulein Nunnemann
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31–33, S. 528–531, 543–547, 557–560
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[528]

Fräulein Nunnemann.

Erzählung aus vergangenen Tagen.0 Von Eva Treu.
1.

Steht auf, ihr kleinen Rekruten,“ sagte der Herr Konrektor Müller zu uns Schülerinnen der zweiten Klasse. Wir standen auf.

Herr Konrektor Müller nannte uns mit einer starrköpfigen Beharrlichkeit, die uns täglich wieder aufs neue beleidigte und empörte, die „kleinen Rekruten“. Es war eine Bezeichnung, deren Angemessenheit uns in keiner Weise einleuchten wollte, gegen die wir uns aber nicht auflehnen durften, weil er der Höchstgebietende in unserer kleinen, von ihm neben seinen eigentlichen Amtsgeschäften geleiteten Töchterschule war, vor dessen Strenge wir eine äußerst heilsame Furcht hatten. So kamen wir denn auch jetzt dem Gebot, uns zu erheben, mit einer Promptheit nach, über die sich der kleine dicke Herr Binte, unser Rechenmeister, dessen Befehle sich nie der geringsten Beachtung erfreuten, höchlichst gewundert haben würde, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, uns in diesem feierlichen Augenblick zu beobachten. Er war aber nicht da, sondern neben Herrn Konrektor Müller stand nur eine Dame, auf die wir Kleinen aus der zweiten Klasse rasch einige verstohlene Seitenblicke warfen, als wir uns erhoben. Vorerst sahen wir in der Geschwindigkeit nur, daß sie klein und dick war wie Herr Binte.

Seit einer Viertelstunde saßen wir bereits in brennender Neugierde und Erwartung auf unseren Plätzen. Wußten wir doch, daß heute unsere neue Lehrerin eingeführt werden sollte, und daß Herr Konrektor Müller eben dabei war, ihr die Großen in der ersten Klasse vorzustellen. Wir hatten eine besonders liebe, in unseren Augen völlig unersetzliche Lehrerin durch ihre Verheiratung verloren und wußten, daß es viel Mühe und Schreiberei verursacht hatte, eine genügende Stellvertreterin zu finden, denn damals, vor mehr als dreißig Jahren, waren die Lehrerinnen in unserer Provinz noch nicht so reichlich gesät wie heute, wurden auch überall angestaunt wie eine Seltenheit, und war eine solche Dame gar im Auslande gewesen, oder eine „Examinierte“, so hatte man gründlichen Respekt vor ihr und ihren Kenntnissen, rechnete sie dann freilich auch erbarmungslos unter die Blaustrümpfe. Sie war dann auch allemal von weit her, denn wir Schleswig-Holsteiner in unserer Unschuld hatten damals noch nichts, was auch nur den allerersten und schüchternsten Anfängen eines Lehrerinnen-Seminars geglichen hätte. Es waren ganz andere Schulzustände als heute!

Eine „Examinierte“ war deshalb die Dame auch keineswegs, die man nach langem Wählen für würdig befunden hatte, fast die ganze Leitung unserer Schule zu übernehmen, da Herr Konrektor Müller dafür nicht mehr die nötige Zeit erübrigen konnte. Aber sie hatte vorzügliche, geradezu ideale Zeugnisse über ihre bisherige Thätigkeit eingesandt, und deshalb sahen die Eltern ihrem Eintreffen äußerst hoffnungsfroh und vertrauensvoll entgegen.

„Dies ist eure neue Lehrerin, Fräulein Nunnemann,“ sagte Herr Konrektor Müller. Die Gesittetsten unter uns, zu denen ich leider nicht gehörte, knixten, und Fräulein Nunnemann knixte ebenfalls.

„Seid fleißig und gehorsam, habt Fräulein Nunnemann lieb und macht ihr Freude, damit sie euch auch lieb haben und euch Freude machen kann“, fuhr Herr Konrektor Müller in seiner knappen Manier fort. „Vor allem macht keinen Unfug in ihren Stunden, damit es euch nicht übel bekomme.“

Fräulein Nunnemann knixte abermals, und die Schuldbewußten unter uns, zu denen ich gehörte, wenn ich meiner zahlreichen Sünden gegen den guten und nachsichtigen und mir sogar persönlich besonders gewogenen Herrn Binte gedachte, wurden rot.

„Ich überlasse also Ihnen, mein wertes Fräulein Nunnemann, diese kleine Rekrutenschar. Es sind gnte, begabte Kinder darunter, freilich auch einige schwarze Schafe, die herauszufinden ich Ihnen selbst überlassen will,“ sagte unser Gestrenger, seine wohlgepflegte Hand dabei, ich weiß nicht, ob mit oder ohne Absicht, auf meine dicken, schwarzen Flechten legend. Nach dieser kurzen und bündigen Einführungsrede verließ er das Klassenzimmer schleunigst, denn er hatte von Zehn bis Elf eine griechische Stunde in der Sekunda des Gymnasiums zu geben.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als Fräulein Nunnemann sich niedersetzte, beide Ellbogen auf den nächsten Schultisch stützte und gemütlich sagte: „Na, Kinnings, nun erzählt mir nur erst mal, wie ihr eigentlich heißt. Könnt euch dabei niedersetzen.“

Die Stimme klang entschieden tröstlich; sie war fett und gutmütig und entbehrte vollständig jedes strengen Klanges. Und darum machten wir kleinen Rekruten in der zweiten Klasse sämtlich „Augen rechts!“ und gestatteten uns, Fräulein Nunnemann neugierig anzusehen, was wir bisher nicht gewagt hatten.

Jetzt, da ich mir ihre Persönlichkeit in die Erinnerung zurückrufe, kommt es mir vor, als müßte Fräulein Natalie Nunnemann etwa acht- oder neununddreißig Jahre alt gewesen sein; damals hatten meine neun Jahre noch nicht Lebensweisheit genug gesammelt, um mir ein auch nur annähernd zutreffendes Urteil zu gestatten. Fräulein Nunnemanns Gesicht erschien meinen Kinderaugen so alt und ihre Kleidung war doch so ausnehmend jugendlich, daß ich diesen Zwiespalt der Natur nicht zu lösen vermochte.

Ihre kleine, aber sehr kräftig entwickelte Figur umschloß ein himmelblaues, sehr faltenreiches Gewand von einem ganz absonderlichen Schnitt, der selbst in unseren jugendlichen Gemütern den Argwohn erweckte, daß die Dame das Kleid mit ihren eigenen schönen Händen zugeschnitten und genäht haben müßte, ohne in die Geheimnisse der Schneiderei völlig eingeweiht zu sein. Dieser Verdacht befestigte sich später erheblich, als wir sahen, daß alle Kleider Fräulein Nunnemanns, die sämtlich in sehr frischen und jugendlichen Farben, besonders immer wieder in Himmelblau, prangten, nach demselben gewiß in seiner Art schönen aber unseren kleinstädtischen Augen etwas ungewöhnlich erscheinendem Schnitt angefertigt waren. Aus Fräulein Nunnemanns ältlichem Gesicht mit dem eigentümlich vorstehenden Unterkiefer leuchtete ein Paar kleiner schwimmender Augen vom echtesten Wasserblau hervor, und das sandblonde Haar war in außerordentlich merkwürdigen und kunstvollen Lockenbüscheln um ihr gelehrtes Haupt frisiert.

Sie nahm die beengenden Armbänder von den sehr rundlichen Handgelenken, öffnete den Knopf ihres Halskragens, um ihrer Kehle mehr Freiheit zu verschaffen, lieh sich von uns ein paar Atlasse, um dieselben zu einem Fußschemel aufeinander zu stapeln, und begann in allergrößter Gemächlichkeit, sich unsere Namen vorsagen zu lassen, wobei jede einzelne einen genauen Bericht über Eltern, Geschwister, Stand und Wohnort des Vaters, Familiengewohnheiten und Verwandtschaften abzulegen hatte, der jedesmal geraume Zeit in Anspruch nahm. Zuerst saßen diejenigen, die sich nicht gerade im Verhör befanden, ganz respektvoll und wohlerzogen still, dann, als wir bemerkten, daß Fräulein Nunnemann uns durchaus keine Beachtung schenkte, wurde uns die Sache langweilig. Wir zogen Märchenbücher aus den Schulmappen, zeichneten Karikaturen auf unsere Schiefertafeln oder unterhielten uns im Flüsterton, bis die Schuluhr auf dem Flur mit lautem Schlage den Schluß der Stunde verkündete. Da hatte Fräulein Nunnemann eben auch ihre notwendigen Erkundigungen beendet, stand auf, knöpfte ihren Halskragen wieder zu, nickte uns gemütlich einen Gruß und verschwand vom Schauplatz.

Uebrigens schien sie einen sonderlichen Gewinn aus den ihr zu teil gewordenen Belehrungen nicht gezogen zu haben, denn noch nach acht Tagen nannte sie uns nicht mit unseren Namen, sondern nur: „Du da mit dem roten Haar,“ – oder „Du da mit den Sommersprossen,“ oder „Du mit der kleinen Nase,“ bis „die mit dem roten Haar“ endlich in ein nicht zu stillendes Schluchzen der Kränkung und des Zornes ausbrach, über welches Fränlein Nunnemann ebenso verblüfft wie betrübt war, da sie zuerst gar nicht begreifen konnte, worüber das Kind eigentlich weinte. Dann erst fing sie an, sich unsere Namen und nicht bloß unsere Unschönheiten zu merken.

Außer diesen Thränen aber sind bei uns herzlich wenige vergossen worden, an denen Fräulein Nunnemann die Schuld getragen hätte. Die Großen in der ersten Klasse ließen sich schon nach wenigen Tagen herab, sich mit uns Kleinen darüber völlig einig zu erklären, daß eine wahrhaft herrliche Zeit für uns [530] angebrochen sei. Wir thaten einfach, was uns beliebte, und daß es uns nicht beliebte, übermäßig zu arbeiten, ist vielleicht begreiflich.

Wären nicht Herr Konrektor Müller und ein paar Hilfslehrer gewesen, wir hätten gewiß gar nichts gelernt.

Zur ersten Morgenstunde pflegte Fräulein Nunnemann – das war ein für allemal feststehende Regel – stets etwa dreißig Minuten zu spät zu erscheinen und die nächsten zehn Minuten mit lebhaften Scheltworten über ihre Hauswirtin auszufüllen, welche sie „wieder einmal nicht rechtzeitig geweckt hatte, die abscheuliche Person“. Dann begann sie, ihre Toilette während des Unterrichts zu vervollständigen. Zuerst wurden die blonden Haarstränge von großen Papierpapilloten abgelöst und über einen Lockenstock gewickelt, eine Manipulation, die uns anfangs mit dem maßlosesten Staunen erfüllte, da keine von uns etwas Aehnliches je gesehen oder auch nur geahnt hatte, die uns aber bald völlig gleichgültig ließ und gewohnheitsmäßig gar nicht weiter beachtet worden wäre, wenn nicht Fräulein Nunnemann dann und wann selbst ganz ungeniert gerufen hätte: „Seht, Kinnings“ – sie war Mecklenburgerin – „so drehe ich meine Locken!“

War die Frisur beendet, so wurde die himmelblaue Taille, die bis dahin ein barmherziger Seelenwärmer bedeckt hatte, nicht ohne Mühe geschlossen, wobei gelegentlich ein Knopf ab und weit in die Stube hineinsprang. Zwischendurch überhörte sie uns pflichtschuldigst unsere englischen Vokabeln oder unsere Geschichtstabellen, doch nahm sie es, gutmütig wie sie war, nicht eben genau damit; und war die umständliche Toilette mit Hilfe eines kleinen Handspiegels beendet, so schlug es auch allemal schon neun auf dem Flur. Dann erhob sich Fräulein Nunnemann fröhlich und jugendschön, und es konnte geschehen, daß sie aus der Wärme ihres guten Herzens heraus ganz glücklich rief: „So, Kinnings – wer will mir nu mal ’n Kuß geben?“ Eine Aufforderung, der, soviel ich weiß, nur ein einziges Mal eine barmherzige kleine Seele aus Mitleid entsprach, da sich niemand sonst melden wollte.

Konnte Fräulein Nunnemann einmal durchaus nicht vermeiden, eine von uns zu bestrafen, so geschah dies nie, ohne daß sie mit Thränen in den Augen versichert hätte, es thäte ihr selbst unendlich leid, aber diesmal könnte sie wirklich nicht anders.

Kurz, sie war, wie man sieht, eine wirklich grundgute Person.

Eine kindliche und uns höchst erfreuliche Vorliebe legte sie für eine Verlängerung der Frühstückspause an den Tag. Um dieselbe würdig und in passender Weise auszufüllen, brachte sie regelmäßig eine Ledertasche mit in die Schule, aus welcher sich am gehörigen Ort und zur rechten Zeit eine umfangreiche Flasche mit kaltem Milchkaffee, drei große Buttersemmeln und eine Tüte mit Streuzucker entpuppten. Den süßen Inhalt der letzteren schüttete sie sich nach und nach in kleinen Portionen direkt in den Mund. Die Buttersemmel zerpflückte sie in kleine Fetzen und schleuderte dieselben – ich weiß keine andere Bezeichnung dafür – dem Zucker und dem Kaffee nach. Außerdem war Fräulein Nunnemann in des Wortes verwegenster Bedeutung empfänglich für jede Art von Obst, mochte sich ihr dasselbe auch nur in Gestalt eines einzigen Apfels darbieten, und wir hatten deshalb unter uns ein wohlgeordnetes System eingerichtet, nach welchem die tägliche Obstlieferung von uns abwechselnd zum allgemeinen Nutzen besorgt wurde.

Freilich, diese Liebhaberei für Früchte wurde uns eines schönen Tages schmerzlich verhängnisvoll. Wir waren sämtlich zu einer Kindergesellschaft eingeladen, und auch Fräulein Nunnemann hatte sich, ich habe vergessen, ob auf den Wunsch der Gastgeber oder aus freiem Antriebe, eingefunden. Gegen Abend wurde eine große Schale mit wunderschönem Obst gebracht, welche für uns alle auszureichen bestimmt war. Natürlich trug die liebenswürdige Hausfrau dieselbe zuerst zu Fräulein Nunnemann, als zu einer Respektsperson.

„Nehmen Sie, liebes Fräulein, bitte!“

„Aber das ist ja reizend!“ rief Fräulein Nunnemann, kindlich in die Hände klatschend. „Die prachtvollen Früchte sind für mich? Es ist zu viel! Sie sind gar zu freundlich!“ Und ehe wir noch recht begriffen hatten, was sie eigentlich meinte, hatte sie ihren riesigen Handarbeitsbeutel geöffnet, und der ganze Inhalt der Schale, auf die wir schon lange lüsterne Blicke geworfen hatten, verschwand in seinen dunklen Tiefen.

Wir konnten Fräulein Nunnemann manches verzeihen, weil wir in der Schule jetzt ein gar so vergnügliches Leben führten – dies aber konnten wir ihr lange nicht vergessen. Freilich, sie vergaß es auch uns lange nicht, daß wir sie, trotz ihrer vorhergegangenen sehr deutlichen Anspielungen, weder zum Geburtstage, noch zum Weihnachtsfeste beschenkten. Als wir diese beiden Feste hatten vorübergehen lassen, ohne ihr ein Angebinde zu bringen, weil das überhaupt in unserer Schule nie Sitte gewesen war, kühlte sich ihre innige Liebe zu uns merklich ab, und sie nahm sogar keinen Anstand, in öffentlicher Klasse zu erklären, welche Familien sie für wohlhabend genug hielte, um der geliebten Lehrerin ihrer Kinder gelegentlich ein hübsches Geschenk zu machen.

Fühlten wir uns nachmittags für die Schule nicht aufgelegt – dergleichen kann ja vorkommen – so erlaubten wir uns allerlei niedliche Scherze, um eine Lehrstunde zu vereiteln. Unsere Klassenzimmer befanden sich in einem herrlichen, uralten ehemaligen Kloster mit einer Menge von Schlupfwinkeln und so dicken Wänden, daß ich mir damals einbildete, dickere könnte es auf der ganzen Welt nicht geben. Erschien nun Fräulein Nunnemann pflichtgemäß zur gewohnten Lektion, so fand sie das Zimmer anscheinend leer. Wir hatten uns sämtlich irgendwo verkrochen, und Fräulein Natalie mußte uns einzeln aus den unmöglichsten Winkeln hervorsuchen, was sie stets mit viel Vergnügen und in der besten Laune so langsam that, daß, wenn sie uns endlich alle beisammen hatte, es nicht der Mühe wert war, noch mit dem Unterricht zu beginnen.

Oder wir spannten alle unsere nassen Regenschirme auf, befestigten sie mit vieler Mühe an einem großen Lampenhaken in der Mitte der Zimmerdecke und setzten uns, Fräulein Nunnemann erwartend, sittsam auf unsere Plätze.

„Aber Kinnings!“ rief die liebe Dame natürlich beim Eintreten, die dicken kleinen Hände zusammenschlagend, „was habt ihr aufgestellt?“

„Wieso, Fräulein Nunnemann?“

„Was habt ihr mit den Schirmen gemacht?“

„Wir haben sie nur zum Abtropfen ein bißchen aufgehängt, Fräulein Nunnemann!“ riefen wir einstimmig.

„Aber das geht doch nicht, Kinnings! Gleich nehmt sie herunter.“ Damit setzte sich Fräulein Nunnemann bequem zurecht, stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah lächelnd zu, wie wir, der wilden Jagd gleich, über Tische und Bänke kletterten, um ihrer Weisung nachzukommen, worüber natürlich abermals viel Zeit verging.

Oder wir zogen im Winter, wenn Schnee lag, mit unseren sämtlichen Schlitten vor Fräulein Nunnemanns Haus, um sie zur Schule abzuholen. Freudig überrascht ob solcher liebenswürdigen Aufmerksamkeit, setzte sie sich in das erste Gefährt, vor welches sich zwei von uns als Pferde spannten, während zwei andere nachschoben – denn leicht zu fahren war Fräulein Nunnemann nicht. Alle anderen Schlitten folgten, und mit Jauchzen und Geschrei fuhren wir – nicht etwa zur Schule, das würde unserem Zwecke wenig entsprochen haben, sondern kreuz und quer durch die ganze kleine Stadt, nicht eher in den Klosterhof einbiegend, als bis wir wußten, daß es gleich voll schlagen müßte.

Für solche kleinen Scherze hatte Fräulein Nunnemann stets ein wohlwollendes Verständnis, und wenn unser Höchstgebietender, der Herr Konrektor, sich bei ihr nach unserem Betragen erkundigte, so erklärte sie uns stets aus innigster Ueberzeugung für „liebe, fleißige Kinder“, stellte uns auch Zeugnisse aus, welche zu Hause wegen ihrer wahrhaft unerhörten Vortrefflichkeit geradezu Sensation erregten.

Ueberhaupt, ein weiches Herz hatte sie! Ein niedliches „Kindting“, welches ihr auf der Straße begegnete, ein „süßer kleiner Polli“, der vor einer Hausthüre saß, verursachte stets und unfehlbar, daß Fräulein Nunnemann mit lauten Ausrufen des Entzückens auf offener Straße bei dem Gegenstande ihres Wohlgefallens niederkniete, wobei das himmelblaue Kleid oft recht innige Bekanntschaft mit wenig erfreulichen Dingen machte.

Am allerliebevollsten aber schlug Fräulein Nunnemanns sanftes Herz für den Herrn Kandidaten Beseler. Dieser Herr, ein ältlicher Junggeselle von keineswegs bestrickender Schönheit, den wir Kleinen „gräßlich langweilig“ fanden, für den aber die erste Klasse in Ermangelung eines würdigeren Gegenstandes schwärmte, und der auch in der That alle Hochachtung verdiente, war unser Religionslehrer. Seine Stunden lagen so, daß sie auf diejenigen von Fräulein Nunnemann folgten. Nun war es uns Mädchen sehr ergötzlich, zu beobachten, wie Fräulein Nunnemann stets an solchen Tagen, an welchen Herr Beseler erschien, irgend eine selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnliche und abenteuerliche Schleife oder Spitzenkrause anzulegen pflegte und während ihrer ganzen Unterrichtsstunde sich in freudiger und ungeduldiger Erwartung befand.

[531] Schlug es dann voll, so machte Fräulein Nunnemann wohl ihr Buch zu, aber es traf sich dann jedesmal so, daß sie noch an ihrem Pulte zu thun hatte. Sie klappte den Deckel in die Höhe, so daß ihre kleine Gestalt völlig dahinter verschwand, und begann in dem Innenraum zu kramen mit einem Eifer, der sie das Läuten der Hausthürglocke, das Oeffnen der Stubenthür und das einstimmige „Guten Morgen, Herr Beseler!“ der ganzen Klasse völlig überhören ließ. Und erst wenn Herr Beseler mit seinem geschäftsmäßig raschen Schritt an das Pult trat, schnellte plötzlich Fräulein Nunnemann wie ein Geist aus der Unterwelt dahinter hervor, errötete lieblich, stammelte eine Entschuldigung, sie hätte hier noch zu thun gehabt und des Herrn Kandidaten Kommen gänzlich überhört, und zog sich knixend zurück, nachdem Herr Beseler pflichtschuldigst einige höfliche Worte mit ihr gewechselt hatte.

Zuerst nahm der gute Herr Beseler, der in solchen Dingen arglos war wie ein Kind, das ganz bescheiden für Zufall. Nach und nach aber, als die himmelblaue Taille jedesmal hinter der Pultklappe aufleuchtete, wenn er eintrat, befiel ihn eine gewisse Befangenheit und schließlich geradezu Angst. Er kürzte die Unterhaltung, die er zuerst in freundlich harmloser Weise geführt hatte, täglich mehr und mehr ab und kam von Woche zu Woche später in die Stunde, so daß Fräulein Nunnemann endlich doch die Absicht merken mußte. Sie war aber eine zu gute Seele und zu liebevoller Natur, um verstimmt zu werden. Zwar verließ sie die Klasse mit dem Glockenschlage, so daß Herr Beseler bald wieder Mut schöpfte und mit altgewohnter Pünktlichkeit erschien, aber schon nach wenigen Tagen hatte sie ein neues Mittel der Annäherung gefunden.

War nämlich die Stunde etwa halb beendet, so ertönte plötzlich ein leises, zaghaftes Pochen an der Stubenthür. Auf Herrn Beselers „Herein!“ erschien dann Fräulein Nunnemann errötend und verlegen auf der Schwelle.

„Stör’ ich auch?“

„Bitte, bitte,“ sagte der höfliche Herr Beseler, einen Seufzer unterdrückend, „durchaus nicht. Wünschten Sie etwas?“

„Ich muß meinen Bleistift hier vergessen haben – ich brauche ihn notwendig – erlauben Sie vielleicht –“

„Gewiß; gestatten Sie, daß ich suchen helfe,“ entgegnete Herr Beseler gottergeben. Der Bleistift, die Taschenuhr, oder was es sonst gerade sein mochte, fand sich denn auch jedesmal nach einiger Mühe, Fräulein Nunnemann knixte dankend hinaus, und der Unterricht konnte seinen Fortgang nehmen.

Herr Beseler aber ergab sich in sein Schicksal; Fräulein Nunnemann war offenbar zu klug für ihn. Er sah kein Mittel, ihr zu entrinnen, und ertrug die unvermeidlichen Störungen schließlich mit einem Gleichmut, der uns ausnehmend verdroß, denn nun, da er nicht mehr ärgerlich errötete, nicht mehr ungeduldig seufzte, auch nicht mehr ingrimmig die Stirn runzelte, wenn seine beharrliche Verehrerin das Zimmer verlassen hatte, war ja durchaus gar kein Spaß mehr an der ganzen Sache.

Wie es überhaupt möglich war, daß sich Fräulein Nunnemann volle zwölf Monate an unserer Schule behauptete, erklärt sich einzig und allein aus der Thatsache, daß der sonst so kluge und vorsichtige Herr Konrektor Müller sich auf ihren dringenden Wunsch und verführt durch die ungewöhnliche Vorzüglichkeit ihrer Empfehlungen kontraktlich verpflichtet hatte, sie vorläufig auf ein Jahr anzustellen. Kaum aber war diese Frist abgelaufen, so verschwand das kurzweilige Fräulein Natalie ganz plötzlich aus unserem Kreise. Ich schäme mich beinahe, zu gestehen, daß keine ihrer Schülerinnen ihr eine Thräne nachweinte. Aber wir waren, uns selbst unbewußt, der Mißwirtschaft in der Schule eigentlich längst überdrüssig und sehnten uns nach einer festen, liebevollen Hand, die uns sicherer führte, als es im letzten Jahre geschehen war. Fräulein Nunnemann entschwand aus unserem Gesichtskreise vollständig. Keines von uns Kindern, keine der Familien, bei welchen sie Gastfreundschaft genossen hatte, erhielt je einen Brief von ihr. Sie war für uns wie vom Erdboden verschwunden. – –

Und die Jahre vergingen. Aus uns kleinen Rekruten wurden große Mädchen der ersten Klasse, ohne daß uns die feste, liebevolle Hand geworden wäre, die uns hätte leiten sollen. Herr Konrektor Müller wurde versetzt, Herr Beseler erlag einem Magenleiden, und unsere kleine Familienschule hatte wahrhaft abenteuerliche Schicksale der seltsamsten Art. Zuweilen waren wir höheren Töchter längere Zeit ganz ohne irgend welchen Unterricht, verwilderten stark und waren in Gefahr, das Bißchen, was wir bis dahin gelernt hatten, völlig zu vergessen. Aber eine vergnügliche Kindheit hatten wir auf diese Weise, und frisch und gesund blieben wir dabei. Das Wort „Arbeitsüberbürdung“ war uns ein leerer Schall. Ich wurde konfirmiert, wurde, wie es sich nun einmal gehörte, fortgeschickt, „um Haushaltung zu lernen“, besuchte das Lehrerinnen-Seminar – es war bereits ein schleswig-holsteinisches – wunderte mich, daß ich mit anderen, besser vorbereiteten Schülerinnen Schritt halten konnte, und war endlich beinahe achtzehn Jahre alt und nach meiner eigenen damaligen Ansicht äußerst ernsthaft, gereift und verständig geworden, als das drohende Gespenst der „Prüfung für höhere Töchterschulen“ mir von Tag zu Tag mit unheimlicher, geradezu beängstigender Schnelligkeit immer näher rückte.

Ich hatte in den letzten Jahren manchmal im innersten Herzensschrein den vermessenen Gedanken gehegt, ziemlich viel zu wissen und meinen Mitschülerinnen wenigstens in einigen Fächern erheblich überlegen zu sein; jetzt, da ich die Tage bis zum Examen an den Fingern bequem abzählen konnte, wurde es mir auf einmal mit gräßlicher Gewißheit klar, daß ich eigentlich überhaupt gar nichts wüßte und jedenfalls von allen Examinandinnen die unfähigste wäre. Ein unsinniger Eifer erfaßte mich, noch alles zu lernen, was ich nicht wußte, und ein paar Tage lang arbeitete ich, als wenn es um mein Leben ginge.

Dann sah ich plötzlich ein, daß es verlorene Liebesmühe sei, die gähnenden Abgründe meiner bodenlosen Unwissenheit jetzt auf einmal noch ausfüllen zu wollen, und ich arbeitete gar nichts mehr, was vielleicht das Beste war, was ich thun konnte. Hatte ich früher gehofft, eine Eins zu erreichen, so beschloß ich jetzt kleinlaut, zufrieden zu sein, wenn ich nur nicht durchfiele, und mich über eine Drei noch zu freuen. Ich schrieb nach Hause, man möchte dort, bitte, auf das Entsetzlichste gefaßt sein, und benahm mich mit einem Worte, wie es achtzehnjährige Mädchen, die vor der Lehrerinnenprüfung stehen, vermutlich noch heute thun.

Und der mit schaudernder Sehnsucht erwartete Tag der Prüfung kam heran.

[543] Wir waren unserer über dreißig, etwa zur Hälfte Angehörige unseres Seminars, zu denen sich ebensoviele Externe gesellten, welche sich auf eigene Hand vorbereitet hatten. Wir Pensionsküchlein zählten fast ausnahmslos nicht viel über achtzehn oder neunzehn Jahre, unter den Externen dagegen befanden sich sehr viele ältere Mädchen, die bereits jahrelang als Lehrerinnen wirkten und jetzt, um der dringenden Anforderung der neuen Zeit und des preußischen Schulgesetzes zu genügen, sich einer Prüfung unterwarfen. Die Zeiten waren längst andere geworden, auch bei uns. Niemand wollte mehr Unterricht und Erziehung seiner Kinder einer Lehrkraft anvertrauen, für welche der Staat nicht wenigstens eine gewisse, wenn auch bescheidene Garantie übernahm.

Es war unter diesen Externen mehr als eine mit klugen, überarbeiteten Augen und einem blassen feinen Gesichte, dem der Ernst des Lebens vorzeitig allerlei Spuren eingegraben hatte, mehr als eine, bei deren Anblick sogar das selbstsüchtigste Herz der eigenen Angst vergaß und dachte: „O, wenn doch nur diese, gerade diese nicht Unglück hat! Sie sieht aus, als wüßte sie dann auf Gottes weiter Welt nicht, was sie beginnen sollte!“

[544] Eine Stunde etwa vor dem Anfange des Examens versammelten wir uns alle in dem Garten unseres Seminars, um dort miteinander Bekanntschaft zu machen; wir waren ja nun während fünf langer Tage Kameraden und vielleicht Leidensgefährten. Eine sehr feierliche und sehr stille Versammlung bildeten wir, sämtlich in schwarze Seide oder schwarze Wolle – unseren Examensfrack, wie wir sagten – gehüllt. Hier oder da hatte eine ein buntes Schleifchen gewagt, aber das waren Ausnahmen, die meisten trugen nur Weiße Spitzen oder Leinenstreifen an Hals und Handgelenken. Würdig, würdig und bescheiden wollten wir erscheinen.

Ich, im durchbohrenden Gefühle meines Nichts, ging abseits und allein meine Pfade, und allerlei konfuse Gedanken zogen mir durch den Kopf. Bald ertappte ich mich darauf, daß ich mir mechanisch das „kleine Einmaleins“ aufsagte, bald darauf, daß ich allerlei Orakelfragen an das Schicksal stellte.

„Wenn die nächste, die mir begegnet, nachdem ich um diese Ecke biege, schwarze Haare hat, so falle ich durch, hat sie braune, so komme ich leidlich davon, ist sie blond, so wird es mir sehr gut gehen.“ Da war die nächste Begegnende so blond, daß es mir nur eine Eins bedeuten konnte. An ein so großes Glück wagte ich natürlich nicht zu glauben; also stellte ich eine neue Frage.

„Begegnen mir jetzt vier auf einmal, so bedeutet das Durchfallen, drei sind gleichbedeutend mit der dritten, zwei mit der zweiten und eine mit der ersten Censur.“ Da begegneten mir vier; ich sollte also durchfallen.

Unmöglich – nein, so schlecht konnte es schließlich doch nicht um mich stehen. Das Orakel wurde zum drittenmal befragt.

„Ist die nächste, die mir begegnet, mir persönlich bekannt, so geht mir’s gut, kenne ich sie nicht, so muß ich aufs schlimmste gefaßt sein.“

Da begegneten mir in eifrigem Gespräche zwei, von denen mir die eine eine liebe Freundin war, während ich die andere nie gesehen hatte.

„Wenn mir, bis ich hundert zählen kann, etwas ganz unerwartetes passiert, so –“

Ich kam nicht mehr dazu, den Schlußsatz zu machen, denn das Unerwartete geschah bereits, ehe ich noch wußte, ob es mir Gutes oder Uebles verkünden sollte.

Es tauchte nämlich, als ich um eine Ecke bog, plötzlich ein sehr lebhaft gefärbtes blaues Kleid vor mir auf, eine Erscheinung, die mir, da wir ja sämtlich schwarz gingen, als sehr verwunderlich auffallen mußte.

Aber die Person, zu der das blaue Gewand gehörte, schien auch im übrigen ungewöhnlich zu sein, wenigstens vermochte ich nicht, meinen Blick wieder von ihr zu wenden, und als ich noch ein paar Schritte gemacht hatte, rief ich überrascht: „Fräulein Nunnemann, ist es möglich – sind Sie es wirklich?“

Die Dame blieb stehen, sah mich verblüfft an, zwinkerte mit den kleinen, wasserblauen Augen und machte offenbar einen erfolglosen Versuch, sich meiner zu erinnern.

Aber es war Fräulein Nunnemann, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Sie hatte sich merkwürdig wenig verändert in den letzten neun Jahren, wenigstens war sie nicht hübscher geworden. Das runde Gesicht hatte eine Anzahl von feinen Fältchen mehr erhalten, die kleine Gestalt hatte sich noch etwas üppiger abgerundet und das Himmelblau des Gewandes hatte sich zu einem Kornblumenblau vertieft; aber der Ausdruck der schwimmenden, gutmütigen Augen, der kunstvolle Lockenaufbau und auch der bis auf einige der herrschenden Mode gemachte kleine Zugeständnisse ganz besondere Schnitt des Kleides war noch derselbe wie damals. Nie, auch nur für eine Minute, hätte ich Fräulein Nunnemann verkennen können.

„Sie erkennen mich gewiß nicht,“ sagte ich, „es ist so lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und ich war damals –“

„Ich weiß allerdings nicht,“ unterbrach mich Fräulein Nunnemann mit einem jener Knixe, deren ich mich so lebhaft entsann, „mit wem ich das Vergnügen habe, zu – vermutlich eine frühere Schülerin? – Sie müssen es entschuldigen; ich habe so unendlich viel verschiedene Schülerinnen gehabt, daß es mir leicht passieren kann – aber wenn Sie mir gütigst Ihren werten Namen nennen wollten, so –“ und sie knixte wieder.

Ich nannte Namen und Heimat und auch das Jahr, in welchem ich die Ehre gehabt hatte, Fräulein Nunnemanns Zögling zu sein.

Da ging ein helles Leuchten über Fräulein Nunnemanns ältliches Gesicht, und sie streckte mir in überwallender Zärtlichkeit ihre beiden kleinen dicken Hände entgegen.

„Aber Kindting – natürlich erinnere ich mich Deiner – selbstverständlich! Du hast ja noch ganz das alte Gesicht behalten. Aber wenn man so in der Welt herumkommt wie ich, da besinnt man sich nicht gleich. Ach, es war eine reizende Zeit, die ich bei euch verlebt habe – reizend! Eine meiner liebsten Jugenderinnerungen!“

Sie zog meinen Arm durch den ihrigen und ging mit mir weiter. „Was für ein großes Mädchen Du geworden bist – und wie geht es in eurem lieben Städtchen? Leben noch alle, mit denen ich mich damals so innig befreundete?“

Ich fing an, ihr einiges mitzuteilen, wovon ich meinte annehmen zu dürfen, daß es sie ein wenig interessieren würde. Aber sie unterbrach mich: „Was ist aus dem guten Beseler geworden, dem Kandidaten, weißt Du, Kindting, der mir damals so den Hof machte? Ist er verheiratet?“

„Machte er Ihnen den Hof?“ fragte ich halb lachend, und es ist nicht ganz unmöglich, daß ich einen leisen Nachdruck auf die Fürwörter legte.

„Nu natürlich, Kindting – fabelhaft! Aber es ist begreiflich, daß Du Dich dessen nicht entsinnst, Du warst noch zu klein, um auf dergleichen zu achten. – Wie ist es mit ihm? Hat er eine Frau?“

„Er ist seit fünf Jahren tot,“ sagte ich.

„Tot!“ Fräulein Nunnemann schüttelte traurig den Kopf.

„Also wirklich tot! – Ach, es war ein lieber Mensch! Aber ich war damals jung und thöricht und wußte nicht, was mir gut war.“ Sie seufzte tief auf. „Da könnte man nun vielleicht eine wohlsituierte Witwe sein, und statt dessen muß man – aber sage, Kindting, wie kommst Du eigentlich hierher? Und so feierlich, in schwarzer Seide? Du willst doch nicht etwa auch –?“

„Ich gehöre hierher,“ sagte ich, „ich habe das Seminar besucht und will mein Examen machen. Wie aber sind Sie eigentlich hierher verschlagen worden?“

„Du willst Dein Examen machen?“ rief Fräulein Nunnemann mit großen Augen. „Aber das ist ja einfach reizend! Das ist eine Fügung des Himmels! Dasselbe will ich ja auch eben!“

„Sie, Fräulein Nunnemann?“ Ich hatte auf der Zunge, hinzuzufügen: „in Ihrem Alter!“, aber ich verschluckte es glücklicherweise.

Fräulein Nunnemann seufzte sehr tief auf, und das eben noch so strahlende Gesicht wurde wehmütig.

„Diese neuen Einrichtungen, Kindting,“ sagte sie gedrückt, „diese neuen Einrichtungen zwingen einen ja dazu. Diese Seminare überall und diese neuen Gesetze – die Masse von geprüften Lehrerinnen, die einem jede Stelle gleich vor der Nase wegschnappen – wie gesagt, sie zwingen einen ja dazu, Kindting. In den Schulen wie in den Familien fragen sie ja jetzt allemal zuerst nach dem Prüfungszeugnisse. Ich sage Dir, Kindting, ich bin in unzähligen Stellungen gewesen, ich habe eine ganze Mappe voll der brillantesten Empfehlungen – mehr Zeugnisse als ich Jahre zähle, wirklich, Kindting, und eines immer besser als das andere, aber glaubst Du, es nützt mir etwas? Nicht so viel!“ Und sie schnippte mit den Fingern.

Ich schüttelte in Ermangelung einer anderen passenden Antwort bedauernd den Kopf und sagte: „Unglaublich!“

Fräulein Nunnemann seufzte noch einmal und noch tiefer als vorher.

„Ich für meine Person lege durchaus gar keinen Wert auf Prüfuugen – gar keinen, wirklich, Kindting! Es ist nur Glücksspiel. Es würde mir gar nicht eingefallen sein, mich darauf zu kaprizieren. Aber wenn einem der saure Apfel so dicht unter die Nase gehalten wird, kann man ja nicht gut anders, als hineinbeißen.“

„Aber Fräulein Nunnemann,“ meinte ich ermutigend, „so entsetzlich sauer kann er Ihnen doch nicht sein. Wenn man so lange unterrichtet hat wie Sie, ist man des Erfolges doch gewiß sicher.“

Fräulein Nunnemann schwieg ein Weilchen. „Das bin ich ja auch natürlich, Kindting,“ sagte sie dann etwas unsicher, „natürlich – selbstverständlich! Ich würde ja auch weiter gar kein Wort [546] darüber verlieren, wenn ich nicht immer eine ganz eigenartige und sozusagen unüberwindliche Abneigung gegen einzelne Fächer gehabt hätte. Ich gestehe Dir zum Beispiel offen, Kindting, rechnen kann ich nicht. Habe ich nie gekonnt. Es liegt nicht in mir. Und dann Geschichte und Geographie siehst Du, das sind Dinge, für die man ein ganz spezielles Talent haben muß. Das ist nicht jedem gegeben; man kann nicht dafür. Ebenso geht es mit der Naturkunde. Dies sind ja Fächer, die sich für den weiblichen Geist durchaus nicht eignen. Ich bin immer ausgeprägt weiblich gewesen, Du weißt es, Kindting, und ich leugne nicht, wenn sich nicht jemand findet, der mir beim Examen in diesen Dingen ein wenig Hilfe leistet, so weiß ich nicht, wie es mir ergehen soll. In allem übrigen bin ich natürlich sattelfest – aber diese vier Fächer und etwa noch die französische Grammatik, die sind mir mehr oder weniger sämtlich fremd.“

„Sie scherzen, Fräulein Nunnemann!“ sagte ich, sie ganz erschrocken ansehend.

„Keine Spur – wirklich Kindting, keine Spur! Und siehst Du,“ sie klopfte mich freundlich auf die Wange, „darum war ich vorhin so entzückt, als ich hörte, wir würden zusammen das Examen machen. Es ist ja eine offenbare Fügung des Himmels. Denn, nicht wahr, Kindting, Du wirst doch Deine Lehrerin, die Dich immer so lieb gehabt hat und der Du so viel dankst, nicht im Stiche lassen? Du wirst mir aushelfen?“

„Aber Fräulein Nunnemann!“ rief ich, sobald ich begriff, was sie eigentlich wollte, mit der ganzen Empörung des Juristenkindes und der wohlgedrillten Seminaristin, „das darf ich ja nicht! Und selbst, wenn ich es trotzdem wollte, ich könnte es ja gar nicht!“

„Natürlich kannst Du es,“ sagte Fräulein Nunnemann tief verletzt, „man kann alles, aber freilich, wenn Du nicht willst! – Kindting,“ fuhr sie überredend fort, „ich habe Dir doch so oft etwas nachgesehen, als ich damals bei Euch war, das willst Du mir doch gewiß nicht dadurch vergelten, daß Du mich nun im Stiche läßt!“

„Ich könnte Ihnen ja aber gar nicht helfen,“ sagte ich, immer noch halb empört, halb verblüfft. „Wie sollte ich es denn machen? Erstens weiß ich doch noch nicht einmal, ob ich selbst bestehe, und zweitens sitzen wir ja nach dem Alphabet, also ist Ihr Platz weit von meinem entfernt. Wie sollte es mir denn möglich sein, Ihnen zu helfen, Fräulein Nunnemann? Können Sie das nicht einsehen?“

Nein, sie konnte es nicht einsehen. „Das habe ich nicht gedacht, daß Du mir alle meine Liebe so lohnen würdest,“ beharrte sie mit Thränen in den Augen, „denn die Sache ist ganz einfach – Du willst nicht.“

„Nein, ich will auch nicht, weil ich es nicht darf.“

Da zog Fräulein Nunnemann ihren Arm aus dem meinen und sah mich mit wahrhaft tragischem Ausdruck an.

„Gut,“ sagte sie, indem sie den rechten Zeigefinger drohend gegen mich schüttelte, „Du trägst dann aber auch die Verantwortung, wenn ich durchfalle und mein Leben künftig zerstört ist. Wer weiß, was ich thue, wenn ich zurücktreten muß. Nimm Du es dann auf Dein Gewissen!“

Eben wollte ich gegen diese unerhörte Zumutung lebhaft protestieren, da erklang die große Schulglocke, die uns zur Schlacht auf Leben und Tod rief. Ich ließ Fräulein Nunnemann stehen und eilte, in das große Klassenzimmer zu kommen, in dem die Prüfung abgehalten werden sollte. Fräulein Nunnemanns kornblumenblaues Kleid leuchtete einige Bänke vor mir aus all den ehrbaren schwarzen Gewändern, die es umgaben, herausfordernd hervor. Mich mit ihr in irgend eine Verbindung zu setzen, wäre selbst bei dem besten Willen unmöglich gewesen, und das war mir wirklich lieb.

Der erste Tag war den schriftlichen Arbeiten, der zweite und dritte der mündlichen Prüfung und der vierte und fünfte den Probelektionen gewidmet. Je weiter die Prüfung fortschritt, je seltener wurden die bleichen Wangen und je häufiger die fröhlich glänzenden Angen in unseren Reihen. Die Sache war ja ganz anders, als wir sie uns vorgestellt hatten. Es fiel keinem Menschen ein, Unerhörtes von uns zu verlangen, und nur sehr wenige hatten Ursache, einen üblen Ausgang zu fürchten.

Zu diesen wenigen gehörte das unselige Fräulein Nunnemann. Schon der erste Tag sollte ihr verhängnisvoll werden. Ich muß annehmen, daß sie gegen noch andere als die von ihr namhaft gemachten Fächer von jeher eine unüberwindliche Abneigung gehabt hatte. Ein paarmal, da ich von meinen schriftlichen Arbeiten empor und zufällig gerade auf sie blickte, sah ich sie lässig zurückgelehnt sitzen, ein fast unbeschriebenes Blatt vor sich, als gäbe sie den Versuch auf, etwas Unmögliches zu vollbringen. Als die gefürchteten Rechenaufgaben an die Reihe kamen, erhob sich plötzlich Fräulein Nunnemann von ihrem Sitze, und in die allgemeine lautlose Stille hinein klang es so erschreckend deutlich, daß alle Köpfe emporfuhren: „Dürfte ich vielleicht ganz ergebenst bitten, diesen Aufgaben eine etwas andere Form geben zu wollen? In der vorliegenden sehe ich mich außer stande, sie zu lösen.“

„Ich bedaure, mein Fräulein,“ entgegnete der Wache haltende Schulrat kühl, „daß wir unsere Anforderungen nicht nach Ihren Kenntnissen bemessen können.“

Er hatte sie schon ein paarmal mit nicht eben liebevollen Blicken gemustert, wenn er ihre so wunderbar wenig umfangreichen Arbeiten in Empfang nahm.

Fräulein Nunnemann zuckte mit den runden Schultern. „Dann muß ich bitten, mich von der Prüfung im Rechnen dispensieren zu wollen.“

„Ganz nach Ihrem Belieben, mein Fräulein.“

Worauf sich Fräulein Nunnemann erhob, ihre blaue Schleppe zusammenraffte und das Zimmer mit zurückgeworfenem Lockenhaupt und großer Würde verließ. Wir anderen warfen uns gegenseitig scheue Seitenblicke zu. Wer in einem gläsernen Hause wohnt, wirft nicht leicht mit Steinen, und ich glaube, keine von uns fühlte sich versucht, zu lachen.

Dies geschah unmittelbar vor der Erholungspause, die uns gewährt wurde. Als dieselbe begann und wir tief aufatmend in den Garten hinaustraten, spähte ich vergebens nach Fräulein Nunnemann, bis ich einen Zipfel ihres blauen Gewandes auf dem Korridor erblickte, wo sie, umgeben von unseren grimmen Examinatoren, heftig gestikulierend stand, um dann plötzlich aus ihrer Mitte zu verschwinden. Als wir uns auf den Ruf der Glocke wieder versammelten, fehlte sie.

„Wissen Sie schon, die mit dem blauen Kleide ist zurückgetreten,“ raunte mir meine Nachbarin noch hastig zu, als wir uns auf unsere Plätze begaben. „Die Herren haben ihr vorhin erklärt, daß keine Hoffnung für sie wäre. Selbst das brillanteste ‚Mündliche‘ könnte sie nicht mehr retten. Die Aermste!“

„Ja, die Aermste!“ dachte auch ich in ehrlichem Mitgefühl. Der Gedanke, was Fräulein Nunnemann nun wohl beginnen würde, drängte sich immer wieder zwischen die uns gestellte Aufgabe und mich, so daß ich ein paarmal ganz täppische Fehler zu korrigieren hatte. Sie hatte doch gesagt, sie wüßte nicht, was geschähe, wenn sie die Prüfung nicht bestände und damit ihr ferneres Leben zerstört wäre. Wie nun, wenn sie sich in der Verzweiflung in das Wasser stürzte oder sich mit Blausäure vergiftete oder sonst etwas Gräßliches und nie wieder gut zu Machendes beginge? Mußte es den Herren, die sie in solche Not trieben, und die trotzdem so heiter und gelassen zu sein schienen, nicht ein lebenslänglicher Gewissensvorwurf bleiben? Wenn mir nun etwas Aehnliches passiert wäre? Würde ich es wagen, nach einer solchen schmählichen Niederlage anständigen Menschen überhaupt noch in das Gesicht zu sehen? Schwerlich. Ich wollte noch heute nachmittag, nachher gleich, nachdem wir hier vorläufig entlassen waren, zu ihr gehen, sie zu trösten, ich – ja, weiter kam ich in den Gedanken nicht, denn ein hastiger, unwillkürlicher Blick auf die Wanduhr belehrte mich, daß mir nur noch zehn Minuten Zeit blieben, und emsiger als vorher glitt meine Feder über das Papier.

„Wir danken Ihnen für heute, meine Damen,“ sagten die Herren, nachdem unsere letzten Arbeiten eingesammelt worden waren, und mit einem Seufzer der Erleichterung erhoben wir uns alle. Die Externen schwärmten wie aufgescheuchte Bienen hinaus auf den Flur, nahmen ihre Hüte und Umhänge und gingen in ihr Quartier, und auch wir Pensionsküchlein hatten heute zum erstenmal Erlaubnis, unbeaufsichtigt einen Erholungsspaziergang zu machen. Schnell eilte ich in den Schlafsaal, vertauschte den „Examensfrack“ mit einem weniger feierlichen Kleide und ging auf die Straße.

Als ich jedoch vor die Hausthür trat, wurde mir eine Ueberraschung der verblüffendsten Art. Vor der gegenüberliegenden Konditorei saß auf einem eigens zu diesem Zweck dorthin getragenen Stuhl, denn es war sonst in der Stadt nicht gebräuchlich, auf der Straße zu essen und zu trinken, die Falten ihres Kornblumengewandes [547] malerisch um sich drapiert, Fräulein Nunnemann, einen Teller mit einer sehr großen Portion Eis vor sich. Sie löffelte vergnügt und nickte und lächelte, lächelte und nickte den Damen zu, die noch vor einer Stunde die Zeuginnen ihrer Niederlage gewesen waren und nun gruppen- und Paarweise langsam an ihr vorüberzogen.

Als aber die Herren Examinatoren endlich auch aus dem Hause traten und bei ihrem Anblick pflichtschuldigst den Hut zogen, da erhob sie sich von ihrem Sitze, machte ihnen einen tiefen und ausnehmend gut gelungenen Knix und lächelte geradezu triumphierend dabei.

Ich hatte ganz still gestanden und ihr verwundert zugeschaut, bis auch die letzten Nachzügler vorüber waren, und nun erst schien sie mich zu bemerken. Sie winkte lebhaft, ich möchte zu ihr hinüberkommen, und obschon ich einsah, daß ich sie vor Verzweiflung nicht zu retten brauchte, wußte ich doch nichts Besseres zu thun, als zu ihr hinzugehen. Zum erstenmal in den zwei Jahren, die ich in der Pension verlebt hatte, betrat ich die uns bis dahin streng verbotene Konditorei mit dem Bewußtsein, es ungescheut thun zu dürfen. Nicht, daß ich sie vorher wirklich niemals betreten gehabt hätte, aber es war bisher eben ohne dies stolze Bewußtsein geschehen.

Fräulein Nunnemanns sanftes Herz nährte offenbar keinen Groll mehr gegen mich. Vielleicht hatte sie inzwischen selbst begriffen, daß es wirklich nicht in meiner Macht gestanden hatte, ihr zu helfen. Sie streckte mir die Hände in der innigsten Weise entgegen.

„Komm her, Kindting, Du mußt mein Gast sein. Was magst Du? Eis? Chokolade? Es ist hier alles sehr gut. Ich habe bereits Verschiedenes durchprobiert. Das Eis empfehle ich Dir besonders.“

„Ja, ja,“ sagte ich ängstlich, „aber, bitte, nicht hier draußen auf offener Straße, liebes Fräulein Nunnemann, daran ist man hier nicht gewöhnt.“

„Nicht? Das thut nichts, Kindting, dann gehen wir hinein. Sie sind jetzt ohnehin alle vorbei und es zieht hier.“

„Aber warum sitzen Sie dann überhaupt hier?“ fragte ich verwundert.

Fräulein Nunnemann nahm ihren halbgeleerten Eisteller in die Hand, schob ihren Arm unter den meinen und zog mich in den Laden.

„Das will ich Dir sagen,“ erklärte sie dabei, einen letzten Blick auf die Straße zurückwerfend. „Ich habe hier schon eine Stunde gesessen – nicht weil mir dieser Aufenthaltsort besonders anziehend gewesen wäre – wirklich nicht, Kindting – sondern weil ich das meiner Ehre schuldig bin. Alle die kleinen Gänse, die da eben vorbeischnatterten und in ihrem Herzen vorhin über mich hohngelacht haben, und die hochnäsigen Herren Schulräte, oder was sie sonst sein mögen, brauchen sich nicht einzubilden, daß ich mir auch nur für einen Pfennig aus ihnen und ihrem Examen mache. Natalie Nunnemann hat sich vorhin zum Gespötte des versammelten Publikums hergeben müssen, das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen, Kindting.“

Ich sah sie mit großen Augen an, sagte aber nichts. Fräulein Nunnemann führte mich nun in einen einsamen Winkel der ohnehin beinahe menschenleeren Konditorei, bestellte Eis für mich und machte es sich an einem Tischchen bequem. Dabei verschwand der kampfesmutige Ausdruck ganz auf einmal von ihrem Gesichte, dasselbe wurde kummervoll und ernst, und nun sagte sie mit einer ganz anderen, niedergeschlagenen und kleinlauten Stimme: „Dir kann ich es ja sagen, Kindting, es hört uns niemand von den anderen, und ich glaube nicht, daß Du über mich hohnlachst, Du hattest immer ein gutes Herz – das Wasser geht mir bis an die Kehle! Ich weiß buchstäblich, wirklich buchstäblich nicht, was nun aus mir werden soll. Die Wahrheit zu sagen, ich finde es ungerecht, Dinge von einem zu verlangen, die man doch nun einmal nicht leisten kann. Die Leute müssen ja doch Rücksicht auf die Verhältnisse nehmen. Ich frage Dich nun, Kindting – was wird aus mir?“

Ich wußte es natürlich nicht und fragte, ob Fräulein Nunnemann keine Verwandten hätte, bei denen sie sich einige Zeit aufhalten und auf ein neues Examen gründlich vorbereiten könnte, aber sie schüttelte die Locken. Sie besaß nur einen alten Onkel, bei dem sie in ihrer Jugend gelebt zu haben schien, und der sich, wie sie sagte, in guten Verhältnissen befand, ohne gerade reich zu sein. Mit demselben hatte sie sich jedoch bereits vor vielen Jahren so gründlich überworfen, daß er, wie sie sich ausdrückte, den Wunsch geäußert hatte, sie möchte sich aus seinem Hause entfernen und es nicht wieder betreten. Und warum? Nur weil Fräulein Nunnemann sich nicht hatte entschließen können, in sein Geschäft, in dessen Geheimnisse er sie bereits völlig eingeweiht hatte, einzutreten, um dasselbe später ganz zu übernehmen. Sie hatte nun einmal den unbezwinglichen Drang nach höheren Lebenszielen in sich gespürt! Was kann man denn dafür, wenn man so idealistisch veranlagt ist? Welches Geschäft der cholerische alte Herr betrieb, erwähnte Fräulein Nunnemann nicht, und es interessierte mich auch nur mäßig.

Dagegen that es mir wirklich aufrichtig leid, als sie fortfuhr: „Du hältst mich meinem ganzen Auftreten nach vielleicht für vermögend, Kindting,“ – worin sie übrigens irrte. „Ich bin es nicht. Ersparnisse macht man nicht, wenn man kein Talent zum Rechnen hat. Ein paar Wochen kann ich mir wohl noch helfen, aber dann hat das Lied ein Ende. Wenn ich nicht bald eine Stellung wiederfinde, weiß ich, wie gesagt, buchstäblich nicht, was aus mir werden wird.“

Ich erbot mich, an meinen Vater ihretwegen zu schreiben, um seinen Rat zu erbitten. Hatte er doch, wie ich wußte, schon vielen Menschen geholfen.

Sie ergriff diesen Gedanken mit großer Behendigkeit und schon halb getröstet. Zunächst, so erklärte sie, wollte sie versuchen, auf eigene Hand noch eine Stellung zu finden, mißlänge ihr das, so würde sie mir schreiben, damit ich meinem Vater die Sache darlegen könnte. Als dies abgemacht war, hatte Fräulein Nunnemann ihre gute Laune bereits fast ganz zurückgewonnen. Sie zog mit fröhlicher Miene ihre Börse, um den Konditor zu bezahlen, steckte sie aber ebenso bereitwillig wieder ein, als ich es wagte, dieses Vorrecht für mich in Anspruch zu nehmen, obgleich die großen Portionen Eis, Kuchen und Chocolade, die sie im Laufe des Nachmittags vertilgt hatte, ein recht bemerkbares Loch in meinen kleinen, bescheidenen Beutel machten.

Und sie trennte sich endlich, da sie mit dem nächsten Zuge abreisen wollte, unter Versicherungen der innigsten Freundschaft von mir.

Ich glaube nicht, daß mein Vater, als ich eine Woche später glückstrahlend in die Heimat zurückgekehrt war und, vom Examen und von allem, was drum und dran hing, berichtend, auch von Fräulein Nunnemann erzählte, sehr entzückt war über die Aufgabe, die ich ihm zugedacht hatte, aber er sagte nichts darüber.

Mutter freilich konnte sich nicht enthalten zu bemerken: „Wenn Du uns da nur nicht etwas Schönes eingebrockt hast. Am Ende kommt sie nun hierher, wenn sie nichts anderes findet, und was sollen wir dann mit ihr beginnen?“

„Sie wird ja wohl nicht,“ sagte mein lieber Vater gutmütig, mir mit seiner schmalen Hand über die dicken, schwarzen Flechten, die sein Stolz waren, und über die heißen, in der letzten Zeit ein wenig schmal gewordenen Wangen streichelnd, „und wenn auch! Für einige Zeit wollen wir der armen alten Seele einen Zufluchtsort nicht versagen.“

Jedoch ein solches Opfer wurde nicht von uns verlangt. Als ich etwa vier Wochen wieder daheim war, traf eines Tages ein großer, mit sehr breitem Trauerrande versehener Brief von unbekannter Hand an mich ein. Banger Ahnungen voll, sah mir Mutter auf Hände und Augen, als ich ihn verwundert und ängstlich in der Hand hin und herdrehte, den Poststempel zu entziffern suchte und vergebens nachsann, wo ich die Handschrift schon möchte gesehen haben.

„Aber so öffne doch – dann wissen wir’s ja!“ rief sie endlich, von Ungeduld gefoltert.

Das war ein Vorschlag zur Güte. Ich öffnete, und heraus fiel ein vier Seiten langer, „Natalie Nunnemann“ unterzeichneter Brief. Auch eine Photographie lag dabei, Kabinettformat – Natalie Nunnemann in tiefster Trauer, in Krepp gehüllt bis an das Kinn und an die Handgelenke, mit einer Miene würdevoller, aber heiterergebener Wehmut – kurz, Natalie Nunnemann in ihrem Schmerze um ihren leider aus diesem irdischen Jammerthal im siebenundsiebzigsten Jahre seines reichgesegneten Lebens vor acht Tagen abgeschiedenen Onkel Peter Nunnemann. [557] Fräulein Nunnemanns Brief begann sehr schwermütig, ihrem gerechten Schmerz um den geliebten Dahingeschiedenen Ausdruck gebend. Er ging dann dazu über, mich darauf aufmerksam zu machen, wie doch jede Bitterkeit auch ihren Tropfen Honigseim in sich trüge, und er schloß damit, mir triumphierend mitzuteilen, daß der würdige Peter Nunnemann bei seinem Tode kein Testament hinterlassen hätte, daß infolgedessen sein gesamtes, ziemlich beträchtliches Vermögen an seine einzige überlebende Verwandte, seine Nichte Natalie, gefallen sei, und daß sich Fräulein Nunnemann deshalb augenblicklich in der glücklichen Lage sähe, ihrer ferneren Zukunft ohne die leiseste Sorge entgegenzusehen. Fräulein Nunnemann verfehlte auch nicht, herzlich hinzuzufügen, daß es ihr immer Vergnügen machen würde, wenn sie mir auf meinem Lebenswege einmal von Nutzen sein könnte.

Kurz, es war ein wirklich und durchaus erfreulicher Brief, selbst in Bezug darauf, daß er gar nicht so schlecht stilisiert war, als man wohl eigentlich hätte erwarten dürfen. Er ging samt ihrem Bilde in unserem Städtchen von Hand zu Hand, stand doch nichts darin, was ein Geheimnis hätte bleiben müssen, man entsann sich mit Heiterkeit der alten, längst vergangenen Zeiten, freute sich, daß Fräulein Nunnemann jetzt als Lehrerin keinen Schaden mehr anrichten könnte, und sie war mit einem Worte, nachdem sie so lange bei uns ganz verschollen gewesen war, für eine kurze Weile wieder die Heldin des Tages geworden.

Aber es sollte damit noch nicht genug sein. Kaum einen Monat nachdem ich einen die Beileidsbezeigungen und Glückwünsche unserer ganzen Familie enthaltenden Brief an sie abgesandt hatte, traf wieder eine Antwort von ihr ein. Diesmal trug das Couvert keinen Trauerstreifen, im Gegenteil war es mit einer Oblate in Form einer roten Rose verschlossen. Der Brief war sehr schwer, ich hatte Strafporto zu zahlen, als ich ihn empfing, und als ich ihn öffnete, fielen mir als erstes drei Photographien in die Hand. Das erste Bild zeigte eine Kindergruppe: vier kleine magere, verschüchtert aussehende Mädchen zwischen vier und zehn Jahren, sämtlich in großkarierten, sogenannten schottischen Kleidern, ebenfalls sämtlich mit kurzen, dünnen, blonden Haarzöpfchen, die sorgsam, soweit sie eben reichen wollten, über die Schultern nach vorn gelegt waren, um zur Geltung zu kommen.

[558] Auf dem zweiten Bilde präsentierte sich ein breites, glattrasiertes, nicht eben häßliches, aber ziemlich gewöhnliches Männergesicht, und die dritte Photographie endlich stellte Fräulein Nunnemann, nun nicht mehr in Trauer, sondern in ein lichtes, vermutlich blaues Gewand gehüllt, in anmutiger und zärtlicher Gruppierung mit eben diesem breitgesichtigen Manne dar. Die Retouche hatte für Fräulein Nunnemann gethan, was irgend in ihren Kräften gestanden, dennoch sah man selbst jetzt noch dem Bilde an, daß der Mann der erheblich jüngere von beiden sein mußte. Das Bild sprach für sich selbst: Fräulein Nunnemann war verlobt.

Ja, Fräulein Nunnemann war verlobt! Der Traum ihres Lebens hatte sich erfüllt. Wie fremd es auch dem staunenden Ohre klingen mochte – Fräulein Nunnemanns Liebesfrühliug war endlich, endlich angebrochen. Was sie vergebens erstrebt hatte so viele Jahre hindurch, worauf sie im tiefsten Winkel ihres Herzens wohl schon zu verzichten begann, das war ihr nun plötzlich beschieden, der Mitwelt und ihr selbst zum freudigen Erstaunen.

Wenn je eine junge Braut ihrem Glücksgefühl einen überschwenglichen Ausdruck verlieh, so war Fräulein Nunnemann diese junge Braut. Der den Bildern beigegebene Brief quoll über von Wonne und Jubel. Ihr „Alex“ war ein herrlicher Mensch, mit dem eine tiefinnerlichste Sympathie der Seelen sie unlöslich verband. Auch von den prosaischen Äußerlichkeiten erfuhren wir einiges. Alex war, wie es schien, bis jetzt Commis in einem Manufakturwarengeschäft, beabsichtigte aber, sich nun selbständig zu machen. Kennengelernt hatte Fräulein Nunnemann ihn, als sie – seltsamer Zufall! – die Gewänder für die Trauer um den Tod ihres Onkels anschaffte. Eine wunderbare Fügung hatte sie damals eben in denjenigen Laden und zu demjenigen Verkäufer geführt, der ihr so glückbringend verhängnisvoll werden sollte.

Alex war Witwer, worauf ja schon das Bild mit der Kindergruppe hindeutete. Fräulein Nunnemann freute sich der Aussicht, ihr erzieherisches Talent den lieben kleinen Mädchen zu gute kommen zu lassen. Die Hochzeit sollte bereits im Laufe der nächsten Wochen gefeiert werden. Die Braut war noch zweifelhaft, ob sie weißen oder cremefarbenen Atlas anziehen würde, und gedachte, ihrem durch feinen Geschmack sich auszeichnenden Alex die Entscheidung in dieser wichtigen Frage zu überlassen.

Mein guter Vater schüttelte leise den Kopf, als er Brief und Bilder aus der Hand legte. „Arme Seele,“ sagte er halblaut. Mutter meinte ärgerlich: „Alter schützt ja leider vor Thorheit nicht,“ und schüttelte den Kopf etwas kräftiger als Vater. Wir Jungvolk fanden die ganze Geschichte eine Weile wahrhaft herzerquickend komisch, aber nach Verlauf einiger Tage, nachdem wir wieder einen Brief mit den nötigen Glückwünschen zur Post gegeben hatten, tauchte irgend etwas Neues auf, wir sprachen nicht mehr von Fräulein Nunnemann, und da sie von nun an auch nicht mehr an uns schrieb, dachten wir an sie und ihren Alex bald gar nicht mehr. War sie doch den jüngeren Hausgenossen persönlich gar nicht und den älteren nicht eben in der vorteilhaftesten Weise erinnerlich.


Jahre vergingen – ihrer sieben an der Zahl. Der Tod kam und trieb mich aus meiner alten, geliebten – ach, so heiß geliebten Heimat. Die Liebe folgte ihm auf dem Fuße und führte mich in eine neue. Der schöne Beruf, den ich mir erwählt hatte, wurde mir leise aus der Hand gewunden, und ein anderer, noch schönerer ward mir dafür geschenkt. In einem neuen Leben stand ich, es mit neu geöffneten Augen, frisch erwachtem Verständnis ansehend und genießend, eines guten, treuen Mannes glückliche Frau.

Unsere Hochzeit war in den Winter gefallen, und wir hatten es deshalb vorgezogen, da wir nicht reich genug waren, um nach dem Süden zu gehen, unsere bescheidene Hochzeitsreise nach Thüringen bis auf den Sommer zu verschieben. Und mochte sie nun bescheiden sein, es war eine herrliche Reise, auf der ich so viel Neues und Schönes sah, wie ich mir vorher nie hatte träumen lassen, und gewiß viel mehr, als mancher mit blasiertem Sinn und verwöhnten Augen in der Schweiz, in Italien oder Norwegen nur je entdeckt hat.

Als wir uns einige Tage in Friedrichroda aufhielten, wurde dort eben ein großes Wohlthätigkeitskonzert znm besten irgend eines Unternehmens, welches ich vergessen habe, gegeben. Wir wollten dasselbe gern besuchen, doch fürchtete ich mit Recht, in meinem einfachen Reisekleide, und ein anderes führte ich nicht bei mir, unter der Schar der eleganten Kurgäste aufzufallen. Zwar recht gute weiße Spitzen an Hals und Aermeln, die ja leicht zu kaufen waren, ein paar frische Blumen und elegante Handschuhe konnten, so meinte ich, den Anzug ziemlich präsentabel machen, wäre nur nicht meine ganz veraltete Frisur gewesen, die mir unter allen Umständen ein kleinstädtisches Aussehen verleihen mußte. Ich hatte ungewöhnlich reiches und langes Haar, auf welches ich, daß ich’s nur gestehe, ein wenig eitel war, und das ich bei dieser Gelegenheit gern zu seiner vollen Geltung gebracht hätte.

Also erkundigte ich mich, wo ich hübsche Spitzen kaufen und wo ich mich modern frisieren lassen könnte, und erhielt die Antwort, die Spitzen bekäme ich am schönsten und preiswürdigsten bei einem gewissen jungen Mädchen, welches sie selbst klöppelte und sich in jedem Sommer hier aufzuhalten pflegte, das Frisieren besorge eine Frau in demselben Hause. Das Haus beschrieb man mir nach der gewohnten Weise: erst links, dann rechts, dann gradeaus, dann rechts um die Ecke, dann durch die kleine Pforte, dann wieder links etc. Trotz dieser in ihrer Art gewiß guten, aber ein bißchen konfusen Angaben fand ich die Wohnung glücklich heraus.

Ein lang aufgeschossenes, blondes Mädchen saß auf einer kleinen Bank vor der Hausthür, hatte sich beide Ohren mit den Fingern verstopft und lernte eine Geschichtstabelle auswendig, blickte aber sofort empor und nahm die Finger aus den Ohren, als mein Schatten ihm auf das Buch fiel. Es mochte etwa vierzehn Jahre zählen und hatte kluge, ernsthafte Augen.

„Wohnt hier vielleicht ein junges Mädchen, welches Spitzen verkauft?“ fragte ich.

„Gewiß,“ entgegnete das Kind freundlich, „es ist meine Schwester. Wollen Sie, bitte, näher treten?“

„Und kann man sich hier im Hause auch frisieren lassen?“

„Freilich, das thut Mama. Aber ich weiß nicht, ob sie jetzt gerade Zeit hat. Sie ist heute sehr beschäftigt.“

Das Mädchen war schlicht, aber sehr sauber und nett gekleidet und machte mir einen entschieden angenehmen Eindruck. Sie legte die Geschichtstabelle auf die Bank und ließ mich bescheiden an sich vorüber in das Haus treten, um mir dann die Stubenthür zu öffnen.

Ein zweites, vielleicht um drei Jahre älteres ebenso schlankes, ebenso blondes und ebenso nett aussehendes Mädchen erhob sich vom Fenster, wo es mit seinem Klöppelkissen gesessen hatte, und trat mir höflich entgegen, während sich meine Führerin an ihre Geschichtstabelle zurück begab.

Es war ein einfaches, aber ganz anständig möbliertes und sehr reinliches Gemach, in dem ich stand, und in welches die Nachmittagssonne freundlich hereinschien. Das eine Fenster zierten ein paar Blumentöpfe, das andere schien der Arbeitsplatz für die junge Spitzenklöpplerin zu sein. Ich nannte ihr meine beiden Wünsche, und sie sagte, ihre Mama würde in zehn Minuten Zeit haben, mich zu frisieren, augenblicklich sei noch eine andere Dame bei ihr, unterdes dürfte sie mir wohl ihre Spitzen vorlegen, was sie auch that. Sie waren sehr gut gearbeitet und nicht zu teuer, und gerade hatte ich meine Auswahl getroffen und den geforderten Preis bezahlt, als sich die Thür zum Nebengemach öffnete.

„Da kommt Mama,“ sagte das Mädchen, die letzten Spitzen mit vorsichtigen Fingern wieder in den Kasten räumend, und ich wandte mich unwillkürlich um.

Meine Augen wurden sehr groß, und doch meinte ich noch, ihnen nicht trauen zu dürfen. War das – konnte das – war es wirklich denkbar, daß die kleine fette Frau, welche dort auf der Thürschwelle stand, Fräulein Nunnemann war?

Sie mußte es sein, wenn Fräulein Nunnemann nicht eine Doppelgängerin oder Zwillingsschwester hatte, denn Gesicht, Figur und Locken waren, von solchen Veränderungen abgesehen, wie sieben Jahre sie wohl mit sich bringen konnten, unverkennbar die ihrigen, und selbst der Knix, mit dem sie eingetreten war, schien ihr ganz spezielles Eigentum. Aber das blaue Kleid fehlte. Sie trug wohl eine große himmelblaue Krawattenschleife, aber ein Gewand von bescheidenem Grau und einem ihrem Alter wenigstens annähernd angemessenen Schnitt und darüber eine große, blendend weiße Latzschürze. Konnte es also Fräulein Nunnemann sein? Und wie wäre sie hierher, in diese Verhältnisse gekommen? Sie, die reiche Erbin Natalie Nunnemann, oder vielmehr Frau Natalie – ja, den Namen des geliebten Alex hatte ich vollständig vergessen.

Alle diese Gedanken gingen mir mit Blitzesschnelle durch den Kopf, aber ehe ich sie noch ganz beendet hatte, rief es schon von der Thür her: „Kindting! – Aber bist Du es denn wirklich?“

[559] „Fräulein Nunnemann!“ rief ich in demselben Augenblick. Es wäre mir unmöglich gewesen, sie mit einem anderen Namen zu nennen, selbst wenn ich mich seiner entsonnen hätte.

Das junge Mädchen stand eine Minute und sah uns verwundert an, wie wir jetzt auf einander zueilten, um uns zu begrüßen, dann setzte sie leise ihren Spitzenkasten in einen Schrank und verließ geräuschlos das Zimmer.

„Aber ich kann’s noch gar nicht glauben, daß Sie es wirklich sind,“ sagte ich, als ich glücklich auf einem Stuhle saß und Fräulein Nunnemann meine beiden Hände in den ihren hielt. „Ich kam hierher, um eine Frau aufzusuchen, von der ich mich frisieren lassen wollte –“

„Die Frau bin ich, Kindting, und das Mädchen, das eben hinausging, ist meine Dora, meine Aelteste, ein liebes Ding und mir eine große Stütze.“

„Aber Fräulein Nunnemann – doch verzeihen Sie, ich sollte wohl sagen Frau – Frau –“

„Laß nur, Kindting,“ wehrte Fräulein Nunnemann ab, „der alte Name ist mir gerade so lieb. Er ist –“ sie senkte die Stimme und sah sich ein wenig ängstlich um, „im Vertrauen gesagt, Kindting, er ist der ehrlichere von den beiden. Nicht daß ich den neuen für gewöhnlich nicht benutzte – das muß ich ja schon der Mädchen wegen – aber ich höre den alten ganz gern von Dir. Laß es nur dabei bewenden.“

Es entstand eine kleine Pause. Ich wußte nicht recht, ob ich es wagen dürfte, nach Fräulein Nunnemanns Verhältnissen zu forschen, aber es war auch gar nicht nötig, sie sagte ganz von selbst: „Du wunderst Dich vielleicht, Kindting, daß Du mich hier so findest, aber siehst Du – ich habe keinen Mann mehr.“

„O,“ sagte ich bedauernd, „Sie sind Witwe?“

„Das nicht gerade, Kindting, oder wenigstens weiß ich nichts davon, obschon es wohl möglich ist. Nein, er verließ mich, Kindting, wirklich, buchstäblich, er verließ mich. – Ich liebte ihn,“ sagte das arme Fräulein Nunnemann betrübt, „und er liebte mich ja anfangs auch, aber ich fürchte, er war kein guter Mensch. Ich habe mich später oft gewundert, daß ein so schönes Gesicht der Spiegel einer so unschönen Seele sein kann, und es ist mir sogar in trüben Stunden zuweilen der Gedanke gekommen, er könnte mich vielleicht nur meines Geldes wegen geheiratet haben!“

Ich wagte nicht, zu sagen, daß ich dies für nicht ganz unmöglich hielte, und Fräulein Nunnemann fuhr fort: „Nach einem halben Jahre schon behandelte er mich sehr wenig gut. Ich darf wirklich wohl sagen, er behandelte mich schlecht.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern: „Im Vertrauen gesagt, Kindting – ich möchte nicht, daß die Mädchen mich hören – er schlug mich. Und ehe ein Jahr um war, entfernte er sich eines Tages und kehrte nicht zurück. Was er von meinem Gelde nicht schon durchgebracht hatte, das hatte er mitgenommen, und nun saß ich da mit den vier armen Würmern, und wir hatten alle fünf nichts, wovon wir leben konnten.“

Ich sprang von meinem Sitze empor. „Aber das ist ja – das ist ja geradezu – und haben Sie nicht nach ihm forschen lassen?“ rief ich.

Fräulein Nunnemann drückte mich sachte wieder auf meinen Stuhl nieder. „Das habe ich wohl,“ sagte sie, „aber siehst Du, Kindting, er hatte einen Vorsprung und wird wohl schon drüben in Amerika gewesen sein – oder anderswo. Jedenfalls war er nicht zu finden, und wenn er wieder gekommen wäre, so wäre es am Ende auch kein Glück gewesen.“

„Aber die Kinder,“ sagte ich, „was machten Sie mit denen?“

„Nu, siehst Du, Kindting – die mußte ich natürlich behalten. Es sagten mir damals Leute, ich könnte sie loswerden, wenn ich wollte, sie gehörten ja nicht mir und ich hätte keine Verpflichtungen, aber – na, ich hatte sie doch nun einmal als meine übernommen, Kindting, und lieb hatte ich sie doch auch gewonnen. Sie konnten ja doch auch nicht dafür, daß ihr Vater kein guter Mensch war. Und so dachte ich denn, ich will sie behalten in Gottes Namen, und es ist ja auch gegangen.“ Fräulein Nunnemann schwieg und strich an ihrer weißen Schürze herunter.

„Mit dem Unterrichten wollte es sich nicht wieder machen,“ sagte sie mit einem gutmütigen Lächeln, „und leben mußten wir doch nun einmal. Da habe ich meine alten Künste wieder hervorgeholt, die ich früher bei meinem Onkel gelernt hatte. Er war Friseur, Kindting, und ein recht guter, denn er hat sich ein hübsches Stück Geld damit verdient. Ich hatte früher gemeint, anderen Leuten Locken brennen, wäre nicht gut genug für mich. Na etwas sehr Vornehmes ist es ja nicht, aber die vier Mädchen waren hungrig und ich auch. Da habe ich denn, was an Scheren und Brenneisen aus Onkels Nachlaß noch da war, wieder in Gebrauch gesetzt, und wenn es auch zuerst ein bißchen ungeschickt ging, so habe ich mich doch bald wieder auf die alten Kunstgriffe besonnen. Zuerst ging es knapp her bei uns. Ich wurde mager und die Mädels wurden nicht fett – übrigens, das sind sie noch nicht, es liegt nicht in ihnen – und Ersparnisse haben wir auch nachher nicht gemacht. Du weißt, Kindting, rechnen kann ich nicht. Aber es wurde doch nach und nach immer besser, und seit meine Aelteste, die Dora. aus der Schule ist, den Haushalt besorgt und Spitzen klöppelt, und seit Paula, die zweite – die hat Verstand, sage ich Dir, Kindting! – unser Rechenmeister ist und Buch führt, fangen wir sogar an, ein bißchen zurückzulegen. Denn Haushaltung und Rechnen, das sind nun einmal Dinge, für die ich kein Talent habe.“

Trotz dieses Maugcls sah ich Fräulein Nunnemann zum erstenmal im Leben mit einem ihr gegenüber ganz neuen Gefühl an: mit Respekt. Ich hatte nie anders an sie gedacht als halb belustigt, halb verächtlich, nie war es mir in den Sinn gekommen, sie könnte auch solche Eigenschaften besitzen, welche der ehrlichsten Hochachtung wert wären. Oder hatte der Ernst des Lebens etwa diese Eigenschaften erst in ihr wach gerufen? Ich weiß es nicht.

„Meine Töchter sind alle vier liebe Mädchen, auch die beiden jüngsten,“ sagte Fräulein Nunnemann stolz. „Sie arten wohl nach ihrer ersten Mutter – aber so schön wie ihr Vater wird keine. Ach, Kindting, er war ja wohl ein Taugenichts, aber wenn Sie ihn gesehen hätten! Er war –,“ sie seufzte, „wirklich, buchstäblich, er war ein schöner Mann, schön und liebenswürdig, wenn er nur wollte.“ Und Fräulein Nunnemann schüttelte betrübt den Kopf, ganz bereit, in alte Erinnerungen zu versinken. Ich aber fühlte mich diesmal nicht versucht, über sie zu lächeln.

Plötzlich jedoch fiel ihr ein, daß sie noch nichts über mich und meine Schicksale gehört hätte, und als dies geschehen war, erinnerte sie sich, weshalb ich eigentlich gekommen war, und bestand darauf, daß ich mich im Nebengemache, „im Salon“, wie sie sagte, nach allen Regeln der Kunst von ihr frisieren ließe. Ich stelle Fräulein Nunnemann mit Vergnügen das Zeugnis aus, daß sie vortrefflich frisierte. Als ich bezahlen wollte, war sie nicht zu bewegen, eine Vergütung in irgend einer Form dafür anzunehmen.

Dann traten andere Damen ein, welche ihre Dienste in Anspruch nehmen wollten, und ich verabschiedete mich von ihr, diesmal wirklich zum letztenmal im Leben. Am nächsten Morgen reisten wir ab. Ich habe Fräulein Nunnemann – möge sie bis zuletzt so heißen – nicht wieder gesehen.

Freilich, ganz verschollen ist sie trotzdem nicht für mich geblieben. Es sind erst wenige Wochen vergangen, seit ich nach einem Zwischenraum von einem halben Dutzend Jahren noch einmal von Fräulein Nunnemann hörte. Eine liebe Freundin vom Lande besuchte uns mit ihrem Töchterchen in der Stadt. Sie hatte gebeten, auch die sehr tüchtige Erzieherin des kleinen Mädchens mitbringen zu dürfen, da dieselbe es besonders gut verstände, das etwas eigenwillige Kind artig und gehorsam zu erhalten, und ich fand in Fräulein Paula Reiche, einem schlanken, blonden Mädchen mit klugen Augen und einem sanften Gesichte, einen lieben, in keiner Weise störenden Gast.

Eines Nachmittags blätterte Fräulein Reiche in einem alten Album von mir. Plötzlich sah ich sie über das ganze Gesicht lächeln und erröten. Und als ich mich über ihre Schulter beugte, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit in so heiterer Weise erregt haben könnte, was sah ich? Die vier Bilder, welche mir Fräulein Nunnemann einst gesendet und die ich immer noch treulich aufbewahrt hatte.

„Sie lächeln, liebes Fräulein, als wenn Sie diese Leute kennten? Die Dame ist eine ehemalige Lehrerin von mir, damals hieß sie Fräulein Nunnemann. Ihr späterer Name ist mir leider entfallen. Der Herr ist ihr Mann, die vier kleinen Mädchen sind ihre Stiefkinder. Sie dürften sie kaum kennen.“

„Ein wenig doch,“ sagte Fräulein Paula lachend, „das sind meine drei Schwestern und ich; die Dame ist –“

„Ihre Mama? – wirklich?“

„Freilich, meine liebe, gute, alte Mama. Aber sie hat sich verändert seitdem. Sie ist jetzt ganz grau.“

„O,“ rief ich teilnehmend, „und wie geht es Ihrer Mama und den Schwestern? Das ist wirklich ein hübscher Zufall, der Sie [560] in mein Haus geführt hat. Arbeitet Ihre Mama noch in der alten Weise?“

„Ob sie noch frisiert?“ sagte Paula freimütig. „Nein, das hat sie aufgegeben, seit sie zu Dora gezogen ist. Dora ist unsere Aelteste. Sie wissen vielleicht, daß sie früher Spitzen zu klöppeln pflegte? Sie ist seit einem Jahre glücklich verheiratet und bestand natürlich darauf, daß Mama bei ihr wohnen müßte.

Die Zweitälteste bin ich. Was aus mir geworden ist, sehen Sie. Seit ich mein Examen gemacht habe, stehe ich auf eigenen Füßen. Von unseren beiden Jüngsten ist die eine in ein Putzgeschäft eingetreten, die andere ist Kindergärtnerin geworden. Zufriedene Menschen sind wir alle.“

Und das war das letzte, was ich von Fräulein Nunnemann erfahren habe.