Ragaz und die Taminaschlucht

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Autor: Dr. Henne am Rhyn
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Titel: Ragaz und die Taminaschlucht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 524–527
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ragaz und die Taminaschlucht.

Von Dr. Otto Henne am Rhyn.0 Mit Bildern von P. Bauer.


Vorsprung der Grauen Hörner.       Gonzen. Alvier.  Fläscherberg. Luziensteig.       Falknis.      Augstenberg.      Scesaplana.

Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0524.jpg

  Ruine Wartenstein.
Blick auf Ragaz von Wartenstein aus.  


Wer wußte in der großen Welt vor fünfzig Jahren etwas von Ragaz im schweizerischen Kanton St. Gallen? Wenige außerhalb der östlichen Schweiz! Und heute trinken und baden sich dort Könige und Fürsten des Thrones, Könige und Fürsten des Geistes gesund! Ragaz ist durch eine Quellwasserleitung und durch einen sie benutzenden Unternehmergeist ein internationales Stelldichein, ein Weltkurort geworden. Es ist ein Sammelplatz der eleganten Welt zweier Hemisphären.

Wenn an einem schönen Sommertage, namentlich an einem Sonntage, der das obere Rheinthal hinauf fahrende Bahnzug auf der Station Ragaz Halt macht, entströmen ihm ganze Scharen von Vertretern der verschiedensten Nationen und Stände. Eine kleine Völkerwanderung bewegt sich zu Wagen und zu Fuß die eine halbe Stunde lange Straße zum Dorfe Ragaz entlang: vornehme Herrschaften in Equipagen, bequeme Reisende in Gasthofsomnibussen, auf beiden Trottoirs rüstigere Herren und Damen zu Fuß, Landleute der Umgegend in breitspurigem Schritte, darunter Blumenmädchen, sonnengebräunt und mit intelligenten, nicht unschönen Zügen, in der reizlosen Tracht des Landes: grauem Kittel ohne Mieder und weißen bauschigen Aermeln um den Oberarm. Je weiter der Zug schreitet, desto mehr verlieren sich seine Glieder in die anstoßenden Hotels, Restaurationen und Magazine, und schließlich zerstreut sich auch sein Rest auf dem Dorfplatze, bei der altertümlichen, aber mit einem neuen Turm prangenden katholischen Kirche, den hauptsächlichen Gasthöfen und dem geschmackvoll gebauten Dorfbade. Wir können ungestörter weiter wandern, überschreiten die Brücke, unter welcher die wild brausende und schäumende Tamina uns den ersten Gruß aus ihrer Schlucht bringt, und haben uns in wenigen Augenblicken aus der Hitze und dem Staub der Straße in den schattigen Kurpark geflüchtet. Ein wahres Eden, dieser Park, der eine kleine Stadt von imposanten Gebäuden umschließt, ein Zeugnis modernen Schöpfergeistes, der diese Anlage beinahe ganz aus dem Nichts hervorgezaubert hat!

Der „Hof Ragaz“, ihr eigentlicher Kern, war ehedem der Sitz eines Statthalters des Abtes von Pfävers, welchem das ganze Gebiet der heutigen politischen Gemeinden Ragaz und Pfävers als halbsouveränes kleines Fürstentum gehörte.[1] In der Revolutionszeit von 1798 bis 1803, welche die patrizischen und [525] geistlichen Herrschaften der Schweiz wegfegte, nahm auch jenes Fürstentümchen ein Ende; aber das Kloster behielt seine Privatgüter, wenn auch ohne Gerichtsbarkeit, bis zum Jahre 1838, in welchem es wegen innerer Zerwürfnisse und ökonomischer Mißwirtschaft aufgelöst wurde. Sein Erbe, der Kanton St. Gallen, übernahm die Klostergebäude, die Klostergüter, das Bad Pfävers und den Hof Ragaz, und seine liberale Regierung führte den genialen Gedanken durch, Bad und Hof durch eine Leitung der Heilquelle und eine Fahrstraße miteinander zu verbinden; denn früher war das Bad in der Taminaschlucht nur auf beschwerlichen Bergpfaden über bedeutende Höhen zu erreichen gewesen. So wurde Ragaz (1841) ein Kurort, der sich durch die Thätigkeit der Pächter des „Hofes“ und der Gastwirte des Dorfes nach und nach vergrößerte und verschönerte. Die heutige Entwicklung aber konnte er nur erreichen, indem er dem privaten Unternehmungsgeiste überlassen wurde. Dies geschah 1868, als die Regierung von St. Gallen den Hof Ragaz und Umgebung dem aus Glarus stammenden, aber in Petersburg reich gewordenen Architekten Bernhard Simon verkaufte und ihm zugleich das Bad Pfävers und dessen Dependenzen (Quelle, Straße, Leitung etc.) auf hundert Jahre konzedierte.

Am Ende der Taminaschlucht vor dem Eingang zur Quelle.

Seitdem hat Simon nicht nur den altertümlichen „Hof“ ins Moderne umgebaut, sondern zunächst auch den mittels Kolonnaden damit zusammenhängenden Quellenhof, ein wahres Palais, und später mehrere Villen, Schweizerhäuschen, Bäder und zuletzt den imposanten Kursaal geschaffen und alles mit herrlichen Promenaden- und Gartenanlagen umgeben, an welche auch die neue protestantische Kirche stößt. Vor 30 bis 40 Jahren weideten hier noch Kühe auf magerem Wiesenboden; jetzt ertönen hier alle Sprachen Europas und erglänzen die Toiletten der neuesten Modejournale. Allerdings, wohnen können in diesem Eden nur Vertreter der „oberen Zehntausend“; aber zum Lustwandeln steht es auch den weniger bemittelten, im Dorfe logierenden Kurgästen, den Reisenden und Besuchern offen. Das Ganze ist wie für eine große Familie eingerichtet. Ob nun die Kurgäste im gemütlichen „Hof Ragaz“ oder im glänzenden „Quellenhof“ oder abgeschlossen für sich in den eleganten Villen wohnen, – die Anlagen, welche einen wohlthätigen Schatten spenden, mit ihren Ruhebänken, die Säulengänge, in welchen wandelnd man das Quellwasser trinkt, die verschiedenen Bäder, zwischen denen man die Wahl hat, die Spielplätze für Croquet und Lawn Tennis, die Teiche, auf denen Gondeln zum Rudern einladen, die Lesezimmer im Kursaal, welche Zeitungen aller Länder darbieten, die Buchhandlung in demselben Bau und die mehrfach vertretenen Kaufläden für alle möglichen Luxusgegenstände führen die verschiedenen Parteien unwillkürlich zusammen. Am meisten gilt dies jedoch von der Kurmusik, die in einem Pavillon gegenüber der antiken, hochragenden Säulenvorhalle des Kursaales spielt, unter und vor welcher sich, besonders an den Abenden, beim Lichte der elektrischen Bogenlampen, die ganze mehr oder weniger elegante Welt des Kurortes ansammelt. Ein besonderer Vorzug des Kurparkes ist aber die Aussicht auf die hochragenden Gebirge der Umgegend. Unten mit dichtem Walde bedeckt, gipfeln diese Höhen in wilden, schroffen Felsen, die bei schöner Witterung jene die Schweizerberge so schön schmückende violette Färbung annehmen.

Ueber die Heilwirkung der Bäder, die namentlich gegen rheumatische Zustände empfohlen werden, können wir uns hier ausführlich nicht verbreiten. Sie werden ohne Ausnahme nicht in Wannen, sondern in Bassins genommen, durch welche das mäßig und wohlig warme Quellwasser fortwährend zu- und abfließt und durch seine spiegelhelle Klarheit einen höchst angenehmen Eindruck hervorbringt. In den Anlagen des Kurparks füllt es sogar ein geräumiges Schwimmbad für rüstigere Kurgäste. Schwache Patienten können sich durch Rollstühle oder Aufzüge in die Bäder befördern lassen und sind durch Gänge, die alle Gebäude verbinden, vor jedem Luftzug geschützt.

Bevor wir von Ragaz scheiden, müssen wir noch einer in [526] ihrer Art einzig dastehenden Merkwürdigkeit gedenken. Es ist das auf dem Kirchhofe errichtete Denkmal des 1854 hier verstorbenen Philosophen Schelling, welches König Maximilian II. von Bayern durch den Bildhauer Ziebland für seinen einstigen Lehrer herstellen ließ. Der selige Dekan Federer (ein feinsinniger[WS 1] Pädagog, in seinen letzten Jahren katholischer Pfarrer von Ragaz) schilderte uns, wie er einst einen Herrn vor dem Denkmale knieen und beten sah. Es war der König selbst. – Weiter ist auch der Kurverein lobend zu erwähnen, welcher bequeme Wege nach dem über dem Dorfe schroff sich aufbäumenden Felsenkopfe Guscha, mit wundervoller Aussicht, sowie nach der unweit nördlich von Ragaz sich erhebenden Ruine Freudenberg schuf und die Straße nach dem Bahnhof mit Bäumen bepflanzte.

Gleich hinter dem „Hof Ragaz“ erhebt sich die mit Buchenwald bedeckte Höhe, auf welcher das ehemalige Kloster Pfävers thront und in deren von der Tamina ausgewaschenem Einschnitte das Bad Pfävers eingebettet liegt. Hier, am Fuße der Anhöhe, steht, einem Miniaturschlößchen ähnlich, die untere Station der Drahtseilbahn, welche von Ragaz, die vielgewundene Bergstraße abkürzend, nach der Höhe am Wartenstein führt. Sanft steigend, wie von unsichtbarer Kraft getrieben, gleitet der Bahnwagen, in der Mitte dem herabrollenden begegnend, in 8 Minuten empor und mündet in der oberen Station, wenige Schritte von der Pension Wartenstein, die aus einem in normannischem Stile erbauten schloßartigen Gasthause und einem mit Denksprüchen gezierten Chalet (Schweizerhaus) besteht. Die Terrassen und vorn offenen Parterreräume des Gasthauses bieten die wundervolle, in dem Bilde auf Seite 524 skizzierte Aussicht dar. Vor sich zur Rechten hat man die Trümmer des einst vom Kloster zu seinem Schutze gegen Raubritter errichteten Schlosses Wartenstein und noch weiter rechts die einsame St. Georgskapelle. Dicht unter sich in schwindelnder Tiefe zu Füßen des Vorsprnngs der „Grauen Hörner“ erblickt man wie auf einer Reliefkarte ganz Ragaz mit seinen beiden Kirchen und den Kuranstalten, sowie die zur Bahnstation und zum Rhein führende Straße. Ueber diesen wölbt sich die gedeckte Eisenbahnbrücke nach Maienfeld am Fuße der Luziensteig mit ihren eidgenössischen Festungswerken. Im Hintergrunde aber türmen sich verschiedene Bergmassen. Rechts auf unserem Bilde, gegenüber der St. Georgskapelle, erblicken wir die Scesaplana und daneben den Augstenberg. Gegenüber der Ruine Wartenstein erhebt sich der Falknis, der durch den genannten Paß, die Luziensteig, vom Fläscherberg getrennt wird. Am jenseitigen Ufer des Rheins tauchen in weiterer Ferne die Bergzüge des St. Galler Oberlandes, gekrönt durch die Gipfel Gonzen und Alvier, empor. Der Ausblick ist überwältigend, zauberhaft schön und großartig. Noch umfassender aber gestaltet er sich von der oberhalb des „Chalets“ aufragenden Anhöhe Tabor.

Die Straße weiter aufwärts verfolgend, erblicken wir bald die alten, weitläufigen und schmucklosen Gebäude des aufgehobenen Klosters Pfävers, in welchen seit 1847 die Irrenanstalt des Kantons St. Gallen untergebracht ist. Nach dem Gründer des Klosters, Pirmin (731), führt sie den besonderen Namen St. Pirminsberg. Ein sonderbarer Zufall wollte, daß im Konventsaale des Klosters das Wappen des letzten Abtes gerade den einzigen, dafür noch übrigen Raum ausfüllte. Schon in den letzten Jahren des Bestandes der Abtei hatte darin ein für Klosterverhältnisse sehr aufgeklärter Geist geherrscht und sich den zahlreichen Zöglingen der Klosterschule mitgeteilt; er war auch neben den schon erwähnten Umständen mit ein Grund zur Auflösung des Stiftes. Immerhin dient die Stiftskirche noch dem Gottesdienste der umliegenden Gemeinde des freilich unansehnlichen Dorfes Pfävers. Dieses liegt übrigens in wunderherrlicher Alpenumrahmung, und dem Bergsteiger muß die Wahl wehe thun, welche der Spitzen, die ihn hier umgeben, er unter seinen derbgenagelten Schuh zwingen will. Links winkt der Pizzalun, einer der Vorberge des gewaltigen Calanda, der seinen jenseitigen Fuß bis nahe an Graubündens Hauptstadt Chur setzt. Rechts gegenüber starrt keck der Vasanenkopf in die Höhe, in der Mitte des Hintergrundes erhebt sich harmonisch der pyramidenförmige Monteluna, und über ihm thront hoch der schneebedeckte Pizol (früher Wohl aus Mißverständnis Piz Sol, Sonnenspitze, genannt), der höchste Gipfel der „Grauen Hörner“ (2847 m über dem Meer). Unterhalb dieser Höhen, beinahe in gleicher Erhebung wie Pfävers, blinken die weißen Häuser und das Kirchlein des lieblichen Alpendorfes Valens herüber, das wie zu einem Bergluftkurorte geschaffen scheint. Zwischen Pfävers und Valens gräbt sich in schauriger Tiefe die Tamina ihr Felsenbett und dort, in enger Schlucht, liegt der letzte und scenisch interessanteste Ort, dessen wir hier zu gedenken haben, das Bad Pfävers. Es läßt sich auf Wegen über die beiden Bergdörfer, zwischen denen es versunken scheint, erreichen; aber empfehlen möchten wir diese Umwege nur leidenschaftlichen Bergsteigern, welche zu jenem Ausfluge Zeit genug haben. Für Kurbedürftige eignet sich ausschließlich die romantische Fahrstraße, die im Thale längs der Tamina von Ragaz nach Bad Pfävers führt.

Wir kehren also nach Ragaz zurück, am besten und bequemsten mit den niedersteigenden Wagen der Drahtseilbahn. Unmittelbar bei der unteren Station vernehmen wir das Brausen der Tamina und folgen ihm, indem wir über eine eiserne Brücke die Schluchtstraße betreten.

Tamina! In wundervoller blaugrünlicher Färbung, mit schneeweißen Schaumkämmen, drängt sich die unbändige Alpentochter durch die Felsen, spritzt hoch empor über die ihr Bett anfüllenden, einst von den Felswänden herabgestürzten Steinblöcke und erfüllt die Schlucht mit ihrem machtvollen Donnergesange. Die schmale, kaum das Ausweichen zweier Einspänner gestattende und daher Zweispännern, Radfahrern und Kinderwagen verwehrte, aber trefflich unterhaltene Schluchtstraße steigt, stets treu von der Leitung des Heilwassers begleitet, allmählich an; größtenteils aber scheint sie eben hinzulaufen. Ihre Länge beträgt nur 3,6 km, ist also bequem in drei Viertelstunden zu Fuß zurückzulegen, während die früher erwähnten Bergwege bis zu ihrem Ende mindestens 2 Stunden in Anspruch nahmen. Während des ganzen Tages liegt reichlich die Hälfte des Weges in angenehmem Schatten, früh morgens und spät abends fast die ganze Strecke. Unablässig türmen sich himmelhoch bald senkrechte Felswände, in deren Spalten Grasbüschel oder Tannenbäumchen haften, bald steil ansteigende bewaldete Hänge zu beiden Seiten empor, so daß die Thalsohle der Tamina von dieser und der Straße völlig ausgefüllt ist. Reichliches Wasser strömt von den Felsen herunter – in der Mitte der Strecke flattert sogar schleierähnlich ein „Staubbach“ im kleinen, der „Schrattenfall“, herab. Zwei Stege über den Fluß weisen auf Bergpfade nach Wartenstein und Dorf Pfävers. Mächtige Felsblöcke zur Seite der Straße und ein kurzer Tunnel, durch den diese hinzieht, gestalten ihre Scenerie abwechslungsreich. Beim Schrattenfall befindet sich auch eine Bude für Erfrischungen. Doch, wir können warten, bis wir im Bade angelangt sind!

Erst hart davor, hinter einem Felsvorsprunge, erblickt man plötzlich die nördliche Schmalseite des klosterähnlichen, aus vier Häusern zusammengesetzten Badekomplexes, der 826 m über dem Meere liegt. Diese Häuser sind derart verbunden, daß man im Innern von ihrer Zusammenfügung nichts bemerkt und stets in demselben Hause zu sein glaubt, indessen da ein solches Labyrinth von Gängen und Treppen bildet, daß der Neuling einige Mühe hat, sich zurechtzufinden. In den Gängen herrscht, im scharfen Gegensatze zu der Sommerhitze im Freien, eine sehr kühle Luft, im Souterrain aber, wo die Bäder sind, jene feucht-laue Atmosphäre, die zum Baden einladet. Wie die Ausländer Ragaz, so ziehen die Schweizer meist Bad Pfävers zur Kur vor. Dort herrscht mehr ein elegantes, hier ein gemütliches Leben, bei dem die Einzelnen sich einander mehr anschließen können, weil alle unter einem Dache wohnen. Der vordere Bau enthält den geschmackvollen Speisesaal erster und den einfacheren zweiter Klasse, der mittlere die beiden Konfessionen dienende Kapelle und einen wohlausgestatteten Bazar, und an den dritten stößt, als vierter, die Trinkhalle, in welcher das Quellwasser, das hier immerhin etwas wärmer ist als in Ragaz, in ein aus Stein gehauenes Becken sprudelt. An das beständige Rauschen und Brausen der zwischen dem Gebäude und den Felsen eingeengten Tamina muß sich der leicht hörende Kurgast erst gewöhnen, ehe es ihm den Schlaf nicht stört. Auch die düsteren Eindrücke des Bädergewölbes und der dahin führenden halbdunklen Treppe dürften noch lange in seinen Träumen eine schreckhafte Rolle spielen. Dagegen hat das Badegebäude und haben seine terrassenförmig an der westlichen Höhe hinaufsteigenden Anlagen mit ihrem Blumenschmuck und ihren heimlichen Gebüschen einen behaglich stimmenden freundlichen Charakter.

Doch der Hauptanziehungspunkt im Bade Pfävers ist die Thermenquelle. Ihr Besuch bietet einen großartigen, [527] überwältigenden, einzig in seiner Art dastehenden Genuß dar. Bevor nämlich die Tamina das Badegebäude erreicht, zwängt sie ihr Gewässer durch eine enge, wohl einige 100 m tiefe und etwa 1 km lange Klamm oder Spalte, und in dieser entspringt die Quelle. Mit einer Eintrittskarte für 1 Franken versehen, die man in dem Bureau löst, das in einer Fensternische des vorderen Ganges eingerichtet ist, verläßt man das Gebäude hart neben der Trinkhalle und überschreitet auf einer Brücke den unbändig grollenden Waldstrom, Nun befindet man sich auf dem hölzernen Steg mit Geländer, der auf Vorsprüngen der Felswand des rechten Ufers angelegt ist und bis zur Quelle führt. Es scheint dem Neuling, als trete er in Dantes Hölle. Scheinbar himmelhoch türmen sich zu beiden Seiten schroffe, nackte, nicht nur senkrechte, sondern überhängende Felswände empor, die sich an einigen Stellen thatsächlich verbinden. Ueber eine derselben, die „Naturbrücke“, führt der Weg vom Bade nach dem Dorfe Pfävers und steigt von dort an auf der schwindelnden „Felsentreppe“ weiter, um auf grünen Matten zu enden. Je tiefer man in die Klamm eindringt, stets auf dem sicheren Galeriestege etwa 3 m über dem Flusse, desto beängstigender wird die Felsenge, desto wilder erschallt das Wallen und Sieden, Brausen und Zischen der eingezwängten Tamina, desto höher scheinen die Wände zu dem nur bisweilen in einem blauen Flecke herniederscheinenden Himmel zu steigen! Aber goldene und grünliche Lichteffekte bezaubern das Auge, von der unsichtbaren Sonne gespendet, die, im Zenith stehend, ihr blendendes Licht in den finsteren Gründen bricht und freundliche Grüße aus der grünen Vegetation der Oberwelt in die Tiefen des Todes herniedersendet. Bald scheinen Felsvorsprünge mit dem Absturz zu drohen, bald vertiefen sich Höhlen in das graue Gestein, und der ohnmächtige Mensch erschauert bei der Wirkung, die alle diese Naturwunder auf ihn hervorbringen. Gespenstig erscheinen die Vor- und Nachwandernden und Begegnenden dem Besucher: wie Schatten tauchen sie auf und verschwinden.

An der Quelle der Tamina.

Tief ergriffen erreichen wir, nach einem Gange von zehn Minuten, eine erhöhte Terrasse, wo Weg und Steg mündet. Hier kann man sich nach dem erschauten Grauen sammeln und fassen. Seitwärts, rechts auf unserem Bilde S. 525, gähnt eine dunkle Pforte, zu welcher ein freundlicher Wärter mit einem Lichte tritt, uns einladet, die Quelle zu besuchen, und uns den in der feuchtkühlen Schlucht notwendigen Ueberzieher abnimmt, weil es nun in den heißen Schoß der Erde hinein geht. Wir folgen ihm in einen gleichmäßig ausgehauenen Stollen, einige zwanzig Schritte weit, während sich das Licht an den feuchten Steinwänden spiegelt und eine warme Luft uns bis ins innerste Mark durchdringt. Wir kommen zu einem Geländer, hinter dem ein schwarzer Schlund gähnt, aus dem Dämpfe emporsteigen – es ist die Quelle, die hier eine Wärme von 37,5° C hat, von mineralischen Bestandteilen beinahe frei ist und im Sommer 4000 bis 5000 Liter in der Minute liefert. Der Wärter schöpft Wasser und bietet jedem Besucher ein gefülltes Glas. Jene junge Dame lacht und meint: „Brauchte man soweit herzukommen, um laues Wasser zu trinken?“ Aber der ältere Herr mit der Brille deutet auf die Felswände und erinnert an die großartige Umgebung, die den Besuch wohl rechtfertigt und unvergeßlich macht. Wieder herausgetreten, kann sich die besuchende Gesellschaft noch nicht so leicht von der kleinen Terrasse trennen und schaut staunend zu den Felsen empor, in welchen merkwürdigerweise mehrere viereckige Löcher zu erblicken sind. Wir haben die Spuren der Balken vor uns, die einst in dieser schauerlichen Tiefe das Badehaus trugen, zu dem die Patienten aus der lichten Höhe an Stricken herabgelassen werden mußten.

Die Quelle wurde nach der Sage von einem Jäger entdeckt, der im elften Jahrhundert eine von Raben verfolgte Taube, das Wappentier und Wahrzeichen des Klosters, retten wollte und auch rettete und seinen Fund dem Abte, seinem Herrn, berichtete. Im Gebrauche steht sie, wie nachgewiesen, erst seit 1242, und erst seit dem 14. Jahrhundert bestand jenes Haus in der furchtbaren Tiefe, nebst einer Kapelle in einer Grotte, in welcher die Ankommenden um Heilung flehten und die Geheilten Gott dankten. Kein Geringerer als der berühmte Arzt, Naturforscher, Mystiker und ruhelose Wanderer Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus, war der erste, der im Auftrage des Abtes 1535 das Bad beschrieb, in welches zu seiner Zeit eine Treppe herabgeführt wurde. Es folgten sich im Laufe der Jahrhunderte mehrere Beschreiber, deren Bücher in der Zahl von anderthalb Dutzend uns vorliegen. Nachdem das alte in der Tiefe schwebende Haus, in welchem auch Ulrich von Hutten, wenn auch vergeblich, Heilung gesucht, wiederholt abgebrannt war, ließ Abt Jodocus im 17. Jahrhundert das Badehaus auf der heutigen Stelle bauen. Im Jahre 1630 wurde die Quelle feierlich herausgeleitet. Um jene Zeit waren die warmen Heilquellen fast überall in Europa zu Vergnügungsstätten geworden, in welchen ein üppiger Luxus entfaltet wurde. Derselbe offenbarte sich nicht nur in den Herbergen, sondern auch in den Badehäusern selbst. Da herrschte ein ausgelassenes Treiben, in das die Badegäste der Neuzeit sich nimmer würden hineinfinden können. Den ganzen Tag hindurch waren die Bassins mit einer frohgelaunten Menge gefüllt, die allerlei Scherze trieb, sang, Reigen aufführte und sogar – zechte, denn mitunter waren im Wasser Tische mit Speisen und Getränken aufgestellt. Der Florentiner Poggio Bracciolini hat dieses Treiben, wie er es in Baden im Aargau kennengelernt, ausführlich geschildert. Genannter Abt Jodocus war bestrebt, dieser Unsitte zu steuern und erließ für Pfävers eine strengere Badeordnung. In derselben werden allerlei Ungehörigkeiten verboten, damit nicht die Alten und Kranken „mit Verdruß im Bade sitzen oder gar daraus weichen müssen“. Es sollte von dem Freibade Pfävers „alle Leichtfertigkeit, Muthwillen, Aergernuß, Raufen und Schlagen . . . alle Sünd und Laster“ ferngehalten werden. Die Sitten besserten sich auch mit der Zeit, die Bäder wurden mehr und mehr zu ruhigen Heilstätten. Pfävers blühte weiter. Seine heutige Gestalt erhielt das Badegebäude, nachdem 1704 Abt Bonifacius den Grundstein dazu gelegt hatte. Seine späteren Schicksale sind schon in unserer Einleitung besprochen.


  1. Man spricht: Ragáz, nicht, wie in Deutschland häufig, Rágaz. – Die Schreibart Pfävers ist die einzig richtige (in den ältesten lateinischen Urkunden Fabarias und Favares). Pfäfers ist falsch und Pfäffers noch falscher! Der Verf. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: feinsinnniger