Der laufende Berg

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Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
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Titel: Der laufende Berg
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24-44, S. 389–395, usw.
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
„Ein Hochlandsroman“
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[389]

Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.


1.

Silberne Fäden, schimmernd in der Morgensonne, gaukelten durch die stille, von keinem merklichen Windhauch bewegte Luft; langsamen Fluges kamen sie aus dem Thal heraufgezogen, in dessen sonniger Tiefe das Dorf mit seiner Kirche und den hundert Häusern gleich einem weitschichtig ausgekramten Spielzeug zwischen den herbstlich gefärbten Berggehängen lag. Alles in eine Flut von Licht und Farbe getaucht. Der vergoldete Knauf des Kirchturms strahlte in hellem Feuer, die alten Schindeldächer schillerten wie silbergrauer Sammet und auf den neuen Häusern leuchteten die frischen Ziegel wie Metall in der Rotglut. Die welkenden Obstbäume waren anzusehen, als trügen sie keine Blätter mehr, sondern nur eine Menge kleiner, rotwangiger Früchte, und das nach allen Herbststürmen noch verbliebene Laub der Buchen und Ahornbäume spielte in zartgetöntem Wechsel zwischen brennendem Gelb und tiefem Purpur. Das gegen Süden blickende Berggehänge mit seinen steilen Wiesen und zerstreuten Wäldchen war von goldiger Morgensonne übergossen, das jenseitige noch von blauem Frühschatten [390] umwoben und über der in der Ferne sich verlierenden Flucht der Felswände, in deren Schattendunkel keine Form sich klar unterscheiden ließ, hoben sich die vom ersten dünnen Schnee überhauchten Kuppen und Zinnen mit feinen Linien in das wolkenlose Blau des Himmels.

Wie im Märchen die Gestalt der guten Fee von einem wundersamen Zauberschleier umflossen ist, so war dieses weite, farbenschöne Bild der Landschaft übersponnen von einem immerwährenden Flimmern und Geglitzer; es ging von jenen weißen Sommerfäden aus, welche zu Abertausenden die reine, linde Luft durchgaukelten; bald waren es nur winzige Dingerchen, die einem schwebenden Fünklein glichen, bald wieder lange fast endlos scheinende Fadenschlangen, welche stiegen und sanken, sich spielend rollten, große Schlingen bildeten und sich langsam wieder streckten. Dieses fliegende Wunder in den Lüften hatte all die kleinen Vögel in seltsame Erregung versetzt; mit lautem Gepisper flatterten sie ab und zu, stachen auf die schwebenden Fünklein nieder, als ob es Mücken wären, haschten die schwimmenden Fäden und huschten mit dem erbeuteten Schatz wieder in den Schatten der Bäume zurück. Alle Hecken und Gesträuche waren überzogen von dem blitzenden Gespinst; auf den welken Wiesen lag es umher und schimmerte; an kahlen Bodenstellen, von denen der Rasen in langen Wulsten niedergebrochen war, glitzerten die weißen Fäden, als träte pures Silber in feinen Adern aus der verwundeten Erde hervor; und an ein Fichtengehölz, das sich aus breiter Schlucht gegen die höheren Berge emporzog und einen seltsam müden Anblick gewährte – fast den Anblick eines an Dürre sterbenden Waldes – war das leuchtende Gespinst in solcher Menge angeflogen, daß die schräg durcheinanderstehenden Fichten einer Schar geplünderter Weihnachtsbäume glichen.

Draußen auf den offenen Halden lag, obwohl der Oktober schon begonnen hatte, die Morgensonne mit linder Wärme. Doch im Schatten des Waldes hauchte eine empfindliche Kühle, und an dem welken Kraut des Bodens hing noch der graue Reif der vergangenen Nacht. Der Wald schien öde zu sein, und dennoch herrschte in ihm eine merkwürdige Unruhe. Heiser kreischende Rufe und erregte Stimmen klangen von den bewohnten Gehängen herüber, dumpf hallten zwischen den Bäumen die schweren Schläge wieder, mit denen irgendwo auf den Halden Pfähle in den Boden getrieben wurden, und überall im Walde ließ sich ein seltsam gedämpftes Rauschen und Gurgeln vernehmen wie von reichlich strömendem Wasser. Es hatte in der vergangenen Woche stark geregnet und hoch droben in den Felswänden schmolz die Sonne den früh gefallenen Schnee; aber nirgends im Walde rann oder sickerte ein Tropfen, alle Wasserrinnen und die tief ausgewaschenen Furchen der Gießbäche lagen trocken. Und dennoch dieses rastlose Gurgeln und Geriesel! Es klang wie versunken, tief aus der Erde herauf.

Schwere Steine rollten, und zu dem lauten Hall, mit dem sie gegen die Stämme schlugen, gesellte sich das Klirren eines eisenbeschlagenen Bergstockes.

Ueber den Waldhang kam auf steilem Pfad ein Jäger herabgestiegen – kein Berufsjäger, wie die Kleidung verriet, sondern einer, der die Jagd zu seinem Vergnügen betrieb; nur der verwitterte Rucksack, das grüne Filzhütchen mit der Spielhahnfeder und die schweren Nagelschuhe erinnerten an die landesübliche Jägertracht; doch statt der Joppe trug er einen Flaus aus braunem Velvet, dazu eine grüne Weste mit silbergefaßten Hirschgranen und eine graue Tuchhose, die unter den Knieen von Ledergamaschen umschlossen war; eine neue englische Expreßbüchse, die wohl den Erlös eines Ochsengespannes gekostet hatte, vollendete die Ausrüstung dieses Bauern, der sich als Gutsbesitzer fühlte. Er mochte einige Jahre über dreißig zählen und man sah es ihm an, daß er einmal ein hübscher Bursch gewesen war; noch heute stand ihm der schwarze Schnurrbart gut zu Gesicht und ein Zug behaglichen Wohlwollens spielte um die vollen Lippen; aber die derben Wangen zeigten jene feinen rötlichen Aederchen, die an Mengen fleißig vertilgten Rotweins denken lassen, und die unruhig schwimmenden Augen verrieten, daß Toni Purtscheller auch den Jähzorn zu seinen Untugenden zählte.

Er hatte auf seinem Wege ein mühsames Niedersteigen; immer wieder fand er den Pfad von klaffenden Spalten unterbrochen; wohin er den Fuß setzte – überall lag der Boden locker und rutschte unter seinem Tritt, und rings um ihn her war aller Grund in einer steten, leisen Bewegung; in das sachte Knirschen, das aus der Erde quoll, mischte sich manchmal ein dumpfer Knall – da war unter dem Boden eine starke Baumwurzel entzweigerissen.

Eine breite, frisch geöffnete Kluft versperrte den Pfad und Purtscheller mußte einen mühsamen Umweg machen. Als er den Steig wieder erreichte, blieb er stehen, legte das Kinn auf den vorgestemmten Bergstock und betrachtete den Wald. Einzelne Bäume waren schon gefallen, viele andere standen schief und hingen mit den Wipfeln über Kreuz und an mancher noch aufrecht stehenden Fichte verriet ein rötlicher Behauch der Nadeln, daß ihre Wurzeln seit geraumer Zeit schon außer Nahrung waren.

„Da kann’s noch ein schönes Unglück absetzen! Der ganze Berg is im Laufen!“

Mit sorgenvollem Unmut folgten seine Blicke den gähnenden Bodenspalten und glitten über all die gestürzten und krankenden Bäume. Es war ja sein eigener Wald, den er sinken und sterben sah.

Schwer atmend nickte er vor sich hin und murmelte: „Da verlier’ ich wieder ein’ ordentlichen Brocken Geld!“ Eine Furche grub sich zwischen seine Brauen, er schob verächtlich die Lippen vor und richtete sich auf. „Ach, was! Der Purtscheller halt’ so was aus!“ Nun lächelte er wieder und folgte dem Pfad.

Als er den Grund der Schlucht erreichte, hörte er zwei lustige Stimmchen und helles Kinderlachen. Verwundert blickte er auf und gewahrte zwischen den schiefen Bäumen ein kleines Bürschlein und ein noch kleineres Mädchen, die wie die Kinder armer Stadtleute gekleidet waren und unter Lachen und Jauchzen ein seltsames Spiel betrieben; sie suchten locker hängende Kanten des Moosgrundes auf, kletterten auf die unterhöhlte Stelle, trampelten und stampften mit den Füßchen und schaukelten sich so lange, bis der Klumpen Erde mit ihnen niederbrach. „Hopsala hüo!“ schrieen sie dann mit fidelen Stimmchen, überkugelten sich, von Sand umwirbelt, und sprangen lachend auf, um das Spiel von neuem zu beginnen.

„Kinderln! Kinderln!“ rief ihnen Purtscheller gutmütigen Tones zu. „Gebts obacht! Der ganze Boden is lebendig! Da kann ein Malör passieren, eh’ man sich umschaut! G’scheit sein, Kinderln! G’scheit sein!“

Die beiden Knirpse standen verlegen, faßten sich bei den Händchen und machten scheue Augen.

Kaum aber hatte Purtscheller den Rücken gewandt und etwa hundert Schritte sich entfernt, da hörte er hinter sich schon wieder den jauchzenden Kinderschrei: „Hopsala hüo!“

Er schüttelte den Kopf, sah über die Schulter zurück und lächelte. „Merkwürdig! Kein Unglück so groß … ein Kind kann noch eine Freud’ dran finden!“ Den Ellbogen auf den Lauf seiner Büchse gestützt und den Kopf auf die Seite geneigt, schritt er weiter. Als der Wald zu Ende ging und hinter ihm die lustigen Stimmchen der Kinder verklangen, philosophierte er vor sich hin: „Könnt’s nur einer ’s ganze Leben lang so halten, wie’s die Kinder machen! Lachen zu allem, was kommt! In jedem Schatten noch ein Lichtl finden!“ Er schmunzelte und drehte den Schnurrbart, als hätte er seine Freude daran, daß ihm ein so guter Gedanke gekommen war.

Noch deutlicher als im Walde zeigte sich auf dem offenen Berghang das Bild einer rastlos fortschreitenden Zerstörung: alle Wiesen verwüstet und überschüttet von kiesigem Erdreich, das aus höheren Lagen niedergeglitten war, Hunderte von Rissen und Klüften zogen sich nach allen Seiten, weite Strecken des ebenen Wiesengrundes waren senkrecht zu tiefen Gruben eingesunken, und in diesen von bröckelnden Erdwänden umgebenen Löchern standen schlammige Pfützen, aus denen quirlende Luftblasen aufstiegen.

Wirre Stimmen klangen, und über einen steilen, von grauen Furchen durchrissenen Wiesenhang sah Purtscheller ein Dutzend Leute emporsteigen, darunter einige, welche schwarze Röcke trugen.

„Natürlich! Die studierten Herren müssen ihre Nasen ’neinstecken! Bin neugierig, was die auskochen.“

Aus dem Tone dieses Selbstgespräches klang ein recht zweifelhafter Respekt vor den Männern der Wissenschaft. Aber in Purtscheller war die Neugier wach geworden – vielleicht gesellte sich dazu auch die Meinung: „Wo um das Wohl und Wehe des Dorfes geredet wird, muß ich dabei sein! Ich bin der Purtscheller!“ – und so suchte er raschen Schrittes die Leute einzuholen.

Es waren fünf Herren aus der Stadt, mit Brille oder goldenem Kneifer, bejahrte Männer mit ernsten Gesichtern; sie [391] hatten Pläne bei sich, in welche sie mit Farbstiften die Bewegungslinien des ins Laufen geratenen Berghanges einzeichneten; drei Geometergehilfen waren mit Wasserwage, Meßlatte und Erdbohrer emsig bei der Arbeit. Der Pfarrer des Dorfes, der Bürgermeister und zwei Gemeinderäte begleiteten die Kommission, um die kurzen, knapp gestellten Fragen mit redseligem Eifer zu beantworten. Und hinter ihnen, als dreizehnter, folgte in bescheidener Entfernung ein alter Bauer, um den sich niemand kümmerte. Er war nicht, wie die anderen, aus dem Dorfe heraufgekommen – drüben auf einem nahen Wiesenhang stand sein kleines Heimwesen, das der unheimliche Bergrutsch zu verschlingen drohte. Und als er die Herren gesehen hatte, war er von der Rettungsarbeit weggelaufen, um ein Wort des Trostes zu hören, einen Schimmer von Hoffnung für sein versinkendes Häuschen zu empfangen.

Seine ganze Kleidung bestand aus einem mürben Rupfenhemd und einer blauen, schon verwaschenen Leinwandhose, welche Häubchen an den Knien hatte und deren Bund von den Hosenträgern zu Zacken ausgedehnt war. Alter und schwere Arbeit hatten seinen müden Körper gebeugt – er stand mit hängenden Knien und seitlich geneigtem Kopf. Die weißen Haare waren glatt in die Stirn gestrichen – ein von zahllosen Furchen und Fältchen durchschnittenes Sorgengesicht mit rotgeränderten, kummervoll blickenden Augen. Er hatte die dürren, schwieligen Hände auf dem Rücken liegen, seine Finger zitterten, und fortwährend bewegte er die welken Lippen, als möchte er eine Frage stellen und fände nicht den Mut dazu.

Da klang hinter ihm die Stimme Purtschellers: „Grüß Gott, Simmerauer! Was is denn los da?“

Der Alte blickte auf, und da er kein Käpplein abzuziehen hatte, strich er mit der Hand übers weiße Haar. „Die gealogisch Kammissoni is da!“ erwiderte er – ganz leise, als hätte er Sorge, daß jedes laute Wort den wichtigen Vorgang stören könnte.

„So, so?“ Breitspurig, im Vollgefühl seiner Persönlichkeit, ging Purtscheller auf die Herren zu und lüftete ein klein wenig das grüne Hütchen. „Grüß Gott, Ihr Herren miteinander! Fleißig bei der Arbeit, ja?“

Der Pfarrer dankte für den Gruß, der Bürgermeister und die beiden Gemeinderäte zogen höflich den Hut; doch von den fremden Herren schien es keiner zu beachten, daß sich die Gesellschaft um eine so bedeutungsvolle Persönlichkeit vermehrt hatte – sie waren gerade mit einer Erdprobe beschäftigt, die der Bohrer aus der Tiefe des Grundes emporgehoben hatte.

Purtschellers Gesicht färbte sich dunkelrot, und seine Augen funkelten; diese Mißachtung seiner Person hatte ihn beleidigt. Einer der Gemeinderäte merkte das und machte einen schüchternen Versuch, dem Purtscheller-Toni zu dem ihm gebührenden Respekt zu verhelfen. Aber die gelehrten Herren waren über den breinassen Lehm, den der Bohrer gefördert hatte, in eine so lebhafte Debatte geraten, daß sie für nichts anderes Ohr und Auge hatten.

Eine Weile stand Purtscheller schweigend und kaute am Schnurrbart; dann plötzlich wandte er der Gesellschaft ohne Gruß den Rücken und stapfte über den Hang hinunter; lachend, doch mit hellem Aerger in der Stimme, rief er über die Schulter zurück: „Gelt, Bürgermeister? Wenn’s ans Zahlen geht, nachher kannst mich auch auf der Seiten stehen lassen! Mich geht ja die ganze G’schicht’ nix an! Mein Haus und Hof is net in G’fahr!“

Der Bürgermeister machte große Augen. „Aber geh, Toni, was hast denn?“

„Ja, ja! Is schon gut! Ein andersmal!“ Purtscheller winkte dem alten Simmerauer. „Komm, Michel, uns zwei kann man da net brauchen!“

Man sah es dem Alten an, daß er gern geblieben wäre; aber er brachte es doch auch nicht fertig, zu der ehrenvollen Erlaubnis, den Herrn Purtscheller ein Stücklein Weges begleiten zu dürfen, seinen weißen Kopf zu schütteln. So hielt er sich humpelnd an der Seite des Jägers; dabei blickte er aber immer wieder über die Schulter zurück und lauschte, ob er von den verhallenden Stimmen nicht doch ein tröstendes Wörtlein noch erhaschen könnte.

Die leuchtenden Fäden flogen den beiden entgegen, hafteten an ihrem Gewand und legten sich über ihre Gesichter. Besonders auf den alten Simmerauer hatten sie es abgesehen. Immer wieder mußte er solch ein schimmerndes Ding von seinen Lippen oder von seinen Augen lösen. Aber diese zähe Mühe machte ihn nicht unwillig. „Schauen S’ nur, Herr Purtscheller, wie alles glitznet!“ sagte er mit seiner müden Stimme. „So hat der Altweibersommer noch nie net g’sponnen, seit ich leb’! Sechzig Jahr’ lang! Aber so was hab’ ich noch nie net g’sehen!“

„Wenn die Spinnfäden so fliegen, sagt man, das bedeutet ein’ harten Winter!“

Der Alte seufzte. „So ein Glück! Ja! So ein Glück, wenn käm’!“

„Freilich! Wenn’s ein’ richtigen Frost machen thät’, da möcht’ der Berg ’s Laufen bald aufhören.“

„Was sagen S’, Herr Purtscheller, was er auf einmal für G’schichten macht! So ein närrischer Berg! So viel tausend Jahr’ hat er ein’ Fried’ geben! Und über Nacht fangt er solche Sachen an! Wie ein alter Mensch, der sein ganz’ Leben lang vernünftig und nüchtern war … und jetzt hat er den ersten Rausch!“ Michel wandte das Gesicht und drohte mit erhobenem Finger zu den grauen Felswänden hinauf. „Alterl! Alterl! das is net recht von dir! Das hat dir auch net der liebe Herrgott ein’geben! Na! Da hast auf’n Teufel g’hört!“ Seine kummervollen Augen irrten über das verwüstete Gehäng. „Und gar kein G’nügen hat er nimmer! Die besten Wiesen frißt er, den schönsten Wald streicht er wie Butter aufs Brot und ein Häusl ums ander’ schluckt er! Vor acht Tag’ is dem Pichler ’s seinige g’fallen, gestern is ’s Häusl vom Mitterhuber eing’sunken bis ans Dach, daß die armen Leut’ durch’n Rauchfang haben ’rausschliefen müssen! Und’s meinige …“ Die Stimme brach ihm. Er faßte Purtschellers Arm und deutete mit zitternder Hand ins Thal hinunter. „Sehen S’ den Kirchturmknopf? Wie er glänzt in der Sonn’?“

„Ja, Michel! Warum fragst denn?“

Es zuckte um die Lippen des Alten, als er mühsam Wort um Wort vor sich hinstieß: „Den Kirchturmknopf … über’m Wald da drunten … gestern am Abend hab’ ich ihn von meiner Hausthür aus noch glänzen sehen … aber heut … heut in der Fruh … da is er verschwunden g’wesen!“

„Michel!“

„Und der Wald da drunten is doch net g’wachsen über Nacht? Und die Kirch’ im Ort, die hat sich doch auch net vom Fleckl g’rührt? … Also?“

„Jesus Maria! Michel! Um so viel is Dein Häusl g’sunken in der Nacht?“

„’s Häusl net! Aber der Boden, wo ’s draufsteht, mit’m Garten, mit die Aepfelbäum, mit allem!“

Purtscheller schwieg und betrachtete den Alten in Mitleid und ehrlicher Sorge. Dann blies er die Backen auf, als wäre ihm schwül geworden, und sagte: „Michel! … Wenn’s krumm geht und Du brauchst was … schenier’ Dich net und komm zu mir! Für so ein’ braven Menschen, wie Du einer bist, für so ein’ hab’ ich allweil offene Händ’!“

Ein dankbarer Blick leuchtete aus Michels Augen zu Purtscheller auf; doch er schüttelte den weißen Kopf. „Vergelt’s Gott tausendmal für den guten Willen! Aber betteln thu’ ich net! Ich glaub’ noch net dran, daß mein Häusl nunter muß! Ich hilf mir schon noch! Ich selber! Ja! Und einer, das weiß ich, einer hilft mit!“ Sein Blick suchte den blauen, leuchtenden Himmel.

Sie mußten eine breite und tiefe Erdspalte überklettern, welche den Wiesenhang quer durchrissen hatte.

Als der Blick in das Thal vor ihnen wieder offen lag, sagte Michel: „Schauen S’ nur, wie die weißen Mauern vom Purtschellerhof schön raufleuchten! Sie haben’s halt gut! Der Purtschellerhof braucht sich vor keiner Nacht net fürchten!“

„Ja! Mein Haus steht fest! Da wackelt nix! Das hat g’sunden Felsboden und dicke Mauern! Da kann der Berg laufen, wie er mag!“ Purtscheller nickte lächelnd und blickte mit stolzem Behagen auf seinen stattlichen Hof hinunter, der, von einem baumreichen Wiesgarten umzogen, mit seinen Ställen und Scheunen wie ein Dörflein inmitten des Dorfes lag. Aber aus diesem stolz zufriedenen Gefühl heraus erwachte in Purtscheller der Gedanke, daß es doch eigentlich recht grausam wäre, sich seines reichen, ungefährdeten Besitzes zu freuen, während man den Jammer sah, der so deutlich aus Michels Blick und Zügen redete. Da wäre wohl ein tröstender Zuspruch viel eher am Platze. „Ja, schau, mußt mich net beneiden um mein Glück! Weißt, jeder Mensch hat Sorgen, der reiche gerad’ so wie der ärmste! Kannst mir’s glauben, Michel … ich bin der Purtscheller … aber mir steigen oft vor [392] lauter Sorgen d’ Haar’ am Kopf auf wie Besenstiel’! Was mir ein einzig’s Jahr Verdruß und Aerger bringt, so viel is ja Dir Dein ganz’ Leben lang net über’n Hals kommen! So ein weitschichtigs Anwesen tragt freilich, aber es frißt auch! Und manches Jahr heißt’s draufzahlen, daß man schwarz werden könnt’! Und schau, unsereiner hat Verpflichtungen auf alle Seiten! Da heißt’s allweil: zahlen, zahlen und zahlen. Die Jagd is frei … wer muß s’ denn pachten? Der Herr Purtscheller! Schreiben s’ in der Stadt ein Trabrennen aus … wer muß mitlaufen lassen? Der Herr Purtscheller! Halten s’ ein Scheibenschießen ab … wer muß den Ehrenpreis stiften? Der Herr Purtscheller! Jeder Tag bringt was anders! Ich sag’ Dir’s, Michel, ich brauch’ meine g’schlagenen zwölf- bis fufzehntausend Markln im Jahr! So viel hat ja kein Minister in der Stadt! Das is ein g’höriger Brocken Geld! Und der muß herg’schafft werden! Geh’s, wie’s will!“

„Mar’ und Josef!“ Der Simmerauer schlug die Hände über den Kopf zusammen, und im Schreck über die Sorgen, die der arme Purtscheller zu tragen hatte, vergaß er für einige Sekunden seines eigenen Jammers.

„Und solche Sachen, weißt’, die packen ein’ und lassen ein’ gleich gar nimmer aus! Schau nur an: so notwendig hätt’ ich heut in der Früh ein bißl auf die Felder nachschauen sollen. Aber na! Da kommt der Jagdg’hilf’ und meld’t, der starke Hirsch wechselt über die Grenz’ aus, wenn er net bald g’schossen wird! Was will ich machen? Muß ich halt ’nauf!“

„So? So? Auf den starken Hirschen haben S’ g’jagt? Ja, der hat arg g’schrieen in die letzten Nächt’!“

„Hast ihn g’hört?“

„Freilich! Ich hab’ ja seit Wochen schier kein’ Schlaf nimmer! Jede Nacht fahr’ ich zwanzigmal auf und greif’ in der Finstern an d’ Wand hin, ob s’ noch da is! … Haben S’ ihn ’kriegt, den Hirschen?“

„Na! Rein umsonst bin ich droben g’wesen! … Aber was ich sagen will: im Hölzl drüben hab’ ich Deine Enkerln ’troffen! Solltest die Kinder in so einer Zeit doch net so umeinanderlaufen lassen. Wie leicht kann ihnen was passieren!“

Michel schüttelte den Kopf. „Kinder haben ein’ guten Schutzengel! Wir daheim müssen am Häusl arbeiten den ganzen Tag … und da springen s’ einem allweil zwischen die Füß’ umeinander. Ich hab’s auch net gern, wenn die armen Hascherln die ganze Zeit unseren Jammer mit anschauen müssen! So was macht ihnen ’s G’müt krank. Und Kinder sollen lustig sein … die harte Zeit kommt eh’ noch früh g’nug! Da laß ich s’ lieber umeinanderlaufen. Und ’s Hölzl drüben is noch am sichersten … da halten d’ Würzen fest. Mein’ gute Alte in ihrer Sorg’ freilich, die sagt allweil …“ Er verstummte. Die zitternden Hände auf den Rücken legend, blieb er stehen und blickte mit feuchten Augen zu einem nahen Bauernhäuschen hinüber, dessen verschobenes Dach auf schiefen und halb geborstenen Mauern saß.

Undeutlich hörte man die erregten Stimmen der Leute, von denen die einen das Thürgebälk und die Fensterstöcke aus der Mauer brachen, während andere das armselige Hausgerät auf einen Leiterwagen luden, vor welchem ein klapperdürres Rößlein mit einer schwerfälligen weißen Kuh zusammengekoppelt war.

„Der erbarmt mich aber! Der arme Gaßner!“ nickte Michel mit erloschener Stimme vor sich hin. „Jetzt muß er Auszug halten! Traut sich nimmer schlafen unter ’m Dach!“

„Der is g’scheit, Michel! Der bringt beizeiten in Sicherheit, was zum Forttragen is, und baut sich drunten im Ort ein neu’s Häusl auf festem Boden. Ich mein’, es wär’ am besten, Du thätst es ihm nachmachen! Sag’ Ja, Michel, und ich hilf Dir dazu!“

Wortlos, fast unwillig schüttelte der Alte den Kopf.

„Schau, Michel, nimm Vernunft an!“ sagte Purtscheller mit ehrlicher Herzlichkeit und legte dem Simmerauer den Arm um die Schulter. „Weißt, so ein Berg, wenn er einmal ’s Laufen anfangt, der giebt kein’ Fried nimmer, eh’ net alles drunten is! Sei g’scheit, Michel, fang’s Ausräumen an, und drunten baust Dir wieder. Von mir kriegst den Baugrund … für ein Vergeltsgott und ein’ Schoppen Tiroler … dem Purtscheller kommt’s auf so ein lumpigs Tagwerk net an! Und zum Bau gieb ich Dir tausend Mark auf ewige Hypothek! Geh her, Alter, und schlag’ ein!“

„Dank schön, Herr Purtscheller … Sie meinen ’s gut … aber der Michel muß bleiben! Ah na! Der Michel kann net fort!“

„Möcht’ wissen, warum net? Was der Gaßner da drüben fertig bringt, das wird bei Dir auch noch möglich sein!“

Der Simmerauer fuhr sich mit langsamer Hand über das weiße Haar und atmete tief. „Der Gaßner! O mein! Der Gaßner! Der kann leicht ausräumen! Der kann sich leicht ein anderes Heimatl suchen! Aus der Fremd’ is er her’zogen und hat das Häusl ’kauft … aber das müssen S’ ja wissen! Es is ja ’s Häusl, in dem Ihr Frauerl auf d’ Welt kommen is! Vor vierzehn Jahr’ erst hat er’s ’kauft, der Gaßner! Vierzehn Jahr’! O mein! Der hat sich noch gar net eing’lebt d’rein! Aber ich? Na! Ich kann net fort! Ich bin ang’wachsen! Mein Vater, mein Ahnl und Urahnl is schon g’sessen an dem Tisch, wo ich heut’ noch sitz’! Da bin ich Kind g’wesen, da hab’ ich mein Katherl heimg’führt, da hab’ ich Glück und Sorgen übertaucht, bis aus ’m lustigen Micherl schön langsam der alte Michel ’worden is mit seine weißen Haar! Und ich soll fortkönnen? Na, lieber Herr! Jeder Stein am Häusl is ein Stückl von mir, jeder Span an der Thür, an Tisch und Bank und an die Fensterkreuz is lebendigs Holz und hat Würzen in meiner Seel’. Mein Häusl bin ich! Und mein Häusl is alles, was ich hab’! Sonst hab’ ich nix! Und wenn sich der Mensch auf ’n Schragen legt und macht seine Augen zu … ein bißl was muß doch bleiben von ihm! Ein bißl was muß er doch übrig lassen für seine Kinder … sonst is ja sein Leben für gar nix g’wesen! Na! Na, Herr Purtscheller! Ich kann net fort! Noch allweil glaub’ ich net d’ran … aber wenn’s schon so sein muß, daß der Berg mein Häusl schluckt … in Gottes Namen, so muß ich mit ’nunter. Soll er mich halt mitschlucken! Ueberleben thät ich’s eh net! Mein Häusl und ich, wir zwei halten z’samm’!“

Ein Knirschen quoll aus der Erde, und neben den beiden öffnete sich eine braune Spalte, während der Rasen unter ihren Füßen sich senkte und in langsames Gleiten geriet.

„Da! Er lauft schon wieder!“ sagte der Simmerauer ruhig und wischte sich mit den Fäusten die Thränen von den Backen, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Purtscheller war bleich geworden und hatte im ersten Schreck einen langen Sprung gemacht – wie eine Katze, der man kaltes Wasser über den Pelz gegossen; doch während er umherstarrte und nach einem sicheren Flecklein suchte, käm die laufende Erde schon wieder in Stillstand.

„Ich dank’ schön!“ stammelte er. „Da is ein unguts Bleiben!“

„Sind S’ erschrocken, gelt? Ja, im Anfang is mir’s auch so ’gangen, aber jetzt bin ich schon g’wöhnt dran!“ Michel hob den Kopf und lauschte – von einem nahen Gehänge, das hinter verwüsteten Haselnußstauden verborgen lag, klang der dumpfe Hall schwerer Schläge. „Hören S’ ihn, wie er drauf los arbeit’! Das is mein Bub’!“

„Is denn der Mathes daheim?“

„Ja! Den hat mir der liebe Herrgott g’schickt zur Hilf! Gestern haben s’ ihn auslassen von die Manöver; am Abend is er dag’wesen! Und ich sag’ Ihnen: ’s blaue Röckl, ja, aber d’ Uniformhosen hat er nimmer ’runter bracht! Gleich hat er ’s Arbeiten ang’fangt, und die ganze Nacht durch hat er g’schafft … und ’s Madl hat ihm g’holfen, ja!“ Ein Schimmer müder Freude huschte über das verhärmte Gesicht des Alten. „Mein Vronerl! Ja! An der is ein richtigs Mannsbild verloren ’gangen! Die ander’ … freilich die ander’ … Gott gieb ihr die ewige Ruh’ … die hat mir viel Sorgen g’macht!“ Er wischte mit dem Arm über die Stirne, wie einer, der sich den Schweiß abtrocknet, und nickte in schmerzlichem Sinnen vor sich hin.

Drüben über dem Thal hatte die steigende Sonne nun auch den Weg in die schattigen Felswände gefunden, und einzelne Zacken und Schrofen tauchten gleich funkelnden Erzgebilden aus dem bläulichen Dunkel hervor. Immer lustiger flogen die silbernen Fäden, frischer zog der Wind aus der Tiefe empor über die zerrissenen Wiesengehänge, man hörte das dumpfe Rauschen des Wassers, das in der Thalsohle mit wildem Ungestüm aus dem Innern des unterhöhlten Berges hervorströmte, und immer lauter klang vom Häuschen des Simmerauer das Dröhnen der schweren Schläge, untermischt mit dem verschwommenen Klang erregter Stimmen.

Da fuhr der Alte aus seinen Gedanken auf. „Na! Na! Bin ich aber einer! Da steh’ ich und plausch’ und flenn’ ein Stückl ums ander’ … und meine armen Leut’daheim, die müssen schaffen, daß ihnen die heißen Tropfen über d’ Nasen kugeln!“ Hastig warf er noch einen suchenden Blick über das Gehäng empor – doch die Herren der Kommission waren schon längst über den Wiesengrat hinweggestiegen. „Ich bin einer! Na! Na! Ich bin aber [394] einer!“ In Kummer schüttelte er über sich selbst den Kopf, und mit Nicken und Humpeln fiel er in hurtigen Gang.

Purtscheller, der seit der kleinen Schlittenfahrt, die er mit dem gleitenden Rasen gemacht hatte, merkwürdig still geworden war, folgte zögernd, als trieben ihn Mitleid und Neugier wider Willen hinter dem Alten her. Aber Michel kam immer weiter voraus, und als Purtscheller die Hecke der Haselnußstauden erreicht und eine Lücke des Buschwerkes durchschritten hatte, war von dem Alten nichts mehr zu gewahren.

Betroffen verhielt Purtscheller den Fuß und blickte um sich. Sonst hatte man das Häuschen des Simmerauer von dieser Stelle aus doch immer gesehen, schmuck und freundlich, mit dem hübschen Gärtlein und dem sauber gehaltenen Schuppen? Und jetzt war alles verschwunden! Nur ein niederes Gewirre von Apfelbaumzweigen mit welken Blättern ragte über eine nahe, scharf gezogene Bodenkante empor – und zwischen dem grauen Astwerk schimmerte das Gesims eines weiß getünchten Rauchfangs.

„O du lieber Herrgott!“ stotterte Purtscheller. „Das Häusl muß ja schon um fünf, sechs Meter g’sunken sein!“

Er eilte vorwärts. Nun hielt er vor einem fast senkrecht abfallenden Erdrutsch und ihm zu Füßen lag das kleine Heimwesen des Simmerauer, das noch vor einem Monat mit der Wiese, auf welcher Purtscheller stand, in gleicher Höhe gelegen hatte.


2.

Der ganze Grund, welcher Michels Häuschen mit Garten und Scheune, mit einem abgeernteten Getreidefeld und einem schmalen Kartoffelacker trug, hatte sich im Umkreis von ein paar hundert Schritten vom höheren Berghang losgelöst und war der „laufenden“ Erde des tiefer liegenden, vom Wasser unterhöhlten Wiesengehänges nachgesunken. Das hatte sich nicht gewaltsam vollzogen, sondern ganz allmählich, mit schleichender Bewegung. An der Abrißstelle, über welche Purtscheller niederblickte, war oben die kahle Erde schon ausgetrocknet, während sie unten noch frisch und feucht war. Ein plump gefügter Verhau aus Baumstämmen und verflochtenem Astwerk stützte die Böschung und sollte ein Nachgleiten des höheren Bodens verhindern – ein Rettungsversuch, welcher anzusehen war, als wollte eine Kinderhand den tollen Lauf eines scheu gewordenen Pferdegespanns aufhalten.

Am Fuß der Böschung sickerte durch das Rutengeflecht ein schlammiges Wasser hervor, das den sonst so freundlich gepflegten Garten mit seinen Kohlbeeten und Blumenrabatten versumpfte, sich in breiten Pfützen um die Wurzeln der trauernden Obstbäume sammelte und den Hofraum, das Stoppelfeld und den Kartoffelacker in zähen Morast verwandelte. Doch all diese Verwüstung hatte ein lächelndes Gesicht. Der blaue Himmel spiegelte sich in dem stehenden Wasser, das Sonnenlicht übergoldete mit seinen zitternden Reflexen den nassen Schlamm – und wohl gefährdet, doch scheinbar noch unberührt von der schleichenden Zerstörung, erhob sich inmitten dieses leuchtenden Grundes das kleine, schmucke Haus. Die weißgetünchten Mauern schimmerten wie frische Leinwand, die Glasscheiben blitzten zwischen den grüngestrichenen Läden, rot blüten die Nelkenstöcke auf allen Fenstergesimsen und auf der kleinen, schon altersgrauen Holzgalerie des Giebelstübchens, an allen Kanten des Daches glitzerten die angeflogenen Fäden, und auf der Höhe des Firstes glomm ihr Schein wie ein Elmsfeuer, das bei Tage brennt.

Doch diesem freundlich stillen Anblick widersprach das unruhige Leben, von dem das kleine Haus umgeben war. Die Hühner, welche das Waten im Schlamme satt bekommen hatten, waren auf die Obstbäume geflogen, saßen mit erregtem Gackern im Gezweig oder putzten das durchnäßte Gefieder; zwei Ziegen, das zottige Fell mit Kot behangen, schleiften meckernd ihre langen Stricke durch die Pfützen, und eine braune Kuh, welche neben der Scheune angebunden war, stand mit gespreizten Füßen, hielt den Schweif gestreckt und brüllte. Ahnte das Tier die Gefahr, die unter ihm in der sinkenden Erde drohte? Oder war es nur in scheue Unruh’ geraten durch den Hall der wuchtigen Schläge, mit denen ein junger Bursch, der die blaue Soldatenhose trug, einen schweren, übermannshohen Pfahl in den Boden trieb?

Das war der Mathes – eine hager und sehnig aufgeschossene Gestalt, an der nichts Weiches und Schmiegsames war, alles herb und eckig; kurzgeschnittenes Blondhaar umschimmerte den Kopf, und stille, blaue Augen glänzten in dem ernsten, schmalen Gesicht, welches glatt rasiert war, jetzt gerötet von der anstrengenden, rastlosen Arbeit, Stirne, Wangen und Hals überronnen von glitzernden Schweißperlen. Wie wenig er seiner Schwester glich! Niemand hätte ihn für den Bruder des Mädchens gehalten, das nicht weit von ihm vor einem Holzblock stand und mit emsigen Beilhieben einen hohen Pfahl zuspitzte. Eine schmucke Dirn’ von strotzender Gesundheit und kräftiger Jugendfrische; alle Formen voll gerundet und schier ungebärdig unter dem Zwang der schon zu knapp gewordenen Kleidung; die Lippen von heißem Rot, die Wangen brennend, die dunklen Augen von hellem Feuer, und die schön gewölbte Stirn umringelt von den wirren Härchen, die aus dem aufgesteckten Nest der schweren, braunen Flechten losgesprungen waren. Unermüdlich schwang sie das Beil, warf den gespitzten Pfahl beiseite und griff nach einem anderen. Sie stand mit nackten Füßen im Schlamm, hatte das dunkelgrüne Röcklein geschürzt und – da ihr bei der Arbeit schwül geworden war – halb das gestrickte Leibchen geöffnet, dessen schwarze Wolle in Sonne und Regen schon zu einem bräunlichen Filz verwittert war. Der eine der beiden kurzen, straff gespannten Hemdärmel war bei einem ungestümen Hieb, den Vroni geführt hatte, zerrissen, und zwischen den Leinwandfetzen schimmerte der Oberarm mit reinem Weiß hervor, während die frei getragenen Unterarme dunkel gebräunt waren.

Wie Mathes dem Vater, so war Vroni der Mutter nachgeraten, die vor dreißig Jahren als das schönste Mädchen des Dorfes gegolten hatte. Von dieser einstigen Schönheit war freilich nicht mehr viel an dem gealterten Weiblein zu gewahren, das gebeugt vor dem Sägbock stand und frischgefällte Stangen zu langen Pfählen entzwei sägte. Die dünn gewordenen grauen Zöpfe hingen lose um das geduldige, bei Sorgen und Arbeit welk gewordene Gesicht, in welchem nur die guten, dunklen Augen noch einen letzten Schimmer vom Glanz der längst entschwundenen Jugend bewahrt hatten. Immer wieder seufzte Mutter Katherl, während sie die Säge zog. Die Arbeit ging ihr langsam und mühselig von der Hand – und wenn der abgesägte Pfahl zu Boden rollte, wenn sie keuchend eine neue Stange auf den Sägebock gehoben hatte, richtete sie sich auf, um den schmerzenden Rücken ein bißchen rasten zu lassen, und immer glitten dabei ihre Augen mit sorgenvollem Blick über das kleine Haus.

Nun zog sie wieder geduldig die in einer Gabel hängende Säge hin und her und war so vertieft in die Arbeit, daß sie ihren Mann nicht kommen hörte – sie fühlte nur plötzlich, wie er sie sanft beiseite schob, während er ihr die Säge aus der Hand nahm.

„Geh, Katherl, setz Du Dich ein bißl nieder! Laß mich wieder schaffen!“

Sie nickte nur und wollte zur Hausbank gehen; doch auf halbem Weg kehrte sie wieder um und fragte flüsternd: „Hast was g’hört von die Stadtherrn?“

Michel schüttelte den Kopf und sägte; erst nach einer Weile sagte er leis: „Nix! Gar nix! Allweil studieren s’ noch und graben dem Berg in die Darm’ nunter … und wissen net, was s’ sagen sollen.“

Seufzend ging Mutter Katherl zur Hausbank und säuberte die Hände an der blauen Schürze. Aus einem irdenen Krug, der auf der Bank stand, füllte sie ein Glas mit Milch. Das war seit Tagen das einzige Getränk in der Simmerau – Bier ist teuer und das Wasser, das eine Woche lang im Brunnen versiegt war, stand wohl seit zwei Tagen wieder hoch im Schacht, aber es war verschlammt und ungenießbar.

Ueber einen der Balken, welche kreuz und quer die aufgeweichte Erde durchzogen, ging Mutter Katherl zu Vroni hinüber und reichte ihr das Glas. „Da, Mädl, trink’ wieder ein Schlückl, es muß Dich ja dursten!“

„Ah na! Dank’ schön! Es is net so arg!“

„No freilich, brennt Dir ja ’s ganze G’sichtl! Geh, sei g’scheit und trink’!“

Vroni trieb mit festem Schwung das Beil in den Hackstock, um die Hand frei zu bekommen, und leerte das Glas. „Vergelt’s Gott, Mutterl!“

Da hörte sie vom Verhau herüber ein Geraschel der Aeste und das Kollern fallender Erdbrocken – Purtscheller, der über die steile Böschung niedersteigen wollte, war fehlgetreten und hatte sich nur durch einen raschen Griff nach den verflochtenen Zweigen vor einem Sturz in den Schlamm bewahrt. Nun kam er lachend aus dem Garten hervorgewatet und balancierte sich über einen [395] der umherliegenden Balken, in der einen Hand die Büchse, in der anderen den Bergstock.

Vroni und ihre Mutter boten ihm verwundert ein Grüß Gott, und Michel, ohne die Säge rasten zu lassen, stotterte: „Jesses! Der Herr Purtscheller! Auf den hab’ ich ganz vergessen!“

Nur Mathes schwieg. Beim Anblick des Jägers war ein jähes Erblassen über seine heißen, erschöpften Züge gegangen. Aber jetzt war sein Gesicht schon wieder ruhig – nur noch ein schmerzliches Lächeln lag um seine schmalen Lippen, als er die Arbeit wieder aufnahm.

Niemand hatte diese flüchtige Bewegung des Burschen gewahrt, außer der Mutter, die ihm gerade das Glas mit der Milch hatte reichen wollen.

„Mathes? … Was hast denn?“

Wortlos schob er mit dem Ellbogen das Glas von sich und arbeitete weiter.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 25, S. 409–415

[409] Während Mathes und Vroni an ihren Pfählen emsig weiter arbeiteten, ließ Michel für eine Weile die Säge sinken und begann mit Purtscheller wieder von der Gefahr zu reden, die seinem Haus von der Höhe und aus der Tiefe drohte. Dann ging Purtscheller zur Hausbank und spähte ins Thal hinunter. „Wahrhaftiger Gott! Vom Kirchturm sieht man kein Blinkerl nimmer!“ Er warf einen besorgten Blick über die weiße Mauer des Hauses, schüttelte ernst den Kopf und machte sich’s auf der Bank gemütlich. Langsam rieb er mit den Händen seine vom Pirschgang müd’ gewordenen Kniee und [410] schaute prüfend nach allen Seiten, bis seine Augen an Vroni haften blieben. Je länger er sie betrachtete, desto wärmer schien sein Wohlgefallen an ihrer schmucken Gestalt zu werden. Er spitzte die Lippen, wiegte den Kopf zwischen den Schultern und sagte: „Sapperlott, Michel! Dein Madl! … Alle Achtung!“

Vroni überhörte das Lob, und der Simmerauer nickte hinter dem Sägebock: „Ja! Gelt?“

„Und Ihr lieb’s Frauerl, Herr Purtscheller?“ fragte Mutter Katherl, die den Milchkrug in den Hausflur gestellt hatte. „Wie geht’s denn?“

„Dank’ der Nachfrag’! Den Sommer über hat man z’frieden sein können. Sie hat sich ordentlich wieder ’rausgemacht. Aber so viel still geht s’ allweil umeinander. Da muß ich mich oft drüber ärgern, daß ich’s gar net sagen kann! Ich hab’ halt gern lustige Leut’ um mich. Freilich muß ich mir nachher wieder denken: sie is halt net völlig g’sund. Der Doktor sagt wohl, es fehlt ihr nix. Ein bißl nervios halt, und ein schattig’s G’müt, meint er. Zum Lachen! Schatten! Im Purtschellerhof! Der Doktor is ein Esel und versteht nix! … Ich fürcht’ allweil, sie hat’s ein bißl auf der Brust.“

Mathes taumelte – beim Rammen eines Pfahles hatte er mit der schweren Holzkeule daneben geschlagen und die Wucht des Schwunges riß ihn fast zu Boden.

„Aber! Herr Purtscheller!“ fiel Michel ein und ließ für ein paar Augenblicke die Säge wieder rasten. „Wie können S’ denn an so was denken! Schauen S’, die Frau Karlin’ hat schon als jung’s Madl zu dieselbigen g’hört, die ’s Leben ein bißl ernster fassen …“

„Für was denn?“ murrte Purtscheller. „Mir g’fallt halt einmal ’s Lachen besser! Ich möcht’ eine lustige Frau haben! … Und mir scheint, sie hätt’ allen Grund zum Lustigsein!“

„No ja! Ja! Aber die Menschen sind halt net alle gleich! Den ein’ macht’s Glück lebendig und den andern still! Und gar ein’ groß’ Glück! Denn das muß ich selber sagen: es is ein ganz ein außerg’wöhnlich’s Glück g’wesen, das die Karlin’ g’macht hat.“

Diese Anerkennung schien Purtschellers üble Laune zu besänftigen. „Ja, Michel, da hast’ recht! Ein blutarm’s Madl ohne Familli … und über Nacht die Frau im Purtschellerhof! So was kommt net oft vor! Da hätt’ sich mancher andere b’sonnen an meiner Stell’! Aber sie hat mir halt g’fallen! Ich bin halt verliebt g’wesen! Und wenn ich einmal will, so will ich! Und wenn ich einmal will, so g’schieht’s auch!“

Dieses große Wort machte den Simmerauer schweigsam, und Mutter Katherl betrachtete den willensstarken Purtscheller mit scheuen Augen und dachte sich im stillen: wenn er nur „wollen“ möchte, daß der laufende Berg wieder zum Stehen käm’.

Während dieses Schweigens flog ein Holzsplitter surrend bis zur Hausbank Mathes hatte die eichene Keule mit solcher Wucht auf den Pfahl geschmettert, daß das Ende der dicken Stange zu einem fransigen Besen auseinandergefahren war.

Mutter Katherl löste den Splitter von Purtschellers Sammetjacke und fragte: „Aber ’s Büberl is doch wohlauf?“

„Da könnt’s auch besser ausschauen! Das Bürscherl is ein bißl gar z’ fein geraten! Mein’ Buben … den hab’ ich mir anders ’denkt! Aber freilich, d’ Mutter is schon allweil so ein schwach’s Krisperl g’wesen!“

Da ließ Mathes den Schlägel sinken, wandte das Gesicht über die Schulter und musterte Purtscheller mit funkelndem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Es schien, als läge ihm ein Wort auf den Lippen, und kein freundliches – aber Vroni trat dazwischen. Sie hatte scheinbar des ganzen Gesprächs nicht geachtet, sich nur um ihre Arbeit gekümmert; dennoch war ihr die Bewegung des Bruders nicht entgangen, und da unterbrach sie die Arbeit, kam hastig auf ihn zugeschritten und lehnte ihm den noch unfertigen Pfahl in den Arm; sein erregtes Gesicht mit mahnendem Blick überhuschend, sagte sie leis: „Thu’ lieber schaffen, Mathes!“

Er nickte, faßte mit beiden Händen den Pfahl und stieß ihn in die Erde. Dann hob er den Schlägel wieder, und Vroni watete zum Hackstock zurück.

Purtscheller saß mit gekreuzten Armen an die sonnige Mauer gelehnt, hielt die Beine gestreckt und betrachtete die Arbeit, die er um sich her geleistet sah. Ueberall ragten die Stümpfe eingerammter Pfähle aus dem Schlamme hervor, und zur Hälfte waren sie schon durch quer aufgesetzte Balken zu einem festen Rost miteinander verbunden.

„Ein guter Einfall!“ sagte Purtscheller mit der Miene eines Sachverständigen. „Wer hat Dir denn das g’raten, Michel?“

„Mein, wer sonst als mein’ Sorg und Kümmernis!“ erwiderte der Alte. „So ein Fachwerk, das den ganzen Platz ums Haus ’rum einfaßt, hab’ ich mir ’denkt, könnt’ doch den Boden ein bißl z’sammenhalten, daß er net überall auseinanderschlupft wie auf die Wiesen droben!“ Er atmete schwer und salbte mit einer Speckschwarte die heiß gewordene Säge. „Vor acht Tag’ schon hab’ ich’s ang’fangt! Aber wär’ mein Mathes net heim ’kommen … wer weiß, ob ich’s fertig ’bracht hätt’! Der Bub’ hat in einer Nacht und heut’ in der Früh mehr vom Fleck ’bracht als ich in der ganzen Woch’.“

„Ja ja, das glaub’ ich!“ Und mit prüfendem Blick sah Purtscheller dem Mathes eine Weile bei der Arbeit zu. „Der schafft ja für drei! So hab’ ich ein’ Menschen meiner Lebtag noch net arbeiten sehen! Herrgott! So ein’ könnt’ ich brauchen im Purtschellerhof! Der möcht’ mir mein’ Sach’ schön sauber in der Ordnung halten, derweil ich meine anderen Verpflichtungen nachgeh’n muß! Die Haderlumpen, meine Knecht’, betrügen mich ja hint’ und vorn! Aber auf ein’, wie der Mathes is, auf so ein könnt’ ich mich verlassen! So ein’ möcht’ ich haben! Meiner Seel’!“ Und da beim Purtscheller, wie er selbst gesagt hatte, jeder Wunsch und Wille auch schon die That war, fragte er gleich: „Was meinst, Mathes? Ich nimm Dich auf der Stell’! Hätt’st net Lust?“

„Mich braucht der Vater!“ antwortete der Bursche ruhig, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

Michel, der bei Purtschellers Frage erschrocken war, atmete erleichtert auf.

„No ja, der Vater! Jetzt!“ Purtscheller kam in Eifer. „Aber der unsinnige Berg da wird doch wieder einmal ein’ Fried’ geben! Und wenn der Winter einfallt, is eh die ärgste G’fahr überstanden. Und da bist wieder frei … .“

„Für den Fall weiß ich mir ein’ Platz …. wie die letzten Jahr’ her …. weit von daheim!“

„Ein’ Platz! Ja! Aber kein’ solchen wie im Purtschellerhof! Dreihundert Mark im Jahr, alles frei, zweimal im Jahr ein neu’s G’wand, und ein Weihnächten, wie’s im ganzen Land kein Graf net giebt! Was meinst?“

Der Simmerauer wurde wieder unruhig, und auch Vroni blickte auf den Bruder, als wäre sie in Sorge, daß dieses Angebot ihn bereden könnte.

Da hallte ein klingender Jauchzer über die Wiesen herunter und undeutlich verstand man, daß dort oben einer mit gezogenen Lauten den Namen Purtscheller schrie.

Alle blickten hinauf, und über der Höhe eines Wiesengrates gewahrten sie einen Menschen, dessen Figürchen sich schwarz vom leuchtenden Himmel abhob. Er fuchtelte mit beiden Armen und schrie wie ein Verrückter.

„Was kann denn das für einer sein?“ fragte Purtscheller und holte das Fernrohr aus dem Rucksack hervor.

Aber Vroni hatte den dort oben schon erkannt. „Der Daxen-Schorschl!“ sagte sie und nahm die Arbeit wieder auf. Mit diesem Namen schien die Sache, welche die anderen noch in Erregung hielt, für sie bereits erledigt zu sein. Doch ihre roten Lippen waren unwillig aufgeworfen, eine Furche stand zwischen ihren Brauen und gar finster blickten ihre braunen Augen. Freilich, wenn sie noch immer an den dort oben dachte, dann war ihr diese halb grollende, halb verächtliche Miene nicht zu verdenken.

Selbst die Freunde des Daxen-Schorschl wußten nicht sonderlich viel Rühmenswertes von ihm zu erzählen – höchstens, daß er eine gute Haut und ein anhänglicher Kerl wäre, dazu ein stramm gewachsener Bursch mit blitzenden Schwarzaugen im Gesicht, aus dem der gezwirbelte Schnurrbart hervorstach gleich einem Paar zu Schutz und Trutz gefällter Lanzenspitzen. Sonst aber schien es beim Daxen-Schorschl mit guten Eigenschaften gar schlimm bestellt. Sein Kardinalfehler, aus welchem all die anderen bösen Dinge hervorwuchsen wie die Schwämme aus einem moderigen Flecklein Erde, war ein grenzenloser Leichtsinn, der dem Faß schon mehr als einmal den Boden ausgeschlagen hatte. Wenn ihn der moralische Katzenjammer anfiel – was übrigens sehr selten geschah – pflegte er mit einem Seufzer zu sagen: „Ich hab’ halt Vater und Mutter [411] z’früh verloren, hätt’ halt noch ein paar Jahr’ lang zu jeder Morgensuppen eine g’sunde Tracht Prügel ’braucht …. vielleicht hätt’s was g’holfen!“ Vielleicht – er selbst war nicht sicher in diesem Glauben.

Aber er hatte doch eigentlich die Prügeljahre schon längst hinter sich, als seine Eltern starben und ihm in bester Lage des Dorfes ein hübsches Haus und die einträgliche Schmiede vererbten. Da war er ein neunzehnjähriger Bursch gewesen, gerade reif für den blauen Rock. Während der Soldatenjahre hielt ihm ein alter Vetter das Geschäft in leidlicher Ordnung, und als Schorschl mit einem großen Schnurrbart aus der Stadt heimkehrte, hatte es ein paar Wochen lang den Anschein, als ob in der Schmiede ein neues, lustiges Arbeitsleben begänne. Nur eins gab den Leuten gleich zu reden: daß Schorschl die beiden Kühe verkaufte und den Stall leer stehen ließ. Seine lachende Verantwortung lautete: „Erstens muß ich meine Schulden in der Stadt drin zahlen … und zweitens, was brauch’ denn ich so eine feine Milli z’trinken? Ich bin mit Bier und Tiroler z’frieden!“

Doch dieses „Schlauderwörtl“ verziehen ihm die Leute wieder, als sie ihn in seiner Schmiede so wuchtig drauflos hämmern hörten, daß es übers ganze Dorf hinausklang, hell wie Glockenschlag. Nur hatte diese erste Arbeitswut nicht lange Dauer. „In der Stadt kriegt man so feine Händ’,“ meinte Schorschl, „da wird einem ’s Arbeiten hart!“ Bald machte er untertags ein „Plauscherl“ beim Nachbar, bald wieder ein „Sprüngerl“ ins Wirtshaus, dann wieder mußte er sich auf den Bergen „auslaufen“. Das geschah immer häufiger, immer seltener traf man den Schorschl in der Schmiede, und schließlich überließ er das ganze Geschäft dem Gesellen und ging seinen wechselnden Launen nach. Er war kein Faulpelz, im Gegenteil, bei Tag und Nacht hatte er alle Hände voll zu thun. Er half beim Flößen und Holzziehen, ohne sich bezahlen zu lassen. Wenn einer zu ihm sagte: „Geh, Schorschl, sei so gut und thu’ das g’schwind!“ – so that er es ihm. In kurzer Zeit bildete er sich zu einem Virtuosen auf der C-Trompete aus und spielte „per Rekrazion“ bei allen Hochzeiten und Tanzmusiken mit. Seine Hauptleidenschaft war das Fischen und Krebsen – da war er unerreichter Meister – und den reichen Fang verschenkte er an die Kinder, die in Scharen herbeiliefen, wenn sie den Daxen-Schorschl am Wasser sahen. Das ging zwei Jahre so fort – dann war die Schmiede auf der Gant.

Die Verwandten sprangen ein und halfen; ein paar Monate gab sich Schorschl alle Mühe, seinen Leichtsinn unterzukriegen, und dann ging das alte Schlenderleben wieder an. „Lüftig wie der Daxen-Schorschl!“ das war ein Sprichwort im Dorf geworden. Die paar geduldigen Leute, die ihm trotz allem noch immer die Stange hielten, führten zu seinem Lobe an: der Schorschl bekneipt sich zwar manchmal ganz gehörig, aber er ist doch kein Trinker und läßt die Hände von den Karten und die Mädeln haben Ruh’ vor ihm! Sonst aber konnte man ihm alles nachsagen, was am Leichtsinn hängt. Und zu den brotlosen Künsten, die er all die Jahre her getrieben, hatte sich in der letzen Zeit noch eine neue gesellt. In seinen Adern rollte kein Jägerblut, er hatte kein Verlangen nach der Büchse, aber er liebte es, bei der Jagd zu „gustieren“. Einen besseren Treiber und Steiger als der Schorschl einer war, gab es in den ganzen Bergen nicht. Und sein höchstes Vergnügen war es, „für die Jaager ein gut’s Stückl ausmachen“ – das heißt, den Standort eines selten starken Wildes auszuforschen. Während drunten im Dorf von Haus zu Haus erzählt wurde, daß die Daxenschmiede schon wieder ins Schwimmen käme und vor der zweiten Gant stünde – rannte Schorschl lachend und seelenvergnügt bei Tag und Nacht auf den höchsten Bergen umher, um für den Purtscheller und seine Jagdgehilfen einen Kronenhirsch oder einen alten Gemsbock auszuspüren.

Und als er jetzt dort oben stand, das Hütlein schwang und jodelte und schrie, kam Purtscheller gleich zu der Vermutung: „G’wiß hat er mir wieder was Gut’s ausg’macht und weiß, daß ich da bin in der Simmerau. Augen hat er ja wie ein Luchs, der Kerl! Is schon möglich, daß er mich g’sehen hat über d’ Wiesen hergehen, derweil er droben g’standen is im G’wänd!“ Purtscheller höhlte die Hände um den Mund und rief gegen die Höhe: „Huuup!“ Dann lachte er. „Hat mich schon g’hört!“

Die Gestalt des Daxen-Schorschl glitt über den steilen Wiesengrat herunter, so hurtig, wie eine ins Rollen geratene braune Scholle. Er wuchs mit jeder Sekunde und man konnte schon gewahren, wie er bei diesem sinnlosen Lauf mit weiten Griffen den Bergstock einsetzte. Sprünge machte er, daß Mutter Katherl ein um das andere Mal erschrocken stotterte: „Jesses, jetzt wirft’s ihn!“

„Thu’ Dich net sorgen, Mutterl,“ brummte Vroni. „Unkraut verdirbt net!“ Dabei bearbeitete sie den Pfahl, den sie gerade auf den Hackstock hielt, so unmutig mit dem blitzenden Beil, als trüge das arme Holz die Schuld, daß dieses Unkraut gewachsen. Ein paarmal schlug sie aber doch daneben – wenn sie so ein ganz klein wenig von der Seite hinauf schielte gegen die Wiesen.

Schorschl war schon so nahe gekommen, daß man deutlich den plumpsenden Aufsprung seiner Füße hören konnte.

„Um Gotteswillen!“ stammelte Michel in seiner ruhelosen Sorge. „Der macht mir am End’ mit seiner Springerei den Berg noch roglig!“

Und Mutter Katherl schrie im gleichen Augenblick: „Mar’ und Josef! Jetzt hat’s ihn g’worfen!“

Schorschl war in einer grauen Staubwolke verschwunden – ein Stück Wiese mußte unter seinen Füßen niedergebrochen sein.

„Hab’ ich’s net g’sagt?“ jammerte der Simmerauer, ließ die Säge fahren und sprang auf das Haus zu, als hätten ihn die Mauern schon zu Hilfe gerufen. Auch Mathes warf erschrocken den Schlägel beiseite, und auf dem Hackstock verstummten plötzlich die Beilhiebe. Nur Purtscheller lachte, daß ihm der Atem fast verging.

Hatte der Schutt den Daxen-Schorschl begraben? Aber nein! Gleich einer wirbelnden Scheibe flog ein Hut aus dem sinkenden Staub heraus, man sah den Bergstock ein paar Räder schlagen und hinter diesen beiden Vorboten kam Schorschl nachgerollt und kollerte unter fruchtlosen Versuchen, auf dem glatten Grasboden einen Halt zu finden, mit wachsender Eile über den steilen Hang herunter.

Da verging auch dem Purtscheller das Lachen – denn die Sache mußte übel ausfallen. Doch während er und die anderen sich noch im ersten Schreck besannen, war Vroni schon über den Saum der vom Erdrutsch gebildeten Böschung emporgerannt und breitete die Arme gerade in dem Augenblick, in dem dieser rollende Klumpen Mensch in das Gezweig der Aepfelbäume niederzustürzen drohte. Sie wankte unter der Wucht, mit welcher Schorschl gegen ihren Körper schlug – doch sie hielt sich auf den Füßen.

Ein langer Silberfaden kam glitzernd durch die Luft geschwommen, haftete an der Schulter des Mädchens und legte sich gaukelnd mit einer zarten Schlinge um den Kopf des Burschen.

Seine Arme hatten Vronis Hüften umklammert, und mit dem vom Sturz verwüsteten Gesicht zu ihr aufblickend, stammelte er, halb noch ohne Atem: „Sakra! Sakra, Madl! An Dir kann man sich aber anhalten!“

Ohne ein Wort zu finden, das Gesicht von Zornröte übergossen, riß sich Vroni von ihm los – der silberne Faden dehnte und dehnte sich, als wollte er die beiden nicht mehr aus seiner schimmernden Schlinge lassen.

Langsam hob sich Schorschl auf die Füße. „Sakra! Sakra!“ Und mit großen Augen blickte er dem Mädchen nach. Er hatte sie doch in den vergangenen Jahren zu hundert Malen gesehen, und dennoch machte er Augen, als sähe er Vroni zum erstenmal. Aber da verging ihm das Schauen – er mußte die Lider schließen, denn vom Sande begannen ihm die Augen zu brennen. So stand er eine Weile und zupfte die Erdkrumen aus seinen Wimpern.

Vroni schwang schon wieder das Beil vor dem Hackstock, und auch Mathes griff nach dem Schlägel, während der Simmerauer scheltend zu seiner Säge zurückkehrte. Mutter Katherl dankte mit zitterndem Stimmlein allen Heiligen des Himmels, daß sie den Hals und die Glieder des Daxen-Schorschl so gnädig behütet hatten und Purtscheller lachte schon wieder, daß ihm das Wasser in die Augen sprang.

Beim Klang dieses Gelächters unterbrach Schorschl sein Zupfen und Reiben. Er lachte mit, und da ihm der Umweg um den Saum der Böschung zu weit war, sprang er über den Verhau herunter, daß vom durchweichten Grund der Schlamm über ihn emporspritzte. „Herrgott! Da giebt’s aber Soßß!“ Sonst hatte er kein Wort, keinen Blick und keinen Gedanken für die Zerstörung, welche rings um das kleine Haus her ihre schleichenden Wege ging. Vor allem mußte er die Nachricht los werden, die er brachte: „Herr Purtscheller! Den starken Hirsch hab’ ich ausg’macht!“ Nun erst verschnaufte er sich.

[412] „Richtig! Ich hab’ mir’s aber gleich ’denkt! Bist ein Mordskerl!“ Purtscheller begleitete dieses Lob mit einem Faustschlag auf Schorschls Rücken. „Wo hast ihn denn g’funden?“

„Droben im Seekar liegt er in die Latschen drin. Wenn S’ mit raufsteigen, den Hirsch treib’ ich Ihnen hin am Stand, nix Schöners giebt’s gar net!“

„Jetzt gleich auf der Stell’?“ Purtscheller besann sich und rückte ärgerlich das Hütchen. „Eigentlich sollt’ ich heim, ein bißl nachschauen, was meine Leut’ auf die Felder machen!“

„Und den Hirsch wollen S’ auslassen! Jetzt, wo er sicher is? Kommen S’ mit, sag’ ich! Der Hirsch is g’schossen bis auf ’n Abend! Da verwett’ ich mein’ Kopf drauf!“

Beim Hackstock verstummten die Beilhiebe. „Wenn Du schon so einer bist,“ rief Vroni nicht sonderlich freundlich über die Schulter, „so halt’ doch wenigstens die andern Leut’ net von der Arbeit ab!“

„Arbeit? No ja!“ sagte Purtscheller beschwichtigend. „Den Hirsch kann ich doch auch net verschenken! So ein Hirsch gilt seine hundert Mark, ’s G’weih gar net g’rechnet. Na, na, da muß ich schon ’nauf!“ Er griff nach Büchse und Bergstock. „Komm, Schorschl!“

„Gleich komm ich. Steigen S’ nur derweil voraus! Ich muß mich ein bißl sauber machen … sonst könnt’ der Hirsch ’s Grausen kriegen, wann er mich sieht!“

Purtscheller lachte, rief dem Simmerauer und der Bäuerin einen freundlichen Gruß zu, warf noch einen musternden Blick des Wohlgefallens auf Vroni und stieg gemächlich über die Böschung hinauf.

Zwei heiß brennende Augen folgten ihm – und als Purtscheller in einer Senkung der Wiese verschwand, atmete Mathes tief auf und hob den Schlägel wieder.

Schorschl wollte zum Brunnen; dabei mußte er am Hackstock vorüber. Ein wenig verlegen blieb er stehen und sagte lachend: „Wärst Du net g’wesen, da könnt’ ich jetzt ein paar g’sunde Löcher im Kopf haben! Ein’ festen Sprung hast g’macht um meinetwegen! Muß Dir doch ein Vergeltsgott sagen!“

Vroni übersah die Hand, welche Schorschl ihr bot, und ließ sich in der Arbeit nicht stören. „Ein Vergeltsgott? Mir? … Das braucht’s net!“

Der trockene Ton schien den Daxen-Schorschl zu belustigen. „So sag’ halt noch dazu: ‚’s is gern g’schehen‘!“

„Gern? … Na!“

„Ui Jegerl! Am End reut’s Dich gar, daß D’ mich den Hals net hast brechen lassen?“

Vroni schwieg, und über den Pfahl weg, auf den sie loshackte, streifte sie den Burschen mit einem finsteren Blick. Freilich, der Daxen-Schorschl bot auch in der Verfassung, in welcher er nach seiner Rutschpartie beim Häuschen des Simmerauer angelangt war, durchaus kein Bild, das einem Mädchenauge sonderlich gefallen konnte: das Gewand beschmutzt, so daß die Farbe kaum mehr kenntlich war, die nackten Knie, Gesicht und Hände grau von Staub, braune Erde im Haar und am zerzausten Schnurrbart; rote Tropfen sickerten von der zerschundenen Wange und all seine Fingernägel waren blutig.

Aber er lachte. „Sakra, Madl! Ein paar Augen kannst machen … net schlecht!“ Und nach einer stummen Weile fügte er etwas kleinlaut bei: „Gar viel Gut’s, mein’ ich, mußt Dir net denken von mir?“

„Da kannst recht haben!“

„Jetzt machst mich aber neugierig! So sag’s halt … was denkst Dir denn von mir?“

„Das is g’schwind g’sagt!“ Vroni ließ das Beil sinken und mit festem Blick richteten sich ihre blitzenden Augen auf den Burschen. „Schorschl! Du bist ein Lump!“

In der ersten Verblüffung machte der Daxen-Schorschl ein furchtbar dummes Gesicht. Dann stieg ihm dunkle Röte in den Kopf … man sah es, obwohl ihm der graue Staub auf Stirn und Wangen lag. Merkwürdig, daß dieses kurze Wort den „lüftigen“ Schorschl so erregen konnte! Er hatte dieses Wörtlein doch schon häufig genug zu hören bekommen, um sich an seinen Klang zu gewöhnen. Aber die anderen, drunten im Dorf, die hatten es immer lachend gesagt: „Na, Schorschl, bist Du ein Lump!“ … und immer hatte er mitgelacht. Jetzt zum erstenmal hatte er dieses Wort auf eine neue Art gehört, ernst, von einer bebenden Stimme gesprochen! Und von so roten Lippen! Er suchte nach einer Antwort. Aber da sagte Vroni: „Geh zum Brunnen und wasch’ Dich! Steht Dir ja ’s Blut im G’sicht und auf die Händ’! Mach’ weiter!“ Ruhig wandte sie ihm den Rücken und schwang das Beil.

Schorschl stand noch eine Weile und betrachtete ratlos seine übel zugerichteten Hände; dann verzog er die Lippen wie ein gescholtenes Kind, das nicht zu mucksen wagt, ging auf den Brunnen zu, wobei er bedächtig die aus dem Schlamm hervorstehenden Balken und Steine benutzte, und schöpfte Wasser aus dem Trog.

[413] Während er sich wusch, unter Prusten und Plätschern, kam einer der Gemeinderäte, welche die Kommission begleitet hatten, bergabwärts am Haus vorüber. Als der Simmerauer ihn erblickte, fuhr ihm die jähe Erregung so in die Hände, daß er die Säge verbog. „Leitner! He! Leitner!“ rief er mit halberstickter Stimme den Bauern an, humpelte auf ihn zu und faßte ihn am Joppenzipfel. „Seids denn schon fertig droben? Wo gehst denn hin?“

„Nunter ins Ort muß ich, ’s Mittagsessen b’stellen für die Kammissoni.“

Mutter Katherl trippelte auf einem Balken durch den Schlamm, Vroni verließ den Hackstock, das Beil in der Hand, und Mathes kam, mit dem Schlägel auf der Schulter. So standen sie alle viere um den Bauern her und hingen mit scheuen Augen an seinen Lippen.

„Und …“ Michel brachte die Frage kaum heraus, „was sagen s’ denn … die studierten Herrn?“

Der Bauer machte ein ernstes Gesicht und zuckte die Schultern. „Sagen? Was sollen s’ denn sagen? Helfen können s’ doch net! Und daß wir jetzt wissen, wie ’s Unglück ’kommen is, das macht uns auch net g’scheiter!“ Er fuhr sich mit der Hand über Mund und Nase und winkte gegen die Felswand hinauf. „Wie im Sommer da droben im Seekar der Almsee plötzlich ausg’laufen is, ohne daß man g’sehen hat, wo ’s Wasser hinkommt … das wär’ der Anfang g’wesen, sagen s’, die Herrn, ’s Wasser hätt’ ein’ unterirdischen Durchgang g’funden, und wie der Weg einmal offen war in die Darm’ vom Berg ’nein, is dem Seewasser auch ’s ganze Regen- und Schneewasser die Zeit her nachg’ronnen. Und der ganze Berghang thät’ auf schiefem Letten[1] liegen, sagen s’. Den wascht ’s versunkene Wasser schön langsam aus, und natürlich, wenn das Luderwasser unten drin ein recht ein grausigs Loch ausg’schwemmt hat, so muß der obere Boden nachsinken. Verstehst?“

„Ja, ja!“ Mit zitternden Händen strich sich der Simmerauer das weiße Haar in die Schläfe, während sein Weib und seine Kinder schweigend lauschten. „Ja, ja! … Natürlich! … Der Boden muß nachsinken … wenn unt’ drin ein Loch is!“

„So sagen s’, die Herrn! Aber wer weiß, ob s’ recht haben? Neinschauen in’Boden können s’doch net!“

Eine Weile standen sie alle schweigend. Dann fragte Michel zögernd: „Und sonst sagen s’ gar nix, die Herrn?“

„Na! Nix!“

„Gar nix, wie z’ helfen wär’?“

„Na! Nix! Drunten im Thal sollt’ man halt dem Wasser den Auslauf net verwehren. Sonst könnt’ man gar nix machen! Eh’ net der ganze Letten unten drin schön sauber ausg’schwabt is und die Löcher wieder ausg’füllt sind mit feste Steiner, eh’ hört der Berg ’s Laufen net auf und giebt kein’ Fried’ net. Oder es müßt ’s untrische Wasser wieder in d’ Höh’ steigen an’s Licht! Verstehst?“

„Ja, ja!“ Der Simmerauer wollte an seinem Hemd den Halskragen schließen und nestelte immerzu, ohne zu merken, daß der Knopf abgerissen war. „’s Wasser! Freilich … ’s Wasser müßt’ wieder in d’ Höh’! Da thät’ er ein’ Fried geben, der Berg … wann ’s Wasser wieder ans Licht käm’!“ Er blickte langsam umher, als müßte er schon irgendwo in einem versteckten Winkelchen das steigende Wasser sprudeln sehen. „Und … was alles noch ’nunter muß, eh’ ’s Wasser wieder steigen kann … da haben s’ gar nix g’sagt, die Herrn?“

Langsam kam die Antwort. „Ja! … Da haben s’ schon ein bißl was g’sagt! Der ganze Purtschellerwald, meinen s’, müßt’ noch ’nunter! Und ’s Häusl vom Gaßner, der grad’ ausräumt! Und die ganzen Wiesen zwischen drin. Und …“ Der Bauer stockte, und vier Menschen hielten in banger Sorge den Atem an. „Es wird mir hart, daß ich Dir’s sagen muß, aber … es is doch allweil besser, man weiß, wie man dran is! Das ganze Gratl da, wo Dein Häusl steht, wird wohl noch ’nunter müssen, haben s’ g’sagt, die Herrn.“

„Nunter? So? Nunter müssen?“ wiederholte der Simmerauer mit erloschenem Ton, während seinem Weibe zwei Thränen über die runzligen Wangen kollerten. Mathes und Vroni sahen sich wortlos an.

„Trag’ mir’s net nach, Michel, daß ich Dir so harte Botschaft hab’ bringen müssen! … Derbarmst mich, ja! … Und b’hüt’ Dich Gott!“

„B’hüt’ Dich Gott!“

Der Bauer ging, kehrte wieder um und legte dem Simmerauer die Hand auf die Schulter. „Laß Dir ein’ guten Rat geben, schau! Räum’ aus, Michel … räum’ aus, solang ’s noch Zeit is! Nimm Vernunft an! Und b’hüt’ Dich Gott!“

Sie waren mit dem Leitner ihrer fünfe beisammen gestanden – doch als der Bauer den Hofraum verlassen hatte, waren es wieder fünf, denn der Daxen-Schorschl war mit langsamen Schritten vom Brunnen gekommen. Er hatte das „Saubermachen“ nicht zu Ende gebracht – die nassen Haare klebten ihm an Stirn und Schläfen, trauernd hing ihm der durchweichte Schnurrbart über den Mund und in dicken Tropfen rann ihm das schlammige Wasser von den Händen nieder. Und sein Gesicht war [414] bleich – nur die Wunde rot, die er sich beim Sturz in die Wange gerissen hatte.

Eine Weile wurde kein Laut gesprochen. Mutter Katherl streifte mit hilflosem Blick den Mathes und die Vroni, dann sahen sie alle drei den Vater an. Gern hätten sie ihm den Rat des Leitner wiederholt: „Räum’ aus, Vater … räum’ aus, so lang ’s noch Zeit is!“ Aber sie hatten nicht das Herz, ihm das zu sagen.

Mathes sprach das erste Wort. „Komm, Vater, schaffen wir wieder! Was die Herrn sagen, ich glaub’s net!“

„Ja! Schaffen wir wieder!“ fiel Vroni ein und ging zum Hackstock zurück.

Michel faßte seinen Buben am Hemdärmel. „Mathes?“

„Was, Vater?“

„Das viele Wasser schau an!“ Der Simmerauer deutete auf die Pfützen in Hof und Garten. „Meinst net, es kommt von unt’ auf?“

„Ja, Vater! Könnt’ schon sein!“ Die Stimme des Burschen klang ruhig; doch in Unruhe glitt sein Blick zum Verhau hinüber, aus dessen Flechtwerk lautlos die dünnen Wasserfäden rieselten.

„Wenn’s von unt’ auf käm’ … so ein Glück!“ Der Simmerauer bückte sich und tauchte die Hand in eine der Pfützen, so ehrfürchtig, als stünde ein Weihwasserkessel vor seinen Füßen. „Also … schaffen wir halt wieder!“ Er trat zum Sägebock und suchte mit zitternden Händen das verkrüppelte Eisenband der Säge zu strecken. Dann plötzlich schlug er die Fäuste vors Gesicht und brach in bitterliches Weinen aus.

Vroni war die erste bei ihm. „Aber Vaterl!“ Sie legte ihm den Arm um die Schulter und stellte sich so, daß der Daxen-Schorschl, der noch immer wie angewurzelt stand und die Sprache verloren zu haben schien, die Thränen des alten Mannes nicht sehen sollte.

„Aber Mann! Jesus Maria! Mein lieber Mann!“ stammelte Mutter Katherl und kam gelaufen.

„Nunter? So? Nunter, sagen s’? Nunter wird’s müssen?“ raunte Michel unter Thränen vor sich hin. „Ein rechtschaffener und friedsamer Mensch bin ich g’wesen mein ganz’ Leben lang! Und so sollt’ er mich auszahlen können … der sell da droben?“ Langsam hob er die nassen Augen zum Himmel auf. „Na, Kinder! Na! So was glaub’ ich net von ihm! So was thut er net! Der halt’ fest … der sell da droben! Aber mithelfen müssen wir! Mithelfen! … Komm her, Alte! Mathes, mein Bub’, komm her! Und Du, mein Madl, mein gut’s! Gebts mir die Händ’ drauf, daß wir unser Häusl halten bis zum letzten Schnaufer! Nur net auslassen, sag’ ich! Schaffen, nur allweil schaffen …“

Da klangen über die Wiesen her in drolliger Disharmonie die hellen Stimmchen der beiden Kinder, die sich zum Heimweg ein Liedlein sangen, das sie von Vroni gelernt hatten:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo wird mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!“

Dem Simmerauer glitt ein Lächeln über die welken Züge. „Wie s’ lustig sind und miteinander singen! Und die zwei guten Hascherln … ’s einzige, was mir ’blieben is von meiner armen Zenz … die sollten ’s Dach verlieren müssen, unter dem s’ ihr Ruhstatt haben? Du, Mathes, bist ein gewachsener Mensch und weißt Dir ein’ Weg in der Welt. Du, Madl, find’st schon ein’, der Dir gut is und der ein Heimatl hat für Dich! Aber wohin denn mit die armen Wuzerln … wenn unser Häusl ’nunter müßt’? Ah na! So was giebt’s net! … Nur net auslassen! … Kommts, Kinder! Fangen wir wieder an! Und laßts nur um Gott’swillen die armen Hascherln nix merken von unserer Sorg’!“

Der Simmerauer wollte zur Säge greifen, aber da legte sich eine Hand auf seine Schulter – und eine würgende Stimme fragte: „Michel? … Kannst mich net brauchen? … Geh, laß mich mithelfen!“

Der Alte schien seinen Augen nicht zu trauen. „Schorschl! … Du?“

„Schau, ich hab’ ja Zeit! Und verlang’ mir nix dafür! In der Früh komm’ ich, auf’n Abend geh’ ich wieder, und ’s Essen bring’ ich mir mit! Schlag’ ein, Michel … und ich fang gleich an!“

In der ersten Freude, einen Helfer gefunden zu haben, wollte der Simmerauer schon die Hand strecken. Aber Vroni zog ihn zurück. „Na, Vater! Wenn wir allein unser Häusl net halten können … der da hilft’s uns g’wiß net halten. Dem lauft ja ’s eigene Haus davon! Was der anrührt, schwimmt ’nunter in’ Bach! Der hat keine guten Händ’! Bleiben wir lieber allein, Vater!“

„Wenn D’ meinst …“ sagte der Simmerauer kleinlaut und warf einen scheuen Blick von Vroni auf Schorschl. Und Mutter Katherl, die einen bösen Auftritt zu befürchten schien, stotterte: „Aber Madl! Wie kannst denn so was reden!“ Doch ihre Sorge war überflüssig, denn der Daxen-Schorschl blieb völlig ruhig; erst nach einer Weile, als die dunkle Röte, die ihm in die Stirn geschossen, schon wieder abzublassen begann, sagte er: „Vroni! … Jetzt hast mir aber ’nein ’griffen! Tief auch noch! … Daß ich für mich selber nix taug’, hab’ ich lang schon glauben müssen. Aber daß ich auch für andere nix mehr wert bin, hätt’ ich mir doch net ’denkt! … No ja, jetzt weiß ich’s! … B’hüt’ Dich Gott!“

Er strich das nasse Haar zurück, schleuderte die letzten Wassertropfen von den Händen und verließ den Hofraum. Als er die Böschung überstiegen hatte und seinen Hut und Bergstock auflas, begegneten ihm die beiden Kinder, die ihr Liedlein zu Ende sangen:

„Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schätzerl hab’,
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Nach einer Weile, als die Kinder mit Lachen und lustigem Kreischen das kleine Haus erreichten, zog der Simmerauer schon wieder emsig die Säge und Mathes drosch mit dem Schlägel auf einen zitternden Pfahl. Nur Vroni stand unthätig, hielt das Beil in schlaffer Hand – und ihr Blick irrte verloren über den Berghang empor.

Die Stimme des Vaters weckte sie aus ihrem Sinnen: „Vronerl? … Was hast denn?“

„… Nix!“

Sie atmete tief auf, griff nach einer Stange und schwang das Beil, daß die Splitter flogen.


3.

Die kühlen Schatten des Abends waren über das Thal gefallen und es begann zu dämmern. Hoch droben, auf den steilen Felswänden und scharf gezahnten Graten, lag noch ein letzter goldiger Schein des versinkenden Tages, doch in der Tiefe spann sich schon ein bläuliches Zwielicht um das welke Laub der Bäume und um die Dächer, aus deren Essen der Rauch sich langsam hervorkräuselte. Von den Wiesen, die der breite Bach mit seinen vielfach verzweigten Seitenbächen durchrann, kamen dünne Nebel gezogen; ihre Schleier vermischten sich mit dem zerfließenden Rauch der Dächer, umwoben den schlank aufragenden Kirchturm mit grauem Dunst und streiften im Gleiten das hohe Dach des Purtschellerhofes, der, auf einer Anhöhe gelegen, alle Häuser des Dorfes stolz überragte.

Ein stattliches Gebäude! Von der Straße führte eine aus roten Steinen säuberlich gemauerte Treppe durch einen Vorgarten zum Wohnhaus hinauf, dessen lange Front den hinter dem Hause liegenden Wirtschaftshof mit seinen Ställen und Scheunen verdeckte. In früheren Zeiten war der Purtschellerhof das richtige Bauernhaus gewesen, mit niederer Thür und kleinen Fenstern, mit verwitterten Holzgalerien und vorstehendem Balkenwerk. Doch als der Purtscheller-Toni nach seines Vaters Tod die Herrschaft übernommen und die Karlin’ heimgeführt hatte, waren ihm die alten traulichen Stuben nicht mehr luftig, hell und schön genug gewesen, um sein junges Glück zu beherbergen und sich auswachsen zu lassen.

Einen ganzen Sommer lang hatte man gebaut und geändert, hatte das Dach gehoben, alle Zimmer des oberen Stockes geräumiger und höher gemacht, ihnen neue Thüren mit geschnitzten Aufsätzen und große Fenster mit gewölbten Spiegelscheiben gegeben. In den verbreiterten Flur wurde eine schöne Treppe eingebaut, und während Toni mit seiner jungen Frau die neuen „Herrenzimmer“ bezog, wurden im unverändert gebliebenen Erdgeschoß die kleinen Stübchen, in denen Tonis Eltern sich wohl gefühlt hatten, dem Gesinde als Wohnräume überlassen.

Im Erdgeschoß die kleinen Fenster und im oberen Stock die großen – das hatte ein übles Ansehen geboten; als hätte man die Hälften zweier Häuser, eines neuen und eines alten, übereinander geschachtelt. Um diesen Schönheitsfehler des Purtschellerhofes auszugleichen, hatte man auch im Erdgeschoß die kleinen Fenster in große verwandelt, freilich nicht in wirkliche, sondern nur in gemalte. Am Fuß der Mauer hatte man Spalierobst, Kletterrosen und [415] wilde Reben angepflanzt, und all die üppig aufgeschossenen Ranken und Zweige, an denen jetzt die welken Blätter in allen Farben spielten, waren dieser täuschenden Malerei noch zu Hilfe gekommen, so daß es wirklich den Anschein hatte, als wäre am Purtschellerhof kein Fehl und Schaden.

Neben der Hausthür war eine steinerne Bank, überdacht von einem Laubengitter, von dessen Latten die losen Ranken des wilden Weins mit roten Blättern wirr herunterhingen. Hier saß Frau Karlin’, das junge Weib des Purtscheller Toni, und vor ihr, auf dem ebenen Backsteinpflaster, trippelte ihr Knabe umher, ein vierjähriges Kind, bleich und schwächlich. Während das Bübchen still und ohne Freude ein hölzernes Pferdchen hinter sich herschleifte und sein Spielzeug, so oft es auch umkippte, geduldig immer wieder auf die mit Rollen versehenen Füße stellte, hatte die Mutter die Hände mit der Häkelarbeit im Schoß liegen und hielt den Kopf wie in tiefer Ermüdung an die Mauer gelehnt. Sie war städtisch gekleidet, weil es ihr Mann so haben wollte – und die schmächtige, zartgegliederte Gestalt hätte die Herkunft aus dem Bauernhaus gar wohl verleugnen können. Sogar weiße Hände hatte sie bekommen, denn der Purtscheller-Toni fand es unter der Würde seiner Frau, daß sie grobe Arbeit that und in der Wirtschaft mithalf. Sie hatte, wie ihr Mann den Leuten zu erzählen liebte, ein Leben, um das jede Gräfin die Purtschellerin beneiden könnte und dennoch fühlte sie an jedem Abend eine Müdigkeit in allen Gliedern, als hätte sie während des ganzen Tages schwer gearbeitet.

Im vergangenen Winter war sie dreiundzwanzig geworden, aber man nahm sie für älter, für eine dreißigjährige. Wohl hatte ihr schmales Gesichtchen noch ganz jene sanfte, rührende Schönheit, die den Stolz des Purtscheller so klein gemacht hatte, daß er sich die Karlin’ aus der Gesindestube des Pfarrers holte. Und wie eine Krone lagen ihr noch immer die vollen braunen Flechten um die Stirn. Aber ein Zug des Leidens war um ihren stillen Mund gegraben, und eine bange, zehrende Schwermut redete aus ihren Augen …

Auf der Straße ging eine Bäuerin vorüber und rief einen Gruß herauf. Die junge Frau erwachte aus ihrem Sinnen und dankte. Langsam strich sie mit der Hand ein Büschelchen Haare von der Schläfe hinters Ohr – das war so eine Gewohnheit von ihr. Dann nahm sie die Häkelarbeit auf, nestelte in der Dämmerung ein paar Maschen – und wieder lehnte sie den Kopf an die Mauer und atmete tief, als empfände sie die Kühle des Abends wie Erquickung.

Wie still und schön dieser Abend war, mit seinem träumerisch ziehenden Nebel, mit dem verglimmenden Licht auf den Bergen! Aus einer ebenerdigen Stube klangen gedämpft die plaudernden Stimmen der Dienstboten, die beim Abendessen saßen. Das Dorf schon in halber Ruhe; nur manchmal ein paar wechselnde Stimmen auf der Straße oder ein lauter Ruf in den Gärten: irgendwo das Knarren eines Scheunenthores, das geschlossen wurde; zuweilen auch der kurze Anschlag eines Hundes, dem ein zweiter Antwort gab; dazu die verworrenen Töne der Dorfmusik, die im Wirtshaus eine Probe hielt – die Sache hatte keinen rechten Klang, es fehlte im Orchester die führende Stimme der C-Trompete, die der Daxen-Schorschl sonst zu blasen pflegte. Und manchmal, wenn der Abendwind ein wenig stärker zog, verschwammen die Geigen- und Klarinettentöne mit dem dumpfen Rauschen des Wassers, das im tiefen Thal aus dem unterhöhlten Berg hervorströmte.

Karlin’ lauschte diesem fernen Rauschen, und seufzend blickte sie über das Gehänge des laufenden Berges empor.

„Die armen Leut’!“

Zu ihrem Mitgefühl gesellte sich eine schmerzliche Erinnerung. Dort oben stand ja auch das Häuschen, in dem sie ein fröhliches Kind gewesen war, als ihre Eltern noch gelebt hatten – es war das Häuschen, das der Gaßner vor vierzehn Jahren gekauft hatte und das er jetzt räumen mußte.

Zwei Thränen stahlen sich über die blassen Wangen der jungen Frau. Da hörte sie ein Klirren vor ihren Füßen – das Bübchen hatte sein Pferdchen umgeworfen und bückte sich, um es wiederaufzurichten.

„Tonerl?“ fragte die Mutter. „Magst denn net schlafen geh’n? Schau, es wird ja schon finster und bald wird der Sandmann an alle Thüren klopfen. Da müssen die braven Kinder im Betterl sein. Geh, komm schlafen, Herzerl!“

Das Kind schüttelte das Köpfchen. „Vaterl warten!“

Karlin’ seufzte und spähte über die dämmerige Straße hinaus. In der Gesindestube wurden Bänke und Stühle gerückt, Schritte polterten und die Dienstboten begannen mit monotonem Gehaspel den Abendsegen zu beten: „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft …“

Dann kamen die Knechte heraus, mit den Pfeifen im Munde. Sie zogen den Hut, als sie an Frau Karlin’ vorübergingen. Hinter ihnen kam eine dralle, hübsche Dirne, die sich für den Abendplausch in den Nachbarhäusern schmuck aufgeputzt hatte.

„Guten Abend!“ sagte sie, und dabei zuckte ein merkwürdiges Lächeln um ihre vollen Lippen.

„Guten Abend, Zäzil!“ erwiderte die junge Frau; ihre Stimme klang ruhig, doch eine matte Röte stieg ihr in die Wangen; und sie wandte das Gesicht ab, wie um der Dirne nicht nachsehen zu müssen.

Schlendernden Schrittes ging das Mädchen durch den Garten, pflückte eine der spätblühenden Nelken und steckte sie ans Mieder. Immer lächelte sie noch, und als sie über die rote Treppe hinunterstieg, blickte sie verstohlen über die Schulter nach der Steinbank zurück. Kaum hatte sie die Straße betreten, als mit freundlichem Ton ihre Stimme klang: „Jeh! Du! Seit wann bist denn wieder daheim? Recht schön’ guten Abend!“ Sie hatte den Schritt verhalten, als sollte nun ein lustiges Geplauder beginnen. Doch der Bursche, dem ihr zutraulicher Gruß gegolten hatte, sagte ihr kurzen Dank und ließ sie stehen.

Der Klang dieser Männerstimme machte Frau Karlin’ aufblicken und da sah sie auf der Straße einen vorübergehen, der mit Joppe und blauer Soldatenhose bekleidet war und zwei Aexte mit neuen, weißen Holzstielen auf der Schulter trug; er sah gerade vor sich hin und ging seinen ruhigen Schritt – und Frau Karlin’ erkannte ihn erst, als er schon hinter der Hecke verschwinden wollte.

„Der Mathes!“

Sie sprang auf, warf ihre Häkelarbeit auf die Bank und eilte zur Treppe hinunter.

„Mathes!“ rief sie ihm nach.

Aber er schien sie nicht zu hören, beschleunigte seinen Schritt und bog so hastig in das zum Gehänge des laufenden Berges führende Sträßchen ein, als hätte er dringende Eile, nach Hause zu kommen.

Frau Karlin’ legte die Arme über den steinernen Treppenpfeiler und blickte ihm in Gedanken nach.

Fünf Jahre hatte Karlin’ den Mathes nicht gesehen – seit sie die Frau des Purtscheller-Toni geworden war. Wenige Tage vor ihrer Hochzeit hatte er das Dorf verlassen – weil ihm draußen im Unterland eine gute Stelle angeboten wurde, so hatte Vroni ihr damals gesagt. Und jetzt war er nach so langer Zeit wieder heimgekehrt? Gewiß hatte ihn die Sorge, die seine Eltern um ihr Häuschen trugen, in die Heimat zurückgerufen! Und da war es nicht schön von ihm, meinte Karlin’, daß er so an ihrem Haus vorüberging wie ein Fremder. Er hätte doch für ein paar Minuten zusprechen können, um dem Nachbarskinde von einst und der Schulkameradin ein Grüß Gott zu bieten – um ihr zu sagen, wie es da droben stünde, in der Simmerau! Von den Leuten im Dorfe hörte sie ja so wenig. Vor Wochen, als der Berg über Nacht das Laufen angefangen hatte, war freilich im Dorf ein großer Lärm gewesen. Doch schon nach wenigen Tagen, als die Dorfbauern merkten, daß die Bewegung des laufenden Bodens gegen das tiefere Thal zu ging und das Dorf nicht bedrohte, hatte ihre Sorge sich beschwichtigt. Ihre eigenen, teueren Häuser wären ja sicher – nur die billigen Hütten da droben standen in Gefahr. „Lieber Gott, was kann der Mensch viel machen bei so was?“ pflegten die Bauern zu sagen, wenn Frau Karlin’ mit ihnen vom Simmerauer reden wollte, vom Gaßner und von den anderen da droben. „So ein Berg is wie ein unsinnig’s Vieh …. wenn er Hunger hat, will er fressen! Und fragt net, was er frißt! Freilich, so ’was is hart, aber …“ Ein mitleidiges Achselzucken pflegte den weisen Spruch zu schließen.

Die junge Frau stand regungslos, und noch immer blickte sie auf die von Dämmerung umwobenen Büsche, hinter denen Mathes verschwunden war.

„Schau nur, schau, jetzt is der Mathes wieder daheim! Gott sei Dank für den alten Michel! Jetzt kann er ihn brauchen, sein’ Buben! Der hat zwei feste Arm’!“

Sie strich die Härchen von der Schläfe hinters Ohr und atmete auf, als wäre ihr, seit sie den Mathes gesehen hatte, der Gedanke an den armen Simmerauer leichter geworden.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 26, S. 429–435

[429] Während Karlin’ von ihrem Ausblick langsam durch den Garten zurückkehrte, vernahm sie einen ängstlichen Schrei ihres Kindes. In Sorge begann sie zu laufen, und als sie die Steinbank erreichte, sah sie ein schattenhaftes Tier, wie eine kleine Fledermaus, mit brummendem Sumsen um den Kopf des Kindes flattern. Erschrocken schlug sie mit der Hand und traf. Das Tier fiel zu Boden – ein großer Nachtfalter.

Karlin’ hob das weinende Bürschlein auf ihre Arme und streichelte ihm Haar und Wange. „Geh, Tonerl, bist erschrocken! Geh, so wein’ doch net …. schau, es is ja bloß ein Schmetterling g’wesen! Der thut Dir nix!“

Schmetterling! Dieses Wort schien das Kind zu trösten; es blickte mit nassen Augen umher und streckte die Händchen. „Den Meckerling haben möcht’ ich!“

„Ja, Herzerl! Wart’, den such’ ich Dir gleich! …. Schau, da is er schon!“

Mit zitternden Schwingen kroch der Falter über die Pflastersteine. Karlin’ bückte sich; doch von einer abergläubischen Regung erfaßt, zog sie die Hand zurück – deutlich hatte sie auf dem dicken Leib des Falters die unheimliche Zeichnung erkannt – es war ein Totenkopf. Sie wollte das Tier zertreten, als der Falter mit einem zirpenden Ton sich von der Erde hob; schwirrend stieß er gegen eine Fensterscheibe und verschwand unter den roten Blättern der wilden Reben.

Mit beiden Armen preßte Karlin’ ihr Kind an die Brust und blickte scheu zu den zitternden Blättern auf.

„Komm, Schatzerl, laß Dich schlafen bringen!“

Das Bürschlein begann wieder zu weinen. „Meckerling haben möcht’ ich! Nitti schlafen! Vaterl warten!“

„Geh, sei z’frieden, Tonerl! Der Vater kommt schon! Droben im Betterl darfst warten auf ihn!“

„Thust mir Liederl singen?“

„Ja, lieb’s Herzerl!“ beschwichtigte Karlin’ das Kind.

Sie ging zur Thüre, kehrte wieder um, faßte eine Weinranke und rüttelte an ihr. Surrend schoß der Falter aus dem Laub hervor und schwirrte davon.

„Gott sei Dank!“

Als Karlin’ das Haus betrat, kam eine alte Magd aus der Küche und fragte: „Wie soll ich’s denn mit dem Essen halten, Frau? Von Mittag is alles noch übrig …. der Herr is net heim ’kommen, und Sie haben nix ’gessen. Soll ich die Sachen aufwärmen?“

„Für mich, ja! Aber für ’n Herrn mußt frisch was machen, ’s Aufg’wärmte mag er net.“

„Was soll ich denn richten?“

„Fladlsuppen …. die ißt er gern. Und ein ausg’suchts Stückl Wildbret brätst ihm ab. Und wenn alles fertig is, mußt es halt schön am Feuer halten, damit er sein Essen gleich haben kann, wann er heimkommt. Sonst muß er sich wieder ärgern …. weißt es ja, er wart’t net gern.“

„Ja, ja!“ sagte die Magd und ging in die Küche zurück, während Frau Karlin’ über die Treppe hinaufstieg, auf ihren Armen das Kind, das von versiegendem Schluchzen noch ein bißchen gestoßen wurde.

[430] Im Flur des oberen Stockes herrschte schon tiefe Dämmerung. Die Blätter des Epheus, der die Wände übersponnen hatte, hingen wie kleine, schwarze Schatten an der weißen Mauer und an den Stangen der schwachen Hirschgeweihe, welche hier im Flur ihren Platz gefunden hatten, weil Purtscheller sie nicht der Ehre würdig hielt, in seiner „guten Stube“ zu prangen.

Frau Karlin’ durchschritt das große Wohnzimmer, und ohne in der Schlafstube Licht zu machen, entkleidete sie unter zärtlichem Geplauder das Kind und wusch ihm das von Thränen nasse Gesichtchen. Und das Büblein lag noch kaum in den Kissen, da mahnte es die Mutter schon an ihr Versprechen: „Liederl singen, Mammi!“

„Ja, Tonerl …. laß Dich nur erst schön zudecken!“

Die junge Frau zog sich einen Stuhl an das Bettlein, und während sie ihre Hand den spielenden Fingern des Kindes überließ, sang sie, was ihr gerade einfiel:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo mag mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!“

Da mußte sie lächeln. Wie merkwürdig, daß ihr gerade dieses Liedchen, an das sie zehn Jahre und länger nicht mehr gedacht hatte, auf die Lippen kam! Das war wohl nur geschehen, weil sie heute den Mathes wieder gesehen hatte. Denn dieses Liedlein hatten sie immer miteinander gesungen, unter den blühenden Hecken und im dunklen Purtschellerwald da droben, damals, als sie noch Kinder waren – sie, der Mathes und die Vroni!

Es war in der Stube doch so dunkel um sie her, und dennoch sah sie vor ihrem Blick den sonnigen Berghang liegen, über ihm die leuchtenden Felswände und über allem den blauen Himmel. Und im Rauschen der silbernen Gießbäche …. damals waren sie noch nicht in die Tiefe des Berges versunken gewesen …. hörte sie ihr eigenes Stimmchen, hell und lustig wie das Gezwitscher eines Vogels. Und neben ihr saß der Mathes, der zwei Jahre älter war als sie, und schnitzte aus einem Holunderzweig eine Pfeife, um ihr die Weise des Liedchens vorzublasen. Und auf der anderen Seite saß das Vronerl und flocht ihr aus goldenen Butterblumen einen schönen Kranz, den sie aufsetzen mußte – und da hatte der Mathes sie angestaunt und hatte ganz ernst gesagt: „Linerl! Jetzt bist so schön wie’s Muttergotterl in der Kirchen drunt’!“

Langsam strich sich Karlin’ die Härchen hinters Ohr und seufzte. „Kinderzeit! O du schöne Zeit! Wo bist denn hin?“

Nur der Winter war immer hart gewesen! Durch den hohen Schnee der weite Weg in die Schule! Da wäre sie gar oft mit ihren kleinen Füßchen stecken geblieben, wenn ihr der Mathes nicht geholfen und ihr das schwere Ränzlein getragen hätte!

„So ein guter Kerl!“

Aber wenn der Föhn den Berghang vom Schnee gesäubert hatte und unter den Hecken das erste Veilchen blühte, war alle Not des Winters vergessen. Und dann der Sommer und die Ferienzeit! Da waren sie unzertrennlich den ganzen Tag und lachten und tollten, bis am sinkenden Abend der Vater über die Wiesen herüberschrie: „Linerl! Komm!“ …. oder bis vom Häuschen des Simmerauer die Zenz’ gelaufen kam, um ihre beiden kleinen Geschwister heimzuholen.

„Die arme Zenz’!“

Wie elend die zu Grund gegangen war! Hatte ihr Herz an einen leichtsinnigen Menschen gehängt und war gegen den Willen der Eltern mit ihm in die Stadt gezogen. Dort hatte der Lump sie sitzen lassen mit ihren zwei Kindern und gealtert in jungen Jahren, eine Sterbende, war sie ins Dorf zurückgekehrt. Aber das hatte sich später zugetragen damals, in jener schönen Kinderzeit, war die Zenz’ ein sechzehnjähriges, blühendes Mädchen gewesen ….

Tonerl streckte sich in den Kissen und lallte im Halbschlaf: „Bitt’ schön, Mammi, Liederl singen!“

„Ja, mein Schnaberl!“

Karlin’ atmete tief und sang mit leiser Stimme:

„Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab’!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Sie fühlte, daß der Druck der kleinen Fingerchen, die ihre Hand umschlossen hielten, sich löste. Ruhig ging der Atem des schlummernden Kindes. Eine Weile blieb Karlin’ noch am Bettlein sitzen, dann verließ sie auf den Fußspitzen die Schlafstube und zog lautlos hinter sich die Thüre zu.

Im Wohnzimmer zündete sie über dem Tisch die Hängelampe an.

Wie schön und freundlich dieses Zimmer war – eine richtige Herrenstube! Die Wände bis zu halber Höhe getäfelt, hübsche Möbel aus rötlichem Zirbenholz, ein altdeutsches Sopha und große, mit Leder gepolsterte Lehnstühle: überall Geweihe, ausgestopfte Vögel und Jagdbilder dazwischen, und hinter dem Ofen der mit Jagdgerät und Waffen reich behangene Gewehrrechen.

Karlin’ deckte den Tisch, und als sie damit fertig war, ging sie hinunter, stellte sich unter die Hausthür und spähte über die dämm’rige Straße hinaus, ob ihr Mann nicht käme. Aber die Straße war leer.

Ein weicher Glockenton schwoll durch die dunstige Luft; man läutete den Abendsegen und drüben im Wirtshaus verstummten die verschwommenen Klänge der Geigen und Klarinetten. Karlin’ bekreuzte sich und bewegte die Lippen in stillem Gebet. Dabei ging ihr Blick über den von ziehenden Dünsten schon umschleierten Berghang empor.

So seltsam weich und zerflossen, wie jetzt im Nebel, hatte sie die Glocke immer gehört, wenn sie am Abend dort oben unter der Hausthür saß, als Kind, die Aermchen fröstelnd unter die Schürze eingehuschelt. Und genau so hatte es geklungen, als man ihrem Vater den Weg in den Himmel eingeläutet hatte. Im Steinbruch, beim Sprengen der Felsen, war ihm ein Splitter an die Stirn geflogen. Vier Jahre früher hatte sie schon die Mutter verloren – und damals war sie noch so klein gewesen, daß sie nur staunte, ohne Schmerz zu fühlen, daß sie nicht verstand, was sterben heißt. Doch als man den Vater getragen brachte, als sie ihn liegen sah, stumm und starr, mit der blutigen Stirnwunde, da begriff sie, was der Tod bedeutet. Vom Abend bis zum Morgen waren der Simmerauer, Mutter Katherl und die Zenz’ bei ihr und beteten, während sie weinend in einem Winkel kauerte, und mit ihr der Mathes, der den Arm um ihren Hals geschlungen hielt und ihr mit seinem blauen Tüchlein immer die Thränen von den Wangen wischte.

„Ach, Du lieber Gott!“

Und dann wurde das Häuschen an den Gaßner verkauft. Schulden waren zu bezahlen – denn seit die Mutter gestorben, war dem Vater das Wirtschaften übel geraten und für das neunjährige Kind blieben als ganzes Erbe kaum hundert Mark zurück. Der alte Pfarrer erbarmte sich der mittellosen Waise und gönnte ihr im Stübchen seiner Haushälterin ein Plätzchen. Hier hatte sie zu essen, wurde gekleidet und freundlich gehalten – aber in dem großen, schwermütigen Haus, das so dicke Mauern hatte, wurde aus dem fröhlichen Linerl die stille, ernste Karlin’. Oft stand sie lange Stunden an einem der vergitterten Fenster oder in dem kleinen, von einer hohen Mauer umzogenen Garten und blickte über den sonnigen Berghang empor – und da vermeinte sie manchmal, auf einem hell beleuchteten Wiesengrat den Mathes zu sehen, wie er grüßend in das Thal hinunterjauchzte und gegen den Pfarrhof sein Hütlein schwenkte …

Schritte hallten auf der Straße und Karlin’ hörte die Stimme ihres Mannes.

„Gott sei Dank! Endlich kommt er!“ Sie rief in den Flur zurück: „Nannei! ’s Essen für’n Herrn!“ Dann ging sie durch den Garten hinunter.

Purtschellers Stimme hatte einen Klang, der vermuten ließ, daß der „Herr“ nicht in guter Laune nach Hause kam. Er hielt dem Jagdgehilfen, der ihn begleitete, eine mit Scheltworten gespickte Predigt über irgend einen, der ihn ganz besonders geärgert haben mußte. Wäre Karlin’ nicht mitten auf der Treppe gestanden, er hätte sie in seinem grollenden Eifer übersehen.

„Grüß Dich Gott!“ sagte er und reichte ihr so unwillig die Hand, als wäre sie mitschuldig an seinem Aerger.

„Guten Abend, Toni! Aber so lang’ bist ausblieben! Schau, ich bin schon in Sorg’ g’wesen!“ Das sagte sie ruhig und herzlich, ohne jeden Ton von Vorwurf.

Aber scheltend fuhr er auf: „Natürlich! Beim ersten Schritt ins Haus ’rein geht die Nörglerei schon wieder an! Ich hab’ Dir’s [431] doch hundertmal g’sagt, daß man bei der Jagd ’s Heimkommen net am Schnürl hat wie der Slowak sein’ Affen. Und jedsmal wieder machst mir so eine Metten her, daß man sein’ besten Hamur verliert! Da könnt’ ja der g’mütlichste Mensch aus der Haut fahren!“

„Aber Toni!“ mahnte sie leise. „Wir sind net allein!“

„Ah was! Allein oder net! Ich sag’ nix Unrechts! Was ich sag’, kann jeder hören!“ Er stieß mit dem Ellbogen die Büchse zurück und stieg durch den Garten hinauf, während ihm Karlin’ schweigend folgte. Vor der Hausthür wandte er sich plötzlich zu seiner Frau und sagte mit beschwichtigender Milde: „Aber so schau, Linerl! In aller Fruh bin ich schon am Heimweg g’wesen! Und da kommt mir der Daxen-Schorschl nachg’rennt … Der Tagdieb, der verruckte! … Wo is er denn eigentlich ’blieben?“ Diese Frage war an den Jagdgehilfen gerichtet.

„Droben in der Simmerau is er weg von mir,“ erwiderte der Jäger, „und hat uns nimmer eing’holt.“

„Na, was der für Sachen macht!“ Purtscheller schüttelte den Kopf und wandte sich wieder zu seiner Frau. „Kommt mir nachg’rennt und sagt, er hätt’ den starken Hirsch ausg’macht. Was is mir denn übrig ’blieben? Hab’ ich halt die drei Stund’ wieder ’naufsteigen müssen! Beim besten Wind haben wir den Trieb eing’stellt, und richtig is er drin g’wesen, der Hirsch! Aber was der Schorschl heut’ g’habt hat, weiß ich net! Ganz verdreht is er g’wesen. Und dümmer hätt’ er den Hirsch gar nimmer angeh’n können. Als ob er blind g’wesen wär’! Und natürlich, der Hirsch is der G’scheitere g’wesen und is abg’fahren … und ich, der gute Herr Purtscheller, natürlich, ich hab’ mich ärgern können, daß mir’s den Magen schier um’kehrt hat!“ Er seufzte schwer und rief dem Jäger zu: „Gut’ Nacht, Sepp! Jetzt rast’ ich mich ein paar Tage lang aus. Schau halt, daß den Hirschen kriegst!“

„Ja, Herr Purtscheller! Gut’ Nacht!“

Toni trat ins Haus. „Was macht denn mein Prinz?“

„Er schlaft schon, und gut!“

„Schon wieder einmal? So?“ Purtscheller lachte. „In der Fruh, wenn ich fortgeh’, schlaft er … am Abend, wenn ich heimkomm’, schlaft er … ein Vater hat viel von seinem Buben, das muß ich sagen!“ Er wollte über die Treppe hinaufsteigen, doch Karlin’ hielt ihn am Aermel zurück.

„Toni? Hast Dein G’wehr ausg’laden?“

„Aber natürlich! So laß mich doch endlich z’frieden.“

„Geh, ich bitt’ Dich, schau nach!“

„No also, meinetwegen, bloß daß ich ein’ Fried’ hab’!“ Er nahm die Büchse herunter, klappte die Läufe auf und brummte: „Jetzt hab’ ich’s heut’ richtig vergessen g’habt! Natürlich im Aerger halt!“ Während er über die Treppe hinaufstieg, zog er die beiden Patronen aus dem Gewehr und schob sie in die Hosentasche.

Als er die helle, schöne Stube betrat, that er einen tiefen Atemzug. „Aaah! Daherinn is halt g’mütlich … und daheim is gut sein!“

Mit stiller Geschäftigkeit nahm ihm Karlin’ die Büchse und den Rucksack ab, zog ihm den Sammetflaus herunter, knüpfte ihm die Gamaschen auf und stellte ihm die Pantoffel vor die Füße. Purtscheller schien sich wohl zu fühlen in dieser Fürsorge, und die letzte Spur seines Aergers verflog, als er auf dem gedeckten Tisch die Suppe dampfen und in der Glasflasche den roten Tiroler blinken sah. Zärtlich legte er den Arm um Karlin’s Schulter.

„Bist ein guter Kerl! Schaust halt doch auf mich! Und hast mich gern! Gelt? … Geh, lach’ ein bißl!“

Sie lächelte wirklich, und warme Röte stieg ihr in die Wangen.

So gingen sie zum Tisch. Karlin’ gab ihrem Mann die Suppe und er schnalzte mit der Zunge, als er gekostet hatte. „Ein nobels Süpperl!“ Neugierig beugte er sich über den Teller seiner Frau. „Aber was hast denn Du da?“

„Ein bißl was Kalts von Mittag noch.“

Da wurde er völlig böse. „Aber Linerl! So schau doch! Wie oft hab’ ich Dir’s schon g’sagt: das is Sparsamkeit am falschen Fleck! Wie sollst denn gut ausschauen, wenn Dich net gut nähren thust? Und d’ Frau soll’s doch auch net schlechter haben wie der Mann! Du weißt doch, ich bin einer von die Auf’klärten … ich geh’ mit der Zeit!“ Er schob den Teller mit dem kalten Fleisch in die Fensternische. „So, weg da mit dem Schmarren!“ Behäbigen Schrittes holte er einen Teller und ein Weinglas von der Kredenz, füllte den Teller mit Suppe und das Glas mit Rotwein. „So, Schnaberl! Jetzt ißt und trinkst mit mir!“

Karlin’s Wangen brannten. „Vergelt’s Gott, lieber Toni!“ Und wie sie sich freute, daß sie ihm nun auch eine freundliche Nachricht sagen konnte: „Du, Toni, rat’, wen ich heut’ g’sehen hab’!“

„Wen denn?“

„Den Mathes! Der is wieder daheim!“

„Ja, ich weiß schon! Hab’ ihm schon Grüßgott g’sagt droben in der Simmerau.“

„Geh? In der Simmerau bist g’wesen? Hat Dich g’wiß ’s Mitleid für den armen Michel hin’trieben, gelt? Ich bitt’ Dich, sag’, wie schaut’s denn aus mit dem Häusl droben?“

„Mein, schlecht!“ Purtscheller aß so hastig, daß ihm die Suppe vom Schnurrbart tropfte, „’s Häusl sinkt halt schön langsam ein!“

„Jesus Maria!“ Karlin’ legte mit zitternder Hand den Löffel nieder. „Und laßt sich da gar nix nimmer helfen?“

„Na! Da hat’s Helfen ein End! Der Berg lauft halt, bis er drunten is …“ Toni seufzte und fuhr sich mit der Serviette über den Mund, „und mein Wald lauft mit!“

Karlin’s Erbarmen für die Leute in der Simmerau verstummte vor der Sorge um ihren Mann. Sie rückte an seine Seite und legte schüchtern den Arm um seinen Hals. „Geh! Dein schöner Wald!“ Kaum vermochte sie zu sprechen.

„Da verlier’ ich viel Geld, ja!“ Purtscheller füllte seinen Teller wieder und zuckte in stolzer Resignation die Schultern. „Aber was kannst machen! Bei so was muß man zeigen, daß man anders is wie die andern! Da muß man dastehn wie der Baum, darf mit keiner Wimper zucken und muß sagen in aller Ruh’: wie Gott will; jetzt nimmt er, ein andersmal giebt er wieder … Aber geh, laß mich essen!“ Er richtete sich halb auf, so daß Karlin’s Arm, der ihm hinderlich war, von ihm niederglitt. „Und so ein guter Kerl bin ich auch, daß ich mehr an die andern denk’ als an mich selber. Der alte Michel droben erbarmt mich … ich kann Dir’s gar net sagen! Dem gönn’ ich’s, daß der Mathes wieder daheim is! Du! Wie der Bursch’ da droben arbeit’ … so was muß man sehen!“

Karlin’ nickte in zerstreuten Gedanken vor sich hin. „Der Mathes … ja … so is er allweil g’wesen … als kleines Büberl schon!“

„Und wie ich ihm so zug’schaut hab’, is mir gleich ein guter Einfall ’kommen.“

„Geh’?“

„Ja! Ich hab’ gleich zug’riffen! Der Mathes kommt als Knecht zu mir … ein’ besser’n kann ich mir gar nimmer wünschen.“

„Toni! … Ja, Toni, ja, da hast wirklich ein’ guten Einfall g’habt!“ Karlin’ glühte vor Eifer. Sie strich ihrem Manne das Haar aus der Stirn’ und sah so freudig zu ihm auf, als wüßte sie ihn jetzt geborgen vor einer ernsten Gefahr. „Schau, Toni … wenn ich mir nur ’traut hätt’ … aber oft schon hätt’ ich gern ein Wörtl drüber g’redt mit Dir, wie’s zugeht bei uns in der Wirtschaft! Ein Schaffer, wie der Mathes einer is, wär’ lang schon not g’wesen im Purtschellerhof …“ sie stockte, als wäre sie in Sorge, daß dieses Wort ihn verletzt hätte.

Aber er löffelte ruhig seine Suppe. „Ja, ja! Das hab’ ich selber schon g’sagt! … Natürlich, wenn einer so an’bunden is auf alle Seiten wie ich …“

„Gott sei Dank, jetzt kann ich aber aufschnaufen! Toni! Auf den Mathes, auf den kannst Dich verlassen! Der packt den Karren an beim richtigen Rad! Der, Toni, der bringt Dir alles wieder auf guten Weg! Alles! Alles!“ Karlin’ erschrak vor einem Gedanken, der sich plötzlich wie eine schwarze Mauer vor ihre helle Freude stellte. „Aber … o Du lieber Herrgott, Toni … daß ich erst jetzt an so was denk’!“

„Was denn?“

„Wie können denn wir vom Michel den Mathes verlangen?“

„Ah so … wegen droben, meinst?“

„Der arme Michel braucht ja doch sein’ Buben selber so nötig wie ein’ Bissen Brot! Der Mathes kann doch um Gott’swillen jetzt net fort von daheim!“

„Jetzt net! Na! Aber gar so lang dauert die G’schicht’ da droben nimmer!“ Purtscheller schluckte den letzten Löffel Suppe. „Und ich hab’ dem Mathes ein Anbot g’macht … verruckt müßt [434] er sein, wenn er net zugreifen thät’! … Aber was ich fragen will? Is mit der Post nix ’kommen?“

„Jesses ja!“ Karlin’ schob sich hastig hinter dem Tisch hervor. „Ein eing’schriebener Brief.“

„Aber, Linerl! Geh! Den hättst mir doch auf der Stell’ geben sollen … es könnt’ ja was Wichtigs sein, was kein’ Aufschub leidt!“

„Ich bitt’ Dich, Toni, thu’ mir net zürnen! Aber schau, in der Freud’, daß so gut mit mir g’wesen bist, hab’ ich ganz drauf vergessen!“ Sie riß das Thürchen eines Wandschrankes auf und brachte den Brief. „Da is er! Wenn nur für Dich kein’ Sorg’ net drin steht!“

Verwundert betrachtete Purtscheller die dem Couvert aufgedruckte Geschäftsadresse. „Vom Schloßbräu in der Stadt? Was will denn der?“ Wirklich schien es, als ob schon jetzt, bevor er den Brief noch gelesen hatte, eine unbehagliche Sorge in ihm aufstiege. Aber dann lachte er wieder. „Am End’ will er gar mein’ Bräunl kaufen, mit dem ich beim letzten Trabrennen sein’ Amerikanerschimmel g’schlagen hab’?“ sagte er, während er das Couvert öffnete. „Aber na, Brüderl! Fünftausend Mark kannst mir hinlegen, und der Schnabel bleibt Dir noch allweil sauer!“ Lachend begann er zu lesen.

Karlin’ wollte die geleerte Suppenschüssel vom Tisch tragen. Aber da sah sie, daß dunkle Röte über die Züge ihres Mannes flog.

„Toni?“ stammelte sie und setzte die Schüssel nieder, die zwischen ihren zitternden Händen klirrte.

„So ein hinterlistiger Heiduck, so ein verdammter!“ schrie Purtscheller und schmetterte im Jähzorn seine Faust auf die Tischplatte, daß die Teller hüpften.

Seine Frau war bis in die Lippen erblaßt. „Jesus Maria! Toni! Hat Dir einer ein Unrecht zug’fügt?“

Er antwortete nicht, sondern griff an seinen Hals, als wäre ihm der Hemdkragen zu eng geworden.

„Aber Toni! Ich bitt’ Dich um Gott’swillen, so red’ doch!“

„In Ruh’ laß mich!“ Er stürzte ein Glas Wein hinunter, sprang auf, stieß den zerknüllten Brief in die Hosentasche und wanderte durch die Stube. Vor einem Fenster blieb er stehen, starrte hinaus in die sinkende Nacht und nagte an seinem Schnurrbart.

Karlin’ hatte Thränen in den Augen, und es währte eine Weile, bis sie zu sprechen wagte. „Toni?“ sagte sie, ganz leise, als hätte sie Furcht, daß jedes laute Wort seinen Zorn noch reizen könnte. „Ich bitt’ Dich bei allem, was Dir lieb und heilig is, sag’ mir doch, über was Dich kümmern mußt! Schau mich nur an, wie ich mich sorgen thu’ um Dich!“

„Du? Und sorgen?“ schrie er über die Schulter. „In Ruh’ laß mich, hab’ ich Dir g’sagt! Und misch’ Dich net in alles, was Dich nix angeht!“

Zwei Thränen rollten über die Wangen der jungen Frau und ein müdes bitteres Lächeln zuckte um ihre Lippen. Sie wollte schweigen und suchte eine Beschäftigung am Tische. Dann wieder blickte sie in banger Sorge zu ihrem Mann hinüber, trat auf ihn zu und schob ihm die Hand unter den Arm. „Schau, Toni, ich red’ja eh die ganze Zeit her kein Wörtl nimmer … wenn ich gleich oft mein’, es druckt mir ’s Herz ab, daß ich alles bei uns so laufen sehen soll, wie’s lauft …“

„Was lauft denn bei uns? Da droben lauft der Berg! Bei uns lauft gar nix!“

„Sag’ so was net! Bei uns lauft gar viel ins Wasser ’nunter, was Du net merkst … oder net merken willst!“

Purtscheller lachte in höhnendem Zorn. „Ah! Du g’fallst mir aber!“

„Ich kann Dir net sagen, wie hart ich’s trag’, daß ich als Frau im Haus net ’s Recht haben soll, mit g’sunde Arm’ einz’greifen, wo’s notthut, und diemal bei Dir ein Wörtl zum Guten z’reden …“

„So? Meinst vielleicht, daß ich noch ein’ Schulmeister brauch’? Dank’ schön für die Predigt!“ Er schob sie mit dem Ellbogen von sich und schrie ihr ins Gesicht: „So was möcht’ ich mir aber g’hörig verbitten!“

„Ja, Toni, ja, ja … ich sag’ ja doch nix und will Dir nix in Deine G’schäften dreinreden,“ stammelte sie, um ihn zu beschwichtigen, und suchte seine Hand zu fassen, „aber schau, das eine sollst mir doch net verwehren, daß ich Dir als Frau Deine Sorgen tragen hilf’ …“

„Der Purtscheller? Und Sorgen? Zum Lachen!“

„Aber Toni!“ Sie umklammerte seine Hand und wollte sie nicht lassen. „Ich hab’ Dir’s ja doch vom G’sicht abg’lesen …“

„In Ruh’ laß mich!“ Er befreite seine Hand mit so jähem Ruck, daß Karlin’ fast in die Kniee brach. „Und wenn ich mir schon was aufg’laden hab’, so trag’ ich’s selber! Da brauch’ ich Dich net dazu!“

„Schau, Toni, ’s Härteste tragt sich leichter, wenn eins mittragen hilft in Treu’ und Lieb’! Und daß mir’s verheimlichen willst, macht mir ja doppelt Angst! Ich bitt’ Dich, sag’ mir, was in dem Brief steht …“

„Jetzt laß mir aber mein’ Fried’, sag’ ich Dir, oder …“ Vom Hall seiner Stimme zitterten die Fensterscheiben.

„Um Gott’swillen, Toni …“ Karlin’s Worte erstickten fast unter Thränen, „so laß doch in Ruh’ mit Dir reden und thu’ doch net gar so laut! Schau, drin in der Stuben schlaft unser Kind … und drunt’ hören Dich alle Dienstboten! Die tragen’s ja wieder um im ganzen Dorf!“

„Sollen mich umtragen, wie s’ mögen!“ schrie er, während ihm an den Schläfen die Adern zu dicken Schnüren schwollen. „Ich bin’s ja schon g’wöhnt! Fünf Jahr’lang schon! Was schaust mich denn an? Mit Dir hat’s ang’fangt! Ja! Mit Dir! Schau mich nur an! Oder meinst vielleicht, ich schenier’ mich, daß ich Dir’s einmal ins G’sicht sag’? Selbigsmal, wie mir der verrückte Einfall ’kommen is, daß ich am Pfarrer seiner Dienstbotenstub’ ans Fenster klopft’ hab’ … selbigsmal, mein’ ich, selbigsmal hat man dem guten Herrn Purtscheller sein’ Namen ’s erstemal um’tragen in alle Körbln!“

Karlin’ griff an ihre Brust, als wäre ihr dieses Wort wie ein brennender Stich ins Herz gegangen. Und mit verstörten Augen blickte sie zu ihrem Manne auf.

„Toni! … Thu mir doch net so weh!“

Der von Schmerz gebrochene Klang dieser Worte wirkte auf Purtscheller, als hätte ihm seine Frau den größten Schimpf ins Gesicht geschrieen. Er ballte die Fäuste und Schaum trat ihm in die Mundwinkel. „Ich thu Dir was? Ich? So? Ich thu Dir was? Allweil ich bin der Schuldig’! Und was man mir thut … das is alles Wurst! Gelt? Alles Wurst!“

„Aber Toni …“

„Jetzt geht’s mir aber bis an Hals! Ruh’ will ich haben, sag’ ich Dir! Und wenn ich mir im Guten mein’ Fried’ net schaff’, so weiß ich mir z’ helfen!“ Mit zornigem Griff umklammerte er Karlin’s Arm und zerrte sie zur Thüre.

„Heiliger Jesus! … Toni!“

„So!“ Er hatte die Thüre aufgerissen und stieß seine Frau in den dunklen Flur hinaus. „Da! … Jetzt will ich doch sehen, ob ich mein’ Fried’ net hab’!“ Er warf die Thüre zu, daß hinter der Täfelung der Mörtel rieselte. Aufatmend, als hätte sein Jähzorn Erleichterung gefunden, blies er die glühenden Backen auf und fuhr sich mit allen Fingern durch die Haare.

In der Schlafstube war das Kind erwacht und weinte.

Purtscheller hörte das klagende Stimmlein nicht. Er schleuderte die Pantoffel in einen Winkel, fuhr mit den Füßen in die Schuhe und riß den Sammetflaus vom Gewehrrechen. „So ein’ Hausfrieden hab’ ich!“ schalt er vor sich hin. „Ins Wirtshaus muß ich laufen, wenn ich ein paar Minuten Ruh’ haben will! Kreuz Teufel noch einmal! Is das ein Leben!“ Wütend stülpte er den Hut übers Haar und stapfte zur Thür hinaus.

Von der finsteren Bodenstiege klang ihm ersticktes Schluchzen entgegen. Er zögerte und tastete mit der Hand nach dem Treppengeländer, als überkäme ihn ein Schwindel. Dann fuhr er zornig auf: „So was! Und da soll man noch gut bleiben können! Hockt s’ daher auf die Bodenstieg’! … Hörst! Du! Geh ’nein in d’ Stuben!“ Ohne abzuwarten, ob sein Befehl vollzogen wurde, stieg er brummend die Treppe hinunter. Im Hausflur begegnete ihm die alte Magd mit einer Schüssel in den Händen.

„Aber Herr? Wohin denn?“ stotterte sie. „Ich bring’ ja ’s Wildbret!“

„Das kann der Hund fressen! So hat er doch auch ein’ guten Tag! Und da hat er’s besser als ich!“

Purtscheller verließ das Haus und schmetterte hinter sich die schwere Thüre zu. Mit langen Schritten stürmte er durch den Garten und hätte auf der Straße fast die Zäzil niedergerannt, die von ihrem Abendplausch nach Hause kam – freilich, sie hatte es nicht allzu eilig, ihrem Herrn den Weg frei zu geben.

[435] Mit dem Ellbogen schob er sie auf die Seite. „Geh weg da!“

Zäzil schien an solche Behandlung nicht gewöhnt und machte große Augen. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, und dann lachte sie leise vor sich hin. „Ui jegerl! Heut’ hat er sich g’wiß an der Frau wieder ein’ Zahn aus’bissen!“

Mit vorgebeugtem Kopf, die Hände in den Taschen, folgte Purtscheller der vom Nebel umflorten Straße. Einmal zog er den Brief hervor, als möchte er lesen – aber es war zu finster, obgleich der Mond schon durch den Nebel schimmerte. Ein paarmal redete er halblaute Worte vor sich hin, dann wieder blieb er stehen und machte zwei Fäuste.

„Jetzt weiß ich bald nimmer, über wen ich mich mehr giften soll … über den andern oder über mich!“

Er fiel wieder in seinen raschen Schritt und schob den Hut zurück, als wäre ihm schwül.

„Das hat er mir bloß aus Bosheit ’than, weil mein Bräunl sein’ Schimmel g’schlagen hat!“ Und an diesen Gedanken schloß sich ein anderer, der das Quälendste an seiner Sorge zu beschwichtigen schien: „Ach was! Ich hab’ ja ein Vierteljahr lang Zeit! Und wenn der ’s Geld nimmer geben will, so giebt’s ein anderer! … Freilich, da wird’s halt wieder heißen, ein paar Tausender drauflegen!“ Er seufzte, aber sein Schritt wurde ruhig.

Nun hatte er ein Ohr für den Gruß der Leute, die ihm ab und zu auf der stillen Straße begegneten. Und wenn er an Häusern vorüberkam, guckte er in die erleuchteten Fenster, deren Schein mit fahlem Geflimmer im Nebel zerfloß.

Der Weg zum Wirtshaus führte an der Daxen-Schmiede vorüber; alle Fenster waren schwarz, doch am Haus und an der Schmiede stand Thür und Thor geöffnet und in der Tiefe der dunklen Werkstätte glostete das erlöschende Essenfeuer, von dessen Wiederschein der polierte Ambos mit roten Lichtlinien umsäumt war.

Purtscheller trat unter das Thor und rief in das stille Haus hinein: „He, Schorschl!“

Keine Antwort kam.

„Er muß noch net daheim sein! … Möcht’ nur wissen, was er heut’ g’habt hat.“ Mit dieser Frage kehrte Purtscheller auf die Straße zurück. Aber der Gedanke an das unbewachte Haus ließ ihn wieder umkehren. „Na, so ein Mensch wie der Schorschl … Da hört sich aber doch alles auf! Strawanzt auf die Berg’ umeinander … und sein Gauner von G’sell, natürlich, der sitzt heilig wieder im Wirtshaus und sauft … und da lassen sie ’s Haus mit offene Thüren stehn, daß jeder davontragen könnt’, grad’ was er möcht’!“ Unter diesem Selbstgespräche drückte Purtscheller die Hausthüre zu, schloß die beiden Flügel des Werkstattthores, und im Bewußtsein, für den „lüftigen“ Schorschl ein gutes Werk gethan zu haben, ging er seiner Wege.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 27, S. 449–455
[449]
4.

Heller Vollmondschein lag über den zerrissenen Gehängen des laufenden Berges und über den schiefen Wipfeln des Purtschellerwaldes. In der Tiefe der Erde gurgelte das versunkene Wasser, und zwischen den Bäumen ließ von Zeit zu Zeit ein Käuzlein seinen klagenden Schrei vernehmen.

In dem schwarzen Schatten, den der Waldsaum über die Wiese warf, saß Schorschl an einen Baum gelehnt. Er hielt die Arme um die aufgezogenen Kniee geschlungen und blickte bald hinunter ins Thal, in welchem der eben liegende und vom Mondschein beleuchtete Nebel sich ansah wie der matt schimmernde Spiegel eines langgestreckten Sees – bald wieder spähte er hinüber gegen die nahe Simmerau, von welcher trotz der sinkenden Nacht noch immer der Hall der rastlosen Schläge herübertönte – dann wieder starrte er brütend vor sich nieder und nickte bedächtig mit dem Kopf. Dazu sagte er sich laut und langsam die fünf Worte vor:

„Schorschl! Du bist ein Lump!“

Diese Worte hatten ihm das Geleit gegeben von der Simmerau bis hinauf in die Felswände, die das Seekar umringen, und bis hinein ins Latschendickicht, in welchem der „ausgemachte“ Hirsch sein ahnungsloses Mittagsschläfchen hielt. Was er auf diesen Wegen auch immer dachte und in Gedanken sich vor redete – alles lief am Ende auf diese kurze Weisheit hinaus:

„Schorschl! Du bist ein Lump!“

Was er auch hörte, der Tritt seiner Schuhe, das Klirren des Bergstockes, das Rollen der Kiesel, welche sein stolpernder Fuß in Bewegung brachte, und der ungestüme Schlag seines eigenen Herzens – alles und alles hatte den Klang dieser fünf „verflixten“ Worte! Und als er in seiner blinden Narretei den sichern Hirsch „verpatzt“ hatte, als das aufgescheuchte Tier, statt den von Purtscheller besetzten Wildsteig anzunehmen, in rasender Flucht durch das Latschenholz hinunterstürmte, klang es bei jedem Sprung ganz deutlich im Takt:

„Schorschl … Du bist … ein Lump … ein Lump!“

Das Wort hatte ihn um all seine lustige Ruhe gebracht. Als er sich von der Seite Purtschellers und des Jagdgehilfen hatte wegstehlen können, war er glücklich gewesen, mit sich allein zu sein. Und nun saß er hier seit langen Stunden immer auf dem gleichen Fleck, immer mit dem gleichen Wort auf den Lippen. Es hatte sich in seinen Gedanken festgeklammert, und dennoch wollte er diesen fünf verwünschten Silben nicht glauben. Er zählte sich, um diese kurze Weisheit zu widerlegen, an den Fingern all seine guten [450] Eigenschaften vor; suchte jeden tollen Streich zu entschuldigen, den er auf dem Gewissen hatte; machte alle äußerlichen Dinge, die den Leichtsinn in ihm genährt und großgezogen hatten, für seine „Lüftigkeit“ verantwortlich und redete sich ein, daß er doch eigentlich bis heute nicht die geringste Ursach’ und Verpflichtung gehabt hätte, ein ordentlicher Mensch zu sein! Aber bei all dieser schweißtreibenden Gedankenmühe kam er doch immer wieder zu dem gleichen Schluß:

„Schorschl! Du bist ein Lump!“

Ein Lump? Ja!

„Aber gar so arg, wie sie’s g’meint hat, kann’s ja doch net sein!“

Eine Weile noch brütete er vor sich hin; dann sprang er auf und bürstete mit dem Aermel sein Hütlein.

„Es laßt mir kein’ Ruh’ nimmer! Ich muß das Madl heut’ noch fragen!“

Drunten im Thal schlug die Kirchenuhr die neunte Stunde, während Schorschl über die Wiesen rannte und mit hohen Sätzen alle Risse und Klüfte übersprang, als hätte seine Frage die höchste Eile und könnte die Antwort nicht mehr erwarten. Doch als er die Böschung über dem Haus des Simmerauers erreichte, hielt er ratlos inne und zog sich scheu zurück, um nicht gesehen zu werden.

Denn im Hofraum, über dem sich das Mondlicht mit dem zuckenden Schein zweier Kienfackeln mischte, standen Michel, Mathes und Vroni noch bei der Arbeit. Doch eben jetzt – die Fackeln waren schon zu kurzen Stümpfen niedergebrannt – ließ der Simmerauer die Säge ruhen.

„Kommts, Kinder,“ sagte er, „endlich müssen wir ja doch Feierabend machen! Die Nacht hat der liebe Gott für ’n Schlaf erschaffen. Und den brauchen wir!“

Ohne viel zu reden, trugen sie ihre Werkzeuge zur Hausbank und gingen zum Brunnen, um den Schlamm von ihren Füßen zu waschen. Michel faßte den Schwengel, und schon nach wenigen Zügen plätscherte ein dicker Wasserstrahl in den Trog.

„Schau nur, Mathes,“ sagte der Alte, „so viel Wasser, kaum daß ich’s Ziehen anfang’! Es muß doch ’s Wasser schon wieder g’stiegen sein? Meinst net?“

„Ja, Vater! Und ’s Brunnenwasser kommt von unt’ auf.“

„Ja! Von unt’ auf wenn’s käm’, das wär halt ein Glück!“

Der Simmerauer pumpte, bis der Trog überlief – als könnte er sich an dem vielen Wasser gar nicht satt sehen.

Eins nach dem anderen stellte die Füße auf den Trogrand und schöpfte Wasser mit der Hand. Mathes löschte die niedergebrannten Fackeln aus; vor der Hausthür blieb er stehen und blickte über das mondbeglänzte Gehänge hinunter ins Thal; dort unten hatte sich der Nebel geteilt und war in die Seitenthäler auseinandergeflossen, so daß man die höher liegenden Häuser des Dorfes matt unterscheiden konnte.

„Die da drunt’ haben’s gut,“ sagte Mathes zu seiner Schwester, als sie vom Brunnen kam, „überall schlafen s’ schon und alle Häuser sind finster.“ Nach einer stummen Weile fügte er mit versunkener Stimme bei: „Bloß im Purtschellerhof brennt noch ein Lichtl.“ Er blickte zu Vroni auf und fragte zögernd: „Meinst, ihr Kindl is krank?“

„Gott soll’s verhüten!“ Die Schwester legte ihm den Arm um die Schulter und schob ihn zur Thüre. „Aber denk an uns, Mathes … denk net an andre!“

„Ja, hast recht!“ Er strich mit der Hand über die Stirne und trat in den Flur. „Aber Dir, Vronerl, könnt’ ich heut’ auch was sagen!“

„Was denn?“

„Seit der Schorschl da g’wesen is, studierst mir z’viel!“

Sie schüttelte den Kopf und sagte ruhig: „Da hast Dich verschaut, Mathes! An so ein’ denken, wie der Schorschl … Gott bewahr’ mich! Da laß ich mir’s Elend von unserer armen Zenz zur Warnung sein!“ Sie bekreuzte sich, als sie den Namen der verstorbenen Schwester nannte. „Weißt, so g’meint hab’ ich bloß: es wär’ doch eigentlich schad’ um den Schorschl!“

„Ja, um den is schad’! So ein lebfrischer Mensch, recht wie zur Arbeit g’wachsen!“

Ein dumpfes Rollen, wie der schwache Wiederhall eines fernen Donners, klang von der Höhe des Berges herunter.

Da sprangen sie alle beide vor die Thür hinaus und lauschten. Auch der Simmerauer, der noch beim Brunnen stand, richtete sich auf und spähte in die Höhe.

Kein Laut mehr, alles war still dort oben.

„Es wird halt wieder wo ein Brocken niederbrochen sein!“ sagte Michel; er kam zur Thüre, und hier standen sie noch eine Weile und horchten; dann schob der Alte seine Kinder ins Haus. „Geh’n wir halt ’nein unter’s Dach! Der liebe Hergott soll uns b’hüten und soll uns das bißl müden Schlaf vergunnen!“

Die Stube, welche sie betraten, war so niedrig, daß sie mit den Köpfen fast an die Decke stießen. Mutter Katherl, welche schon die geblümte Nachtjacke trug und das Schlaftuch um den Kopf gewickelt hatte, stand am Tisch und zog mit einer Haarnadel den verkohlten Docht aus dem Schnäbelchen der Oellampe, deren Flämmlein ein mattes Zwielicht über das bescheidene Gerät der Stube warf.

Gegessen hatten sie bereits, vor ein paar Stunden schon, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Nur beten mußten sie noch. Michel und Mathes zur Rechten vom Herrgottswinkel, Mutter Katherl und Vroni zur Linken – genau so, wie Männer und Frauen in der Kirche ihre getrennten Plätze haben – so knieten sie zu beiden Seiten des Tisches nieder. Mit lauten Stimmen sprachen sie den Mariensegen und die Litanei zu allen Heiligen, bei welcher Mutter Katherl vorbetete. Nach dem letzen Vaterunser, als die anderen schon das Kreuz machen wollten, sagte Michel: „Bleibts noch ein bißl, Kinder! In b’sonderer Zeit muß der Christ was B’sonders haben für sein’ guten Herrn!“ … Und er fuhr fort zu beten: „Du lieber, gnädiger Vater droben, der sein’ einzigen Sohn für uns hat bluten lassen, schau, ich thu Dich bitten, denk’ ein bißl an uns arme Leut’ und nimm halt unser Häusl in Dein’ festen Schutz! Bist ja so ein guter Mann! ’s unsinnige Vieh und alle Pflanzerln haltst in Deiner sicheren Hut … schau, da kannst doch auch Dein’ alten Michel net ganz verlassen! Und weil ich schon den festen Glauben hab’, daß ein guter Christenmensch bei Dir droben kein’ Fehlspruch macht, so sag’ ich Dir halt im voraus gleich Vergeltsgott für alles, ja! Im Namen Gott des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!“

„Amen!“ sagten die anderen.

Der alte Simmerauer erhob sich und streckte die steifen Knie und den gekrümmten Rücken. „So, Kinder, jetzt kann man sich schlafen legen in aller Ruh’ … er hat mich schon verstanden, mein’ ich!“

Mathes ging zum Ofen, breitete eine Kotze über die Holzbank und ballte einen Wettermantel für sich zum Kissen zusammen. Wie er war, legte er sich nieder.

Inzwischen entzündete Vroni an dem Flämmlein der Oellampe einen Kienspan. „Gut’ Nacht, Vater und Mutter!“ sagte sie und verließ die Stube.

Als die Mutter sich mit dem Lämpchen zur Kammerthür wandte und hinter sich den Schritt ihres Mannes nicht hörte, blickte sie über die Schulter. „Michel? Warum kommst denn net?“

„Grad’ is mir g’wesen, als hätt’ einer durchs Fenster ’rein g’schaut zu uns in d’ Stuben!“

„Aber geh! Wer sollt’ denn draußen sein?“

„Ja, hast recht! Muß mich doch wohl der Mondschein ’täuscht haben!“

Sie traten in die Kammer.

Doch nicht der Mondschein hatte den Simmerauer getäuscht – seine Augen hatten recht gesehen. Draußen stand der Daxen-Schorschl mit pochendem Herzen an die Mauer gedrückt. Als er sah, daß die Stube finster wurde, glitt er lautlos zum nächsten Fenster, das sich matt erhellte. Vorsichtig spähte er durch die Scheiben. Aber das war nicht das Stübchen, das er suchte – es war die Kammer der beiden Alten: ein kleiner, ärmlicher Raum, in welchem zwei Betten nebeneinander standen; da mußten der Simmerauer und sein Weib ein unbequemes Liegen haben, denn zwischen ihren Plätzen war aus blauen Kissen ein Nest für die beiden Enkelkinder gerichtet, welche eng aneinander geschmiegt in ruhigem Schlummer lagen, mit roten Wangen und zerzausten Haaren.

Mutter Katherl streifte die Pantoffel von den Füßen und blies die Lampe aus. „Gut’ Nacht halt, lieber Michel!“ hörte Schorschl sie sagen und der Simmerauer antwortete im Dunkel: „Gut’ Nacht, mein Katherl, mein gut’s! Jetzt schlaf’ halt ein und thu Dich net sorgen!“ Ein gepreßter Seufzer, ein mattes Aechzen der Bettstellen – dann war’s still in der Kammer.

[451] Schorschl trat zurück und spähte nach der Dachstube; aber auch dort oben war alles finster. Da sah er, daß hinter dem Haus ein rötlicher Schimmer über das halb entlaubte Gezweig der Apfelbäume fiel. Hurtig sprang er um die Ecke und gewahrte ein kleines, von zuckendem Lichtschimmer erhelltes Fenster, über dessen roten Vorhang sich der Schattenriß eines Mädchenkopfes mit gelösten Zöpfen bewegte. „Jetzt bin ich aber recht dran!“ meinte Schorschl. Im gleichen Augenblick erlosch das Licht und schwarz lag das Fensterchen inmitten der vom Mond beschienenen Mauer.

Schorschl drückte sich in den Schatten eines Obstbaumes, und an den Stamm gelehnt, mit den Händen in den Hosentaschen – denn die Nacht begann kühl zu werden – stand er in geduldigem Warten. Von den Almen herunter klang das dumpfe Röhren eines starken Hirsches; doch Schorschl hatte kein Ohr für diesen Laut. Er verwandte keinen Blick von dem schwarzen Fensterchen und that nur manchmal einen brunnentiefen Atemzug. Als ihm so eine Stunde vergangen war, trat er aus dem Schatten des Baumes hervor und murmelte: „Jetzt, mein’ ich, schlafen s’ aber doch schon!“ Lautlos schlich er auf das Fenster zu, bekreuzte sich, als hätte er den Kampf mit einem gefährlichen Gespenste aufzunehmen, und pochte mit dem Fingerknöchel leis an die Scheibe.

Ein paarmal mußte er dieses Pochen wiederholen, ehe sich im Stübchen ein Geräusch vernehmen ließ.

„Was is denn? Wer klopft denn da draußen?“ fragte unwillig eine schlaftrunkene Stimme.

Schorschl drückte den Fensterrahmen ein wenig aus den Fugen und flüsterte in den Spalt: „Geh, sei so gut, mach’ ein bißl auf!“

„Was willst denn?“

„Geh, sei g’scheit, mach’ auf … ein bißl was Wichtig’s z’reden hätt’ ich halt mit Dir!“

„Jetzt in der Nacht? Wer bist denn?“

„Wer soll ich denn sein? Ich bin’s halt! Ich!“

Vroni mußte ihn an der Stimme erkannt haben.

„… Du?“ Das klang wie ein ellenlanges Wort.

„Ja! Ich! Geh, mach’ auf!“

Eine Weile war lautlose Stille in der Kammer, als ginge Vroni mit sich zu Rat, ob sie öffnen sollte oder nicht. Dann hörte Schorschl den raschen Tritt eines bloßen Fußes – und das kleine Fenster wurde aufgethan, doch kaum zur Hälfte und mit deutlich merkbarer Vorsicht.

„Was willst?“

Diese Frage klang so wenig freundlich, daß dem Daxen-Schorschl im ersten Augenblick die Sprache versagte. Er streckte den Hals und guckte sich fast die Augen aus dem Kopf; doch zwischen den mondbeglänzten, innen vom roten Vorhang verhüllten Scheiben sah er durch die schmale Spalte nur ein finsteres Stücklein der Kammer; wohl versuchte er das Fenster ein wenig weiter aufzudrücken, doch drinnen stemmte sich eine kräftige Hand gegen den Rahmen, und Vronis unwillige Stimme klang: „Sei net so keck, Du! Sondern sag’, was D’willst! Aber flink!“

Schorschl seufzte. „Schau, ich muß Dich was fragen!“

„Was?“

Nun kam die Frage, scheu und zögernd: „Is ’s wahr, Vroni .. auf Ehr’ und G’wissen … bin ich wirklich ein Lump?“

„Ja! Und was für einer! … Gut’ Nacht!“

Das Fenster wurde zugeschlagen, der Riegel knirschte, dann war’s wieder still in der Kammer.

Schorschl rückte das Hütlein in die Stirn, kraute sich hinter den Ohren, blickte melancholisch vor sich hin und murmelte: „Jetzt muß ich’s aber doch glauben!“ Lang’ währte diese gedrückte Ergebung in sein Urteil nicht; als wäre ihm plötzlich das Blut siedheiß zu Kopf gestiegen, richtete er sich auf und hob die geballte Faust gegen das Fenster.

„Wart’, Du! Dir will ich’s zeigen, ob ich einer bin! Du sollst Dich ’täuscht haben im Schorschl!“

Da klang hinter der Mauerecke, aus der Schlafstube der beiden Alten, die erregte Stimme des Simmerauer: „Um Herrgottswillen, was is denn da draußen?“

Schorschl hätte in seiner Wut mit dem Teufel gerauft …. aber Vronis Vater, das war für ihn eine stärkere Nummer! Erschrocken packte er seinen Hut, schwang sich über die Böschung hinauf und rannte querein in die Wiesen. Erst in der Nähe des Gaßner-Häuschens, das mit seinen verschobenen Balken und Mauern traurig und verlassen stand, hielt er inne, um sich zu verschnaufen.

„Jetzt muß ich’s glauben! Ja!“

Er stülpte den Joppenkragen auf, bohrte die Fäuste in die Taschen und trollte mit kleinen Schritten über den Berghang hinunter. Auf halbem Wege merkte er, daß er irgendwo seinen Bergstock gelassen hatte. Einen Augenblick besann er sich, ob er umkehren sollte.

„Ah was! Soll der auch noch hin sein!“

Seufzend ging er weiter.

„Aber der Stecken, der soll ’s Letzte g’wesen sein, was mir aus der Hand rinnt! Von jetzt ab wird zug’halten! Aber fest!“ Er blickte über die Schulter gegen die Simmerau hinauf. „Wart’, Du!“ Und trollte weiter.

Als er – nicht auf der Straße, sondern auf geradem Weg durch Wald und Gärten – das Dorf erreichte, schlug es elf Uhr. Der Heimweg führte ihn am Wirtshaus vorüber, an welchem die beiden Fenster des Extrastübchens noch beleuchtet waren – und nach alter Gewohnheit wollte er eintreten. Doch vor der Thüre blieb er stehen und schüttelte den Kopf.

„Nix da! Heut’ noch wird ang’fangt mit der Sollididätt!“

Aber ihn hungerte und die Kehle war ihm trocken – seit früh um drei Uhr, seit er sich aufgemacht hatte, um für den Purtscheller den starken Hirsch aufzuspüren, hatte er keinen Trunk und Bissen genossen.

„Kein Lump nimmer! Ja! Aber verhungern und verdursten braucht man sich deswegen doch net lassen!“

Zögernd griff er in alle Taschen, als wüßte er nicht, daß er keinen blanken Knopf bei sich trug.

„Gott sei Dank! Jetzt muß ich heim! Pumpen thun s’ mir eh’ nimmer gern da drin!“

Lachend, als hätte er seine Freude daran, daß die leeren Taschen seinen guten Vorsätzen so kameradschaftlich zu Hilfe kamen, wanderte er die Straße entlang. Da hörte er von einer heiser gröhlenden Stimme ein Schnaderhüpfl singen und erkannte den Bierbaß seines Gesellen.

„Natürlich! Der hat schon wieder ein’!“

Im Hof der Schmiede holte er den Betrunkenen ein, der bedenklich an der Mauer hin und her schwankte und ein Fenster für die Thüre zu nehmen schien.

Da hat der Zimmermann’s Loch g’macht!“ sagte Schorschl, stieß die Thür auf und versetzte dem Gesellen einen Puff, daß er in den Hausflur stolperte. „Du bist mir ein schöner Tagdieb!“

„Ich mach’s halt …. Dir nach ….“ lallte der Betrunkene, „wie der Meister …. so der G’sell!“

Schorschl hob die Hand auf – aber er ließ sie wieder sinken und sagte ernst: „Vergelt’s Gott, Steffel! Das will ich mir merken!“ Und als er sah, daß der Gesell im Dunkel mit den Händen auf den Dielen umhertappte, fragte er: „Was suchst denn?“

„Mein’ …. mein’ Hut ….“

„Leg’ Dich nieder und schlaf’ Dein’ Rausch aus! Morgen geht’s an d’ Arbeit! Den Hut such’ ich Dir schon!“

Schorschl suchte im Flur und suchte im Hof, aber der Hut wollte sich nicht finden lassen. Im Mondschein nach allen Seiten spähend, ging er die Straße zurück bis zum Wirtshaus.

„Wahrscheinlich hat er ihn drin liegen lassen?“ dachte er, schüttelte aber gleich den Kopf. „Na! ’Neingeh’n thu’ ich net! Ich kenn’ mich! Da komm’ ich nimmer fort! Lieber schenk’ ich ihm von mir ein’ Hut!“ Er nahm seinen mürben Filz herunter und betrachtete ihn beim Lichtschein, der aus dem Fenster fiel. „Den nimmt er net …. da muß ich ihm schon mein’ neuen schenken!“ Mit diesem Entschlusse wollte er den Heimweg antreten, aber da erwachte in ihm die Neugier. „Wissen möcht’ ich doch, wer so spät noch da drin hockt.“ Er gab sich einen Schwung, bekam mit den Händen das eiserne Fenstergitter zu fassen und zog sich an der Mauer in die Höhe ….

In der von der Hängelampe erleuchteten und von dickem Cigarrenrauch erfüllten Wirtsstube saß Purtscheller im Kartenspiel mit einem Viehhändler und einem Commis Voyageur um den runden Tisch; hinter ihm stand der Wirt und sah ihm über die Schulter in das Spiel, während die Kellnerin in der Ofenecke ihr Schläfchen machte.

Die Gesichter der drei Gäste waren von der Wirkung des Tirolers und von der Erregung des Hazardspiels, das sie trieben, [454] heiß gerötet. Der Commis, welcher die Bank legte, und der Viehhändler waren mit schweigendem Ernst bei der Sache – nur Purtscheller schwatzte und räsonnierte über den Gang des Spiels, und dennoch schien er zerstreut und mit seinen Gedanken wo anders. Eben hatte er neue Blätter aufgenommen, aber erst die Bemerkung des Wirtes: „Ein nobel’s Blatt!“, schien ihn aufmerksam zu machen, daß die Karten diesmal gut für ihn gefallen waren.

Da klirrte ein Schlag an der Fensterscheibe, man hörte ein unterdrücktes Lachen und einen Plumps auf der Straße draußen. Scheltend öffnete der Wirt das Fenster, doch er sah nur die leere, mondhelle Straße.

„Wie nur ein Mensch Freud’ d’ran haben kann, solche Kindereien z’machen.“

„Das is kein anderer g’wesen als der Daxen-Schorschl!“ sagte die Kellnerin, die aus ihrem Schläfchen aufgefahren war.

„Der Schorschl? Ah na! Der wär’ schon ’rein ’gangen!“

Die Spieler hatten des Vorfalls nicht geachtet, und da Purtscheller noch immer verdrießlich in die Karten guckte, fragte der Bankhalter: „Wie viel?“

„Hab’ ich’s noch net g’sagt? Die Bank gilt’s: zwei König’ und ein Aß in drei Farben hab’ ich …“ Purtscheller warf die Karten offen auf den Tisch, „da halt’ ich Bank, und wenn’s um ein G’schloß geht!“

Die Karte wurde umgeschlagen – es war die Sieben der vierten Farbe – und Purtscheller hatte verloren.

„Jesus Maria!“ stammelte der Wirt erschrocken.

Doch Purtscheller erhob sich ruhig, und kaum merklich vertiefte sich die Röte seines Gesichtes. „Jetzt mag ich nimmer! Heut’ hab’ ich kein Glück … und ich hätt’ eh’ schon lang heim sollen! Sei so gut, Wirt, und zahl’ aus, ich hab’ net so viel bei mir!“ Sein Verlust überstieg dreihundert Mark – aber wer Purtscheller heißt, hat im Wirtshaus ein leichtes Borgen, und der Wirt sagt ihm noch ein Vergeltsgott für die Ehre.

Die beiden Spieler saßen schweigend hinter dem Tisch und lächelten, während Purtscheller seinen Hut vom Nagel nahm.

„Gut’ Nacht, meine Herr’n!“

Draußen auf der Haustreppe fragte er den Wirt, der ihn begleitet hatte: „Is der Rufel[2] heut net da?“

„Der Jud’?“

„Ja!“

„Heut’ net. Aber morgen oder übermorgen kommt er g’wiß.“

„So sag’ ihm, er soll ein’ Sprung zu mir ’nüber machen.“

„Haben S’ was Alt’s für ihn?“

„Der Purtscheller? Und ’s alte G’wand verkaufen? Na! So was verschenk’ ich! … Bloß ein’ Auskunft möcht’ ich.“

„So so!“ Der Wirt blickte zum mondhellen Himmel auf und streckte die Hand, wie um die Luft zu fühlen. „Frisch macht’s! Mir scheint, es zieht ein bißl an heut’ nacht. Wär’ ein Glück für die da droben, wenn der Frost bald einfallen möcht’!“

„Ja! Wär’ ein Glück! Gut’ Nacht, Wirt!“

„Gut’ Nacht, Herr Purtscheller! Ein andersmal die Ehr’!“

Es schlug Mitternacht. Dann lag wieder Stille über dem schlummernden Dorf; nur das Bergwasser rauschte im tieferen Thal und in einem der höher gelegenen Gehöfte sang ein Hund dem Vollmond sein jammervolles Ständchen.

Je näher Purtscheller seinem Anwesen kam, desto rascher wurde sein Schritt. Manchmal seufzte er schwer und spähte dabei dem Lichtschein entgegen, der im Oberstock seines Hauses aus einem Fenster fiel. Und als er den Garten erreichte, blieb er vor der Treppe stehen und sprach vor sich hin wie ein Held, der sich selbst überwunden: „Und wenn ich zehnmal der Purtscheller bin … das muß ich ihr abbitten, ja! Das is grob g’wesen!“

Lautlos öffnete er die Hausthür, streifte im Flur die Schuhe von den Füßen und schlich auf den Socken über die Treppe hinauf – um sein Kind nicht aus dem besten Schlaf zu stören.

Im Wohnzimmer brannte noch die Hängelampe; Karlin’ saß hinter dem Tisch und hielt das Gesicht in den Armen vergraben. Als die Thür ging, fuhr sie erschrocken auf.

„Grüß Dich Gott, Linerl!“ sagte Purtscheller leise und legte den Hut ab.

Hastig schob sich die junge Frau aus der Bank hervor, und damit er nicht sehen möchte, wie verweint ihre Augen waren, stellte sie sich mit dem Rücken gegen die Lampe.

Zögernd kam er auf sie zugegangen, bot ihr die Hand, und dabei wurden ihm vor Rührung die Augen naß.

„Linerl? … Kannst mir verzeihen?“

Sie vermochte nicht zu sprechen; aber sie nickte und gab ihm die Hand.

Da nahm er sie in seine Arme, zog sie zur Bank und auf seinen Schoß, streichelte ihr die Wangen und war so herzlich zu ihr, daß sie an den Ernst seiner Reue glauben mußte. Zitternd preßte sie sich an seine Brust, und das Gesicht nur halb von seiner Schulter erhebend, sagte sie mit erstickter Stimme: „Gelt, Toni, so was thust mir nimmer an? … Schau, so was könnt’ mir ’s Herz versteinern! … Ich bitt’ Dich, bitt’ Dich, thu mir ’s nimmer!“

„Aber geh, Du Narrerl, Du lieb’s!“ Auch in seiner Stimme waren Thränen. „Es is mir ja selber, ich kann Dir’s gar net sagen, wie! Aber schau, es is ja doch bloß im gachen Jähzorn g’schehen! Gern hab’ ich Dich ja doch! … Freilich, d’ Hauptschuld hab’ ich schon selber. So die erste Sorg’ hat mich halt ganz rebellisch g’macht! Der unglückselige Brief halt! … Aber freilich, ich hätt’ Dir ihn lesen lassen sollen. Eigentlich is ja gar nix dran! Da schau …“ Er zog das zerknüllte Blatt aus der Tasche, „so lies halt!“

Sie wehrte erschrocken den Brief von sich ab.

Doch er sagte: „Aber geh’, so lies doch! Jetzt will ich’s selber haben! Mann und Frau sollen doch nix g’heim haben voreinander!“

Während er sie fester umschlang und unter unsicherem Lächeln ihr Haar streichelte, fing sie zu lesen an. Immer heftiger zitterten ihre Hände; nun ließ sie das Blatt sinken und sah mit entsetzten Augen zu ihrem Manne auf.

„Toni! Um Gottswillen …“ Sie konnte nicht weitersprechen.

„So geh, Du Dschapperl! Ueber so was brauchst Dir doch kein Schrecken z’ machen!“

„Aber Toni! Es is ja ’s erste Wörtl, das ich hör’ davon! … Hypotheken auf’m Purtschellerhof! … Jesus Maria! … Toni!“

Er wurde verlegen und schob sie von seinem Schoß auf die Bank. „No ja, das Geld liegt halt noch am Hof von Vaters Zeiten her!“

„Aber da hättst mir doch lang schon was g’sagt davon!“

Purtscheller zögerte mit der Antwort. „No mein, ich hätt’ Dir halt gern die Sorg’ erspart, und drum hab’ ich Dir’s verschwiegen.“

Scheu blickte Karlin’ zu ihm auf; eine angstvolle Frage schien auf ihren Lippen zu liegen – aber sie fürchtete seinen Jähzorn und hatte nicht den Mut, ihm das ins Gesicht zu sagen.

Er vermied ihren Blick und zuckte mit gezwungenem Lachen die Achseln. „Weißt, ich hab’ mir halt ’denkt, ich könnt’ die G’schicht schön langsam abzahlen. Und die letzten Jahr’ her hab’ ich selber ein bißl schlechte Zeiten g’habt! Aber von jetzt an pack’ ich’s halt ein bißl strammer an … da bin ich in zwei, drei Jahr’ mit dem Bettel fertig!“

„Bettel? … Toni? … An die fünfzigtausend Mark?“

„Und zweimalhunderttausend is er wert, mein Hof! Da wird’s ja doch so weit net fehlen!“

Purtscheller begann ungeduldig zu werden doch als seine Frau das bemerkte und deshalb verschüchtert schwieg, wurde er wieder ruhig. Er stand auf und ging ein paarmal durch die Stube; dann sagte er: „Mein Wald droben, der muß g’schlagen werden, ’bald der Winter einfallt … sonst verschluckt ihn im Frühjahr der Berg! Und da schlag’ ich meine vier, fünf Tausend Klafter ’raus wie nix. Und an Neujahr zahl’ ich dem Schloßbräu den Schmarren hin auf’n Tisch! Blank! Und b’halt’ noch was übrig für mich!“ Er lachte im Vorgefühl der stolzen Genugthuung, die ihm dieses glatte, klingende Geschäft bereiten würde. „Der soll Augen machen! Er hat mir die Hypothek eh’ nur aus Bosheit ’kündigt, weil er mir neidisch is um mein’ Bräunl! Jetzt hat er sich zwei neue Traber eing’handelt … aber die fürcht’ ich net, die fahr’ ich ihm nieder wie nix! Gleich morgen fang’ ich mit’m Bräunl ’s Tränieren an! Der soll Augen machen!“ Er rieb sich die Hände und lachte wieder, als wäre jede Sorge von ihm abgestreift.

Karlin’ saß wortlos, das Gesicht so weiß wie die Wand.

Lachend trat Purtscheller auf sie zu und faßte ihr Kinn.

„Geh’, Du Sorgenhaferl!“ Er setzte sich an ihre Seite und umschlang sie. „Schau, lassen wir jetzt die ganze dumme G’schicht’ in Ruh’ und denken wir lieber dran, daß wir zwei wieder gut sind [455] miteinander! … Und weil ich in der Hitz’ heut gar so grob g’wesen bin und weil mir so schön verziehen hast … das muß ich Dir doch vergelten! Geh, Linerl, sag’ mir, mit was ich Dir eine Freud’ machen könnt’? Hast kein’ Wunsch?“

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Aber geh, so red’ doch! Machst mir selber eine Freud’ damit!“

Da sah sie ernst zu ihm auf.

„No also? Was soll ich Dir geben?“

„Dein’ Erlaubnis, daß ich in der Wirtschaft d’Arbeit überschau’ und zugreif, wo’s nötig is!“ Sie vermochte kaum zu sprechen.

„No ja, meinetwegen … wenn ich net daheim bin!“

„Und wenn’s was z’reden giebt, ich bitt’ Dich, Toni, so hör’ mich an in Geduld und Ruh’! Schau, Dein’ Frau is ja doch Dein bester Freund … und ich rat’ Dir doch g’wiß in nix zum Schlechten!“

„Ja, ja, ja, das weiß ich schon! … Aber jetzt mußt mir noch was anders sagen! Was Dir Freud’ macht! Magst ein seidnes Kleid? Oder ein Armband mit Hirschgranln? Meine schönsten gieb ich her dazu! Oder magst ein altdeutsch Kupferg’schirr in Dein Kucherl?“ So zählte Purtscheller noch eine lange Reihe von Dingen auf, die ihm für eine Frau begehrenswert erschienen.

Aber Karlin’ schüttelte zu allem still den Kopf, so daß er schließlich fast unwillig wurde.

„Linerl! Wenn mir jetzt net auf der Stell’ was sagst, mit was ich Dir eine Freud’ machen kann … meiner Seel’, so bin ich Dir bös!“

Da nahm sie seine Hand.

„Toni?“ Matte Röte glitt über ihre Wangen.

„No also, was?“

„Darf ich mir alles wünschen?“

„Alles!“

„Und nimmst mir ein offenes Wörtl net übel?“

„Auf Ehr’ und Seligkeit … alles kannst sagen!“

„So thu mir den G’fallen … net mir … na, Toni, Dir selber thu den G’fallen und schick die Zäzil fort von unserm Hof!“

„Aber geh! Wie kommst mir denn jetzt mit so was!“ Geärgert sprang er auf und rief über die Schulter zurück: „Traust mir vielleicht net?“

„Ja, Toni, ich trau’ Dir blind!“ sagte Karlin’ ruhig und erhob sich. „Wie könnt’ ich Deine Frau sein und glauben, daß Du net einmal Respekt hättst vorm eigenen Haus! Aber schau, Toni, wenn Du so Deine Spassetteln mit die Dienstboten machst … und gar nix denkst dabei … aber schau, da merkst halt oft net auf, was Dir über d’Lippen kommt. Aber d’Leut haben Ohren . . und sie reden schon drüber!“ Es zuckte um ihre Lippen. „Dir ins G’sicht sagt’s freilich keiner … aber mir tragt man’s zu in aller Freundschaft … und das ung’schickte Madl, statt daß sie sich wehren that dagegen, hat noch ihr Freud’ an dem G’red’ … und lacht, so oft s’ an mir vorbeigeht.“

Als Karlin’ dieses Letzte sagte, unterbrach Purtscheller seine Wanderung durch die Stube und sah seiner Frau ins Gesicht. In einem Gefühl des Unbehagens bewegte er die Schultern unter dem Sammetflaus und brummte verdrossen: „No also, meinetwegen … damit ich ein’ Fried’ hab’ … morgen sag’ ich der Zäzil auf! Soll sich um ein’ anderen Platz umschauen! … Und Du geh schlafen! Gut’ Nacht! … Schon wieder halb eins vorbei! In keiner Nacht kommt man zu seiner Ruh’!“ Er ging auf das Ledersofa zu und warf sich nieder, daß das Möbel in allen Fugen krachte.

Mit zitternden Lippen stand Karlin’ am Tisch, regungslos, den von Thränen verschleierten Blick auf ihren Mann geheftet, als müßte sie noch ein freundliches Wort von ihm zu hören bekommen. Aber sie wartete vergebens.

„Gut’ Nacht, Toni!“ lagte sie leis und ging zur Thür. Auf der Schwelle wandte sie das Gesicht. „Geh, ich bitt’ Dich, bleib’ nimmer gar z’lang! Den ganzen Tag am Berg droben … es muß Dich ja müd’ g’macht haben!“

„In Ruh’ laß mich!“ murrte er und drehte das Gesicht gegen die Wand. „Ich geh’ schlafen, wenn’s mir paßt!“

Karlin’ verließ die Stube.

Eine Weile lag Purtscheller, ohne sich zu regen. Dann stieß er mit dem Ellbogen das Polster zurück.

„So verdirbt s’ mir aber jedesmal den besten Hamur! Um den Finger hätt’ s’ mich wickeln können, wie ich heim’kommen bin! Und jetzt …“

Er seufzte, streckte sich bequemer und blickte verdrossen zur Stubendecke auf. Aber die unmutigen Gedanken, die ihn erfüllten, schienen nicht lange anzuhalten. Er begann zu lächeln. Denn im Geiste malte er sich das Bild des nächsten Trabrennens aus: ein milder, schöner Tag im Vorfrühling; die Rennbahn trocken und gut; rings um die Barrieren Tausende von Menschen, Kopf an Kopf gedrängt; sie schreien „Hoch!“ und „Bravo!“ und all ihre Blicke folgen dem Ersten, der keck und flott auf dem leicht dahinfliegenden Gig schaukelt und den mit Schaum bedeckten Braunen sicher durch das Ziel führt, während der Schloßbräu mit seinem amerikanischen Halbblut weit hinter ihm zurückbleibt …

Bei diesen wohligen Gedanken überkam den Purtscheller, ohne daß er es merkte, ein gesunder Schlaf. Er schnarchte mit offenem Munde.

Gleichmäßig zählte die Wanduhr mit ihrem Ticktackschlag die fliehenden Sekunden, und in der Hängelampe begann der Docht zu rußen.

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 28, S. 469–475
[469]
5.

Der Morgen graute, als der Daxen-Schorschl aus einem unruhigen, von ganz absonderlichen Träumen gequälten Schlaf erwachte. Mit melancholischem Gesichte setzte er sich auf, und das erste, was er sah, war nicht die unfreundliche, fast kahle Stube um ihn her, mit dem verschlampten, halb zerstörten Gerät und den grauen Dielen, die Gott weiß wie lange kein Wasser und keine Bürste mehr gespürt hatten – nein, das erste, was Schorschl vor Augen schwebte, war ein rundes, von Erregung und Arbeit gerötetes Mädchengesicht, dessen blitzende Augen ihn halb ernst und halb verächtlich musterten und dessen rote Lippen in aller Ruhe zu ihm sagten: „Schorschl! Du bist ein Lump!“

Wütend schlug er mit der Faust auf die Kissen. „Kreuzhimmelsternsakradi! Laßt’s mich denn gar nimmer aus!“

Mit gleichen Füßen sprang er aus dem Bett, kleidete sich brummend an, nahm ein Handtuch über den Arm und ging in den Hof hinunter, um sich am Brunnen zu waschen.

Es war schon lebendig im Dorf und von überall tönte das Geräusch der Arbeit; nur die Daxen-Schmiede lag still und friedlich: da brüllte kein Rind im Stall, da tummelte sich keine singende Magd, die Esse rauchte nicht und an der Werkstätte war das Thor noch geschlossen. Aber das Bild dieses Friedens schien dem Schorschl gar nicht zu gefallen. „Pfui Teufel! Wie schaut’s bei uns aus!“ murrte er vor sich hin, während er Haus und Hof mit scheuem Blick überflog. „Und der ander’ schlaft natürlich noch! Recht hat er! Wie der Meister so der G’sell! … Aber wart, den will ich aufstampern!“ Mit wahrem Ingrimm rannte er ins Haus und zur Gesellenstube. Die Faust auf die Klinke schlagend, stieß er mit einem Fußtritt die Thür auf. „’Raus, Du, d’Arbeit wart’t!“

Schlaftrunken richtete Steffel sich auf und machte zwei Augen, als hätte sich das unerhörteste Wunder ereignet. Den Kopf schüttelnd, kroch er aus den Federn. Er schien Haarweh zu haben – man sah es an der Art, wie er die Brauen zusammenzog.

Als der Gesell nach einer Weile das Thor der Werkstätte aufthat und gähnend in der Esse das Feuer anschürte, stand Schorschl am Brunnen und wusch und rieb, als hätte er den Ruß und Schmutz eines ganzen Jahres von sich abzufegen. Und während er mit dem Handtuch Gesicht und Hände trocknete, spähte er „fuchsteufelswild“ immer wieder über das Gehänge des laufenden Berges hinauf und murmelte ein um das andere Mal: „Wart’ nur, Du! … Wart’ nur!“ Um nur flink genug an die Arbeit zu kommen, nahm er sich gar nicht die Zeit, das Handtuch ins Haus zurückzutragen, sondern warf es über die Brunnenröhre. Doch als er mit langen Schritten zur Werkstätte ging, in [470] der sich die ersten, müden Hammerschläge des Gesellen hören ließen, mahnte ihn sein knurrender Magen, daß er zuerst für sich und Steffel die Morgensuppc kochen müßte.

In der Küche ging ihm alles hurtig von der Hand, und als die Suppe am Feuer brodelte, lief er in die Stube, um die Teller aufzulegen. Auf der Schwelle blieb er stehen und blickte erschrocken in dem verwahrlosten Raum umher. Jahr und Tag hatte er hier gelebt, das heißt, alltäglich ein paar Minuten zwischen diesen Wänden zugebracht, und niemals hatte ihm diese graue Verwilderung eine Mahlzeit verdorben. Jetzt aber stotterte er: „Kreuz Teufel! Da packt ein’ ja ’s Grausen an! Da kann ja kein ordentlicher Mensch nimmer essen, da herin! Wenn da ein Madl ’reinschaut … ich dank’! Da müßt ich ja Schand und Spott erleben!“

Mit so heißem Eifer, als stünde bereits die gefürchtete Reinlichkeitskommission vor der Thüre, rannte er davon, kam mit einem Schaff voll Wasser zurück und goß es über die Dielen aus. Dann begann er mit Besen und Putzlumpen, mit Seife und Bürste drauf los zu arbeiten, als hätte er zeit seines Lebens nichts anderes getrieben, als Dielen geputzt und Tische und Bänke weißgescheuert. Doch mitten in allem Ernst, mit dem er bei der Arbeit war, überfiel ihn plötzlich eine komische Vorstellung seiner selbst: der „lüftige“ Daxen-Schorschl mit Besen und Bürste! Zuerst mußte er lachen, aber dann wurde er vor Aerger rot bis unter die Haare. „Wenn mich jetzt einer sieht, der lacht sich krank an mir! … Und die da droben?“ Er sah sich um, als könnte er durch die Mauer hinaufsehen nach dem Gehäng des laufenden Berges. „Was die sich alles einbilden möcht’!“ Wütend schleuderte er die Bürste in einen Winkel und wischte an den Hüften die nassen Hände ab.

Aber auf den Dielen stand das Wasser, auf der Tischplatte der graue Seifenschaum – ob Schorschl wollte oder nicht, jetzt mußte er die begonnene Arbeit doch wohl zu Ende bringen und die Stube wieder trocken legen. Brummend holte er die Bürste hinter dem Ofen hervor und fing wieder zu scheuern an. Dabei kamen ihm ernste Gedanken. Und einmal seufzte er vor sich hin: „Keine Schulden halt sollt’ ich net haben … da ging’s ja leicht!“

Er begann in Gedanken einen Ueberschlag zu machen, wie viel er ungefähr nötig hätte, um all seine Schulden zu bezahlen. Was er beim Wirt im Buch und bei der Kellnerin auf der Tafel stehen hatte, das konnte er nur so beiläufig schätzen: „Hundert Markln, mein’ ich … da wird net viel fehlen!“ Und beim Krämer waren es vierundsechzig – das wußte er ganz genau, denn die Krämerin hatte ihn erst vor ein paar Tagen angefordert und ihm den Kredit gekündigt. Dazu noch Schuster und Schneider! Und was er sich da und dort zuweilen ausgeborgt hatte, wenn er mit leerer Tasche vor einer Tanzmusik oder einer lustigen Hochzeit gestanden! Vierhundertfünfzig Mark, alles in allem! Er sann und sann – und da kam immer noch ein Bröcklein dazu. Endlich aber fiel ihm nichts mehr ein. Rund fünfhundert!

Er atmete auf. „Gar so arg is’s ja doch net!“ Im gleichen Augenblick aber fuhr ihm ein kalter Schreck in die Haare – denn draußen auf der Straße sah er einen alten jüdischen Händler vorübergehen, ein gebeugtes, eingeschrumpftes Männchen, in langem abgeschabten Rock, mit einem Kleidersack auf dem Rücken und ein paar Lammsfellen über dem Arm.

„Mar’ und Josef! Der Rufel! Auf den hab’ ich ganz vergessen!“

Bei dem hatte er seit Fasching einen Schuldschein über vierhundert Mark stehen, die an Neujahr zu bezahlen waren.

Also im ganzen neunhundert! Da stiegen dem Daxen-Schorschl doch die „Grausbirnen“ auf, und während er die Holzbank scheuerte, traten ihm kalte Schweißperlen auf die Stirn.

Aber war er denn nicht vor zwei Jahren, als der Daxenschmiede die Gant gedroht hatte, noch weit übler dran gewesen? Und dennoch hatten ihn seine gutherzigen Verwandten aus dem Wasser gezogen! Und jetzt war doch der ehrliche Wille in ihm, ein ordentlicher Mensch zu werden – vielleicht halfen sie ihm ein zweites Mal?

„Probieren muß ich’s! Und heut’ noch! Es laßt mir kein’ Fried’ nimmer!“

Während er scheuerte und bürstete, dachte er sich die Worte aus, mit denen er seinen Verwandten, dem Berghofbauer, dem Zillerlenz und der dicken „Bäckenmahm’“, sein Anliegen vorbringen wollte und dabei erwachte in ihm ein Fünklein von Hoffnung, freilich nur ein ganz schwaches.

Endlich war die Stube trocken und sauber. Aber draußen in der Küche sah es bitter aus – zwei Stunden hatte Schorschl gebürstet und gescheuert und inzwischen war die Suppe eingekocht, so daß in der Tiefe des Topfes nur eine schwarze, übelduftende Kruste lag. Schorschl mußte die Kocherei von vorne beginnen, und als er nach einer halben Stunde den Gesellen endlich zum Frühstück rufen konnte, brummte Steffel: „So? Mir fallt schon der Magen ’nunter! Hab’ eh’ g’meint, daß ich heut’ verhungern muß!“

Beim Eintritt in die frisch gescheuerte Stube machte der Gesell ein verblüfftes Gesicht; und dann brach er in ein Gelächter aus, daß ihm Schorschl vor Wut und Verlegenheit am liebsten eine gesunde Tachtel hinter die Ohren gepflanzt hätte.

„Lach’ net … und iß!“

Der zornige Blick, mit welchem Schorschl diese Aufforderung begleitete, machte den Gesellen stumm.

Schweigend löffelten sie die Brennsuppe aus, in die sie Schwarzbrot einbrockten.

Als Schorschl den Löffel niederlegte, fragte er ernst und bedächtig wie ein alter Meister: „Was is denn für Arbeit da?“

Die Augen des Gesellen wurden immer größer: „Ein’ Leiterwagen muß ich b’schlagen.“

„So? … Der muß fertig sein bis auf ’n Abend!“

„Was? Bis auf ’n Abend? Ich kann doch net hexen?“

„Nachher lern’ ich Dir’s, wenn ich heim komm’! Jetzt hab’ ich ein paar Weg’ z’ machen. Marsch, weiter, an d’ Arbeit!“

Als Steffel bei der Thüre war, fragte Schorschl etwas unsicher, während er den Tisch abräumte: „Is die letzten Tag’ her kein Geld net ein’gangen?“

Der Gesell wurde verlegen. „Ja, ein bißl was. Aber das hab’ ich selber ’braucht … auf Essen und Trinken.“

„Sooo? … Von heut’ an sollst Dein Essen und Trinken in der Ordnung kriegen! Aber ’s Geld wird abg’liefert! Verstehst! … Und jetzt schau, daß Du an d’ Arbeit kommst!“

Kopfschüttelnd, als hätte er nicht recht verstanden, zog Steffel hinter sich die Thüre zu und murmelte sorgenvoll: „Der arme Mensch! … Der is überg’schnappt von gestern auf heut’!“ Dabei schien aber doch auch die Befürchtung in ihm aufzutauchen, als ob seine guten Zeiten jetzt vorüber wären. „G’fallt’s mir nimmer, so geh ich halt!“ dachte er und schüttelte wieder den Kopf.

Drin in der Stube stand Schorschl vor dem offenen Kasten und kraute sich unschlüssig hinter dem Ohr.

„Vielleicht wär’s doch besser, wenn ich’s auf ’n Sonntag verschieben thät’? … Da triff ich die Leut’ g’wisser daheim.“

Trotz dieser Ueberlegung griff er in den Kasten und holte seine neue Lederhose und die Sonntagsjoppe hervor. Aber – aufgeputzt wie zu einer Hochzeit – und Geld borgen? „Das schaut sich net gar gut an!“

In Hemdärmeln, das lederne Schurzfell umgebunden, verließ er das Haus. Wie schmuck er aussah! Der richtige Schmied! Kraftvoll und hoch gewachsen! Nur der Ruß an den Händen fehlte.

Auch den Leuten, die dem Daxen-Schorschl begegneten, schien es so vorzukommen, als ob an seiner Erscheinung irgend etwas nicht in Richtigkeit wäre. Sie blieben stehen und sahen ihm lachend nach, als wäre „Fasnacht“ und als hätte sich der Daxen-Schorschl „vermaschkeriert“. Er merkte das Aufsehen, das er machte, wurde vor Aerger dunkelrot im Gesicht und brummte einen Fluch um den andern vor sich hin. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt – aber er hatte nun einmal den Schuß in den Beinen; die gingen vorwärts, ob er wollte oder nicht.

Und da stand er auch schon vor dem Haus des Zillerlenz.

Zu dem hatte er seinen ersten Weg genommen, weil er auf ihn das meiste Zutrauen setzte; denn vor zwei Jahren hatte der Zillerlenz den größten Brocken für den Schorschl gezahlt, ganze sechshundert Mark. Da würden ihm doch jetzt die dreihundertundfünfzig auch nicht zu viel sein? So hatte sich Schorschl das eingeteilt: dreihundertfünfzig der Zillerlenz, ebensoviel der Berghofbauer und ebensoviel die dicke Bäckenmahm’! Da konnte er seine Schulden bezahlen und behielt auf der Hand noch ein Sümmchen für eine geregelte Wirtschaft während der nächsten Zeit.

[471] „Ja Schorschl! Wie schaust denn aus?“ rief ihn der Vetter lachend an. „Als ob von der Arbeit kämst?“

„Von der Arbeit? Na! Aber zur Arbeit will ich schauen! Und das g’hörig!“

Mit dieser Beteuerung leitete Schorschl sein Anliegen ein, wobei der Vetter immer wieder unter Lachen seine kleinen Späße machte. Je ernster Schorschl redete, desto lustiger wurde der Zillerlenz, und schließlich klopfte er dem langen Burschen lachend auf die Schnlter. „Schau, Schorschl, eher beiß’ ich mir d’ Nasen ab, eh’ ich auf Dich noch ein’ roten Heller verwend’. Kerl, Du bist ja wie der Brunn’ da draußen! Was man da ’nunterwirft, is beim Teufel und kommt meiner Lebtag nimmer ans Licht! Alles, was D’ willst … aber nur kein Geld nimmer!“

Schorschl verlegte sich aufs Bitten, aber der Vetter fertigte ihn mit so lustigen Späßen ab, daß er schließlich selbst mitlachen mußte, obwohl ihm Aerger und Beschämung die Kehle zuschnürten. Und kaum wußte er, wie er zur Thüre hinaus kam.

Als er draußen auf der Straße stand, blies er die heißen Backen auf. Das Fünklein Hoffnung, das noch in ihm glomm, schrumpfte bedenklich zusammen. Jetzt trafen fünfhundert auf den Berghofbauer und ebensoviel auf die dicke Bäckenmahm’. Und die beiden, das wußte er vom letzten Mal, hatten eine zähe Hand, besonders die Mahm! Also zuerst zum Berghofbauer!

Den traf er nicht zu Hause, sondern mußte ihn auf dem Feld aufsuchen, weit drunten im Thal.

Als er zur Kirche kam, überholte ihn der Purtscheller-Toni, der auf dem flotten Gig saß wie ein Fürst auf dem Thron und eine Trainingfahrt mit seinem Traber machte.

„Was, Schorschl, der greift aus!“

Mehr zu sagen hatte Purtscheller nicht Zeit – so flink trabte der siegreiche „Bräunl“ an dem Fußgänger vorüber.

„Der thät den Tausender auch net spüren!“ seufzte Schorschl, während er dem Purtscheller nachblickte und von der Straße in den Fußpfad einlenkte, der zu den Feldern führte.

Er hatte sich den „Dischkurs“ mit dem Berghofbauer durchaus nicht in rosigen Farben ausgemalt. Aber die Sache kam weit schlimmer. Der Bauer schrie, als hätte Schorschl einen Raubanfall auf ihn versucht, und schimpfte so laut, daß es all die Leute auf den benachbarten Feldern hören konnten. Eine Weile ließ sich Schorschl das gefallen, dann aber rührte sich der Zorn in ihm, und mit einem groben Wort drehte er seinem Vetter den Rücken.

Um nicht an den lachenden Leuten vorüber zu müssen, die den Auftritt mit angehört hatten, stapfte er quer durch eine sumpfige Wiese der Straße zu.

Schwer atmend wischte er sich den Schweiß von der Stirne und machte zwei Fäuste. „Die G’schicht wird ein’ Haken haben! Jetzt möcht’ ich brav sein … jetzt lassen s’ mich net! Und jeder giebt mir noch ein’ Tritt dazu! Die Geizkragen übereinander!“

Die Straße war überschwemmt, und bis an die Knöchel mußte Schorschl in dem schlammigen Wasser waten, das mit dumpfem Rauschen aus den unterirdischen Klüften des laufenden Berges hervorströmte. Lange stand er vor solch einem Ausfluß, sah den Erdbrocken nach, die auf dem schießenden Wasser schwammen, und blickte trübselig über das Gehäng empor.

„Arm’s Madl! … Arme Leut’!“

Er streckte die Fäuste, als möchte er einen Felsblock packen und das Loch dort zustopfen, durch das der kleine Wohlstand und das bescheidene Glück so vieler Menschen unaufhaltsam davonrann.

Da fiel ihm die eigene Sorge wieder ein.

„Ich bin aber einer! Kann mir selber net helfen … und denk’ noch an andere Leut’!“

Den Kopf auf der Seite und die Hände hinter dem Rücken, stapfte er aus dem schlammigen Wasser hervor.

Wie ehrlich er sich es auch vorgenommen hatte, ein ordentlicher Kerl zu werden und stramm zu arbeiten … jetzt waren all seine guten Vorsätze nutzlos! Ein paar Monate konnte er sich ja noch durchbringen. Aber dann? Er wußte es: dann würden es seine Gläubiger genau so machen wie damals vor zwei Jahren, würden ihre Forderungen an den Juden verkaufen, und der würde die Daxen-Schmiede wieder auf die Gant bringen. Wer sollte ihm da noch helfen?

Die Bäckenmahm’?

Bekümmert schüttelte Schorschl den Kopf. Ein paar hundert Mark – das wäre vielleicht noch gegangen. Aber aus der dicken Mahm’ einen ganzen Tausender herausfischen?

„Na! Da trau’ ich mich lieber aus dem Bachl da ein’ Walfisch ziehen!“

Mit zerstreuten Blicken sah er in die gleitenden Wellen nieder, während er dem Ufer des schmalen Baches folgte. Zahlreiche Forellen, die aus den überschwemmten und verschlammten Gründen heraufgezogen waren, standen in dem klaren Wasser umher.

„Herrgott! Da könnt’ heut’ einer ein’ guten Fang machen!“

Das hatte er noch kaum gedacht, da erwachte schon der alte Schorschl in ihm und der Fang begann. Er krempelte die Hemdärmel auf und rollte das Schurzfell bis zur Hüfte. Mit sicher gezielten Steinwürfen scheuchte er eine Forelle, bis sie sich im seichten Wasser unter dem Ufer verbarg. Hurtig ließ er sich auf die Kniee nieder – ein gewandter Griff ins Wasser – und lachend hob Schorschl den zappelnden Fisch an die Luft.

„Soll mir’s einer nachmachen!“

Eine halbe Stunde trieb er das so weiter; dann war sein blaues Schnupftuch bis an die Zipfel mit Forellen gefüllt. Er sah sich überall um nach einem, dem er die Fische schenken könnte; doch die Straße war leer.

Da fiel ihm ein, daß Forellen ein Lieblingsgericht der Bäckenmahm’ waren. Wenn er ihr die Fische brächte? Ob sie in der Freude über diese leckere Mahlzeit nicht mit sich reden ließe?

„Probieren wir’s halt!“ seufzte Schorschl. „Mehr als Na sagen kann s’ ja doch net!“

Raschen Ganges erreichte er das Dorf und eilte am Purtschellerhof vorüber, mit geducktem Kopf, weil er auf der Steinbank neben der Hausthür den alten Rufel sitzen sah.

Gleich das nächste Anwesen war das Haus der Bäckenmahm’, ein zweistöckiger Bau, welcher mitten zwischen Apfelbäumen stand, an denen noch die rotbackigen Früchte hingen. Garten und Haus boten ein etwas verwildertes Ansehen. Als der Meister Bäck noch gelebt hatte, war das Haus in schmuckem Stand gewesen. Doch seine Witib konnte schon seit Jahren das Zimmer, das sie im oberen Stockwerk bewohnte, nicht mehr verlassen und hatte das Bäckereigeschäft an einen Gesellen verpachtet, der keine Veranlassung fühlte, sich um das Aussehen des Hauses zu kümmern. Und der Grund, weshalb die Bäckenmahm’ das Zimmer hüten mußte, war ein ganz merkwürdiger. Nicht etwa Krankheit war die Ursache. Im Gegenteil, sie war nur zu gesund. Schon zu Lebzeiten ihres Mannes hatte sie nah’ an drei Centner gewogen und hatte sich immer, wenn sie zur Thüre aus und einging, hart zwischen den Pfosten hindurchzwängen müssen. Einige Zeit nach ihres Mannes Tod passierte ihr das Unglück, daß sie sich mitten in der Stube den Fuß übertrat und eine Sehne verzerrte. Zwei Monate mußte sie liegen – aber statt in dieser Leidenszeit ein wenig abzumagern, legte sie Woche um Woche ihrem Gewicht noch ein paar schwere Pfunde zu und als der Fuß endlich geheilt war, hatte die Bäckenmahm’ an Breite so erschrecklich zugenommen, daß sie nicht mehr zur Thür hinauskonnte. Zwischen Stube und Schlafzimmer wurde ein geräumiger Durchgang ausgebrochen, aber die in den Flur führende Thür blieb wie sie war; auch diese zu erweitern, hätte keinen Zweck gehabt; denn auf die Hoffnung, jemals wieder den schmalen Flurgang und die noch schmälere Treppe passieren zu können, mußte die Bäckenmahm’ für alle Zeit ihres Lebens ohnehin verzichten. Mit seufzender Geduld ertrug sie dieses Kerkerlos, lebte sich schön langsam zwischen ihren vier Wänden ein, ließ sich Essen und Trinken schmecken und wurde bei dem behaglich schleichenden Wohlleben, das sie führte, zeitweise nur von der einen Sorge gequält: wie man sie nach ihrem seligen Ende … „Gott verhüt’s noch lang’!“ … einmal aus dem Hause bringen würde.

Der Weg zwischen dem ungetümen Bett in der Schlafkammer und dem weitarmigen Lehnstuhl in der Wohnstube, dazu manchmal ein Gang an das Fenster, das war die einzige Bewegung, die sie machte.

Und eben jetzt, als Schorschl mit seinem nassen Bündel die Straße einherkam, lag die Bäckenmahm’ im offenen Fenster, mit einem Gesichte so rund und groß wie drei Gesichter auf einmal. Langsam den mühsamen Atem vor sich hinblasend, blickte sie einem Mehlsack nach, den die Bäckergesellen an einem unter dem Dachgiebel angebrachten Kran vor ihrem Fenster in die Höhe zogen, um ihn auf dem Speicher einzulagern.

[472] „Grüß Dich Gott, Schorscherl!“ rief die Mahm’ mit ihrer fetten, asthmatischen Stimme, als sie den Neffen gewahrte. „Kommst net ein bißerl ’rauf zu mir?“

„Ja, Mahm’!“ Der freundliche Gruß hatte den Daxen-Schorschl wie eine gute Vorbedeutung angeheimelt. „Und ich bring’ Dir was! Aber ganz was Fein’s!“

„Geh? Bringen thust mir was? Da bin ich aber neugierig! Tummel Dich, Schorscherl, tummel Dich!“

Schorschl eilte mit langen Sprüngen in das Haus, in dem es appetitlich nach frischem Backwerk duftete; aus der offenen Thür der Backstube quoll noch die Hitze des Ofens. Mit drei Sätzen nahm Schorschl die Treppe, und als er mit Herzklopfen ein paar Sekunden vor der Stubenschwelle zögerte, fühlte er unter seinen Füßen die Dielen schwanken: er wußte, was die Ursache war: drin in der Stube ging die Bäckenmahm’ vom Fenster zum Lehnstuhl – da spürte immer das ganze Haus ihr Gewicht.

Das Hütlein ziehend, trat Schorschl ein, eben als die Mahm’ sich in den Sessel niederließ, so schwer, daß sich das ungeheure Möbel ächzend dehnte. Von der Anstrengung des vier Schritte langen Weges war sie so erschöpft, daß sie kein Wörtlein sprechen konnte, während Schorschl in erzwungener Lustigkeit auf dem Tisch sein Bündel aufknüpfte. Endlich fand sie die Sprache wieder. „Ah, ah, ah!“ staunte sie beim Anblick der Fische, fuhr mit der Zunge über die Lippen und faltete wie in andächtigem Gebet die Hände mit den gespreizten Fingern, die so kugeldick waren, daß sie sich nicht mehr aneinanderlegten. „Dreiundzwanz’g Forellen! Und so viel große dabei! Ah, ah, ah! Das giebt aber grad’ ein schön’s Mittagsmahl ab! Vergeltsgott, Schorscherl! Tausendmal Vergeltsgott!“ Zärtlich streichelte sie seine Hand, und dankbar leuchtend blickten die versunkenen Aeuglein aus dem Fettpolster der großen Hängebacken zu ihm auf. „Jetzt kriegst aber gleich ein Schalerl Kaffee!“

„Aber Mahm’! Ein’ Kaffee! Jetzt, um zehne vormittags! Geh weiter!“

„Kaffee is was gut’s! Kaffee kann der Mensch allweil trinken. Und Kaffee magert ab, ja!“

Trotz seines Sträubens mußte Schorschl die Magd rufen, welche die Forellen davontrug, um nach einiger Zeit mit der dampfenden Kaffeekanne und einem großen Guglhupf wieder zu erscheinen.

Schorschl begann allerlei Anekdoten und lustige Geschichten zu erzählen, um die Mahm’ in noch bessere Laune zu bringen. Das Lachen machte ihr freilich schwere Mühe und Atemnot, aber dennoch lachte sie gerne und war in ihrer Einsamkeit für heitere Gesellschaft dankbar. Immer wieder tätschelte sie Schorschls Hand, wenn sie dabei auch mahnen mußte: „Langsam, Schorscherl, langsam … ich komm’ ja mit ’m Lachen nimmer nach!“

Das ging ein Viertelstündlein so fort, aber dann plötzlich fiel dem Daxen-Schorschl keine Anekdote mehr ein; er wurde ganz stille, strich sich mit schwerer Hand das Haar in die Stirn und seufzte tief.

„Schorscherl?“ fragte die Mahm’ erschrocken. „Was hast denn?“

„Sorgen, liebe Mahm’! Arge Sorgen!“

„Geh, Du armer Kerl! Was is Dir denn passiert?“

„Was soll mir denn passiert sein! Nix und alles. D’ Augen sind mir halt endlich auf’gangen über mich und mein lüftig’s Leben! Schau, einmal muß der Mensch doch g’scheit werden und Verstand annehmen! Jetzt weiß ich’s g’wiß, daß ich die ganzen Jahr’ her wirklich ein richtiger …“ er wollte das Wort verschlucken, das ihm auf die Zunge trat, aber es mußte heraus „… ein richtiger Lump g’wesen bin! Und jetzt laßt’s mir kein’ Fried’ nimmer! Schau, Mahm’, völlig treiben thut’s mich zur Arbeit! Und schaffen will ich Tag und Nacht, daß grad’ die Fetzen umeinander fliegen. Auf Ehr’ und Seligkeit, liebe Mahm’, es hat sich alles g’wend’t in mir … und ’s Gute, mein’ ich, is z’ öberst ’kommen! Jetzt bin ich ein anderer!“ Das alles hatte Schorschl so ehrlich herausgesagt, daß auch ein eingefleischter Zweifler ihm hätte glauben müssen.

„Schorscherl! Mein lieb’s Schorscherl!“ Die gute, dicke Mahm’ war tief gerührt – und hätten Thränen die Eigenschaft, bergauf zu fließen, so wären ihr vor Rührung zwei große Tropfen über die Wangen gekugelt, denn das helle Wasser stand ihr in den versunkenen Augengrübchen. „Mein lieb’s Schorscherl! Na! Na! Daß ich so viel Freud’ an Dir noch erleben soll! Du – und ein braver Mensch!“

„Glaubst mir’s, Mahm?“ fragte Schorschl zwischen Hoffen und Bangen.

„Ja, Schorscherl, ich glaub’ Dir’s! Ja! Und wenn ich einmal ’naufkomm’ in Himmel … der liebe Herrgott verhüt’s noch lang’ … aber gleich sag’ ich’s meiner guten Schwester selig: Annamierl, sag’ ich, freu Dich, Annamierl, Dein Schorscherl is ein braver Mensch worden!“ Kichernd wischte sich die Mahm’ das Wasser aus den Augen. „Komm, Schorscherl, jetzt kriegst aber gleich noch ein Schalerl Kaffee! Geh, schenk’ Dir ein … recht voll, bis zum Randl ’nauf!“

Schorschl that ihr den Willen und schluckte den ganzen Inhalt der Tasse auf einmal.

„Aber gar net begreifen thu’ ich Dich! So ein’ guten Vorsatz hast g’faßt! Ja sag’ mir nur, Schorscherl, mein lieb’s, wie kannst denn jetzt da noch traurig sein? Da sollst ja doch lachen vor lauter Freud’!“

„Lachen! Ja! Freilich könnt’ ich lachen! … Wenn ich keine Schulden net hätt’!“

„Schulden! … Ah ja! … Schulden! … So was halt’ ein’ auf im besten Lauf!“ versicherte die Mahm’ bedächtig. „Schulden! Ja, ja! Die verflixten Schulden!“

„No mein, die müßten halt ’zahlt werden, daß ich ein’ sauberen Weg vor mir hab’!“

„Freilich, die müssen ’zahlt werden! Eh’ können d’ Leut’ kein richtig’s Zutrauen net fassen zu Dir! Die müssen ’zahlt werden! Ein gut’s Anzeichen, daß D’ es einsiehst! Aber sag’, Schorscherl … sag’, wie willst denn das machen?“

Schorschl war um die Antwort verlegen; dann platzte er los: „Wenn ich’s wüßt’, wär’ ich net zu Dir ’kommen!“

„So, so, so, so? … Und wie viel thätst denn brauchen?“

Einen Tausender – das wagte Schorschl nicht herauszusagen. Und schnell überflog er in Gedanken: vielleicht wär’ es billiger zu machen: vor allem mußten die Schulden im Dorf bezahlt werden, wenn er die verlorenen Kunden, die seit Jahr und Tag in den benachbarten Dörfern arbeiten ließen, wieder in seine Schmiede zieben wollte: der Schuldschein beim alten Rufel hatte ja noch Zeit bis Neujahr – dritthalb Monate – inzwischen konnte er arbeiten und verdienen; und für sich selbst brauchte er eigentlich auch nichts auf die Hand zu bekommen – er konnte sich von einem Tag auf den anderen weiterfretten; wenn nur der Gesell das Seinige bekam – er selbst konnte hungern, wenn es nicht anders ging! Nur das Nötigste …

„Es is eigentlich gar net so viel … fünfhundert Markln halt!“

„Fünf … hun …“ Die Mahm’ brachte das Wort nicht zu Ende und schlug vor Schreck die Hände zusammen, daß ihr ganzes Gewicht in zitternde Bewegung kam. „Um Gotteswillen, Schorscherl! Wie willst denn so viel Geld auftreiben?“

Du, hätt’ ich halt g’meint, Du sollst mir’s geben?“

„Aber, Schorscherl!“ Bei der Mahm’ war aller Schreck verflogen, alle Rührung erloschen. Ganz ruhig sagte sie: „Na, mein Schorscherl, mein lieb’s! Na, da wird nix draus!“

„Mahm’ …?“

„Na, Schorscherl! Na!“

„Mahm’! … Schau, mir is’ ernst!“ Er war bleich und die Lippen zuckten ihm.

„Mir is auch net lustig z’ Mut!“ Schwer seufzend hob sie sich im Lehnstuhl ein bißchen in die Höhe, um bequemer zu sitzen. „Schau, Schorscherl, vor zwei Jahr’ hab’ ich Dir g’holfen und hab’ Dir gesagt: es is ’s erste und ’s letzte Mal! Und was ich g’sagt hab’, is g’sagt!“

Er nahm ihre Hand. „Geh, Mahm’, sei gut zu mir! Mach’ mir ’s Bravwerden net gar so hart! Hilf mir ein bißl! Oder glaubst mir net, daß ich’s ehrlich mein’?“

„Ja, Schorscherl, glauben thu’ ich Dir!“

„Aber Geld magst keins hergeben?“

„Na! … Und jetzt lassen wir die Sach’ in Ruh’! Sorgen vertrag’ ich net … die machen mich fett! Aber ’s Lachen zehrt! Geh, sei lustig, Schorscherl! Verzähl’ mir noch was! Und magst noch ein Schalerl Kaffee? Dich hab’ ich gern, Dir vergunn’ ich’s, ja!“ Mühsam erhob sie sich, beugte sich wackelnd über den Tisch, füllte die Tasse und legte ein großes Stück Guglhupf daneben.

Schorschl schüttelte den Kopf. Wortlos, mit zitternden Händen [474] legte er das nasse Taschentuch, in dem er die Forellen gebracht hatte, fein säuberlich zusammen, griff nach seinem Hut und ging zur Thüre.

„Ja, Schorscherl, was hast denn?“

„Geh, Mahm’, thu mich net auch noch spotten!“ Jetzt stand zur Abwechslung das helle Wasser in seinen Augen.

„Aber Schorscherl!“

„Du bist mir die letzte Hilf’ g’wesen! Die anderen zwei haben mir eh’ schon ein’ Tritt ’geben! No also, jetzt muß ich halt schauen, daß ich mich selber durchbeiß’! Wie’s geht, weiß ich net! Daß D’ mich so in der Bredull sitzen laßt, hätt’ ich mir doch net ’denkt von Dir. Ich trag’ Dir’s net nach … der liebe Herrgott soll Dir’s gut gehen lassen … aber daß ich zu Dir noch ein Schritt in d’ Stuben setz’? Na, Mahm’! Wir zwei haben ausg’schorscherlt miteinander! B’hüt’ Dich Gott!“

„Aber Schorscherl …“

Er hörte nicht mehr. Wütend putzte er sich draußen im Flur mit der Faust die Thränen ab und stolperte über die Treppe hinunter. Auf der Straße stand er ratlos. Der Kopf brummte ihm, daß er kaum einen Gedanken fassen konnte.

Woher jetzt Geld nehmen? Vor allem mußte der Krämer bei zahlt werden – denn bei dem mußte er wieder Kredit haben, wenn er für den Gesellen in aller Ordnung die Mahlzeiten kochen wollte.

„Halt! der Grundhofer!“ Der ließ ja in der Schmiede auf Jahresrechnung arbeiten – bei dem mußtc er seit Neujahr immerhin schon ein Guthaben von fünfzig oder sechzig Mark stehen haben! Wenn er dem ein freundliches Wort gäbe?

„Der zahlt schon!“

Schorschl bekam bei diesem Gedanken einen ganz heiligen Respekt vor einem Menschen, der prompt bezahlt.

Er rannte, daß er in Schweiß geriet. Aber beim Grundhofer erwartete ihn eine Ueberraschung, die ihn vor Zorn und Verlegenheit sprachlos machte.

„Du bist mir ein Feiner!“ schalt der Bauer. „Vor acht Tag’ hast Dein’ Knecht ums Geld g’schickt … den hab’ ich ’zahlt … und jetzt kommst selber und forderst mich ein zweit’s Mal an! Ah! Das wär’ mir aber die richtige Mod’!“

Schorschl stotterte eine Ausrede, die dümmste, die ihm einfiel; denn ohne den Gesellen gehört zu haben, wollte er ihn doch nicht der Unterschlagung beschuldigen.

Daheim aber in der Werkstätte brauchte er nur zu sagen: „Steffel, ich komm’ vom Grundhofer!“ … und er wußte ganz genau, wie sich die Sache verhielt.

Das Gesicht des Gesellen redete deutlich.

„Ja um Gotteswillen, Steffel, was hast denn mit dem vielen Geld ang’fangt?“ jammerte Schorschl, als wäre das Geld bei ihm zeitlebens eine heilig ernste Sache gewesen.

Steffel versuchte der bösen Geschichte eine heitere Wendung zu geben, lachte und zuckte die Achseln, „schön langsam ’braucht hab’ ich’s halt. Du hast es gut … aber mir pumpen s’ ja nix!“

Da verging dem Daxen-Schorschl doch die Geduld: er wurde dunkelrot im Gesicht und schrie: „Jetzt packst Dich aber! Ein’ Lumpen hab’ ich dulden müssen neben meiner, denn ich bin selber einer g’wesen. Für ein’ Spitzbuben is mir mein Haus aber doch ein bißl z’gut!“

„Oho!“ Steffel faßte den Schmiedhammer; aber da kam er übel an.

„Glaubst vielleicht, ich fürcht’ Dich, Du Laubfrosch, Du?“

Mit der Faust schlug Schorschl dem Gesellen den Hammer aus der Hand, dann packte er Steffel an der Brust und schüttelte ihn, daß dem Gesellen die Zähne klapperten. „So! Und jetzt fahr’ ab! Und bist in einer Stund’ mit Deinem Ranzen net draußen zum Haus, so mach’ ich Dir Füß’!“

Ohne noch ein Wort zu erwidern, drückte sich Steffel zur Werkstätte hinaus.

Als Schorschl allein war und sein Zorn verrauchte, überkam ihn eine Niedergeschlagenheit, daß er am liebsten geweint hätte.

Er setzte sich auf den Holzblock des Amboß und drückte das Gesicht in die Hände. Ein Schritt weckte ihn.

Es war der Bauer, dessen Leiterwagen in der Werkstätte auf das Beschläg wartete.

„Wann krieg’ ich denn mein’ Wagen?“

Schorschl erhob sich, um nachzusehen, wie weit der Gesell die Arbeit schon gebracht hätte. „Komm halt am Abend wieder … ich mein’, daß ich ihn fertig bring’.“

„No, da bin ich neugierig! Da mußt Deinem G’sellen aber fleißig helfen!“

„So? Meinst?“

„Ja!“

Der Bauer ging, sah über die Schulter zurück und schüttelte den Kopf.

Man läutete die Elfuhrglocke, als Schorschl die Arbeit begann. In seinem Eifer übersah er den Gesellen, der mit seinem Ranzen zum Haus hinaus und über den Hof spazierte.

Steffel verließ seinen Dienst, ohne dem Meister noch einen letzten Gruß zu sagen. Drüben im Wirtshaus trank er sein „Abschiedsmaßerl“ und erzählte, daß ihm die „Lumpenwirtschaft“ in der Daxenschmiede endlich zu dick geworden und daß er dem Schorschl aufgesagt hätte, um bei einem „repadierlichen“ Meister Arbeit zu suchen.

„Ui jegerl,“ meinte der Wirt mit halbem Erbarmen, „jetzt hat er kein’ G’sellen nimmer, der d’ Arbeit für ihn macht! Da schwimmt er aber bald, der Schorschl!“

Das hörte der alte Rufel, der hinter dem Ofen im dämmrigen Winkel saß und den Gebetriemen um die Hand legte. Er seufzte und wiegte den grauen Kopf zwischen den Schultern.

Dazu tönte es immer von der nahen Schmiede herüber: kling, kling, kling, kling …

Und wenn die Hammerschläge für kurze Weile aussetzten, wirbelte dicker Rauch aus dem Schornstein der Esse.

Zur Mittagszeit schwieg aller Lärm im Dorf und auf der Straße rasselte kein Wagen mehr: nur in der Schmiede wollten die Hammerschläge nicht ruhen: kling, kling, kling, kling …

Als gegen sechs Uhr abends der Bauer um seinen Wagen kam, war die Arbeit schon seit einer Stunde fertig und Schorschl schmiedete ein paar Hufeisen in Vorrat.

„Was is denn mein’ Schuldigkeit?“ fragte der Bauer.

Schorschl stieß die Zange mit dem Eisen in die Glut und zog den Blasbalg. „Z’erst schau Dir d’ Arbeit an, ob z’frieden bist.“

Bedächtig schritt der Bauer rings um den Wagen, untersuchte die Eisenreife der Räder und prüfte das Beschläge der Deichsel. „Sauber is alles g’macht! Respekt! Wenn er mag, Dein G’sell, so versteht er sein Sach!“

„Mein G’sellen hab’ ich davong’jagt heut’ in der Fruh.“

„Was?“ Der Bauer riß Mund und Augen aus. „Und Du allein? … Ja Schorschl! Is denn der heilig’ Geist niederg’flogen über Dich? … No also, was bin ich denn schuldig?“ Er zog sein ledernes Beutelchen hervor.

„Die ganze Zeit her hast drüben im andern Dorf arbeiten lassen … oder net?“

„Ja! Und das hat seine guten Gründ’ g’habt.“

„Freilich! Wenn’s Dir net pressiert hätt’ mit dem Wagen, wärst eh net zu mir ’kommen, gelt?“

„Na!“

„Was hast denn drüben allweil zahlt für ’s Eisen und die ganze Arbeit?“

„Vierundzwanz’g Mark für ein’ Wagen.“

„So zahl’ mir halt zwanzig. Wenn ich d’ Leut’ wieder ’reinzügeln will zu mir, muß ich besser arbeiten wie die andern, und billiger.“

Schmunzelnd suchte der Bauer aus seinem Beutelchen zwei Zehnmarkstücke hervor und legte sie auf den rußigen Werktisch.

„Ich hätt’ schon noch ein bißl Arbeit für Dich!“

„Geh, sei so gut und bring mir’s.“

„Ja, morgen! … Hilfst mir den Wagen ’nausschieben?“

„Natürlich!“

Der Bauer faßte die Deichsel und Schorschl ein Rad. Mit Rasseln und Holpern rollte der Wagen über die Thürschwelle in den Hof hinaus. Draußen hatte der Bauer ein leichtes Ziehen, denn die Straße ging bergab.

Als Schorschl in die Werkstätte zurückkam, wog er die beiden Goldstücke ehrfürchtig auf der Hand und seufzte. „Die müssen fort! Und gleich! Sonst reißt’s mich heut am Abend ins Wirtshaus ’nüber! Ich kenn’ mich!“

Die Faust mit dem Geld in die Hosentasche grabend, lief er zum Krämer hinüber. Es war etwas wie verschämter Stolz in seinem Blick, als er die zwei Goldstücke mit festem Daumendruck auf die Ladenpudel legte und zur Krämerin sagte: „Da! Mehr hab’ ich net! Mit dem andern mußt halt noch ein bißl zuschauen.“

[475] Die Frau wurde vor Überraschung völlig rot im Gesicht. „No, no, no, so gar pressieren thut’s doch net!“ meinte sie beschwichtigend. „Bist mir ja gut! … Sonst nix g’fällig?“

Schorschl zögerte mit der Antwort. „Mehl und Schmalz zum Kochen thät ich freilich brauchen! … Schreibst mir denn noch was auf?“

„Aber ja! Wer zahlt, hat Kredit, weißt! … Und sonst brauchst nix? Kein’ Tabak?“

„Na!“ Das Wort hatte dem Daxen-Schorschl Ueberwindung gekostet. Aber an einem Pfeiflein hing ihm das Herz. Deshalb fügte er etwas kleinlaut bei: „No, meinetwegen! Kannst mir ein Packerl geben! Aber bloß ein einzig’s!“

„Vom guten?“

„Na, vom andern! Der thut’s schon für mich!“

Als Schorschl mit der großen Papierdüte, in die ihm die Krämerin alles eingepackt hatte, über die Straße schritt, bekam er einen gelinden Anfall von Reue. „Wenn ich ihr bloß d’Hälfte ’zahlt hätt’,“ sagte er sich, „eigentlich wär’s fürs erste Mal auch g’nug g’wesen. Und ich hätt’ doch ein bißl was auf der Hand g’habt.“ Aber dann lachte er und schüttelte den Kopf. „Ah was! Gott sei Dank … ’zahlt is ’zahlt!“

In seiner Werkstätte legte er den Pack in eine Fensternische. Es begann wohl schon zu dämmern – aber eine halbe Stunde konnte er immer noch arbeiten – er hatte in den Fäusten ein so merkwürdiges Zucken, das ihm keine Ruhe ließ.

„D’Arbeit muß schier eine Krankheit sein,“ meinte er, „wenn die einmal ein’ anpackt, laßt s’ ein’ nimmer aus!“

Während er bei der Esse stand und den Blasbalg trat, um die eingesunkene Glut wieder zu beleben, verfinsterte sich das Thor, und eine Mädchenstimme klang: „Recht guten Abend!“

Schorschl fuhr auf, als hätte er sich den Ellbogen angestoßen und das Mäuschen geweckt.

Aber auch Vroni, die auf der Schwelle stand, einen Spaten über der linken Schulter und das Beil in der rechten Hand, schien ihren Augen nicht zu trauen und glühte über das ganze Gesicht – oder war das nur der Wiederschein der Essenglut? Denn sie sagte in aller Ruhe: „Ah, da schau! … Du? … Hab’ g’meint, Dein G’sell is bei der Arbeit. An Dich hätt’ ich gar net ’denkt!“

„Sonst wärst am End’ gar net ’rein? Was?“ Schorschls Fuß, der den Blasbalg trat, kam in immer rascheres Tempo.

Vroni schwieg und blickte in den Hof hinaus, als besänne sie sich, ob sie nicht wieder umkehren sollte.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 29, S. 485–488

[485] Schorschl hantierte eifrig am Schmiedfeuer, indes Vroni immer noch unschlüssig an der Thür stand.

Nach einer Weile fragte Schorschl: „Was bringst denn?“

Sie wies den Spaten. „Unser Grabscheit is verbogen und hat die richtig Härten nimmer. Und am Beil hab’ ich mir die halbe Schneid ausg’splittert. Kannst mir’s heut’ noch machen?“

„Ja!“ Er verließ die Esse.

„Ich hab’ noch ein’ Weg,“ sagte sie rasch und trat unter das Thor zurück, „zum Krämer, ja, und komm’ wieder vorbei.“

„Magst net lieber warten?“ fragte Schorschl hastig.

„Na!“

Er lachte ganz merkwürdig. „Fürchst Dich vor mir?“

Da sah sie ihn groß an. „Ich? Warum denn?“ Mit dem Fuß stülpte sie einen Wasserzuber um und setzte sich. „Wenn D’ meinst, kann ich auch warten.“

„Ja, es is besser! Weißt, ich könnt’ davonlaufen und zusperren!“ Seine Stimme bekam einen Ton, als hätte er etwas Bitteres geschluckt. „So ein Lump, wie ich einer bin, halt’s ja net lang bei der Arbeit aus.“

[486] „Ja, ich glaub’s!“

„Gelt?“ Er trat mit dem Beil zum Fenster und besah den Schaden. „Da mußt aber grob zug’haut haben?“

„Is schon möglich, ja! Es braucht’s halt!“

„Freilich!“ Seine Stimme klang wieder freundlich. „Geh, sag mir, wie steht’s denn bei Dir droben?“

Vroni atmete tiefer. „Allweil im Gleichen. Es hat sich nix g’ändert über Nacht!“

Da guckte er langsam über die Schulter. „No, wer weiß, vielleicht doch ein bißl was.“ Er löste vom Beil den Stiel ab, nahm das Eisen zwischen die Backen einer großen Zange, wühlte sie unter die Glut hinein und versetzte dem Blasbalg einen so ausgiebigen Tritt, daß eine ganze Sprühgarbe von Funken in den Kamin hinaufloderte.

Vroni saß mit gefurchten Brauen, und schlecht verhehlter Aerger redete aus ihren Augen; sie mußte aus Schorschls letzten Worten etwas herausgehört haben, das sie um ihre besonnene Ruhe brachte. Und es spielte und zuckte um ihre vollen Lippen, als müßte sich dieser Aerger entladen. Ihre Augen schossen einen spöttischen Blick zur Esse hinüber, und unter leisem Lachen fragte sie: „Bist gut heim ’kommen?“

Schorschl schob eine kleinere Zange mit einem fingerlangen Stahlstäbchen in die Glut. „Heim ’kommen? Wann denn?“

„No, heut’ nacht, mein’ ich.“

„Ah so, heut’ nacht! … Ja ja, ganz gut! Siehst es ja … ein’ Haxen hab’ ich mir net ’brochen.“

„Da kannst von Glück sagen! So ein Weg in der Nacht is gar hail.“

„Fest hintreten muß man halt, nachher rutscht man net aus.“

„So? Meinst?“

„Ja!“

Mit raschem Schwung hob Schorschl die beiden Zangen aus der Esse und faßte den schweren Hammer, um die neue Stahlschneide an das ausgesplitterte Beil zu schweißen. Wie ein zerdrücktes rotes Herz lag das glühende Eisenstück zwischen dem Griff der Zange. Der Amboß tönte wie eine Glocke, und sternhell flogen, wie von einem wagerecht kreisenden Feuerrad, bei jedem Hammerschlag die Funken rings umher in dem großen dämmrigen Raum; sie leuchteten nur und brannten nicht; sie flogen dem Schmied ins Gesicht, in die Haare, an die nackten Arme und an die offene Brust – und sprühten hinüber bis in den Schoß des Mädchens; Vroni rückte immer weiter zurück, aber die Funken flogen ihr nach. Das gewahrte Schorschl, und immer emsiger drosch er mit dem Hammer, so daß an seinem kräftigen Arm alle Muskeln spielten.

Die Glut des geschweißten Eisens drohte zu erlöschen und Schorschl schwang die Zange wieder in die Esse hinüber. Während er den Blasbalg trat, umsäumte der Feuerschein seine ganze Gestalt, sein Haar und sein Gesicht mit roten Linien. Draußen, vor dem Bogen des Thores, dunkelte es immer mehr, und am fahlen Himmel zitterte schon mit blassem Schein der Abendstern.

Ob Schorschl die brennende Röte auf Vronis Wangen und den Glanz ihrer staunenden Augen richtig deutete? Oder ob es ihm die eigene Arbeitsfreude auf die Lippen legte? – Er sagte: „Gelt, in der Schmieden is’ schön!“

„Ja, da g’fallt’s mir.“

„Möchtest net hausen herin?“ Das fragte Schorschl lachend, in jener gleichmütigen Art, in der man vom Wetter zu reden pflegt.

Und im gleichen Tone antwortete Vroni. „Warum denn net? Der Schmied müßt’ halt ein anderer sein!“

„No, wer weiß, vielleicht wird noch einmal ein anderer aus mir.“

„Wer ’s glaubt?“

„Du vielleicht net?“

„Na! Und so hab’ ich’s auch net g’meint.“

„Ah so? Ein ganz andern meinst?“ Schorschl hob die Zange auf den Amboß. „Ja freilich … ich weiß … viel halten thust net von mir!“ sagte er, immer ein Paar Worte nach jedem Hammerschlag einschiebend. „Kannst auch recht haben … daß die beste Schneid an mir … schon Fransen kriegt hat … grad so wie Dein Beil! … Aber … der richtige Schmied, mein’ ich … könnt’ den Schaden … vielleicht doch wieder ausgleichen.“ Mit der Zange hielt er dem Mädchen das rotglühende Eisen hin. „Schau her! Da hat’s wieder die schönste Schneid, Dein Beil! Bloß härten muß ich’s noch!“ Er schob die Zange wieder in die Glut und zog den Blasbalg. „Ja, Vroni, wie ich sag’ … über mich müßt’ halt die richtige Schmiedin kommen.“

„So such’ Dir s’ halt!“

„Meinst?“ Er lachte. „No also … fang’ ich halt mit’m Suchen gleich bei Dir an. Thätst es net riskieren mit mir?“

„Na! Ich dank’ schön!“

„Geh, probier’s!“

„Aufs Probieren laß ich mich net gern ein. Ich geh’ lieber sicher.“

„So heirat’ mich halt … das wär’ doch ’s Allersicherste. Und von Dir ließ’ ich mir was sagen!“

„Vergelt’s Gott! Da weiß ich mir was Besser’s!“

„Du bist aber heikel!“

„Für g’wöhnlich net! Aber beim Heiraten schon!“

„Ja, hast recht! Ein’ neuen Hut, wenn er ein’ druckt, den kann man fürs halbe Geld der Nachbarin aufhängen. Aber ein Mann, der bleibt ei’m! Das muß von Anfang gleich der Richtig’ sein! Is ’s wahr oder net?“

„Ja! Hätt’ gar net glaubt, daß D’ so g’scheit bist!“

„Freilich, mancher schaut dümmer aus, als er is!“

Da lachten sie alle beide, laut und lustig, als wäre ihnen der harmlose Spaß dieser hin und her fliegenden Wörtchen so recht nach Wunsch geraten. Dann aber schwiegen sie; und während Vroni, die von der strahlenden Wärme des Essenfeuers belästigt schien, langsam mit der Hand über Stirn und Wangen fuhr, haschte Schorschl mit der Zunge den Schnurrbart zwischen die Zähne und trat mit immer ungestümerem Fuß auf die Stange des Blasbalgs. Plötzlich riß er mit zornigem Ruck die Zange aus der Glut und brummte: „Herrgott, jetzt hätt’ ich den Stahl bald überhitzt!“

Vroni schien nicht zu hören; sie saß vorgebeugt, hatte die Ellbogen auf die Kniee gelegt, und während sich ein herber Zug um ihre Lippen senkte, blickte sie finster zum erlöschenden Glanz des Himmels und zu dem zitternden Gefunkel des immer heller brennenden Sternes auf.

Schorschl stand vor dem Amboß, und da in der Werkstätte schon tiefes Dunkel herrschte, mußte er Vroni den Rücken kehren, um die Helle des Essenfeuers für die Arbeit nützen zu können. Tiefgrau zeichnete sich seine hohe, breitschultrige Gestalt in den roten Schein. Unter achtsamen Schlägen gab er der Schneide des Beils mit einem kleinen Hammer die glatte Form. Dann tauchte er den glühenden Stahl in den mit schwarzem Wasser gefüllten Löschbottich, rasch und kurz, so daß es kaum zischte und nur ein kleines, rot beleuchtetes Dampfwölkchen aufstieg. Und als der nur äußerlich abgekühlte Stahl von innen heraus wieder matt zu glühen begann, versenkte Schorschl die Schneide langsam in das Oelbad. Er schien das Bedürfnis zu fühlen, dem Mädchen diese Hantierung zu erklären.

„Wenn einer z’ grob mit ’m kalten Wasser kommt, das kann den besten Stahl verderben,“ sagte er, und seine Stimme klang völlig anders als früher, „aber je linder einer ’s Oel braucht, so feiner und besser wird d’ Schneid’!“

Vroni schwieg, blickte nur ein wenig auf und sah wieder zum Thor hinaus. Der Spaten machte nur geringe Arbeit: eine kurze Glut und ein paar Streiche mit dem Hammer. Schorschl erledigte das, ohne ein Wort zu sagen.

Diese Stille schien Vroni unbehaglich zu berühren; plötzlich fragte sie: „Daß aber Du heut’ arbeit’st? … Wo is denn Dein G’sell?“

„Den hab’ ich davong’jagt in der Fruh.“

„Was?! … Ja warum denn?“

„Weil er ein Lump is!“

Vroni wollte lachen; aber bei dem funkelnden Blick, der sie aus Schorschls Augen traf, blieb ihr das Lachen in der Kehle stecken. Nach einer Weile fragte sie mit gereiztem Ton: „Daß einer ein Lump is …. seit wann g’fallt Dir denn so was nimmer?“

Er zuckte die Achseln. „No, gar lang’ is ’s noch net her! Gestern, mein’ ich, wär’s noch anders g’wesen.“ Ruhig lehnte er den Spaten an den Thorpfosten. „Soll ich Dir ’s Beil schleifen?“

Jähe Röte war über Vronis Wangen geflogen; nun schüttelte sie den Kopf und griff in die Tasche; sie mußte sich räuspern, ehe sie fragen konnte: „Was … was bin ich denn schuldig?“

„Nix! Is gern g’schehen!“

Da fuhr sie auf, so grob, als hätte er ihr ein böses Wort gesagt. „Schenken laß ich mir nix … Du!“

[487] „Und ich verlang’ nix! Arbeit nach Feierabend mach’ ich bloß zur Rekrazion. Das is kein G’schäft nimmer!“

„Und ich will nix g’schenkt haben und mach’ keine Schulden. Und wenn mir net sagst, was verdient hast, muß ich halt selber schätzen! Vier Mark kriegt einer, der ordentlich arbeit’ den ganzen Tag … macht vierzig Pfennig’ auf d’ Stund’ … und die halbe Stund’ da jetzt … so bin ich Dir zwanz’g Pfennig’ schuldig.“

Daß sie so genau rechnete, das ärgerte ihn. „Billig machst es! … Da könnt’ ein Schmied auskommen! Bei Deiner Rechnerei! … Und der Stahl, meinst, der kost’ gleich gar nix?“

„Mehr als zwei Fünferln wird das Bröckl doch wohl net wert sein! Da hast’ Deine dreißig Pfennig’!“

Er streckte die Hand, aber Vroni legte das Geld auf den Amboß, packte das Beil und den Spaten und schritt ohne Gruß zum Thor hinaus.

„So? So?“ schrie Schorschl mit einer Stimme, die ihm kaum aus der Kehle wollte. „Da kauf ich mir jetzt grad’ eine Maß Bier dafür! Grad’ mit Fleiß!“ Mit zornigem Griff nahm er das Geld und schob es in die Tasche. „Dürsten thut mich eh’, daß mir einwendig alles wie lauter Feuer is!“ Wütend faßte er den Wasserzuber, füllte ihn aus dem Bottich und löschte mit einem Guß die Glut in der Esse. Dann wusch er Gesicht und Hände und trocknete sie mit der Kehrseite des mürben Schurzfells. Darüber schien er seines durstigen Vorsatzes vergessen zu haben; denn aus einem Wandschrank nahm er seine Trompete hervor und ging hinters Haus in den Garten. Hier setzte er sich auf die Thürschwelle und spähte erwartungsvoll nach dem Sträßchen, das zum Gehäng des laufenden Berges führte. Plötzlich hob er die Trompete an den Mund; aber sei es, daß ihm von der Kühle des Abends die Finger steif geworden, oder sei es, daß er die richtige „Amboschur“ nicht hatte – er mußte ein paarmal ansetzen, bevor er einen klaren, schönen Ton zuwege brachte. Und da blies er nun mit schmachtenden Klängen:

„Du, Du liegst mir im Herzen,
Du, Du liegst mir im Sinn,
Du, Du machst mir viel Schmerzen,
Weißt nicht, wie gut ich Dir bin!
Jaaa, jaaa …“

Ohne das Lied bis ans Ende zu blasen, setzte Schorschl die Trompete ab und ließ sie zwischen den Knieen baumeln.

„Mir scheint ja gar, ich bin in das Madl verliebt!“

Er hatte wohl in seinem ganzen Leben noch kein so dummes Gesicht gemacht wie jetzt, da diese Erkenntnis in ihm auftauchte.

„Sakra! Da bin ich aber schön ang’rumpelt!“

Langsam erhob er sich, kraute sich hinter den Ohren und seufzte tief.

„Na! Na! Da schaut nix Gut’s net raus!“ Es befiel ihn die Versuchung, über sich selbst zu lachen. „Schorscherl, Schorscherl,“ sagte er mit der Stimme der Bäckenmahm’ – und dann wieder mit seiner eigenen: „Du bist ein narrisches Luder!“ Wie er das „narrisch“ betonte, das hätte für die Thorheit eines ganzen Faschings ausgereicht.

Aber dann verging ihm das Lachen, und er seufzte wieder. Mit kurzen Schritten trat er ins Haus, kochte das Nachtmahl, und auf dem Herd sitzend, löffelte er den Schmarren aus der Pfanne. Nachdem er draußen im Hof an der Brunnenröhre getrunken hatte, schloß er das Werkstattthor und die Hausthüre, zündete sein Pfeiflein an und setzte sich in der dunklen Stube auf die Ofenbank.

Bei jedem Paffer Pfeifenrauch, den er vor sich hinblies, krabbelte ihm eine Sorge über den Rücken herauf. Doch einem, der sich am Tage müde gearbeitet, erscheinen alle Sorgen um so leichter, je schwerer ihm die Glieder werden.

Als die Glut in der Pfeife erloschen war, erhob sich Schorschl, um sich nach seinem Lager zu tappen. Und kaum hatte er sich ausgestreckt, da fiel ihm schon der Schlaf über die Augen. Im Dusel tauchte ein Bild in ihm auf – war es Erinnerung? oder war es schon Traum?

Er sah die Schlafkammer der beiden Simmerauer-Leute, genau so wie in der letzten Nacht, sah das Licht erlöschen und hörte die zwei Alten miteinander schwatzen. Aber merkwürdig! Mutter Katherl sagte: „Gut’ Nacht halt, lieber Schorschl!“ Und der alte Michel erwiderte: „Gut’ Nacht, mein Vronerl, mein gut’s! Jetzt schlaf’ halt ein und thu Dich net sorgen!“


6.

Weißer Reif schimmerte auf allen Wiesen des Berghanges, und im Hof des Simmerauer waren die Pfützen von dünnen Eiskrusten überzogen, als Michel früh am Tag aus der Hausthür trat, mit übernächtigen, müden Zügen.

Beim Anblick der kleinen, blinkenden Eisscheiben, die wie gläserne Augen aus allen Grübchen des erstarrten Schlammes hervorlugten, atmete er erleichtert auf. „Mathes!“ rief er und klopfte an das Stubenfenster. „Geh, komm und schau!“

Hastig und erschrocken kam Mathes aus dem Flur gerannt. „Is was passiert?“

„Na! G’froren hat’s in der Nacht! Da schau!“

Mathes bückte sich, drückte mit dem Finger eine der Eisscheiben ein und prüfte die Härte des Bodens. „Arg tief geht’s net. Bloß obenhin hat’s ein bißl an’zogen.“ Er sah, wie es über das Gesicht des Vaters zuckte, und fügte mit raschen Worten bei: „Aber fester is der Boden doch wie gestern, und ’s Eis ein bißl dicker. Ja, ja, Vater, es wird kälter mit jeder Nacht. Ich mein’ doch, daß der richtige Frost bald einfallen sollt.“

„Meinst?“

„Ja, Vater!“

„Kannst schon recht haben, Bub’! Ich mein’ selber, daß der Frost nimmer lang warten laßt.“ Nickend hob Michel die Augen zum Himmel. „Er hat mein Sprüchl halt doch verstanden!“ Aber bei aller Hoffnung befiel ihn schon wieder eine neue Sorge. „Sag’, Mathes … wenn aber jetzt mit Gott’s Willen der Boden g’friert … und ’s unt’rische Wasser möcht’ in d’ Höh’ … so kann’s ja nimmer durch, wenn der Boden steinhart is? Und hast es doch g’hört, daß die Kammissoni g’sagt hat: ’s unt’rische Wasser müßt’ wieder steigen, wenn alles gut sein sollt’?“

„Da thu Dich net sorgen, Vater! G’friert der Boden bis ’nunter, so g’friert ’s Wasser mit … und von die Wänd’ ’runter lauft kein neu’s Wasser nimmer zu!“

„Ja, das is auch wieder gut!“

„G’friert’s aber net bis ’nunter, so druckt sich ’s Wasser, wenn’s steigen will, deswegen doch wieder durch.“

„Glaubst?“

„Ja, Vater, das glaub’ ich fest! Weißt, so ein Wasser hat gar ein’ sakrischen G’walt.“

„Freilich, freilich! Tragt ja ein’ ganzen Berg davon … da wird’s doch im Notfall auch so ein Bröckl Boden in d’ Höh’ schieben können?“

„Aber g’wiß!“

„Der liebe Gott soll’s geben!“ Schwer atmend strich der Simmerauer mit den Händen übers Haar. Er wollte noch etwas sagen, aber da wurden im Flur die Stimmchen der beiden Kinder laut, und Vroni kam aus der Thür, mit dem Beil in der Hand.

Ihr Gesicht hatte nicht die frischen Farben wie sonst, und ein Schatten lag um ihre Augen. Aber sie nickte dem Vater lächelnd zu und deutete mit dem Beil auf die gefrorenen Pfützen.

„Gut, Vaterl, gut schaut’s aus!“ Sie ging zum Hackstock, um ihre Arbeit zu beginnen.

Der Simmerauer sah seine Tochter mit prüfenden Blicken an – etwas an ihr schien ihm nicht zu gefallen. Doch ihn drückte noch etwas anderes, und das schien ihm wichtiger. „Komm,“ sagte er halblaut zu Mathes, „speggalieren wir ein bißl umeinander, ob sich nix g’rührt hat in der Nacht.“ Er ging seinem Buben voran in den Garten. Als er an der Hausecke vorüberkam, strich er zärtlich mit der Hand über die Mauer und seufzte.

Mathes mochte gemerkt haben, daß ihm der Vater etwas sagen wollte; denn forschend blickte er dem Alten ins Gesicht.

Mit langsamen Augen spähte Michel an den Wänden hinauf, dann über den Boden hin. Alles war unverändert. Nirgends in der Erde ein Riß oder eine Senkung. Der Balkenrost, den sie mit angestrengter Arbeit am vergangenen Abend vollendet hatten, schien seine Schuldigkeit zu thun und den ganzen Grund um das Haus her fest zusammen zu halten. – Jetzt mußte der Verhau an der Böschung noch verstärkt und dichter verflochten werden. Am verwichenen Abend, während Vroni das Beil und den Spaten in die Schmiede getragen hatte, waren Michel und Mathes in den Wald gegangen, um die für das Flechtwerk nötigen Aeste von den Bäumen zu schlagen; der ganze Haufen, den sie heimgebracht, lag im Hof und Vroni putzte mit dem Beil die kleinen Zweige von den Ruten.

„Vater?“ fragte Mathes, als sie in den Garten kamen.

[488] Michel sah über die Schulter, als hätte er Sorge, daß Mutter Katherl oder Vroni ihnen nachgegangen wäre. Dann sagte er leise: „Ja, Mathes, was ich fragen will … hast nix g’hört in der Nacht?“

„Heut’ net! Na! Ich bin steinmüd’ g’wesen und hab g’schlafen! … Warum?“

„Heut’ nacht hat ’s mir gar net g’fallen. Und kein Stündl net hab’ ich g’schlafen, vor lauter Angst. Wenn halt doch was passieren thät! … Ich glaub’s net! na! … Aber es müßt’ halt doch gleich einer da sein, der d’ Mutter weckt und die Kinderln packt! Und ich sag’ Dir’s, Mathes … die ganze Nacht hab’ ich’s g’hört … allweil hat’s bröckelt in der Mauer drin … ganz unt’ drin, mein’ ich, im Fundament muß’s g’wesen sein! Ein bißl hat’s allweil ausg’setzt, aber gleich hat’s nachher wieder ang’fangt. Und erst wie’s Tag worden is, hat’s aufg’hört!“

„Aber geh, Vaterl,“ sagte Mathes ruhig, „da hast Dich anführen lassen in Deiner Angst! Was soll’s denn g’wesen sein? D’ Mauer is fest! Da kannst Dich verlassen drauf! Ich denk’ mir halt, daß d’ Mäus unter die Bretter drin ’krabbelt haben.“

„D’ Mäus? … So? Meinst?“ Im Gesicht des Alten kämpfte Sorge mit dem Wunsch, zu glauben. „D’ Mäus? Ja ja! Das hätt’ ich mir selber schon gern eing’redt, aber …“

„So schau, es hat ja doch aufg’hört, wie’s Tag ’worden is … da hast ja gleich ein’ Beweis! Geh, sorg’ Dich net! Es is schon so! D’ Mäus sind’s g’wesen!“

„Ja ja! Möglich könnt’s schon sein! D’ Mäus? Ja! Und eigentlich wär’ das gar kein so schlecht’s Anzeichen net! Man sagt doch allweil: eh’ ein Haus fallt, ziehen die Mäus aus. Ja Mathes! Wenn’s d’ Mäus g’wesen wären … ja, das wär’ ein Glück! Ja! Wenn d’ Mäus noch allweil ihre Sicherheit haben, da mein’ ich, könnt’s doch gar so schlecht net steh’n um unser Häusl?“

„Gott bewahr’! Gut steht’s, Vater! Gut!“

„Ja, ich glaub’s! Komm, Mathes, fangen wir ’s Arbeiten wieder an!“

Während sie in den Hof zurückkehrten, spähte Mathes, der hinter dem Vater ging, mit sorgenvollem Blick über das Fundament der Mauer.

Vroni stand mitten in einem Gewirre abgehackter Zweige und hatte schon einen ganzen Stoß geputzter Ruten neben sich aufgeschichtet.

„Brav, Vronerl, brav!“ sagte Michel. Er wollte zur Scheune; aber da blieb er stehen und sah dem Mädchen ins Gesicht. „Geh, sag’, was is denn mit Dir?“

„Warum, Vater?“

„So viel blasseln thust’ mir heut’! Hast net schlafen können in der Nacht?“

„Aber ja!“ Leichte Röte huschte über Vronis Wangen. „Fest hab’ ich g’schlafen!“

„Oder gelt, wird Dir d’ Arbeit schon ein bißl z’viel?“

„Mir? Na, Vaterl! So bald noch net!“ Rascher und wuchtiger schwang sie das Beil, wie um dem Vater zu beweisen, daß ihre Arme keine Spur von Müdigkeit empfänden.

Mathes, der dieses Gespräch gehört hatte, wandte sich ab und lächelte.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 30, S. 501–507

[501] Während sich der alte Simmerauer und sein Sohn wieder der Arbeit zuwandten, erschien Mutter Katherl unter der Hausthür, und an ihr vorüber stürmten die beiden Kinder ins Freie; trotz der ärmlichen Kleidung, die sie trugen, sahen sie reinlich aus, so gründlich gewaschen! Dem Buben waren die feuchten Haare mit der Bürste glatt an den Kopf gestrichen, und dem Dirnlein stand ein kurzes, fingerdickes Zöpfchen steif vom Nacken weg. In den Händchen hielten sie große Butterbrote, welche rings um den ganzen Laib geschnitten, aber zur Hälfte schon in den kleinen Mäulchen verschwunden waren. Während das Bürschlein sich jubelnd auf die Erde kauerte, um eine der weißen Eisscheiben loszubrechen und als „Zuckerl“ auf das Butterbrot zu legen – ein Vorhaben, welches Mutter Katherl durch einen Jammerschrei noch rechtzeitig verhinderte – hängte sich das Dirnlein an die blaue Leinwandhose des Großvaters.

„Ahnlvater! Heut’ nacht hat mir was ’träumt!“ sagte das Kind. „Ganz was Schön’s!“

„Geh!“ Michel beugte sich nieder und wischte dem Dirnlein mit seiner zitternden Hand die Brotkrumen von den Wangen. „Ja was denn, Zenzerl? Geh, verzähl’ mir’s!“

„Feiertag is g’wesen, und eine schöne Musi haben wir g’hört…“

„Ja was D’ sagst! Und wo is denn die Musi g’wesen? Drunt’ im Wirtshaus, gelt?“

Zenzerl schüttelte das blonde Köpfchen und konnte nicht gleich sprechen, denn sie hatte von ihrem Butterbrot ein großes Stück abgebissen, und das mußte sie erst kauen. „Na!“ sagte sie und [502] schluckte. „G’sehen hab’ ich’s net, die Musi! Aber g’hört hab’ ich s’! Und allweil hab’ ich in d’ Höh ’naufschauen müssen … ja … weil s’ in die Lüft’ droben g’wesen is, die Musi.“

„Aber so was! In die Lüft’ droben?“ staunte Michel. „Du, Zenzerl, paß auf … allweil mein’ ich, da hast die lieben Engerln singen hören!“ Das Dirnlein machte ein ernstes Gesichtchen und besann sich. „Na! G’sungen haben s’ net! Trumpeten haben s’ blasen! … Können denn die lieben Engerln Trumpeten blasen, sag’?“

Beim Hackstock verstummten die Beilschläge, und Vroni blickte über die Schulter nach dem Kinde.

„Aber g’wiß!“ beteuerte der Simmerauer. „Alle Instramenter können s’ blasen! Und Harpfen zupfen, ja, und Zithern schlagen! Aber geh, verzähl’, wie is’ denn nachher weiter g’wesen?“

„So viel schön is’ g’wesen, Ahnlvater! Soooo viel schön! Und zur Kirchen hat man g’läut’, und der Pepperl hat sein neu’s Höserl anziehen dürfen und ich mein rot’s Röckerl, mein rot’s! Und auf Mittag hat’s Dampfnudeln ’geben, hat mir ’träumt, ja! … Gelt, Ahnlvater, so ein schöner Traum muß eintreffen?“

„Ja, mein Herzerl, ja! Sei nur schön brav! Da könnt’s schon möglich sein, daß am Sonntag ein bißl was eintrifft …“ lächelnd kniff der Simmerauer das Dirnlein in das kleine runde Kinn, „… mit die Dampfnudeln, ja!“

„Und d’ Engerln müssen blasen dazu!“

„’s sell weiß ich net, mein Kindl! Allweil’, weißt, sind d’ Engerln net aufg’legt zum Trumpetenblasen. Aber jetzt sei schön z’frieden … und Du, Pepperl, da komm her! Jetzt spazierts halt miteinander schön ’nüber in’ Purtschellerwald …“

„In’ Wald ’nüber? Na!“ fiel das Bürschlein dem Großvater in die Rede und strich die fetten Fingerchen, aus denen das Butterbrot verschwunden war, ein paarmal über das Höschen hin und her. „In’ Wald ’nüber mag ich nimmer!“

„Ja warum denn net?“

„Weil er gar so viel grantig is!“

„Was? Grantig? Der Wald?“ fragte Michel, den bei diesem Kinderwort eine dunkle Sorge zu beschleichen schien.

„Ja! Gestern hat er g’schrieen! Ganz laut hat er g’schrieen! Du! Da bin ich erschrocken!“

„Aber geh, Du Dapperl!“ Dem Alten versagte fast die Stimme. „Der Wald! Der kann ja doch net schreien!“

„Aber ja. Ganz ein groß Maul hat er aufg’rissen, im Boden drin! Und g’schrieen hat er! Huhuu hat er g’schrieen, wie der Holimann! Den Wald, den mag ich nimmer, na!“

Michel wußte kein Wort zu sagen, und dieses Schweigen schien Zenzerl als einen Zweifel zu deuten, denn sie bestätigte allen Ernstes: „Ja, Ahnlvater! So hat er’s g’macht!“ Sie sperrte das kleine rosige Mäulchen auf, so weit sie konnte – und dann lachte sie. „Aber ich hab’ mich gar net g’forchten, na! Bloß der Pepperl! Der is g’laufen, was er laufen hat können! Weißt, der thut sich halt noch fürchten, weil er so ein gar kleins Büberl is!“ Freilich, der Pepperl war ja doch um ganze zehn Monate jünger als sie! „Ich hab’ mir halt ’denkt, daß er Hunger hat, der Wald, weil er sein Schnaberl gar so weit aufreißen thut!“

Der Simmerauer hatte die Arme um die beiden Blondköpfe gelegt und tauschte einen scheuen Blick mit Mutter Katherl, welche leise zu ihm sagte: „Gelt, Vater! Allweil hab’ ich’s schon g’meint: der Wald is nimmer sicher! Laß mir nur ja die Kinder nimmer in’ Wald ’nein!“

„Na! Na! Nur kein Schrittl nimmer in’ Wald ’nein!“

„Ahnlvater,“ fragte das Bürschlein, „dürfen wir net lieber die Zickizotterln hüten auf der Wiesen droben? Schau nur, so viel schön thut d’ Sonn da droben scheinen!“

„Ja, mein Schatzerl, ja! … Geh, Katherl, laß ihnen die Zickizotterln aus ’m Stall! Ich muß ja zur Arbeit schauen.“

Mit lautem Jubel rannten die Kinder der Großmutter voran und verschwanden in der Stallthüre. Lachend und kreischend kamen sie wieder zum Vorschein, jedes mit einer Ziege am Strick, und das ging nun über den Hof und hulterdiwultri über die Wiese hinauf – bald zerrten die Kinder die beiden bockenden Ziegen hinter sich her, bald wieder schleiften die trippelnden Tiere ihre Hüter durch die Bodenfurchen und über die Maulwurfshügel, daß die zwei lustigen Knirpslein unter Lachen und Jauchzen einen Purzelbaum um den anderen schlugen.

Während von der sonnigen Wiesenhöhe die Stimmchen der Kinder verschwommen herunterklangen, nahm die Arbeit im Hof des Simmerauer unter sparsamen Worten ihren treibenden Gang.

Mutter Katherl schleppte die Ruten, welche Vroni geputzt hatte, durch den Garten zum Verhau. Hier waren Michel und Mathes bei der Arbeit; der Alte hielt die hohen Pfosten fest, auf die der Bursche, welcher oben auf der Böschung stand, mit der Holzkeule losdrosch. Als die Balken eingeschlagen waren, kam Mathes herunter, und nun begannen sie die Ruten durcheinanderzuflechten und die Hohlräume dahinter mit Steinen auszufüllen.

So lange die Mutter in der Nähe stand, schwiegen die beiden; kaum aber war sie gegangen, um neue Ruten zu holen, so kam aus dem bedrückten Herzen des Alten mit langsamen Worten immer wieder eine Sorge heraus, die der Junge mit seinem ruhigen Trost auch immer wieder zu beschwichtigen wußte. Um den Vater von diesem nagenden Kummer abzulenken, begann Mathes über allerlei fernliegende Dinge zu sprechen. Und einmal, als er eine Weile geschwiegen hatte, fragte er unvermittelt: „Du, Vater?“

„Ja?“

„Was ich lang’ schon fragen hab’ wollen … neulich am Abend, wie ich beim Wagner drunten war und unsere Axten neu stielen hab’ lassen, da sind ein paar Bauern in der Werkstatt g’wesen … ja … und da haben s’ so g’red’t miteinander … vom Purtscheller …“ Mathes mußte schlucken und konnte nicht weiter reden.

„Vom Herrn Purtscheller? Was denn?“

„Daß … daß er sich schlecht Wirtschaften thät und z’viel brauchen … und daß der Purtschellerhof lang’ nimmer stünd’ wie sonst. Is da was d’ran, Vater?“

„Ah na! ’s sell glaub’ ich doch net! Weißt ja doch, wie d’ Leut’ sind! Allweil reden s’ mehr, als wie s’ verantwortigen können! So ein g’wachsener und g’scheiter Mensch wie der Herr Purtscheller wird ja doch sein’ Verstand bei einander haben und sein nobels Sach’ auch schön in der Ordnung halten. Weißt, ich hab’ selber schon ein bißl was reden hören … aber allweil hab’ ich mich g’ärgert drüber. Die unguten Leut’ sind ihm halt neidisch um sein Glück, weißt!“ Michel bog eine Rute über das Knie, um sie geschmeidiger zu machen. „Aber ich vergunn’s ihm! Ja! Schon der Linerl z’lieb!“ Er begann die Rute einzuflechten. „Freilich, brauchen thut er viel! Ein grausam’s Geld! Ja! Das hat er mir selber g’sagt. Aber ich kann mir doch net denken, daß ein verstandsamer Mensch tiefer aus ’m Haferl schöpft, als der Boden is … oder es müßt’ einer gleich so ein närrischer Lüftikus sein wie der Daxen-Schorschl! Na, na, so was glaub’ ich doch net vom Herrn Purtscheller!“ Michel griff nach einer neuen Rute. „Na, na! Dem sein Haus und Hof steht fest … unter dem lauft der Boden net davon! … Eins freilich, eins will mir gar net g’fallen …“

„Was?“

„Daß er so viel gachzornig is, wie seine Dienstleut’ verzählen … und daß er den ärgsten Unmut allweil an der Linerl auslaßt. Na! Das g’fallt mir gar net! Hast ihn ja neulich reden hören! Krank, meint er allweil, krank wär’ ’s Linerl! Ja, mein! Kümmern thut sie sich halt! Die hat so ein Blümerlg’müt, so ein feins, weißt … und vertragt halt solchene Schimpfereien net. Und allweil schlechter schaut s’ aus … thätst es schier gar nimmer erkennen, ja!“

Mathes gab keine Antwort. Während er eine störrische Rute hinter den Pfosten preßte, fielen ihm ein paar rote Tropfen von der Hand. Das gewahrte der Simmerauer. „Hast Dich g’rissen?“

„Ja! Ein bißl! Da an der Ruten!“ Mathes schleuderte das Blut von der Hand, fuhr mit der Zunge über die Wunde und arbeitete weiter.

Immer höher stieg die Sonne, und eine Stnnde nach der anderen verrann. Um zehn Uhr ging Mutter Katherl ins Haus und holte den Milchkrug. Das erste Glas reichte sie der Tochter. Und dazu fragte sie: „Madl? Warum bist denn gar so stad heut’? Was hast denn?“

„Ich? Warum? Was soll ich denn haben? Nix!“ Vroni griff nach dem Glas und leerte es bis auf den letzten Tropfen. „Vergelt’s Gott!“ Lächelnd nickte sie der Mutter zu und nahm die Arbeit wieder auf.

Als Katherl in den Garten zu den Männern ging, fuhr plötzlich, mitten in dieser schweigsamen, sonnigen Luftstille, ein sausender Windstoß über die Simmerau.

„Was is denn jetzt das?“ fragte Michel. „Wo kommt denn der Wind so gahlings her?“

Alle blickten sie zu dem klaren, blauen Himmel auf, an dem [503] nicht ein einziges Wölklein schwamm. Und nun hörten sie über die Wiesen her, aus der Gegend des Purtschellerwaldes, ein klapperndes Rauschen, als wäre irgendwo ein riesiger Haufen Schindeln auseinandergefallen. Und im gleichen Augenblick tönten von der sonnigen Höhe herunter die schreienden Stimmchen der Kinder: „Da schau! Der Wald! O jegerl! Der Wald lauft davon!“

Mathes kletterte über den Verhau hinauf, Michel machte humpelnd einen Umweg, um die Böschung zu ersteigen, und Vroni kam aus dem Hof gerannt, während Mutter Katherl, die Milch verschüttend, ihrem Manne nachlief und im ersten Schreck das Gesicht bekreuzte. Sie spähten nach dem Gehölz hinüber, und während ein zweiter Windstoß ihnen das Haar und die Kleider zauste, sahen sie, daß ein großes Stück des Waldes in gleitender Bewegung war. Die grünen Wipfel schwankten durcheinander, als wären all die hundert Bäume betrunken. Aber die Ferne ließ diesen Vorgang klein und beinahe harmlos erscheinen. Und plötzlich war die grüne, laufende Waldscholle verschwunden, und an ihrer Stelle dehnte sich ein brauner Fleck – als hätte eine unsichtbare Riesenfaust dieses Stück Wald wie ein Spielzeug in eine braune Holzschachtel eingestrichen und den Deckel zugeklappt.

Wieder tönte jenes prasselnde Rauschen und endete in einem dumpfen, nachdröhnenden Schlag, wie er beim Sturz einer schweren Lawine zu hören ist. Dann war Stille.

Die vier Menschen standen mit erblaßten Gesichtern. Ihre ersten Blicke galten dem Haus und zugleich den Kindern – aber das kleine Haus lag ruhig in der Sonne, und die beiden Kinder standen sorglos auf der Wiese dort oben und schwatzten mit ihren hellen, dünnen Stimmchen.

Michel sprach das erste Wort: „Den Wald hat er schreien lassen, die unschuldigen Kinder hat er g’warnt … und da soll mir noch einer sagen, daß er auf seine Leut’ net Obacht giebt, der da droben!“ Er faßte die Hand seines zitternden Weibes und streichelte sie. „Thu Dich net sorgen, Mutterl! Der da droben hilft uns schon! … Komm, gehn wir wieder an d’ Arbeit!“ Hand in Hand stiegen die beiden Alten über die Böschung hinunter.

Mathes stand noch immer auf dem gleichen Fleck und starrte gegen den Wald hinüber. Dann atmete er tief auf. „Vroni!“ sagte er und deutete mit dem Rutenmesser, das er in der Hand hielt, „da is ein schöner Brocken Purtschellergut ins Wasser ’nunterg’rutscht! … Das druckt ihr wieder ein’ Kummer auf d’ Seel!“

Vroni nickte. „Ja, Mathes! Sie erbarmt mich! … Komm!“

Wortlos kehrten sie in den Hof zurück. Hier nahm der Simmerauer gerade ein Bündel Ruten auf die Schulter, während Mutter Katherl das Milchglas suchte – sie wußte nicht mehr, wo sie es im Schreck hingestellt hatte.

Niemand sprach. Sie alle waren von banger Sorge bedrückt, doch keines wagte von ihr zu reden. Kaum daß sie manchmal mit einem scheu verstohlenen Blick die Mauern des Hauses streiften. Denn seit Wochen war es immer so gewesen: wenn irgendwo auf dem Hang des laufenden Berges ein großer „Brocken“ in Bewegung geraten war, dann hatten sie es auch in der Simmerau zu spüren bekommen. Daran dachten sie alle und deshalb verloren sie den Kopf nicht, als es kam. Im Innern der Erde ein matter, plumpsender Hall – dann rann ein Zittern durch den Grund, auf dem sie standen.

„Mutter!“ stammelte der Simmerauer, umklammerte den Arm seines Weibes und schrie im gleichen Atemzug: „Jesus Maria! Die Kuh is unter Dach!“

Vroni und Mathes warfen die Werkzeuge weg und rannten zur Stallthür.

„Bleib draußen!“ keuchte Mathes, stieß die Schwester mit der Faust von der Thüre zurück und sprang in den matt erhellten Raum. Brüllend zerrte die Kuh an der Kette, und so konnte Mathes die Ringe nicht lösen. Von der niederen Decke fiel ihm Mörtel auf den Kopf, während er mit Anspannung aller Kraft den eisernen Bolzen, an dem die Kette hing, aus dem Futterbarren riß. Schnaubend, mit gestrecktem Schweif und die klirrende Kette schleifend, galoppierte das befreite Tier zum Stall hinaus, rannte gegen den Brunnen an, daß der Schwengel brach, und tollte in bockenden Sprüngen über die Wiese.

Mathes taumelte, als er über die Schwelle ins Freie sprang – denn wieder zitterte der Boden. Krachend zersplitterte ein Riegel des den Grund durchziehenden Balkenrostes, und während sich die beiden Stümpfe aus dem Boden hoben, kam die ganze Erde rings um das Haus her in träge Bewegung. Ein paar schwere Steine rollten vom Schindeldach der Scheune herunter, und gackernd flogen überall die Hühner auf.

„Kinder! Da her! Zu mir her!“ kreischte Michel mit bleichen Lippen. Als Mathes und Vroni bei ihm standen, wurde er ruhiger und in diesem Augenblick des Schweigens konnte man hören, daß die Kleinen auf der Wiese droben lustig sangen.

Mutter Katherl preßte die verschlungenen Hände an den Mund.

„Jesus Maria! Jesus Maria!“

„Macht nix! Na, Mutterl, macht nix!“ stammelte der Simmerauer. „Es is ja net ’s erste Mal! Gleich wird’s wieder aus sein! Nur net verzagen! Und ’naufschreien halt … ’naufschreien, daß er uns hören muß!“ Er faltete die Hände, hob sie über den Kopf empor und schrie: „Allgütiger Du im Himmel droben! Thu net auslassen, sag’ ich … nur jetzt net auslassen um Gott’swillen …“ Zähren erstickten die Stimme des Greises.

Ein zweiter Balken des Rostes sprang und bäumte sich knirschend, aus dem Garten scholl ein schwerer, dumpfer Klatsch, Schlamm und Wasser spritzte in dicken Strahlen von der Böschung über den Hofraum – dann war alles wieder ruhig, nur ein paar losgewordene Schindeln glitten noch mit leisem Rascheln über das Scheunendach herunter.

„Allweil steht’s noch, unser Häusl. Er hat schon wieder g’holfen, ja! Auf den is halt Verlaß!“ sagte Michel mit erloschener Stimme und wischte sich den Schlamm ab, der ihm ins Gesicht gespritzt war. „Wenn mit’ drin ein Loch is, freilich, da muß was ’nunterfallen … das kann er selber net anders machen! Aber oben halt er fest! Na, da laßt er net aus!“

Während Vroni die Mutter, der vor Aufregung, Schreck und Sorge völlig übel war, zu einem Holzblock führte, wollte Mathes in den Garten eilen, um bei der Böschung nachzusehen. Aber Michel hielt ihn am Aermel fest. „Z’erst ein Vergeltsgott sagen, Mathes! Er hat’s verdient um uns!“ Mit lauten Stimmen sprachen sie ein Vaterunser und den Glauben an Gott.

„So! Und jetzt speggalieren wir halt, wie’s ausschaut! Viel, mein’ ich, is net passiert! Und Du, Vronerl, sei so gut, lauf ’nauf und schau, was die klein’ Hascherln machen!“

„Die singen ja, Vater!“ sagte Vroni, und man merkte es an ihrer Stimme, daß ihr das Herz bis an den Hals heraufschlug. „Hörst es net?“

Der Simmerauer lauschte; und obwohl sein Gesicht so weiß wie Kalk und seine Augen voll Wasser waren, glitt ihm doch ein Lächeln über den farblosen Mund. „Da schau einer an! Die singen! Ja! Die singen! … Gott sei Dank! Die haben wieder gar nix g’merkt!“

Während Michel mit Vroni und Mathes unter langsamen Worten im Hof umherging, um den Schaden zu besehen, den der Erdrutsch angerichtet hatte, las Mutter Katherl die Scherben des Milchkruges auf, den sie im Schreck hatte fallen lassen.

„Jetzt is der auch hin! Der schöne Krug!“ seufzte sie, und ein paar Zähren tropften ihr in die Schürze, in welche sie die Scherben einsammelte, als wäre noch Wert an diesen Trümmern.

Das erregte Gackern der Hühner begann allmählich zu verstummen, und über dem Rande der Böschung erschien die Kuh mit der baumelnden Kette. Sie brummte ihren tiefsten Ton, sah mit den Glotzaugen verwundert über Haus und Garten nieder und ließ in wiedergefundener Seelenruhe die zottige Schweifquaste pendeln.

Im Hofe fand der Simmerauer den halben Balkenrost aus den Fugen getrieben und verschoben; neben den zwei zersplitterten Balken waren ein paar andere krumm gebogen und fast geknickt.

„Macht nix! Wenn wir fleißig dazuschauen, haben wir den Schaden in zwei, drei Tag’ wieder gut g’macht. Gelt, Kinder, helfen wir halt wieder ordentlich z’samm’!“

„Ja, Vater!“ sagte Vroni, während Mathes schweigend nickte.

Nun gingen sie hinter das Haus und zur Böschung. Da sah es noch schlimmer aus. Ein Wust von Erde und Felsbrocken war über den Garten niedergebrochen und hatte den schweren Verhau zu Boden gedrückt wie ein Kartenblatt.

„Müssen wir halt ein’ andern machen! Zeit haben wir ja! Acht Tag’, mein’ ich, giebt er jetzt doch wieder ein’ Fried’, der Berg!“ Als Michel die Bruchstelle näher untersuchte, gewahrte er neben dem Haufen des niedergebrochenen Schuttes einen schmalen, frischen Erdstreif, der sich wie ein Band am Fuße der unversehrt gebliebenen Böschung entlang zog. Diese Entdeckung brachte den Alten nun doch aus seiner vertrauenden Ruhe und ging ihm ans Herz. Mit den gespreizten Fingern der zitternden Hand maß er [506] die Breite des Bandes und sagte mit schwankender Stimme: „Ein’ halben Schuh sitzen wir wieder tiefer drunt’!“

Schwer atmend richtete er sich auf und fuhr sich mit den Fingern ins Gesicht, als hätte er Haare über den Augen liegen.

„Mathes! Da müssen mir uns tummeln, daß wir den Verhau wieder in d’ Höh’ bringen. Sonst rutscht uns noch ein fester Brocken über ’n Garten ’rein! Ich mein’, wir fangen gleich an! Geh, Madl, sei so gut und hol’ mir d’ Axt!“

„Ja, Vater!“ Vroni eilte gegen den Hof zurück, doch mit ersticktem Schrei verhielt sie den Fuß und starrte erschrocken auf die Rückwand des Hauses.

Michel und Mathes blickten auf. „Was is denn, Madl?“

„Vaterl! Da schau! Unser Haus!“

Die beiden kamen gelaufen, und nun sahen sie, daß neben Vronis Kammerfenster ein schräg verlaufender Riß die Mauer von der Erde bis über die Fensterhöhe durchzog. Mathes nickte wortlos vor sich hin, während der Simmerauer wie versteinert dastand.

Der Alte hatte sich in den vergangenen Minuten nur um Hof und Garten gesorgt – daß aber auch das Haus, das all diese letzten, bösen Wochen glücklich überdauerte, bei diesem leichten, nur wenige Sekunden währenden Erdrutsch einen ernstlichen Schaden davongetragen haben könnte, daran hatte er in seinem Glauben und Vertrauen noch gar nicht gedacht. Und da traf ihn jetzt die schlimme Entdeckung um so härter.

Er streckte die zitternden Hände nach der Mauer und tastete an den Rändern des entzweigerissenen Mörtels umher, während ihm schwere Thränen über die zuckenden Wangen kollerten. Dann sah er zu seinem Buben auf: „Da schau, Mathes! Da hast jetzt Deine Mäus!“

„Aber geh! Wegen dem bißl Riß da! Deswegen brauchst Dich noch lang net sorgen!“ sagte Mathes und legte dem Vater den Arm um die Schulter. „Ich glaub’ überhaupt gar net, daß das jetzt grad’ g’schehen is! So was passiert ja in alte Häuser gar oft, daß ein Riß durch d’ Mauer aufgeht …“

„Net so laut,“ fiel Vroni flüsternd ein, „damit’s d’ Mutter net hört!“

„Mein, erfahren muß sie’s ja doch!“ sagte der Simmerauer, aber auch er dämpfte unwillkürlich die Stimme. „Kannst ja heut’ in der Nacht nimmer schlafen in Deiner Kammer! Mußt Dich ja in d’ Stuben ’nüberlegen. Das kann doch net g’schehen, ohne daß d’ Mutter was merkt davon.“ Wieder starrte er die Mauer an, atmete schwer und fragte: „Was hast g’meint, Mathes?“

„Daß der Riß gar kein neuer net is! Der kann schon lang in der Mauer drin g’steckt sein und hat dem Häusl gar nix g’schadt. Und jetzt, freilich, bei dem bißl Rumpler hat halt auswendig der Mörtel auch nach’geben!“ Mathes trat zur Mauer und begann den Riß genau zu untersuchen. „Es is schon so! Ein alter Riß! Ja, Vater, da kannst Dich verlassen d’rauf! Als Maurer muß ich doch so was verstehen!“

„Ja, ja! Als Maurer mußt Du’s wissen! Da muß ich’s glauben!“ Michel wandte sich zu Vroni. „Was sagst, Madl … so ein Glück, daß der Mathes d’ Maurerei g’lernt hat … jetzt kann er uns helfen. Denn ich, meiner Seel’, ich wüßt’ mir jetzt kein’ Rat net! Und g’schehen muß doch was! Gleich auf der Stell’! So kann man doch die arme Mauer net stehn lassen! … Was meinst denn, Bub’?“

Mathes hatte seine Meinung schon fertig: der schlechte Mörtel wird abgeschlagen, mit eisernen Schlaudern wird der „alte Riß“ zusammengezogen und über alles wird dann ein neuer Verputz gelegt. „Das mach’ ich Dir so fein, Vater, als ob in der Mauer gar nie ein Riß net g’wesen wär’!“

„Ja, ja! Vergelt’s Gott, mein lieber Bub’!“ nickte Michel. „Aber der Fleck, freilich, der bleibt! So schön und sauber schaut sich d’ Mauer nimmer an wie sonst!“

„Aber na, Vater! Da thu ich Dir die ganze Wandseiten überweißen – und bis der Kalch auf’trücknet is, merkst kein Fleckl nimmer! Wie der Schnee muß sich d’ Mauer anschauen!“

„So? Meinst?“

„Ja, Vater!“ Mathes zog den Maßstab hervor, den er in der Messertasche trug, und nahm an der Mauer die Maße ab. „Vier eiserne Schlauderbänder brauchen wir, anderthalb Meter, und vier g’sunde Schrauben dazu, jede ein’ halben Meter lang, mit feste Muttern.“

„Mit feste Muttern, ja!“ wiederholte der Simmerauer. „Fangen wir nur gleich an! ’s Häusl is d’ Hauptsach’, weißt! Da muß der Hof und der Garten z’ruckstehn. Fangen wir gleich an … ich rühr’ derweil ein’ Kalch ein … Du, Mathes, packst d’ Mauer an … und ’s Madl lauft in d’ Schmieden und laßt die Schlaudern machen! Hast Dir ’s Maß ordentlich g’merkt, Vronerl?“

„G’nau, Vater!“

„So lauf, Madl, lauf, was D’ laufen kannst!“

Vroni rannte gegen den Hof; aber schon nach einigen Sprüngen hielt sie wieder inne und, das Gesicht von heißer Röte übergossen, blickte sie ratlos auf den Vater. Der Simmerauer meinte diesen Blick zu verstehen. „Gelt, ja? Grad’ hab’ ich mir’s selber ’denkt. Ein stark’s Madl bist freilich … aber so viel Eisen kannst doch net ’raufschleppen über den ganzen Berg!“

Vroni schwieg und senkte die Augen. Da sagte Mathes: „Ja, Vater, laß mich ’nunter! Es is besser, sie bleibt daheim!“ Als er an Vroni vorüberging, legte er die Hand auf ihre Schulter und flüsterte: „Hast recht! Denk’ an unser’ Schwester!“

Vroni furchte die Brauen und es schien ihr ein trotziges Wort auf der Zunge zu liegen; doch als ihre Augen dem ernsten Blick des Bruders begegneten, nickte sie und schwieg.

Ohne Hut und Joppe, barfuß, eilte Mathes davon, während ihm der Vater nachrief: „Vergiß net … recht feste Muttern! Wenn d’ Mutter net gut is, taugt ja die ganze Schrauben nix!“ Nach dieser Mahnung fiel dem Alten gleich wieder eine neue Sorge aufs Herz. „Mar’und Josef! Zu so einer wichtigen Arbeit g’höret halt jetzt ein richtiger Schmied! Aber auf so ein’ Lüftikus, wie der Daxen-Schorschl, auf so ein’ is ja kein Verlaß! Mar’ und Josef! Was der am End’ für Schlaudern macht! Daß jede gleich wieder reißt beim ersten Druckerl!“

„Sorg’ Dich net, Vater!“ sagte Vroni mit seltsam erregter Stimme. „Soviel hab’ ich gestern g’merkt … sein’ Sach’ versteht er, der Schorschl, wenn er mag.“

„Wenn er mag! Ja! Aber mögen thut er net oft! Und wer weiß, ob er daheim is! Leicht hockt er wieder im Wirtshaus und bichelt! Oder is sonstwo auf der lüftigen Fahrt … der liebe Gott mag wissen, wo!“

„Ja, kannst recht haben!“ sagte Vroni hart. Und sie dachte wohl an die Sorge ihres Vaters, als sie leise hinzufügte: „Aber hoffen will ich’s net!“ Dann richtete sie sich auf. „Sei so gut und weis’ mir d’ Arbeit zu! Wo fangen wir denn an?“

„Komm, hilf mir die Kalchgrub’ aufdecken … wenn s’ net schon verschütt’ is!“

Als sie durch den Hof gingen, blickte Michel über das Gehänge hinunter und rief: „Schau nur an! Den halben Berg is er schon drunten!“ Der väterliche Stolz hauchte dem Alten ein bißchen Farbe über das bleiche, erschöpfte Gesicht. „Ja, mein Mathes! Der is halt gut schicken, wenn’s pressiert! Auf den is halt Verlaß! … Vronerl! So ein’ solltest einmal kriegen!“

Sie standen vor der Kalkgrube. Und während Vroni sich schweigend bückte und mit Anstrengung eine der verquollenen und von der Erde zusammengepreßten Bohlen zu lockern suchte, blickte Michel noch immer seinem Buben nach und nickte um so fröhlicher vor sich hin, je längere Sprünge Mathes dort unten machte. –

Wer gemächlichen Schrittes ging, hatte von der Simmerau bis ins Dorf hinunter eine gute halbe Stunde zu marschieren.

Doch Mathes brauchte keine zehn Minuten. Freilich, als er aus dem letzten Wäldchen auf die Thalwiesen heraustrat, war er so atemlos, daß er ein paar Augenblicke rasten mußte.

Gerade gegenüber, auf dem andern Ufer des Baches, lag der stolze Purtschellerhof, an dem die Dorfstraße vorüberführte.

Mathes hing, solange er rastete, mit spähenden Augen an dem stattlichen Haus. Dann schüttelte er den Kopf, trocknete mit dem Handrücken die nasse Stirn und wandte sich ab.

Er folgte der Straße nicht, obwohl sie der nächste Weg zur Schmiede gewesen wäre, sondern schwang sich über die Gartenzäune und eilte hinter den Häusern an den Hecken entlang. Schließlich fand er einen Fußpfad, der in der Nähe der Schmiede auf den Marktplatz mündete, und schon wollte er auf die Straße treten, doch erschrocken fuhr er zurück und verbarg sich hinter den halbentlaubten Büschen.

Draußen auf der Straße ging die Purtschellerin vorüber, mit ihrem Bübchen plaudernd, das sie auf den Armen trug.

Mathes regte sich nicht und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Nur einmal bewegte er kaum merklich den Kopf, um in dem Gebüsch eine Lücke zu finden, die ihm besseren Ausblick bot. [507] Da sah er ganz deutlich ihr Gesicht – und als läge ein drückender Stein auf seiner Brust, so schwer und beklommen atmete er! Er hörte auch, wie sie mit ihrem Kinde plauderte, herzlich, doch mit einer müden, verschleierten Stimme.

Nun war sie vorüber und der Klang ihrer Worte erlosch immer mehr. Mit jähem Schritt, als hielt’ es ihn nicht länger im Versteck, trat Mathes auf die Straße hinaus. „Karlin’!“ rief er mit heiserer Stimme und erblaßte doch, als sie hastig das Gesicht wandte.

Sie war schon ein gutes Stück von ihm entfernt; dennoch erkannte sie ihn gleich. „Mathes! Du! Ja grüß Dich Gott!“ Sie streckte die Hand und wollte zurückkommen.

Da rief er mit überstürzten Worten: „Na, ich hab’ net Zeit! … Bloß sagen will ich Dir, daß der Purtscheller im Wald droben nachschauen soll! Der Berg hat ein bißl was umg’worfen! Das hab’ ich Dir sagen müssen! … B’hüt Dich Gott wieder! B’hüt Dich Gott, Linerl!“

„Aber Mathes! … Mathes!“

Er hörte nicht und eilte mit langen Schritten davon.

Karlin’ schüttelte verwundert den Kopf, und während sie ihm sinnend nachblickte, schien sie nicht zu fühlen, daß ihr das Kind mit zausenden Händchen die Zöpfe fast von der Stirne riß.

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 31, S. 517–522
[517]
7.

In der Schmiede klangen die Hammerschläge, rasch und laut. Schorschl stand vor dem Amboß und hämmerte auf ein glühendes Hufeisen los. Als es fertig war, tauchte er das noch rote Eisen in den Kühlbottich, daß zischend der Dampf aufging, und ließ es dann aus der Zange zu Boden fallen, wo schon ein paar Dutzend auf einem Häuflein beisammen lagen.

Nun besann er sich, als wüßte er nicht, was er weiter beginnen sollte. Noch ein Hufeisen schmieden? Aber er mußte die Eisenstangen sparen, gar viele hatte er nicht mehr in der Ecke stehen – und der Vorrat an Hufeisen, der da am Boden lag, war ausreichend für einen Monat und darüber. Früh am Tag hatte er begonnen, hatte Hufeisen um Hufeisen geschmiedet, nur um sich am Amboß festzuhalten, um die Zeit hinzubringen, bis andere Arbeit käme. Aber die ließ noch immer auf sich warten.

Nur der Schneider war gekommen, um seine vierunddreißig Mark zu fordern, und Schorschl hatte all seine Ueberredung aufwenden müssen, um den Ungeduldigen auf ein paar Wochen zu vertrösten. „Herrgott! ’s Bravsein macht ein’ schwitzen!“ brummte er, als der Meister Schneider glücklich wieder zum Thor draußen war.

Dann hatte sich Kinderbesuch eingestellt, und die kleinen Bürschlein, die ihren Freund Schorschl nur vom Bach her kannten und [518] gewohnt waren, ihn mit Forellen in den freigebigen Händen zu sehen, waren völlig perplex bei dem ungewohnten Anblick: der Daxen-Schorschl im Schurzfell und mit dem Hammer in der Faust.

Auch Erwachsene waren ab und zu unter das Thor getreten und hatten ihm eine Weile ungläubig bei der Arbeit zugesehen, um lachend und mit Kopfschüttelu wieder davonzustapfen. Doch keiner hatte Arbeit in die Schmiede gebracht. Auch der Bauer, dessen Leiterwagen Schorschl tags vorher beschlagen hatte, war ausgeblieben. „Der Tropf! Und so fest hat er mir Arbeit zug’sagt!“

Von Stunde zu Stunde hatte Schorschl’s Laune ein immer bedenklicheres Gesicht geschnitten, in seinen scheltenden Aerger über die „hinterhältischen Leut’“ mischten sich immer wieder die Gedanken an Vroni und der unbehagliche Refrain seines Sorgenliedes: „Jesses! Jesses! Was mach’ ich mit meine Schulden! Wo nimm ich denn ’s Geld her? … Hol’ der Teufel den Zillerlenz und den Berghofbauer mitsamt der Bäckenmahm’!“

Wieder sagte er dieses Sprüchlein her, das er seit dem Morgen schon an die zwanzigmal gebrummt und gemurmelt hatte.

Auf dem Holzblock des Amboß lag noch ein Stücklein Eisenstange, welches knapp für ein Hufeisen reichen konnte. Das nahm er in die Zange. „Machen wir halt noch eins!“ Wütend bohrte er das Eisen in die Essenglut.

Ingrimmig begann er den Blasebalg zu treten aber da lachte er plötzlich und griff in die Hosentasche. Achtsam rollte er ein geschwärztes Stückchen Zeitungspapier auseinander, in welches die dreißig Pfennige eingewickelt waren, die ihm Vroni auf den Amboß gelegt hatte. Immer wieder schob er mit dem rußigen Finger die Nickel durcheinander und blinzelte sie mit vergnügten Augen an. „Die heb’ ich mir auf! … Wart’ nur, Du!“ Mit der gleichen Sorgfalt rollte er das Papierchen wieder zusammen.

Da trat Mathes in die Werkstätte, schwer atmend und wortlos.

Schorschl erkannte ihn nicht gleich; und dann fragte er verwundert: „Du, Mathes? … Was willst denn’?“

„Pressante Arbeit hätt’ ich.“

„Arbeit bringst mir? Da sag’ ich Dir doppelt Grüß Gott!“ Schorschl lachte, daß in seinem rußfleckigen Gesichte die Zähne blinkten. „Gestern d’ Vroni und heut’ schon wieder Du! Ah, da schau an! Jetzt sind gar die Simmerauer Leut’ meine … beste Kundschaft.“ Er hatte „einzige“ sagen wollen, aber das Wort noch zur rechten Zeit verschluckt. Flink nahm er die Zange aus der Esse, warf das glühende Stück Eisen zu Boden und ging mit ausgestreckter Hand auf Mathes zu. Da sah er das bleiche Gesicht des Burschen und fragte: „Mathes? Fehlt Dir was?“

„Warum? Was soll mir denn fehlen?“

„So ausschauen thust halt!“

„Ich schau aus wie allweil!“ sagte Mathes ruhig und trat tiefer in die Werkstätte, so daß der rote Essenschein über sein Gesicht fiel.

„Da muß mich ’s Taglicht unter der Thür ’täuscht heben,“ meinte Schorschl.

„Ja!“

„Weißt, wenn man die ganze Zeit so in die Glut schaut, kommen mir d’ Leut’ völlig blaß vor, wenn s’ von draußen ’reinmarschieren.“

„Ja!“

„Aber sag’, was brauchst denn?“

„Schlaudern … die Schrauben mit recht feste Muttern!“ erwiderte Mathes und nannte die Maße.

„Schlaudern?“ Schorschl erschrak. „Is denn am Häusl was passiert?“

„Ah na!“

„Aber geh, red’ doch ein bißl was! Wie steht’s denn droben?“

„Gut! … Oder doch net schlechter, als wie’s sein kann. Dem Vater z’lieb denk’ ich doch, daß wir uns durchschlagen übern Winter.“

„Aber im Frühjahr?“

„Im Frühjahr! Ja! Wenn ’s Wasser wieder mehrer wird! Da wird er harte Tag’ haben, der Vater! Aber gelt, red’ nix davon, wann zufällig mit ihm z’sammkommst. Und jetzt fang’ lieber d’ Arbeit an! Es pressiert mir!“

Schorschl holte von seinem kleinen Eisenvorrat nach langem Wählen aus der Ecke hervor, was er nötig hatte. Mathes prüfte die Stangen und sagte: „Vergeltsgott! Ich merk’ schon: ’s beste Eisen hast ausg’sucht.“

„Soll ich’s leicht für ein’ andern aufheben?“

Mit rührigem Eifer begann Schorschl die Arbeit, und Mathes, der nicht müßig stehen konnte, half dabei nach Kräften mit.

Während sie, um die Gewinde in die Eisenstangen zu schneiden, am Schraubstock standen, und zu zweit an den langen Hebeln der Schneidkluppe zogen, versuchte Schorschl ein um das andere Mal die Rede auf Vroni zu bringen. Aber dann wußte Mathes, der doch sonst mit den Worten so sparsam war, immer lang und breit von anderen Dingen zu schwatzen. Schließlich stellte Schorschl verdrossen seine Fragen ein und ließ all den heißen Unmut, der in ihm zu rumoren schien, an der Arbeit verdampfen.

Als die Mittagsglocke geläutet wurde, fragte Mathes in schlecht verhehlter Sorge: „Mußt aussetzen und Mahlzeit halten?“

Schorschl schüttelte den Kopf. „Mich hungert net!“

Zwei Stunden später war die Arbeit fertig, und die Schrauben hatten Muttern wie Fäuste so groß.

„Bist z’frieden, Mathes?“

„Ja! Besser und akrater hätt’s keiner g’macht! Wieviel bin ich denn schuldig?“

Schorschl wollte keinen Preis sagen. „Was meinst denn, daß ich verdient hab’?“

„No, mit ’m Eisen, schätz’ ich halt vier, fünf Mark!“

„Sagen wir: drei! Is eh’ schon viel!“

„Geh’, da zahlst ja drauf?“

„Gott bewahr’, da verdien’ ich noch!“

„No also, Vergelt’s Gott halt! Aber zahlen muß ich Dich ein anders Mal. Ich bin so gahlings droben fortg’rennt und hab’ nix bei mir.“

„Macht nix! Bist mir ja gut! Und b’hüt’ Dich Gott!“

„B’hüt’ Dich Gott!“

„Und grüß’ mir …“ Schorschl stockte. „Grüß’ mir Deine Leut’!“

„Ja!“

Mathes lud die schweren Stangen auf seine Schultern und verließ die Werkstätte.

Langsamen Schrittes trat Schorschl unter das Thor und sah ihm nach. „Gleich gar net reden hat er mögen mit mir … von der Vroni!“ murmelte er vor sich. „Schorscherl, Schorscherl! Da schaut’s schlecht aus!“

Mit diesem Stoßseufzer ging er ins Haus, um das versäumte Mittagsmahl nachzuholen. Bei den sorgenvollen Gedanken, die ihm Kopf und Herz durchzogen, hatte er wenig acht auf die Kocherei und ließ den Schmarren anbrennen. Da er ein zweites Mal nicht kochen wollte, mußte er sich mit einem Stück Brot begnügen.

„Wenn net bald Arbeit kommt, muß ich mich eh’ d’ran g’wöhnen, ans Brotbeißen!“ Er kehrte in die Werkstätte zurück. „Herrgott! Herrgott! Wo nimm ich denn ’s Geld her?“

Da schien ihm der Zufall – oder war’s der liebe Gott, den er so unglimpflich angerufen hatte? – einen Fingerzeig zu geben. Denn er hörte Hufschlag, der sich von der Straße näherte, und als er unter das Thor sprang, gewahrte er den Purtscheller, der seinen Traber am Zügel in den Hof der Schmiede führte.

„Der Purtscheller! Meiner Seel’! Den hau’ ich drum an! Und ich glaub’, der giebt mir’s!“

In diese freudige Hoffnung mischte sich bei Schorschl gerechtes Staunen über den Anblick, den Purtscheller mit seinem Traberzeugl bot. Um zehn Uhr vormittags war der flotte Herr gar stolz und hoheitsvoll auf seinem rot lackierten Gig zum Dorf hinausgeradelt – und wie kam er jetzt zurück! Auf Schustersrappen, den Braunen am Zügel führend … Mann, Pferd und Wagen über und über mit grauem Kot bespritzt! Galliger Aerger redete aus Purtschellers dunkelgerötetem Gesicht, während er unter lautem Schelten den Braunen, der nicht mehr gehen wollte, gegen die Schmiede zerrte. Es war ein schönes, edles Tier – aber jetzt ließ es trauernd den Kopf hängen, hinkte mit einem Vorderfuß, und immer wieder schauerte ihm das Fell, dessen brauner Metallglanz unter Kot und eingetrockneten Schaumflocken erloschen war.

Ueber dem Mitleid, welches Schorschl mit dem so übel zugerichteten Tier empfand, vergaß er den Gedanken, der bei Purtschellers Anblick in ihm aufgestiegen war.

„Ja um Gotteswillen? Was is denn? Was hat denn der Bräunl?“

„Hol’s der Teufel, ich weiß selber net!“ schrie Purtscheller.

„Eine halbe Stund’ vorm Ort draußen hat er auf einmal aus’lassen! [519] Alteriert hab’ ich mich, daß mir völlig schlecht is! Bei mir schlagt sich alles gleich auf ’n Magen.“ Er ließ den Zügel fahren, trat einen Schritt zurück und betrachtete das Pferd. „Wenn mir die Lumpen den Gaul ruiniert haben, weiß ich gleich gar nimmer, was ich anfang’. Der Gaul is mir ja lieber wie alles, was ich hab’!“

„Aber Herr Purtscheller! So was sollten S’ doch net sagen!“

„Wenn ’s aber wahr is!“ Wieder musterte Purtscheller das Pferd, das den Kopf immer tiefer sinken ließ, während es am ganzen Leibe zitterte. „Ich kann mir nix anders denken, als daß der Gaul in der Stadt drin vernagelt worden is, wie ich ihn b’schlagen hab’ lassen.“

„In der Stadt waren S’? Mit dem Bräunl? Seit zehne vormittags?“

Trotz Aerger und Sorge erwachte in Purtscheller der Stolz des Sportsmanns. „Ja! Und hab’ mich noch anderthalb Stund’ drin aufg’halten!“

„Sechzig Kilometer bergauf und ab! In dritthalb Stund’! Ja um Gott’swillen …“

Der Vorwurf, der aus Schorschls Worten klang, trieb dem Purtscheller-Toni das Blut noch dunkler ins Gesicht. „Du Narr!“ schrie er. „Was versteht denn so einer wie Du von der Sportssach! Hast denn Du ein’ Idee, was ein richtiger Traber hergeben kann, wenn er in guter Kondizion is? Aber natürlich, wenn der Gaul vernagelt is! Statt daß so dalket daherredst, schau lieber nach, wo der falsche Nagel steckt!“

„Ich mein’, ich weiß schon, wo’s fehlt!“ brummte Schorschl, streichelte das Pferd an den Nüstern und hob ihm den Huf des lahmenden Fußes auf.

Draußen auf der Straße ging der Buchbinder vorüber, der neben seinem Geschäfte auch die Agentur der Lebens- und Feuerversicherung führte. Als er den Purtscheller sah, kam er näher und zog höflich den Hut. „Ein Wörtl, Herr Purtscheller!“

„Was is denn schon wieder? Jetzt hab’ ich kein’ Zeit net!“ fuhr Purtscheller auf. „Ah so, Du? Was willst denn? Hab’ Dir’s doch neulich schon g’sagt: ich laß mein Leben net versichern! So bald denk’ ich noch net ans Sterben!“

„Gott behüt’s! Aber nix für ungut … ich hab’ Ihnen bloß erinnern wollen: am ersten Oktober haben S’ auf d’ Feuerbolizzen vergessen.“

„Was? Ich? Der Purtscheller? Vergessen? Der Purtscheller vergißt nix! Aber z’ dumm wird’s mir endlich! Die ganze Ausrauberei! So viel Jahr zahl’ ich den schauderhaften Brocken hin, und nie hat man was davon!“ Nun schien er doch zu merken, daß er im blinden Zorn ein paar Worte zu viel gesagt hatte. „Meintwegen also … bloß daß ich ein’ Fried’ hab’ … ich schick Dir die Tag’ den Bettel ’nüber! B’hüt Dich Gott!“ Ohne sich weiter um den Mann zu kümmern, wandte sich Purtscheller zu Schorschl. „No also, wo fehlt’s?“

„Der Gaul is in aller Ordnung b’schlagen,“ erwiderte Schorschl, während er sich aufrichtete und dem Pferde mitleidig den Nacken tätschelte. „Aber ich will Ihnen sagen, wo’s fehlt … z’viel verlangt haben S’ vom Bräunl.“

An Purtschellers Schläfen schwollen die Adern und seine Lippen wurden blau. „Du bist wohl verruckt?“

„Na!“ sagte Schorschl ruhig. „Aber ein’ guten Rat will ich Ihnen geben. Schauen S’, daß der arme Gaul heim in’ Stall kommt und in warme Decken! Mir scheint, der is knapp am Lungenschlag vorbeig’rutscht … oder er kriegt noch ein Treff’.“

„Was? Verstehn thust nix! Und verrufen willst mir mein’ Gaul auch noch?“ schrie Purtscheller, und ein wahres Unwetter von Schimpfworten hagelte über den Kopf des Daxen-Schorschl nieder.

Der ließ sich das eine Weile gefallen und suchte den Jähzornigen noch zu beruhigen. Als aber das Geschrei die Leute aus den benachbarten Häusern lockte und Purtscheller die Sache gar zu dick und grob machte, rührte sich in Schorschl doch das Blut.

„Sie, Herr Purtscheller …“ seine Stimme klang noch immer ruhig, aber es blitzte drohend in seinen Augen. „Jetzt hab’ ich’s g’nug! Solche Sachen laß’ ich mir net sagen! Halten S’ ein bißl z’ruck, oder …“

„Oder? Oder was?“

„Oder ich könnt’ mein Hausrecht brauchen.“

Purtscheller bekam bleiche Lippen. „So? So traust Dich Du mit mir z’ reden! Paß auf, Du! Eh’ ich zu Dir noch ein’ Schritt ins Haus mach’, eh’ ich Dir wieder ein’ Arbeit gieb … da kannst Dir d’ Finger abschlecken!“

„Ich dank’ schön! Die sind mir net süß g’nug!“

„So? So? Is schon recht!“ Purtscheller packte den Zaum seines Pferdes. „Komm, Bräunl, oder die Gall’ bringt mich noch um!“

Breitspurig, mit den Fäusten auf dem Rücken, stand Schorschl inmitten seines Hofes und blickte dem Abziehenden nach. Sein Groll über Purtschellers böse Worte war schon wieder verraucht, vergessen über dem Erbarmen, das er für das mühsam dahinschleichende Tier empfand. „Arm’s Rösserl!“ Dann dachte er wieder an sich selbst. „O du heiliger Schnupftabak! Das G’sicht hätt’ ich sehen mögen, wenn ich den jetzt anpumpt hätt’ auch noch!“

Purtscheller war schon um die Ecke verschwunden, aber man hörte noch immer seine scheltende Stimme. Allmählich wurde er stiller und äußerte seinen Aerger nur noch in murmelndem Selbstgespräch, während er den Bräunl, dessen hinkender Gang immer langsamer wurde, am Zügel hinter sich herzog.

„Es is wahr, ein bißl viel hab’ ich verlangt von ihm!“

Bei diesem Zugeständnis erwachte in Purtscheller die Sorge. Seufzend blieb er stehen und betrachtete das Pferd.

„Es is net so arg! Na, na! Ich glaub’s net! So ein kerng’sund’s Roß! Wie sollt’ denn dem was g’schehen können! Ah na! So was giebt’s net!“

Seine Sorge war schon wieder halb beschwichtigt; aber da fiel ihm der Schloßbräu in der Stadt ein, der ihm aus Sportneid die Hypothek gekündigt hatte.

„Wie der lachen möcht’, wenn der Bräunl beim nächsten Rennen net starten könnt’!“

Schmeichelnd legte Purtscheller die Wange an den Kopf des Pferdes.

„Gelt, na, Bräunerl? So was thust Dei’m Herrerl net an!“

Achtsam führte er das Tier auf die bessere Wegseite. „Komm, schauen wir, daß wir ins Stallerl heimfinden! Da sollst es schön warm kriegen! Und ein gut’s Schnapserl aufs Naserl! Ja, Bräunerl! Ja!“ Während des ganzen Weges streichelte und tätschelte er das Tier und redete zu ihm in zärtlichen Worten.

Als er das Pferd mit Ziehen und Zerren endlich in den Hof brachte, mußten die Knechte alle andere Arbeit liegen lassen, um sich dem Bräunl zu widmen.

„Wo bleibt denn der Altknecht?“

Den hätte die Purtschellerin fortgeschickt, hieß es.

„Natürlich! Wieder einmal! So geht’s aber doch allweil! Wenn ich meine Leut’ brauch’, müssen s’ Gott weiß wo umeinanderrennen und Weiberbotschaften austragen.“ Als Purtscheller das sagte, ging Zäzil über den Hof. „He! Zäzil! Komm her und hilf mit, den Bräunl frottieren! Und nur flink jetzt, daß der Gaul unter Dach kommt!“

Getrennt von den anderen Pferden, hatte der Bräunl einen eigenen, sportmäßig eingerichteten Stall, über dessen Raufe auf einem Messingschild der Rennname prangte: „Herzbinkerl.“

Während Zäzil und die Knechte das Frottieren begannen, eilte Purtscheller zum Haus, um für den Bräunl das „Schnapserl“ zu holen. Unter der Thüre trat ihm Karlin’ entgegen, erregt und mit blassem Gesicht.

„Grüß Dich Gott, Toni!“

„Grüß Gott, Linerl!“ Er wollte an ihr vorüber.

Aber sie haschte seine Hand. „Sei mir net bös, Toni, daß ich Dir zur Heimkehr gleich eine recht ungute Nachricht sagen muß! In unserem Wald droben …“

„Jesses! Jesses! Laß mich in Ruh’! Mir brummt eh’ der Schädel!“

„Aber Toni, um Gotteswillen, so hör’ mich doch an!“

„Jetzt hab’ ich kein’ Zeit net! Mein Bräunl hat’ ein’ kalten Schnaufer erwischt … für den muß ich z’ allererst sorgen! Wo is denn die Cognacflaschen? Mach weiter, hol’ mir s’ runter! Flink, flink, flink! Tummel’ Dich!“ Er riß seine Hand los und eilte in den Stall zurück. Schmeichelnd kraute er dem zitternden Pferd die Ohren. „Ja, mein Herzbinkerl, ja, gleich sollst Dein Schnapserl kriegen!“ Als Karlin’ nach einer Minute nicht da war, wurde er ärgerlich. „Wo bleibt denn das Weiberleut?“ Er rannte wieder aus dem Stall.

Aber da kam ihm Karlin’ mit der Flasche schon entgegen, [520] ganz atemlos und nun fiel ihm doch ihr verstörtes Gesicht auf. „Meintwegen, so red’ halt! Was is denn mit ’m Wald droben? Aber g’schwind!“

„Vom Mathes hab’ ich’s g’hört,“ stammelte sie. „Der Berg soll sich wieder g’rührt haben … und da hab’ ich gleich den Altknecht ’naufg’schickt zum Nachschauen …“

„Na also! Da is ja eh’ alles in der Ordnung!“

„Aber Toni! Drei Stund’ … und der Knecht is noch allweil net daheim!“

„Weil er ein alter Trenzer is! Was soll denn passiert sein? Ein paar Bäum’ wird’s halt wieder g’worfen haben. Braucht man s’ grad nimmer umschlagen!“

Purtscheller wollte schon im Stall verschwinden, als ihm Karlin’ zögernd nachrief: „Du, Toni … der alte Rufel is wieder da! Er wartet schon seit Mittag und sagt, Du hättst ihn b’stellt.“

„Was? Mit dem soll ich heut’ auch noch reden? Himmelkreuzteufel, heut’ kommt mir aber schon alles übern Hals! … Warten soll er! Der hat ja Zeit! Oder wenn ihm ’s Hosenschnorren lieber is, als daß er mit mir ein G’schäft macht … meintwegen, so soll er wieder abfahren!“

Purtscheller trat in den Stall, und da ihm Zäzil im Wege stand, schob er sie beiseite und kniff sie dabei so derb in den runden nackten Arm, daß sie kichernd aufkreischte: „Aber Herr! Glauben S’ denn, mein Arm is ein Brotwecken? Lassen S’ mich doch in Ruh’ … zwicken S’ Ihr’ Frau!“

Das hörte Karlin’, und heiße Zornröte flammte über ihre abgehärmten Züge. Sie machte einen Schritt, als wollte sie in den Stall treten – aber dann schüttelte sie den Kopf, strich unter bitterem Lächeln die losen Härchen hinters Ohr und ging ins Haus.

Als sie droben die Wohnstube betrat, hatte sie ihre stille Ruhe wieder gefunden.

Der Tisch war gedeckt, und die offene Weinflasche stand schon bereit. Auf einem Sessel, mitten im Zimmer, saß der alte Rufel, mit dem Hakenstock zwischen den Knieen; aus der einen Tasche seines Rockes, der bis zum Boden reichte, hing ein Zipfel seines roten Sacktuches heraus, aus der anderen die abgegriffene Schlappmütze; seinen Zwerchsack hatte er drunten im Flur unter die Treppe geschoben. Als die junge Frau eintrat, strich er mit der runzligen Hand über sein glattrasiertes Faltengesicht, aus welchem gutmütige Offenheit und mißtrauische Vorsicht, ruhiger Ernst und wachsame Schlauheit in seltsamer Mischung redeten.

„Jetzt is er heimkommen!“ sagte Karlin’, ganz leise, denn im Nebenzimmer hielt der kleine Tonerl sein Mittagsschläfchen.

„Gedulden S’ Ihnen noch ein bißl, er wird gleich da sein.“

„Es eilt nix, meine liebe Frau Purtschellerin.“

Auch in Rufels Art zu reden lag ein Widerspruch; er gab sich merkliche Mühe, den Dialekt der Bauern zu sprechen, doch der jüdische Jargon schlug immer wieder durch.

Karlin’ nahm ihre Häkelarbeit aus der Fensternische und setzte sich an den Tisch. Mit einem scheu bekümmerten Blick streifte sie den Juden, während sie hastig die Nadel rührte. Nach einer Weile fragte sie: „Haben S’ allweil gute G’schäften g’macht in der letzten Zeit?“

„Es geht. Aber ich weiß mir Zeiten, die besser waren. Und nix für ungut … Sie sind e Bäuerin, liebe Frau … aber mit die Bauern is hart ein Geschäft machen!“ Rufel lachte. „Püh! Die fennen schlauer wie der Jud!“

Das hatte er so drollig gesagt, daß auch Karlin’ lächeln mußte. „Aber Rufel! Wenn das die Bauern hören möchten!“

„Hab’ ich ’s ihnen doch schon oft genug ins Gesicht gesagt! Hat der Bauer ein’ Handel gemacht und der Vorteil is auf seiner Seit’, so laßt er den andern reden, was er mag, und lacht ihn aus. Hat aber der arme Jud einmal ein bißl was verdient, und der Bauer merkt’s … nu, so schimpft er: Jud! Jud!“ Rufel wiegte den Kopf und hob die Schultern. „Aber ich sag’, es is mit ihnen auszukommen. Ich geh meinen Weg und laß mir nix verdrießen. In Gottsnamen … sollen sie schimpfen, wenn ich hab’ verdient!“

„Geh, Rufel, Sie können Ihnen doch g’wiß net beklagen. Sie haben ’s richtige Grüßgott noch allweil von jedem ’kriegt … mit Ihnen handelt jeder gern im Ort! G’wiß wahr, ich hab’ im Ernst noch nie ein unb’schaffens Wörtl über Ihnen g’hört!“

Rufel fuhr sich mit dem roten Tuch über das erregte Gesicht Dann sagte er: „Na! Na! … Schauen Se mich an, liebe, gute Frau Purtschellerin … wie ich da weggeh’, weiß ich doch im voraus, daß ich wieder ein’ Sack voll Grobheiten einzustecken bekomm’. Und warum? Weil ich nach Recht und Pflicht e bißl mahnen muß!“

„O mein Gott! Bei wem denn?“

„Beim Herrn Dax’ in der Schmieden! Nu natürlich! Wieder emal!“

„O Jesus, na! Mit dem armen Schorschl is ein Kreuz!“

„Wem sagen Se das! E wahrer Jammer is mit dem Menschen! E Kerl, gewachsen wie e Baum! Gut muß man ihm sein, wenn man ihn anschaut! Könnt drinsitzen in Glück und Wohlstand wie der Kern im Pfersich. Aber nein! Da verjuckt er das schöne Geld, laßt sich die Sonn’ auf ’n Buckel scheinen und macht für die Bauern den meschuggenen Fisch! Es wird e schlecht’s End’ mit ihm nehmen, fürcht’ ich.“

„Aber schauen S’, Rufel! Jetzt is ihm der G’sell davon, wie d’ Leut’ sagen … jetzt thut er sich doppelt hart. Und seit zwei Tag’ hör’ ich ihn allweil fleißig hammern.“ Karlin’ öffnete das Fenster, damit Rufel die Hammerschläge, welche von der Schmiede herüberklangen, besser hören sollte.

„Nu ja! Wenn ich ein’ ernsten Willen bei ihm sehen möcht’, so möcht’ ich ja mit mir reden lassen. Möcht’ ihm noch helfen! Es is mir weiß Gott doch selber lieber, ich krieg’ mein Geld mit gesetzlichen Zinsen zurück, als daß ich den Menschen zu Grund gehen seh’ und daß wieder einer hinter mir herschreit: Jud, Jud! … Aber ich hab’ nix mehr ein’ Glauben auf ihn. Oder es müßt e Wunder geschehen. Aber Wunder sennen e seltene Sach’. Und glauben Se mir, Frau Purtschellerin: wenn der Leichsinn bei de Menschen emal durchgefressen hat durch de Haut, so kann der beste Schneider von der Welt so e Loch nix mehr flicken. Da werden se blind, da graben se Loch in Loch, schieben die Schuld auf alle Sachen, nur nix auf sich selber, machen e groß Maul und schimpfen auf alle Leut’, malträtieren de Menschen, wo se lieb haben und die ’s ehrlich mit ihnen meinen …“ Rufel verstummte und blickte erschrocken auf. „Was haben Se, Frau Purtschellerin?“

Karlin’ hatte sich erhoben; ihre bleichen Lippen zitterten und Thränen standen ihr in den Augen.

„Meine liebe Frau Purtschellerin! Sie haben e zu gut’ Herz! Und in Gottesnamen … wenn Se schon so viel Mitleid haben mit dem Herrn Dax … Ihnen zu lieb thu ich’s … so will ich heut’ nix mehr mahnen gehen zu ihm und will noch e Weilchen zuschauen. Aber nu lachen Se mer wieder!“ Rufel wurde unruhig, als er sah, daß sich die Erregung der jungen Frau durch diese Zusage nicht beschwichtigen wollte. „Um Gotteswillen! Was haben Se, Frau Purtschellerin?“

„Ich glaub’ …“ Karlin’ ließ die Häkelarbeit fallen und klammerte die Hand an die Tischkante, „ich glaub’, ich hab’ drunten den Toni reden hören!“ Unsicher blickte sie in Rufels Gesicht, dann trat sie scheu und hastig auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Rufel! … Ich hätt’ was auf ’m Herzen!“

„Heraus! Mit dem Rufel können Se reden!“

„Ja, gelt? Schauen S’, wir kennen uns doch seit fufzehn Jahr’ schon! Wie ich noch ein kleins Maderl g’wesen bin, sind S’ ja allweil ’naufkommen zu uns und haben dem Vater die Lampelfell’ abg’handelt …“

„Hab’ immer e guts Geschäft mit ihm gemacht! Is e braver Mann gewesen!“

„Und wissen S’ noch? Wenn der Handel fertig war, haben S’ Ihnen allweil aufs Hausbankl g’setzt und haben plauscht mit mir. Schauen S’, Rufel, schon selbigsmal hab’ ich soviel Zutrauen zu Ihnen g’habt … und jetzt hab’ ich’s wieder. Ich weiß ja, Sie sind ein ehrlicher, gradsinniger Mensch …“

„Nu ja!“ Rufel schnitt eine schmerzliche Grimasse, als hätte ihm Karlin’ kein sonderliches Kompliment gesagt. „Drum hab’ ich doch nix … und bin e Schnorrer! … Aber nu regen Se sich nix auf und sagen Se heraus, was los is!“

Sie vermochte kaum zu sprechen. „Rufel! … Ich glaub’, mein Toni hat ein bißl Sorgen!“ Die hellen Thränen kollerten ihr über die Wangen.

Rufel fühlte einen heißen Tropfen auf seiner Hand und zuckte zusammen. Karlin’ halb von sich schiebend, erhob er sich und sagte mit abgewandtem Gesicht: „Machen Se mir nix solche Sachen vor, [522] Frau Purtschellerin! Ich kann so e junge Frau nix weinen sehen. Und will Ihnen sagen, warum! … Ich hab’ e Tochter gehabt, e brav’ Kind. Is dem Rufel all seine Freud’ gewesen! Und wie sie gehabt hat e paar Jährchen über die zwanzig … da hat sie sterben müssen! Hat nix e Freud’ gehabt in der Welt, nix e Genuß vom Leben … und jung hat se sterben müssen. Mit Geduld hat sie getragen die lange, kranke Zeit … und emal, wie ich vom Dorfgang heimgekommen bin auf ’n Abend, da bin ich wieder zu ihr gegangen ans Bett, hab’ se bei der Hand genommen und hab’ wieder emal gefragt: Veigele, mein Leben, geht’s Dir besser e bißl? … Nix e Wörtl hat se gesagt … hat mir die Hand gedrückt, e so wie Sie jetzt … lassen Se aus, Frau Purtschellerin! … und die Tröpfelche sennen ihr übers Gesicht gelaufen, e so wie Ihnen!“ Er befreite seine Hand, und mit Aerger seine Bewegung verbergend, greinte er: „Machen Se mir nix solche Sachen vor.“

Lautlose Stille war im Zimmer; nur die Wanduhr tickte und vom Hof herauf hörte man undeutlich die scheltende Stimme Purtschellers.

Langsam fuhr sich Rufel mit dem roten Sacktuch rings um den Hals, und bitter den welken Mund verziehend, blickte er von der Seite zu Karlin’ auf.

„Er braucht e Geld?“

Sie brachte kein Wort über die Lippen und schüttelte nur den Kopf.

Rufel hob die Schultern und seufzte. „Ich will Ihnen was sagen, liebe Frau … wie der große Herr Purtscheller mir angethan hat die Ehr’, mich zu bestellen in sein schönes Haus, da hat der Rufel schon mehr gewußt, als der Herr Purtscheller ihm jetzt wird sagen wollen! … Ich denk’ doch, er braucht e Geld!“

„Na! Na!“ stammelte Karlin’, während ihr das Blut in die Stirne schoß. „Aber Sorgen, mein’ ich halt, recht viel Sorgen hat er. Es muß ihm die letzten Jahr’ net ganz so ’nausgangen sein, wie er g’rechnet hat … und …“

„Und was?“

„Und da denk’ ich mir halt, er möcht’ ein’ Rat von Ihnen haben.“

„En Rat?“ Rufel wiegte lächelnd den Kopf. „Nu, den will ich ihm geben als en ehrlicher Mann.“

Karlin’ drückte ihm die Hand. „Vergeltsgott, lieber Rufel! Und …“

„Und was noch?“

„Und ich bitt’ schön, lassen Sie ’s Ihnen net gleich verdrießen, wenn er ein bißl hitzig redt! Schauen S’, er is einwendig doch wirklich ein guter Mensch. Aber so viel gache Hitzen hat er im Blut! Bös meint er ’s ja g’wiß net, aber … aber schreien thut er halt allweil gleich ein bißl!“

Rufel streichelte die Hand der jungen Frau. „Machen Se sich nix e Sorg, Frau Purtschellerin. Soll er schreien! ’s Anschreien is der Rufel gewöhnt. Und nu machen Se e schön’s Gesicht für ihn … da kommt er, ich hör’ ihn auf der Trepp’. Und lassen Se ihn nix merken, daß Se was geredt haben mit ’m Rufel! Ich schweig’ wie e Grab!“ Er schob das rote Tuch in die Tasche, setzte sich und nahm den Hakenstock zwischen die Kniee.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 32, S. 533–539
[533]
8.

Purtscheller trat in die Stube, lächelnd und in bester Laune.

Devot erhob sich Rufel und machte eine tiefe Verbeugung. „Seien Se so gefällig anzunehmen den Ausdruck meiner Verehrung, Herr Purtscheller!“

Der Hausherr sah den Alten belustigt an, schüttelte den Kopf und lachte. „Ihr Juden seid doch merkwürdige Kerln! Wenn sich einer bei der Nasen kratzen will, greift er hint’ um den Kopf ’rum, statt wie andere Leut’ grad’ ins G’sicht! … Ein anders Mal sagen S’ kurzweg Grüß Gott! Ich kann solche Sprüch’ net leiden.“

Wieder verbeugte sich Rufel. „Um es Ihnen recht zu machen, erlauben Se gefälligst, daß ich in aller Kürz’ Ihnen sag’: Grüß Gott!“

„Lassen Sie’s gut sein. Sie lernen ’s doch net!“ Lachend ging Purtscheller hinter den Ofen, um den Sammetflaus gegen eine leichte Hausjacke zu vertauschen.

Dabei half ihm Karlin’ und fragte leis: „Was is denn mit dem Bräunl?“

„Ah was! Gar nix von Bedeutung! Ein bißl in’ kalten Dampf is er halt ’kommen, ’s Frottieren und der Cognac hat ihn schon wieder z’samm’g’richt’! Ganz musper schaut er schon wieder drein! Ja, da is mir ein Stein vom Herzen!“

In dieser erleichterten Stimmung reichte Purtscheller, als er zum Tisch ging, dem Juden mit gnädiger Herablassung die Hand. Freilich wischte er sie gleich wieder an der Hüfte ab.

Die Magd brachte die dampfende Suppenschüssel und stellte sie auf den Tisch.

„Was sagen S’, Rufel! Wie bei mir alles am Schnürl geht! Kaum setzt der Herr ein’ Fuß in d’ Stuben, so heißt’s schon: Tischerl deck Dich! Da könnt’ sich gar manche Wirtschaft ein Beispiel dran nehmen.“ Purtscheller klopfte seine Frau auf die Wange. „Brav, Linerl! … Ja, Rufel, so ein Frauerl hat net jeder!“

„Da haben Se recht, Herr Purtscheller!“ Rufel zog die beiden Daumen ein. „Gott soll Ihnen die Frau erhalten bis zu hundert Jahr!“

Karlin’ errötete. Wie hübsch sie aussah in dieser Freude und verlegenen Scham!

Da gewahrte Purtscheller die beiden Gedecke auf dem Tisch. „Aber Linerl! Hast schon wieder net Mittag g’macht! Und jetzt is halber viere. Wie oft muß ich Dir denn sagen: Du sollst net warten auf mich! Es thut Dir net gut!“

„Aber schau, mir schmeckt’s halt net, wenn Du net dabei bist!“

„No ja! Sein’ Mann gern haben, is ja recht! Aber unvernünftig muß man deswegen doch net sein! Und schau … jetzt kannst Dich auch net hersetzen zu mir. Ich hab’ mit ’m Rufel wichtige Sachen z’reden, und bei G’schäften hab’ ich d’ Weiberleut’ net gern dabei, das weißt ja doch!“

„Es eilt nix, Herr Purtscheller,“ fiel Rufel ein, „ich kann warten, bis die liebe gute Frau gegessen hat!“

„Na, na, um Gott’swillen,“ sagte Karlin’, „laß Dich meintwegen net stören, Toni! Ich kann ja später essen oder drunt in der Kuchl!“ Sie ging zur Kammerthüre.

[534] „Wohin denn? Da drin kannst doch net bleiben.“

„Ich will nur ’s Tonerl nunter tragen. ’s Büberl schlaft und könnt’ aufwachen, wenn ein bißl laut g’redt wird … und da müßt’ ich eh wieder ’rein in d’ Stuben.“ Karlin’ trat in die Kammer und brachte auf ihren Armen den kleinen Burschen getragen, der sich nur halb aus dem Schlaf ermuntert hatte.

„Geh, gieb ihn ein bißl her!“ sagte Purtscheller.

Karlin’ zögerte. „Schau, er hat net ausg’schlafen, und da greint er leicht …“

„Ja soll ich denn gar nix von mei’m Buben haben! Seit in der Fruh hab’ ich ihn nimmer g’sehen! Her damit!“ Purtscheller nahm den Kleinen, kitzelte ihn neckend am Hälschen und unter den Armen, warf ihn in die Luft und fing ihn lachend wieder auf – ein Spiel, für das sich Tonerl mit ängstlichem Zetergeschrei bedankte. „Richtig! Da heult er schon wieder, kaum daß ich ihn angreif! … Karlin’ … mein Bub’ is das net! Das is der Deinig! Da hast ihn, den Schreihals! Trag’ ihn davon!“

Schweigend nahm Karlin’ das Kind auf ihre Arme, küßte ihm die nassen Augen, schmiegte das vor Schluchzen zuckende Köpfchen an ihre Brust und verließ die Stube.

„So!“ sagte Purtscheller und schob sich hinter den Tisch. „Fangen wir gleich an. In G’schäftssachen hab’ ich’s lange Rumreden net gern. Wer sein’ Sach’ versteht, macht kurze Wörtln. Also …“ Er steckte die Serviette vor die Brust und füllte seinen Teller mit Suppe. „Mögen S’ mitessen, Rufel?“

„Ich dank’ schön, Herr Purtscheller, ich eß nix!“

„Ah ja, richtig, Sie dürfen ja nur aus Ihre koscheren Haferln schlecken!“ Purtscheller lachte. „Hören S’, Rufel, so was sollt’ im neunzehnten Jahrhundert doch ein überwundener Standpunkt sein! … Aber ein Glaserl Wein?“

„Ich dank’ schön, Herr Purtscheller, ich trink’ nix!“

„So lassen Sie’s bleiben!“ Purtscheller leerte das Glas und begann zu essen. „Also … daß wir zum G’schäft kommen … ich will Ihnen was verdienen lassen.“

Rufel verbeugte sich, daß sein Kinn die auf dem Hakenstock ruhenden Hände berührte. „Soll mir e Vergnügen sein, wenn e Geschäft sich machen läßt.“

„Was der Berg da droben für Sachen aufführt, das werden S’ ja g’hört haben!“

„Hab’ ich gehört und gesehen! Daß Gott erbarm’! Die armen Leut’ da droben!“

„Ja! Ein Jammer! … Und mein schöner Wald schaut aus, daß mir ’s Herz bluten möcht’! Ein paar hundert Stämm’ hat’s mir schon g’worfen. Und wenn ich net im Frühjahr noch mehr verlieren will, muß ich den ganzen Wald im Winter abtreiben lassen. Ich selber hab’ kein’ Zeit für so was. Drum hab’ ich Ihnen kommen lassen und frag’: wissen S’ mir kein’ Holzhändler, der die ganze G’schicht’ bei Butz und Stingel übernimmt und ’s Geld gleich bar und blank auf ’n Tisch hinzahlt? Sechzigtausend Mark kann einer leicht geben für so ein’ Prachtwald! Die schlagt er ’raus ohne Müh und hat noch sein’ fetten Profit dabei! Also? Wissen S’ mir net so ein’ Kerl? Fünf Prozent kriegen S’ Provision!“

Rufel schwieg.

„No also! Reden S’!“

„E halbes Perzent bin ich gewöhnt bei en ehrlichen Vermittlungsgeschäft. Nu wollen Se mir geben fünfe. Hätt’ ich dreitausend Mark von der Sach’! Wär’ e schön’s Geld für den alten Rufel! … Nur schad! Die Sach’ wird sich nix machen lassen!“

Purtscheller schien nach diesem Einwand das höfliche „Sie“ für überflüssig zu halten. „Du alter Narr, Du! Ja warum denn net?“

„Alt bin ich,“ sagte Rufel in aller Ruhe, „aber nix e Narr, sondern e vernünftiger Mensch, der Augen im Kopf hat und weiß, was e Geschäft is!“

„No also, warum soll sich denn so ein G’schäft net machen lassen?“

„Weil sich nix e Holzhändler wird finden, der für e so en Wald sechzigtausend Mark giebt.“

„Ah, was Du net sagst!“ Lachend leerte Purtscheller das Glas und füllte es wieder. „Da bin ich neugierig! Also? Wie viel denn meinst, daß einer geben möcht’?“

„Für fünfzehntausend trau’ ich mir das Geschäft zu machen.“

Purtscheller wollte aufbrausen – aber da kam die Magd mit der Bratenschüssel. Und bei der Musterung des wohlduftenden Gerichtes verrauchte Purtschellers Aerger. Als die Magd wieder gegangen war, sagte er lachend: „Weißt, mein Lieber, da red’ ich gleich gar nimmer weiter! Wenn Du das G’schäft net machst, so macht’s ein anderer!“

„Gott soll Ihnen so en andern finden helfen!“

„Und net ein’ Knopf laß ich nach! Meine sechzigtausend Mark muß ich haben! Ich brauch’ s’!“

„Sechzigtausend brauchen Se?“ fragte Rufel halb lächelnd und halb erschrocken. „Hab’ ich doch geglaubt, Se brauchen nur achtundvierzig?“

Purtscheller wurde rot über das ganze Gesicht; doch er spielte den Verwunderten. „Wieso?“

„Nu! Weil Se doch müssen löschen an Neujahr die Hypothek vom Schloßbräu!“

„Ja Herrgott sakra …“ Purtscheller warf Gabel und Messer vor sich hin, daß von seinem Teller die Bratensauce über das Tischtuch spritzte. „Hat er sein’ Bubenstreich schon austrommelt in der ganzen Gegend? In Verruf möcht’ er mich vielleicht auch noch bringen … nach der Bosheit, die er mir an’than hat aus lauter Wut, weil mein Bräunl sein’ Schimmel g’schlagen hat!“

„Regen Se sich nix auf, Herr Purtscheller! Und reden Se, bitt’ ich, nix so laut! Ihre gute Frau da drunten und die Dienstleut’ brauchen nix zu hören, was für e Dischkurs wir haben. Und betrachten Se gefälligst, bitt’ ich, die Sach’ mit en ruhigen und offenen Aug’. Der Schloßbräu hat Ihnen die Hypothek nix gekündigt aus Bosheit … er hat Se gekündigt aus Angst, weil er sein Geld zu verlieren fürcht’.“

„Angst! Ah, da schau! Das wär’ mir ja noch das schöner’!“ Purtscheller schien sich wirklich nicht mehr aufzuregen. Er setzte Gabel, Messer und Zähne wieder in Bewegung und sagte mit aller Gemütsruhe: „Geh, thu’ mir den G’fallen, zieh’ Dein Schmierkappl aus ’m Sack und fahr’ ab! Wir zwei haben ausg’redt!“

Rufel lächelte und blieb sitzen. Nach einer stummen Weile sagte er mit seiner sanftesten Stimme: „Die Hypothek müssen Se löschen an Neujahr. Also müssen Se das Geld auftreiben. Und wenn Se von mir gefälligst anhören wollen e gutgemeintes Wörtl, so versprech’ ich Ihnen, daß ich das Geld beschaffen will.“

„Aaah! Pfeifst jetzt aus ein’ andern Klarinettl … weil D’ merkst, daß Deine Schreckschüss’ net verfangen bei mir? Also! Red’?!“

„Sie brauchen zum Löschen, die Kosten eingerechnet, fünfzigtausend Mark! … Warum also wollen Sie sechzig? Noch zehne auf den Hof laden?“

„Weil ich Verbesserungen einführen will in der Wirtschaft!“ sagte Purtscheller, wobei er die Gabel mit einer großen Armbewegung durch die Luft schwang. „Mein Hof könnt’ um d’Hälfte mehr tragen als die letzten Jahr’!“

„Da haben Se recht!“

„Der alte Schlendrian muß aufhören!“

„Da haben Se wieder recht! Freut mich, daß Sie das einsehen!“

„Wenn der Bauer net den Fortschritt mitmacht, is er g’liefert! Er muß sich halt auch ein bißl nach der neuen Zeit richten.“

Rufel sah den Großsprecher mit enttäuschten Augen an. „Ach so? … Hab’ gedacht, daß Sie das schöne Wörtl vom Schlendrian anders meinen … thut mir leid, daß ich mich verhört hab’.“ Er schnitt eine schmerzliche Grimasse. „Und lassen Se mich, bitt’ ich, mit der neuen Zeit in Ruh’! Wirtschaften Se lieber, wie Ihr Vater, Gott soll ihn selig haben, gewirtschaftet hat, und alles wird gut sein!“

„Mein Vater? So? Wer hat denn die Hypothek ’nauf’druckt auf ’n Hof?“

Kaum hatte Purtscheller das gesagt, als er zu merken schien, daß er mit diesem Wort an die falsche Adresse geraten war. Er brummte etwas vor sich hin und nahm ein Stück Braten aus der Schüssel; dann hob er verlegen die Augen – und was der stumme Blick des alten Mannes zu ihm redete, trieb ihm das Blut ins Gesicht.

„No ja …“ stotterte er und stieß den Teller von sich, als wäre ihm der Appetit vergangen. „Reden wir lieber vom G’schäft!“

„Gut! Reden wir vom Geschäft! Und lassen Se mich jetzt in Ruh’ e bißl sagen, wie ich es mein’ …“

„No also, in Gott’snamen, reden S’ halt!“ Purtscheller erhob sich, grub die Hände in die Hosentaschen, trat zu einem Fenster [535] und starrte verdrießlich durch die von rotem Weinlaub umgitterten Scheiben hinaus.

„Das Geld brauchen Se! Nix sechzig … aber fufzigtausend Mark. Und denken Se dabei nix an den armen Wald da droben. Für den kriegen Se, wie heut’ die Sachen stehn, keine vierzig, keine dreißig, keine zwanzig mehr!“

„Daß ich net lach’!“

„Ich hab’ gedacht, daß Se mich wollen reden lassen? … Wer den Wald heut’ kaufen soll, der schaut sich nur zur Hälft’ den Wald, zur anderen Hälft’ den meschuggenen Berg an. Was heut’ noch steht … wer sagt ihm, daß es auch morgen noch stehen wird? Vor dem Winter, eh’ nix der Boden gefroren is, kann er nix anfangen zu schlagen … und bis zum Frühjahr kann er das ganze Holz nix herunterbringen ins Thal. Und da liegt nu das geschlagene Holz auf dem laufenden Boden … und wo steht’s geschrieben und protokolliert, daß im Frühjahr, wenn, Gott behüt, de großen Wasser kommen, der laufende Boden nix einschluckt die schönen Stämm’ und die fertigen Klaftern?“

Purtscheller drehte sich vom Fenster und warf die Jacke von der Brust zurück, als wäre ihm heiß geworden. „Jetzt hab’ ich’s aber g’nug … das unsinnige G’red’ da! Gelt? Möchtest mir den Wald gern abdrucken um ein’ Pappenstiel! Aber da brennen S’ Ihnen, mein verehrter Herr Jud! Ich brauch’ kein’ Holzhandler nimmer … so ein’ Rauberskerl! Jetzt treib’ ich den Wald selber ab … jetzt grad’ mit Fleiß … bloß daß ich beweisen kann, wieviel einer aus dem Wald noch ’rausbringt!“

Stolpernde Schritte kamen über die Treppe herauf, und in die Stube trat ein alter Knecht, atemlos, das Gesicht mit Schweiß bedeckt. „Herr Purtscheller …“

„Um Gott’swillen, was is denn? Wo kommst denn her?“

„Im Wald bin ich droben g’wesen … D’ Frau hat mich ’nauf g’schickt, ein bißl nachschauen … und schlecht schaut’s aus … schlecht, Herr! Ein Paar Tagwerk Holz sind ins Laufen ’kommen … und ich schätz’ auf tausend Klaftern, was der Boden im Nachrutschen zu’deckt hat.“

Fahle Blässe rann über Purtschellers Gesicht. So stand er ein paar Sekunden schweigend und ratlos. Dann schoß ihm das Blut wieder in die Stirne, und mit aufbrausendem Zorn, als wäre der Bote an dem Unglück schuld, fuhr er auf den Knecht los und schrie ihn an: „Du Depp, Du gottverlorener! Wie kannst mir denn jetzt g’rad ins Haus fallen … mit so einer Nachricht!“

„Aber Herr …“

„’Naus, sag’ ich! Mein’ Fried’ will ich haben!“ Und als der Knecht erschrocken über die Schwelle zurückwich, packte Purtscheller die Thüre und warf sie ins Schloß. „Alles kommt über mich! Alles! Alles!“ Da war ihm nun plötzlich das Weinen näher als das Schelten. Zitternd an allen Gliedern ging er zu einem Lehnstuhl und ließ sich in die Polster fallen.

Rufel hatte sich erhoben; er war blaß und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Zögernd schlich er gegen den Lehnstuhl und räusperte sich.

Purtscheller blickte auf. „Du? So? Du bist noch allweil da?“

„E harter Schlag, mein lieber Herr Purtscheller, der Sie da hat getroffen. Aber er soll nix ändern an dem, was ich Ihnen hab’ sagen wollen! Und nu erlauben Se gefälligst, daß ich Ihnen meinen Rat …“

„Ich brauch’ kein’ Rat! Von gar kei’m Menschen net!“

Purtscheller sprang auf. „Und wenn alles über mich kommt, der Berg und der Schloßbräu und die ganze knoflige Judenschaft … der Purtscheller macht ein’ Ruck, und grad’ steht er da, daß ihm keiner net ankann!“

Rufel verlor seine Ruhe nicht. „Ja, Herr Purtscheller, machen Se den Ruck! Und lassen Se den Knofel in Ruh’ … Knofel is en unschuldig Gewächs … hören Se lieber an, was ich Ihnen sagen will.“ Geduldig ging er Trittlein um Trittlein hinter Purtscheller her, der in kochendem Zorn durch die Stube wanderte. „Ich verschaff’ Ihnen die fufzigtausend zu ehrlichen Zinsen, damit Sie löschen können die Hypothek. Und was Se sonst noch schuldig sind, soll bezahlt werden. Aber den armen Wald da droben wollen wir lassen in Ruh’. Was an Holz schon liegt, machen wir im Winter zu Geld und tragen ein schönes Bröckl ab von der Hypothek. Was aber droben stehen bleibt, wollen wir lassen stehen. So schneiden Se nix ins Fleisch Ihr Kind und Ihre Kindeskinder … die brauchen auch noch e bißl e Holz. Und nu passen Se emal auf … aber bitt’ ich, schreien Se nix gleich wieder e so! De Leut’, von denen ich will beschaffen das Geld, verlangen e bißl e Sicherheit, daß der Hof, so lang’ se drauf liegen haben ihre Hypothek, nix wird entwertet, und daß de Zinsen werden in der Ordnung bezahlt … nix e so, wie die letzten Jahr’ her, wo der Herr Schloßbräu gehabt hat ein’ Verdruß um den andern … verzeihen Se gefälligst!“

„No ja! Ein bißl Stockung kann doch überall eintreten!“

„E Stockung kann eintreten! Da haben Se recht! Aber so e Stockung kann auch werden vermieden! Und nu weiß ich, Se sennen e feiner und e vornehmer Mann, Herr Purtscheller!“ Rufel lächelte zufrieden, als er die Wirkung dieses Komplimentes gewahrte. „Und so e feiner Mann kann sich nix abgeben mit der groben Bauernarbeit … und soll lassen arbeiten die andern!“

„’s erste g’scheite Wörtl, das ich hör’!“ sagte Purtscheller besänftigt.

„Nu also! Und da können Se doch nix einwenden, wenn ich sag’: ich will en tüchtigen, verläßlichen Menschen besorgen, dem Se de Wirtschaft vertrauensvoll übergeben können!“

„Was! Soll ich mich gleich gar unter Kuratel stellen lassen!“

„Hab’ ich e Wörtl gesagt von Kuratel? Wir machen bei en Notar en stillen Vertrag unter uns, und ich hab’ das Vertrauen zu Ihnen, daß Se den halten … Se sennen e feiner, e vornehmer Mann!“

„Ja, Rufel! Mein Wort is Eisen! Da giebt’s nix. Und ganz offen sag’ ich Dir: an so was hab’ ich selber schon ’denkt. Weißt, den Simmerauer-Mathes hätt’ ich gern g’habt!“

„Den Mathes?“ Rufel kam in sprudelnden Eifer. „Herr Purtscheller! Da haben Se gehabt de feinste Idee, was man kann haben! Der Mathes is e Mensch wie Gold. Den halten Se fest! Lassen Se den Mathes nimmer aus! Der Mathes, sag’ ich Ihnen … wenn er gebracht hat de Wirtschaft e bisselche in Ordnung … der bringt heraus aus dem schönen Hof unsere fufzehntausend Mark e Jahr’!“

„Mehr, sag’ ich!“

„Sagen wir fufzehn! Is eh schon genug! Und nu denken Se emal de schöne Rechnung: mit siebentausend Mark bezahlen wir de Zinsen und amortisieren alle Jahr e Bröckelche vom Kapital. Da sennen Se fertig in zehn, zwölf Jahr! Und wenn Se emal hinaufkommen in Ihren christlichen Himmel, können Se sagen zu Ihrem guten Vater … ‚Vaterleben,‘ können Se sagen, ‚ich hab’ hinterlassen meinem Sohn en schuldenfreien Hof, wie ich ihn hab’ übernommen von Dir!‘ Das können Se sagen! Und dabei haben Se gehabt das schönste Leben! Achttausend Mark e Jahr!“

Die Rührung, von welcher Purtscheller angeflogen schien, war beim Klang dieser Ziffer jählings verschwunden. „Ja Mensch! Was fallt Dir denn ein? Wie soll denn ich mit achttausend Mark auskommen?“

„Mit achttausend Mark werden Se haben e Leben wie e Fürst! Und wollen Se nu gar leben wie e Kenich … so geben Se das Geld in die Hand Ihrer guten, braven Frau! Die wird verköstigen alle Leut’ im Hof, wird Ihnen gönnen jedes Vergnügen und wird noch ersparen dabei!“

„So ein Siemandl sollt’ ich abgeben? Ah na, mein Lieber!“

„Herr Purtscheller! Sie sennen nicht nur e feiner und e vornehmer Mann … Sie sennen auch e gescheiter Mann!“ Rufel haschte Purtschellers Hand und streichelte sie. „Und nu beweisen Se das emal … daß de Leut’ vor Staunen sollen Augen machen wie Wagenräder e so groß! Zeigen Se emal: ‚e so e Mann bin ich!‘ Machen Se den Ruck, den Se mir haben versprochen als e Mann von Wort! Mit achttausend Mark können Se leben wie e Kenich, hab’ ich gesagt. Und wie e Kaiser können Se leben, wenn Se wollen e bißl abstoßen von sich de unnötigen Geldfresser! Wozu brauchen Se zum Exempel e Jagd? Was rennen Se da umenander auf die steilen Berg’, wo man sich kann brechen Hals und Füß’? Bleiben Se doch lieber daheim bei Ihrer guten Frau, die Se lieb hat und Ihnen machen wird e schöns Leben. Und wozu wollen Se erschießen die unschuldigen Tier’? Lassen Se de armen Viecher doch ihr bißl Leben! Schießen Se lieber auf de geduldige Scheiben! Scheibenschießen is e Vergnügen, was sich paßt für so en feinen und en vornehmen Mann!“

Purtscheller lachte.

„Nu ja, lachen Se! Lachen im Haus is e schöne, gesunde [538] Sach’ … und draußen auf der Jagd runieren Se sich de kostbare Gesundheit! Und so e Jagd hat e Maul wie e Walfisch und frißt alle Tag’ ihren Haufen Geld, wie e Pferd den Hafer!“

„Ja, Rufel, da haben S’ recht! Es is mir selber schon oft z’viel worden. Kein Tag vergeht ohne Aerger … und ’s Aergern thut mir net gut! Ja, Rufel, da haben S’ mein Handschlag … die Jagd gieb’ ich auf!“

„Herr Purtscheller! Sie sennen e Prachtkerl!“ In heller Freude umklammerte Rufel mit seinen dürren Fingern die Hand Purtschellers. „Da haben Se gemacht en festen Ruck! En großen Ruck! Und daß Sie sehen sollen, was ich e Freud’ dran hab’ … ich därf nix trinken aus en trefern Glas … aber nu lauf’ ich hinunter und hol’ mir mein’ Häfelche aus ’m Sack … und Se sollen mir einschenken e Tröpfelche Wein, daß ich kann anstoßen mit Ihnen auf die neue, schöne Zeit!“ Er humpelte zur Thüre – aber ein Gedanke ließ ihn wieder umkehren: er wollte das warme Eisen schmieden. „Und wenn Se machen wollen noch e größeren Ruck … schauen Se an, Herr Purtscheller, wozu brauchen Se zu halten e Rennpferd?“

Purtscheller, welcher lachend nach dem Wein gegriffen hatte, stellte das Glas wieder fort und wandte mit hastiger Bewegung das Gesicht über die Schulter.

„Is e Sach’, was Ihnen kost’ e Heidengeld. Statt daß Se müssen bezahlen, können Se verdienen … und wenn Se gleich haben wollen e schön Stückl Geld auf die Hand, so verkaufen Se den Bräunl! Ich kann Ihnen machen e feins Gebot. Vor acht Tag’ hat mir gesagt der Schloßbräu, daß er für den Bräunl geben möcht’ viertausend Mark. Greifen Se zu, Herr Purtscheller! Und Sie können wie e feiner Mann bezahlen de rückständigen Hypothekzinsen und de Feuerversicherung und de unschönen Spielschulden beim Wirt, was sich nix passen für so en vornehmen und feinen …“

Erschrocken verstummte Rufel.

In aufflammendem Jähzorn hatte Purtscheller die Weinflasche gepackt und schlug sie gegen die Tischkante, daß die Scherben umherflogen und der Wein über Tisch und Dielen rann. „Du Gauner, Du gottverdammter! Jetzt kenn’ ich mich aber aus! Jetzt weiß ich, wie ich dran bin mit Dir!“ Er lachte in seinem Zorn. „So also is die ganze Komödie g’meint! Du und der Schloßbräu miteinander …“

„Erlauben Se gefälligst,“ stammelte Rufel, „wie können Se glauben …“

„In d’ Hand möchts mich kriegen,“ schrie Purtscheller, daß alle Fensterscheiben klangen, „und binden möcht’s mich am ganzen Leib, daß ich mir den Bräunl müßt’ abdrucken lassen um so ein Schandgeld!“

„Gott der Gerechte!“ Rufel wehrte mit beiden Händen. „Ich hab’s ehrlich gemeint, aber ich will nix gesagt haben! In Gottesnamen, behalten Se das Roß!“

„Net um hunderttausend Mark gib ich den Bräunl her! Net um die ganze Welt!“

„Ja, ja, ja! Behalten Se das Roß! Fahren Se mit dem Roß spazieren bis zu hundert Jahr! Ich bin zufrieden, wenn Se die Jagd …“

„’s Maul halt’, sag’ ich! Gelt, jetzt fahrt Dir die Angst in d’ Nasen, weil ich so g’scheit bin, daß ich hinter Dein’ ganzen Schwindel schau! ’naus mit Dir!“

„Aber Herr Purtscheller! So hören Se doch e ruhig und vernünftig Wörtl. So e feiner und vornehmer …“

„Ja! Fein! Ein bißl gar z’ fein für so ein’, wie Du bist!“

„Um Ihrer selbst willen und Ihrer guten Frau zulieb beschwör’ ich Sie …“

„’naus, sag’ ich, oder ich vergreif’ mich an Dir, Du Jud’, miserabliger!“

Dunkle Röte schoß über das hagere Gesicht des Alten und seine Stimme zitterte. „Beleidigen Se, bitt’ ich, den alten Rufel nicht! Ich bin nix miserabel! Ich bin e Jud’ … ohne was dabei …!“

„’naus! ’naus zur Thür!“

„Nix geh’ ich! Ich bleib’, Herr Purtscheller! Und will Ihnen wiederholen in aller Güt’ …“

„Daß ich mir vom Schloßbräu und von Dir ’s Kravattl soll zuschnüren lassen, gelt? … Gehst jetzt oder net! … Kerl, ich bin imstand und schieß’ Dich nieder auf der Stell’ …“ Keuchend sprang Purtscheller zum Ofen und riß seine Büchse vom Gewehrrechen.

Das zu sehen, ging über Rufels Mut und guten Willen. Mit einem Sprung, daß seine Rockschöße flatterten, war er bei der Thüre, mit dem nächsten schon draußen im Flur. Während er die Treppe hinunterstolperte, hörte er hinter sich einen Fluch und spürte einen Schlag auf dem Rücken – Purtscheller hatte ihm den Hakenstock nachgeschleudert. Taumelnd hob Rufel den Stecken auf. Als er seinen Zwerchsack unter der Treppe hervorgerissen hatte und zur Hausthür kam, trat ihm Karlin’ entgegen, bleich und zitternd.

„Rufel?“

„Verzeihen Se, meine liebe, gute Frau …“ Rufel hatte den Atem verloren und vermochte kaum zu sprechen. „Verzeihen Se, aber mit Ihrem Mann is nix zu reden! E Mensch, der die Leut’ erschießen will, die ’s ihm gut meinen … dem is nix mehr zu helfen! Der Rufel bedankt sich schön … mit e Schießgewehr is nix e Spaß zu machen!“ Scheu blickte er über die Treppe hinauf und dämpfte die Stimme. „Aber nehmen Se noch e Rat vom Rufel! Sehen Se zu mit aller Gewalt, daß Se bekommen das Regiment in Ihre Hand … oder Ihr schönes Haus fangt zu laufen an wie da droben der meschuggene Berg … und lauft und lauft bis hinunter ins Wasser! Ihnen zu lieb, meine gute Frau … Ihnen zu lieb will ich …“ Da hörte er droben im Flur die Schritte Purtschellers und schob sich erschrocken zur Hausthür hinaus.

„Rufel!“ stammelte Karlin’ und wollte ihn zurückhalten.

Doch ohne das Gesicht zu wenden, eilte Rufel durch den Garten. „Behüt’ Sie Gott, liebe Frau … aber es is mir nix zu verdenken, wenn ich mir salvier’!“ Als er von der roten Steintreppe auf die Straße sprang, warf er in seiner blinden Angst und Eile ein kleines Mädchen zu Boden, das ein irdenes Krüglein zwischen den Händen trug. „Nix für ungut, Kinderl!“ stotterte Rufel und eilte davon.

Droben vor der Hausthür stand Karlin’ und sah ihm mit nassen Augen nach. Tonerl hatte sich an ihre Schürze gehängt – und mit zitternden Händen preßte sie das Köpfchen des Kindes an ihren Schoß.

Da kam der Altknecht von den Ställen her um die Hausecke gelaufen.

„Frau Purtschellerin …“

Sie hörte kaum. „Was denn?“

„Ich trau’ mir’s schier gar net z’ sagen …“

Langsam blickte sie auf und strich die Zaushärchen hinters Ohr. „Was bringst denn?“

„Mit dem Bräunl is was passiert!“

„Jesus Maria!“

Im gleichen Augenblick trat Purtscheller aus der Hausthür – für die Jagd gekleidet, mit der Büchse auf dem Rücken und sah die beiden beisammen stehen – verzagt und wortlos.

„Was giebt’s?“

Er bekam keine Antwort – doch Karlin’ schob zitternd den Knaben hinter sich, als hätte sie Angst für ihn.

„No? Was is denn? Krieg’ ich bald Antwort oder net? Ich leid’ keine Tuschlereien im Haus – von meiner Frau net und noch viel weniger von ein’ Dienstboten!“

Da sagte es ihm der Knecht, kurz und grob. „Den Bräunl hat der Schlag ’troffen. Hint’ im Stall liegt er. Maustot! Für den hat der Doktor kein Trankl nimmer.“

„Was?“ Purtscheller erbleichte und tastete mit der Hand nach einer Stütze.

„Toni! Mein Toni!“ Karlin’ rief’s. Doch er schob den Arm seiner Frau zurück. „Ah na! Ah na! So was giebt’s net!“ lallte er und rannte durch Flur und Küche in den Wirtschaftshof. Keuchend stellte er die Büchse an die Mauer und trat in den Stall.

Da lag das schöne Tier auf dem Stroh, regungslos, mit eingekrampften Beinen und in einem Winkel stand Zäzil wispernd mit zwei Knechten beisammen.

Purtschellers Gesicht verzerrte sich und er hob die Faust. „Den hat mir der Jud verwunschen!“ Dann schoß ihm das Wasser in die Augen. „Bräunl! Mein Herzbinkerl, mein liebs!“ stammelte er, warf sich auf die Kniee nieder und versuchte den Kopf des Pferdes emporzuheben. Doch der Hals des Thieres war starr, und wie ein grauer Schleier lag’s über den Augen, die am Morgen noch so klug und feurig geblickt hatten.

In seinem hilflosen Kummer fing Purtscheller zu weinen an wie ein Kind.

[539] Die Thüre verfinsterte sich – Karlin’ war auf die Schwelle getreten, mit ihrem Knaben an der Hand.

Purtscheller richtete sich auf, und das Gesicht mit den Händen bedeckend, lehnte er sich schluchzend an den Barren.

„Mammi?“ fragte Tonerl. „Thut ’s Rösserl schlafen?“

„Ja, mein Herzerl!“ flüsterte Karlin’ mit versagender Stimme und drückte dem Kinde die Hand auf das Mündchen. Dann ging sie zu ihrem Mann, legte den Arm um seine Schulter, und während sie ihm sanft die Hände niederzuziehen suchte, lispelte sie: „Toni! Geh, komm! … Schau, komm mit ’rein ins Haus! … Geh, Toni, das kann ich gar net anschauen, daß Dich unsere Leut’ so sehen müssen! … Toni! … Geh, komm, laß Dich ’neinführen ins Haus!“

Er schob sie von sich, und während ihm die Thränen über die zuckenden Wangen kollerten, deutete er auf das verendete Pferd. „Da schau her! So meint’s der Himmel mit mir! Alles kommt über mich! Und ’s Liebste muß ich hergeben! ’s Allerliebste, was ich hab’!“

Sie sah ihn zu Tod erschrocken an. „Toni! Um Gottswillen! Thu Dich doch net versündigen mit so ei’m Wort!“ In verstörter Hast hob sie den Knaben vom Boden auf und hielt ihn dem Vater hin. „Toni!“ Thränen erstickten ihre Stimme. „Toni! … Geh, nimm Dein Kinderl! … Schau, is doch so was Lieb’s … ’s allerliebste, was D’ haben kannst … geh, schau, Toni, wie er Dich anlacht und wie er d’ Armeln streckt! … Geh, Toni, nimm Dein Kinderl!“

„Ja, is schon recht!“ Purtscheller fuhr mit der Faust über die Augen und murmelte: „So mach’ mir doch vor die Leut’ kein’ so Komödi her!“

„Toni!“

Reizte ihn der schmerzliche Vorwurf, der aus diesem Worte klang – oder wurde der erst halb ausgekochte Jähzorn wieder lebendig in ihm?

„In Ruh’ laß mich!“ schrie er. „Heut’ vertrag’ ich nix! … Alles geht z’ Grund umeinander! … Aber recht g’schieht mir! Ganz recht!“ Purtscheller schlug sich mit der Faust an die Stirne. „Ganz recht! … Wenn man der Esel is und den Bettel ’reinheirat’ ins Haus, kann man sich net beschweren, wenn er sich anfrißt an alle Wänd’, wie der Rost ans beste Eisen! … Ja, mein Büberl, ja, bedank Dich bei Deiner Mutter!“

Karlin’ mußte den Knaben zu Boden stellen – ihre Arme zitterten und waren plötzlich so schwach geworden, daß sie das Kind nicht mehr zu tragen vermochte. Mit fahlem Gesicht stand sie an die Mauer gelehnt und preßte die Hand auf ihre Brust, als wäre eine Lebensfaser ihres Herzens entzwei gerissen.

Die beiden Knechte und Zäzil drückten sich wortlos zur Stallthür hinaus – und Purtscheller gewahrte das versteckte Lächeln, das um die Lippen der Dirne zuckte.

„Ja, Madl, hast recht, daß D’ mich auslachst!“ Es fiel ihm ein, daß er versprochen hatte, der Magd zu kündigen. „Ah na! Jetzt grad’ mit Fleiß net! … G’scheiter, wer anderer ging’!“ … Mit tiefem Atemzug, als wäre ihm jetzt leichter geworden, trat er ins Freie und packte die Büchse. „Heut’ nacht komm ich net heim! Ich bleib’ in der Jagdhütten!“ rief er über die Schulter zurück. „Endlich muß ich mich doch auch wieder einmal in Ruh’ ausschlafen können und ein paar friedliche Stunden haben!“

Seufzend nahm er die Büchse auf den Rücken, trat durch die Hinterthür des Hauses in die Küche und wanderte müden Schrittes durch den Flur.

Als er in den Garten kam, blieb er stehen und blickte unschlüssig gegen das Haus zurück. Es war seinem Gesichte abzulesen, daß ihn nach all dem blinden Zorn eine Regung von Vernunft und Reue befiel.

Doch unwillig rückte er den Hut. „Ah was! … Sie muß ja doch wissen, daß ich’s net so mein’!“

Da hörte er von der Straße her das bitterliche Weinen eines Kindes.

„O jegerl! Was is denn?“

Er stieg über die Treppe hinunter und sah neben dem Straßengraben ein kleines Mädchen stehen, in hilflosem Kummer und das vom Weinen aufgedunsene Gesichtchen von Thränen überronnen. Vor dem Kinde lagen die Scherben eines irdenen Kruges in verschüttetem Oel.

„Ja Maderl! Was is denn geschehen? Warum weinst denn? Hast Dein Haferl fallen lassen?“

„Na! … Der Jud …“ schluchzte das Kind, „der Jud’ hat mich … umg’rennt … und hat mir … ’s Haferl derstößen!“

„Natürlich! Wieder der Jud’! … Aber geh, Butzerl, da mußt net weinen! Schau, der Schaden laßt sich ja wieder gutmachen!“ Purtscheller zog sein Taschentuch hervor, trocknete dem Kinde die Thränen von den Augen und schenkte ihm einen Thaler. „So, Schatzer!, da hast was! Da kaufst Dir ein neues Haferl und wieder ein Oel … und was Dir übrig bleibt, das legst in Dein Sparbüchserl, gelt?“ Lachend gab er dem getrösteten Kinde einen Klaps auf das Röcklein und ging seiner Wege.

Als er beim Krämer vorüberkam, wollte Rufel gerade aus der Hausthür treten; doch erschrocken fuhr der Alte bei Purtschellers Anblick zurück, verbarg sich hinter der Thüre und spähte durch die Spalte, bis das gefürchtete „Schießgewehr“ um die Ecke verschwunden war. Dann trat er auf die Straße und schüttelte kummervoll den Kopf.

„E so e Mensch! … Und de arme Frau!“

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 33, S. 549–554

[549] Während Rufel der Straße folgte, klangen ihm aus der Daxenschmiede die Hammerschläge entgegen. Aber sie tönten nicht hell und gleichmäßig – es war etwas Gereiztes in der unruhigen Hast, mit der sie aufeinander folgten – und plötzlich endeten sie mit einem dröhnenden Schlag, als hätte Schorschl seinen Ingrimm über irgend eine böse Sache den schuldlosen Amboß entgelten lassen.

Rufel lauschte und lauschte; doch in der Schmiede blieb es still, und über der Esse war keine Spur von Rauch zu sehen.

Als Rufel zur Schmiede kam, sah er, daß ein Bauer einen wackligen Schubkarren, der noch mit mancherlei anderem der Reparatur bedürftigen Eisengerät beladen war, vor dem Thor der Werkstätte niedersetzte.

Es war der Bauer, dem der Leiterwagen gehört hatte. Er guckte in die leere Werkstätte. „He! Schmied!“

Nichts rührte sich, keine Antwort ließ sich hören.

Der Bauer ging zur Hausthür, stieß sie auf und rief: „He! Schorschl! Wo bist denn?“

Alles blieb stille.

„Natürlich! Ich hab’ mir ’s ja eh gleich’ denkt! … Jetzt kann ich wieder abfahren!“ Brummend faßte der Bauer nach seinem Karren und schob ihn wieder davon.

Mit beiden Armen über den Zaun gelehnt, hatte Rufel diesen Vorgang beobachtet.

„Nu also? Wo is er jetzt, der Herr Dax? Könnt’ Arbeit haben … und wo steckt er nu wieder?“

Da klangen aus dem Garten der Schmiede schmachtend gezogene Trompetentöne:

„Du, Du, liegst mir im Herzen,
Du, Du, liegst mir im Sinn …“

Wie rein und schön das klang! Es paßte so recht zu diesem klaren, von der scheidenden Sonne goldig angehauchten Herbstabend! Doch Rufel schien für poetische Naturstimmungen und musikalische Genüsse nicht das richtige Verständnis zu besitzen – denn er schnitt eine gar säuerliche Grimasse.

„Trumpeten blost ’r! … Und blost m’r wieder e Loch in mein’ Sack! … Nu will ich ihm aber doch e Wörtche sagen!“

Er trat in den Hof, aber dann kehrte er wieder um und wanderte seufzend davon. „Ich hab’s versprochen! Ich will heut’ nix mehr zu ihm mahnen gehen!“

[550] Mit inbrünstigem Crescendo klang es aus dem Garten der Schmiede:

„Du, Du, machst mir viel Schmerzen,
Weißt nicht, wie gut ich Dir bin!“

Schorschl, der hinter dem Haus zu Füßen eines Apfelbaumes saß, hatte, als er das Lied zu Ende geblasen, die Trompete in den Schoß gelegt und blickte melancholisch vor sich nieder. Es war ein Ausdruck ehrlich quälenden Kummers in seinem Gesicht.

Bei seinem Brüten und Sinnen griff er nach einem der überreifen Aepfel, die vom Baum gefallen waren und im welken Gras umherlagen – und während er Stück um Stück von dem Apfel abbiß, suchte er mit grübelnden Gedanken nach einem Ausweg aus seiner „Schlemastik“.

Er hatte Angst vor seiner „Lustigkeit!“ Bei all den Sorgen, die ihn drückten, bei diesem vergeblichen Warten auf Arbeit drohte wieder der alte, ungeduldige Schorschl in ihm die Oberhand zu gewinnen. Die „Lustigkeit“ zuckte ihm in allen Gliedern und rollte in seinem Blut, sie zog ihn vom Amboß fort, hinüber ins Wirtshaus, hinunter zum Bach, hinauf auf die Berge – ganz besonders in die Gegend der Simmerau.

Er sah es klar und deutlich ein, daß er diesem prickelnden Zug auf die Dauer nicht widerstehen könnte, trotz all seiner guten, redlichen Vorsätze. Ja, er wollte ein braver, ordentlicher Kerl werden – ganz ehrlich wollte er das – aber er merkte auch, daß er das „Bravsein“ so ganz aus sich allein nicht fertig brächte. Er brauchte Hilfe dazu – die Hilfe der anderen! Und die wollten nicht kommen, wollten ihm die Hand nicht reichen!

„Hol’ s’ der Teufel alle miteinander, die mißtrauischen Geizkragen!“

In seinem Aerger schleuderte er den halb verzehrten Apfel wütend gegen einen Baumstamm, daß der Saft in Strahlen auseinanderspritzte.

Wenn nur wenigstens eine ihm die stützende Hand reichen möchte – eine einzige nur, meinte er.

„Die da droben!“

Wenn die an ihn glauben möchte! Die könnte alles aus ihm machen! Könnte ihn von innen heraus umkehren wie einen fleckig gewordenen Sonntagsrock, so daß die bessere Seite nach außen käme! Wenn die mit ihrem „süßen Stimmerl“ zu ihm sagen möchte: „Ja, Schorschl, ich bin net wie die andern, schau, ich hab’ noch ein bißl Vertrauen auf Dich, und meiner Seel’, ich möcht’s riskieren mit Dir! Aber gelt, Schorschl, das siehst doch ein, ich kann doch kein’ Lumpen heiraten, der bis über d’ Ohrwatscheln in Schulden steckt … schau, ich bin doch ein ordentlich’s Madl!“

„Ja, Vroni, da fehlt sich gar nix!“ So würde er dann sagen. „Ein brävers Madl, wie Du bist, giebt’s in der ganzen Welt nimmer!“

„No also, schau,“ müßte dann Vroni wieder sagen, „wenn’s Dir schon gar so viel z’ thun is um mich, so mußt Dich halt auch danach aufführen und ein bißl ein’ anderen aus Dir machen! Fest antauchen mußt halt, weißt, und die Geduld net verlieren … nachher geht’s schon! Mit dem richtigen Willen laßt sich alles machen in der Welt! Pack’s halt an, Schorschl, pack’s an! Und laß nur nimmer aus! Hast ja g’sunde Fäust’, und ’s g’scheite Köpfl fehlt Dir auch net! Und wenn Deine Schulden abg’arbeit’ hast und ich hab’ mich überzeugt, daß D’ ein anderer worden bist, so komm halt wieder und frag’ an bei mir! Und unter der Zeit, weißt, da därfst Dich schon diemal an mei’m Fensterl anschauen lassen für ein’ heimlichen Plausch, daß ich Dir wieder ein bißl Mut zusprich! So, und jetzt geh, Schorscherl, pack’s an!“

Ja, ja, ja! Wenn die da droben so zu ihm sprechen möchte, dann wäre ihm gleich geholfen! Dann hätte er doch ein Ziel vor Augen, einen Zweck, einen Halt, eine Freude bei der Arbeit! Dann wüßte er doch, wofür er sich plagen, schinden und gedulden sollte! Und dann hätte er auch gleich das Recht, für die kommende harte Zeit sich eine Wegstärkung mitzunehmen – würde jauchzend das Hütlein in die Luft werfen, sein Schätzlein in heißer Dankbarkeit umhalsen und ihm „eins ’naufdrucken aufs Göscherl, aber schon ein g’hörigs Bussel“ – eines, das ausgab für ein halbes Jahr!

„Herrgott sakra! Herrgott sakra!“

Während er sich das so vorstellte, wurde ihm ganz warm ums Herz, und seine Backen fingen zu brennen an – wie in der Esse die Kohlen, wenn der Blasbalg getreten wird.

Und weshalb sollte sie nicht so zu ihm sprechen? Wäre denn das so ganz unmöglich?

„Sie is doch so ein liebs und grundguts Madl! Und hat’s Herz am richtigen Fleck!“

Wenn er das „Sprüngerl“ in die Simmerau hinauf riskieren würde? Um ein offenes und ehrliches Wörtlein mit Vroni zu reden?

„Meiner Seel’! Ich thu ’s!“

Mit diesem Entschlüsse sprang er lachend auf, setzte die Trompete an den Mund und blies mit schmetternden Klängen das Liedlein:

„Maderl, Maderl, laß Dich fragen,
Thut für mich Dein Herzerl schlagen?
Geh, mußt net so heimlich sein,
Maderl, Maderl, g’steh’ mir’s ein!“

Lachend spähte er gegen die Simmerau hinauf und lauschte dem Echo.

Von neugestärkter Hoffnung erfüllt, kehrte er in die Werkstätte zurück und schmiedete mit lustigem Eifer noch ein paar überflüssige Hufeisen, bis der Abend sank und das Licht zu erlöschen begann.

Mit einer Sorgfalt, wie er sie seit langen Jahren nicht geübt hatte, räumte er die Werkstätte auf, schloß das Thor und versperrte die Hausthür.

Die Trompete unter der Joppe verbergend, wanderte er durch die Dämmerung bergan und pfiff dazu in hoffnungsreichem Seelenvergnügen eine heitere Weise vor sich hin.

Der Wind hatte umgeschlagen. Unruhig und frostig blies er im sinkenden Dunkel über die Berggehänge hernieder und verkündete einen der jähen Wetterstürze, wie sie dem Herbst in den Bergen eigen sind. Wohl zitterte in der Höhe des Himmels der freundliche Schein zerstreuter Sterne aus dem tiefen Blau hervor, und die nordöstlichen Bergspitzen waren angehaucht vom matten Silberglanz des steigenden Mondes; doch von Südwesten hob sich eine langgestreckte schwarze Wolkenschicht hinter den Felswänden empor und verschlang einen leuchtenden Stern um den andern. Vorgeschobene Nebelstreifen griffen nach allen Seiten aus, verschleierten den Mond, erstickten sein Licht und stülpten die Wetterkappen über alle Spitzen und Grate.


9.

In der Simmerau waren sie schon zu früher Abendstunde schlafen gegangen, gebrochen und müd’ von der angestrengten Arbeit.

Am verschobenen Balkenrost und am niedergebrochenen Verhau der Böschung war freilich nur wenig gebessert worden. Dafür aber waren die Eisenschlaudern in die zersprungene Mauer eingesetzt, die Wandnarben waren mit Mörtel überstrichen, und noch in der Dämmerung hatte Mathes die ganze Rückseite des Hauses frisch geweißt, damit der Vater am Morgen wieder eine schöne, tadellose Mauer sehen möchte.

Vor dem Schlafengehen waren sie noch eine Weile unter der Hausthür gestanden und hatten hinuntergelauscht ins Thal, wo das aus dem unterhöhlten Berg hervorströmende Wasser schwächer zu rauschen, also auch spärlicher zu fließen schien.

„’s Wasser wird weniger mit jedem Tag,“ hatte Mathes gesagt, „das hilft uns, Vater!“

„So? Meinst? … Ja ja, hast recht, wenn ’s Wasser weniger wird, kann’s unt’ drin im Boden nimmer so gar viel ausfressen!“

Und einen zweiten Trost hatte ihnen der schneidend kalte Wind und der Anblick der aufsteigenden Wolken gebracht.

Mathes hatte gleich die ersten Nebelflocken gewahrt, welche hinter den Felswänden emportauchten. „Da schau ’nauf, Vater! Da kommt was, mein’ ich, was Dir g’fallen könnt’!“

„G’fallen? Aber Bub? Was redst denn? Die schauen sich ein bißl naß an … und ich fürcht’, sie lassen fallen!“ So hatte Michel gesagt; aber aus dem zögernden Klang seiner Worte hatte die Hoffnung herausgeredet, daß er Widerspruch finden möchte.

„Fallen lassen s’, meinst? Ja! Aber kein Wasser net! Schau nur, wie hinter’m Nebel die schweren Wolken nachdrucken … völlig bleifarben … kannst mir’s glauben, Vater: die tragen Schnee!“

„Ja ja … jetzt glaub’ ich’s schon bald selber!“

„Paß auf! Die bringen über zwei, drei Tag’ den richtigen Winter! Und d’ Ruh’ für uns.“

„D’ Ruh’ für uns!“ hatte Michel leise wiederholt. Und die dürren, zitternden Hände faltend, hatte er zum Himmel aufgeblickt und hatte, als wäre ihm ein besseres Gebet nicht eingefallen, ein [551] paarmal dieses eine Wort noch vor sich hin gemurmelt: „D’ Ruh’ für uns! … D’ Ruh’ für uns!“ Dann hatte er Gesicht und Brust bekreuzigt. „Heut’, mein’ ich, schlaf ich ein bißl besser! … Komm, Mathes, schauen wir halt, daß wir d’ Ruh’ finden. Morgen heißt’s wieder fest arbeiten!“

Sie waren in den Flur getreten. Und hier in dem dunklen Raum, in dem sich der Ausdruck eines Gesichtes nicht mehr unterscheiden ließ, hatte Mathes völlig unvermittelt gefragt: „Du, Vater? Hast einmal was reden hören, als ob der Purtscheller ein G’schäft mit ’m Juden hätt’?“

„Warum fragst?“

„Weil ich den Rufel vor ’m Purtschellerhof auf der Hausbank hab sitzen sehen.“

„Den Rufel? So? So? Ah na! Der Rufel laßt sich auf schieche Sachen net ein! Da hat’s kein’ G’fahr net! Wenn’s ein anderer wär, net der Rufel … so müßt man sich freilich bald ein bißl was denken! Aber na! Der Herr Purtscheller braucht kein Juden net! So steht er doch net! Na! Ein’ Holzhandel, mein’ ich, gilt’s halt! Drüben im Wald is viel Holz g’fallen! Das möcht’ er halt gern verkaufen, der Herr Purtscheller … denk’ ich mir! Aber anbringen wird er ’s hart! Ja!“

Mathes hatte die Stube betreten, ohne ein Wort zu erwidern.

Dann war es in dem kleinen Hause still geworden. Kaum hatte Michel den weißen Kopf in die Kissen gedrückt, da war auch schon ein fester Schlaf auf seine müden Augen gefallen – zum erstenmal seit langen Wochen. Er schnarchte sogar ein bißchen. Das konnte Mathes hören, der in der finsteren Stube sein hartes Lager auf der Ofenbank eingenommen hatte; er lag mit offenen Augen, doch ohne sich zu regen.

Nur Vroni war noch auf und geisterte beim flackernden Schein eines Talglichtes in ihrer Kammer umher.

Zuweilen fuhr ein kalter Windhauch durch das offene Fenster und machte die kleine Flamme noch heftiger zucken. Mauerbrocken waren über die Dielen zerstreut, neben einer Mörtelkufe lagen Spitzhammer und Kelle und an der Wand sah man noch die offenen Löcher, in welche die Schraubenmuttern der eisernen Schlaudern eingesenkt waren. Der Tag hatte nicht mehr ausgereicht, um auch auf der Innenseite der gesprungenen Mauer den Schaden völlig auszubessern und die kleine Kammer wieder in wohnliche Ordnung zu bringen. Deshalb sollte Vroni drüben in der Stube schlafen; sie wäre lieber in ihrer Kammer geblieben – aber weil es der Vater haben wollte, that sie ohne Widerspruch nach seinem Willen und wickelte, um Auszug zu halten, die Bettdecke mit dem Unterbett und einem Kissen zu einem Pack zusammen.

Unschlüssig stand sie eine Weile mit schlaff niederhängenden Armen. Irgend etwas mußte sie noch in dem Stübchen zurückhalten – doch was es wäre, schien sie selbst nicht zu wissen. Langsam ging sie umher, schob mit dem Fuß die zerstreuten Mauerbrocken zu einem Häuflein zusammen, strich das rotgewürfelte Tuch auf der Kommode glatt, obwohl es keine Falten hatte, faßte hier etwas an, rückte dort etwas von der Stelle, öffnete die Thüren des blaugestrichenen, mit zwei flammenden Herzen bemalten Schrankes und schloß sie wieder. Lange betrachtete sie die beiden roten Dingerchen, als gäben ihr die Bilder dieses brennenden Herzenpaares viel zu denken – und das mochten nicht sehr erfreuliche Gedanken sein, denn eine harte Furche war zwischen Vronis Brauen gesenkt und herber Unmut blickte aus ihren Augen. Schließlich hob sie gar die Hand und strich über die Bretter, als wollte sie versuchen, ob die ärgerliche Malerei sich nicht fortwischen ließe. Aber das war gute, dauerhafte Farbe – in all den fünfunddreißig langen Jahren, seit dieser Kasten neu und frisch lackiert auf Mutter Katherls Hochzeitswagen seinen Einzug in der Simmerau gehalten hatte, waren die zwei roten Herzen kaum merklich abgeblaßt.

„So was Dummes! … Solchene Sachen auf ein’ Kasten malen!“

Vroni ging zu ihrem Lager und griff nach dem Bettzeug; doch wieder sanken ihre Arme. Seufzend ließ sie sich auf einen Sessel nieder, legte die Hände in den Schoß und blickte verloren vor sich hin.

Ein leises Klatschen machte sie aufblicken – vom Garten herein war eine weiße Katze auf das Fensterbrett gesprungen.

„So, Miezerl? Kommst heim?“

Leise miauend sprang die Katze auf die Dielen nieder, trippelte näher und ließ sich in aller Behaglichkeit eine Weile den Rücken krauen; dann sprang sie auf das Bett, machte sich’s bequem und begann die Pfoten zu lecken.

Wenn sich die Katze putzt, so kommt Besuch – sagt der Volksmund. An dieses Sprichwort dachte Vroni, doch schien sie von seiner Weisheit nicht sonderlich erbaut zu sein. „Ich dank’ schön! Das ging’ mir grad’ noch ab!“ murrte sie vor sich hin und erhob sich. „Ja, Miezerl, thu mir mein Stüberl hüten!“ Sie drückte am Fenster die Flügel zu, nahm seufzend das Bettzeug auf den Rücken und verließ mit dem Licht die Kammer.

In der Wohnstube machte sie auf den Dielen ihr Lager zurecht, blies das Licht aus und legte sich in den Kleidern zur Ruhe; nur das Mieder nestelte sie auf.

„Gut’ Nacht, Mathes!“

„Gut’ Nacht, Vroni!“

Eine Weile war Stille in dem finsteren Raum; dann drehte sich Mathes auf die Seite und sagte ganz leise: „Du, Vroni?“

„Was?“

„Heut’ hat er mir g’fallen!“

„Wer denn?“

„Der Schorschl.“

„So?“ Vroni bearbeitete mit der Faust das widerspenstige Kissen. „Geh, laß mich lieber schlafen! Um so ein’, wie der is, spar’ ich mir den Schlaf net ab! … Warum sagst es denn mir grad’!“

„No ja … ich hab’ mir halt ’denkt …“

„Denk’ Dir lieber ’was G’scheiters!“

„No, weil halt neulich g’meint hast: um den is schad’!“

Vroni schwieg und wickelte sich fester in die Lodendecke.

„Ja! G’fallen hat er mir!“ wiederholte Mathes nach kurzem Schweigen. „G’arbeit’ hat er wie ein Roß! Ich sag’ Dir’s, wenn er ernstlich mögen thät’, der Schorschl, könnt’ er sich bald wieder in d’ Höh’ rappeln! D’ Schmiederei versteht er wie net leicht einer! Gut macht er sein’ Sach’! Und billig! Drei Mark hat er verlangt für die Schlaudern … jeder andere hätt’ fünf, sechs Mark begehrt!“

„Natürlich!“ fiel Vroni mit gereizter Stimme ein. „Wenn der net verschleudern und ’s Geld ’nausschmeißen kann, so is ihm ja net wohl!“

„Aber geh! Wirst es ihm doch net vorwerfen, daß er ’s für uns so billig macht!“

„Wir brauchen nix g’schenkt! … Von dem! … Aber hast ihn doch gleich ’zahlt?“

„Na! Ich hab’ kein Geld net bei mir g’habt.“

„Was?“ Vroni richtete sich auf. „Schuldig bist ’blieben? … Bei dem? … No, wart’! Gleich morgen zahl’ ich die drei Mark, gleich morgen, wenn ich ’nunter komm’, ’s Brot holen! Gleich morgen! Gleich morgen!“

„So geh! Dem Schorschl pressiert’s doch net!“

„Aber mir!“

Da wurde die Kammerthür geöffnet und Mutter Katherls flüsternde Stimme ließ sich hören: „Gehts, Kinder, seids doch ein bißl stad! Der Vater hat so ein’ guten Schlaf g’funden! Thuts ihn doch net aufwecken!“

Lautlos schloß sich die Thüre wieder.

In der Stube herrschte eine Weile atemlose Stille; dann schalt Vroni mit kaum vernehmlichem Gelispel: „No also! Da hast es jetzt! Daß den Vater noch um sein’ guten Schlaf bringst … wegen dem da drunten!“

„No schau, ich hab’ ja doch ganz stad g’redt … laut bist ja Du worden!“

„… Gut Nacht, sag’ ich!“

Es pumperte auf dem Stubenboden – so unwillig hatte sich Vroni auf die Seite geworfen.

Ein paar schweigsame Minuten vergingen; dann zischelte Mathes: „Pst! Vroni!“ Keine Antwort kam – aber Mathes mußte ihr das noch sagen: „Heut hab’ ich ’s Linerl g’sehen!“

„Das hätt’ Dir Dein Schutzengel ersparen können! … Gut’ Nacht!“

Jetzt blieb Mathes die Antwort schuldig. Schwer atmend bedeckte er das Gesicht mit den Händen und drückte den Kopf in die Ofenecke.

So lagen sie stumm, jedes mit seiner nagenden Qual im Herzen. Aber die schwere Arbeit des Tages hatte sie beide zu müd’ gemacht, als daß sich der Schlummer durch diese heimlichen [552] Gedanken allzulange von ihren Augen hätte verscheuchen lassen. Sie schliefen ein – und gleichmäßig gingen ihre Atemzüge im Dunkel der Stube …

Draußen fuhr der kalte Nachtwind mit eintönigem Rascheln durch das welke Laub der Apfelbäume und über die Mauern.

Tiefe Finsternis war um das kleine Haus gelagert; in so dichter Menge deckten die Wolken schon den ganzen Himmel, daß der Mond mit keinem matten Zwielichtschein diese schwere Fülle des Gewölkes mehr durchdringen konnte.

In dieser schwermütigen, nur vom Wehen des Windes unterbrochenen Nachtstille ließ sich plötzlich ein Geräusch vernehmen – das Kollern eines Steines. Dann bei der Böschung ein Rutschen, ein Knacken von Aesten und ein Geklapper, als wäre Blech auf Holz gefallen.

„Sakra! Mein’ Trumpeten!“ wisperte eine Stimme, und ein schwarzer Klumpen, welcher tastende Arme zu haben schien, bewegte sich auf der Erde hin und her. „Ah, da liegt s’ ja!“

Jetzt wieder Stille. Nach einer Weile konnte man langsam schleichende Tritte hören – sie knisterten ein wenig, denn von der Kälte begann der nasse Boden schon hart zu werden – und mit diesen knisternden Schritten bewegte sich ein dicker, schwarzer Strich, welcher drei graue Flecke (ein Gesicht und zwei Hände) an sich hatte, von einem Baumstamm zum andern, scharf in der Richtung gegen ein kleines Kammerfenster.

Es war eine Arbeit, in solchem Dunkel dieses Fenster möglichst lautlos zu erreichen! Und Schorschl atmete erleichtert auf, als er endlich bei der Mauer stand. Er schien die Absicht zu haben, hier längere Zeit zu rasten, denn er richtete sich häuslich ein, trug eine Holzkufe, an die er mit den Knieen angerumpelt war, dicht neben das Fenster, stülpte sie um, ließ sich bequem darauf nieder und legte die Trompete hinter sich.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt und im Schoß die Daumen drehend, wartete er ein Viertelstündchen – um der Ruhe im Hause völlig sicher zu sein. Dabei lächelte er bald in die Finsternis hinaus, bald wieder blinzelte er die schwarzen, stillen Scheiben an.

Endlich nahm er sich das Herz und klopfte ans Fenster, ganz leise.

In der Kammer rührte sich nichts.

Er klopfte wieder, ein drittes und ein viertes Mal, und immer lauter – doch in dem Stübchen blieb alles still.

„Herrgott! Hat die heut’ ein’ Schlaf!“

Wieder, wie damals bei jenem ersten Besuch, wollte er das Fenster ein wenig aus dem Rahmen drücken, um durch die Fuge hineinzuflüstern.

„Vronerl? … He! … Vroni! … Hörst mich denn net?“

Nein, sie hörte nicht!

Er drückte fester; da gab der Fensterflügel plötzlich nach und legte sich klirrend einwärts gegen die Nischenmauer.

Im ersten Augenblick erschrak Schorschl – dann aber kicherte er vergnügt: „Jetzt muß sie ’s aber doch g’hört haben!“

Er lauschte. Und richtig, aus der Tiefe der Kammer hörte er ein mattes, unbestimmbares Geräusch! Sehen konnte er nichts, denn das Innere des Stübchens lag wie ein schwarzer Fleck vor ihm – aber er wußte es noch vom letzten Mal: dort hinten in der Ecke stand das Bett – und genau aus dieser Richtung ließ das Geräusch sich vernehmen. Und wie sich das anhörte – ganz komisch – als hätte Vroni einen Leintuchzipfel in der Hand und klopfte damit gleichmäßig und sacht auf das Kissen oder an die Wand.

„Vronerl!“ flüsterte Schorschl mit seiner zärtlichsten Stimme. „Geh, was klopfst denn jetzt da? … Komm lieber ein bißl her ans Fenster! Schau, ich muß Dir was sagen! Mein Herz, mein Glück und mein Leben hängt dran! Schau, ich will ja doch nix Unrecht’s net haben! Bloß ein gut’s Wörtl sollst mir sagen, das mich ein bißl aufrichten könnt und das mir zum Bravsein den richtigen Mut macht! … Geh, Vronerl, komm her!“

Aber Vronerl kam nicht. Wohl schwieg jetzt dieses merkwürdige Klopfen – dafür aber schien die stumme Widerspenstige auf einen anderen Zeitvertreib geraten zu sein: sie zupfte mit den Nägeln am Leintuch umher.

„Vronerl! Schau, sei gescheit! Laß Dich erbitten und komm ein bißl her! … Oder hast meine Stimm’ net ’kennt? … Meinst, es is ein anderer? … Na na! Ich bin ’s! Der Schorschl!“

Vroni mußte das Gesicht in die Polster gedrückt haben, um ihr Kichern zu ersticken – meinte Schorschl – denn anders konnte er sich dieses neue, sonderbare Geräusch nicht deuten: es hatte eine entfernte Aehnlichkeit mit jenem Kudern, das ein Hündchen oder ein anderes Tier verursacht, wenn es sein Fell schüttelt.

„Aber Vroni! Geh! Auslachen mußt mich doch net! Schau mir is blutig ernst!“ Seine Stimme zitterte vor Erregung. „G’wiß wahr, Vronerl … Dein Wörtl von selbigsmal: ‚Du bist ein Lump!‘ … schau, Vronerl, das hat mich ’packt, wie der Teufel die arme Seel’! Nach’gangen is mir ’s bei Tag und Nacht! Und nimmer aus’lassen hat’s mich! Gleich gar nimmer aus’lassen! Und schau, Vronerl …“

Er war im Zug und redete weiter mit sprudelndem Geflüster. Alle Gedanken und Empfindungen der letzten Tage schilderte er mit offenherziger Wahrheit; beichtete all seine Schulden, aber auch seine guten und ehrlichen Vorsätze; mit zärtlichem Gestammel bekannte er der schweigsam Lauschenden, wie es plötzlich in ihm aufgedämmert wäre, daß er sie lieb hätte, so recht von Herzen lieb, „so z’tiefst aussi aus der tiefsten Seel’!“

Und wahrhaftig, heiße Zähren sickerten ihm durch den Schnurrbart, während er mit vorgestrecktem Hals in das stille, finstere Stübchen schwatzte: „Schau, Vronerl, ich weiß ja, daß ich Dich heut noch net wert bin! Und ehrlich g’sagt … ’s Bravsein wird mir hart! D’ Lüftigkeit rebellt mir im Blut, sie zwickt mich und kitzelt und beißt mich und möcht’ mich gern aus der Besserung wieder ’runterzarren auf die alten Lumpenweg’! Aber schau, Vronerl, Du könntst mein Schutzengel sein, mein’ Hilf’ und mein Trost. Wenn Du mir ein bißl Hoffnung geben thätst … wenn Du mir Dein lieb’s Handerl bieten möchtest und thätst mir sagen: Ja, Schorscherl, ich glaub’ Dir! … schau, Vroni, das könnt’ ein’ andern aus mir machen! Ein ganz ein’ andern! Und kein’ Schlechten net! … Geh, Vronerl, komm ein bißl her! … Schau, laß mich net fallen, thu mich ein bißl aufrichten! Geh, Vronerl, gieb mir Dein’ Hand!“

Schorschl schwieg und lauschte mit pochendem Herzen; doch aus der finsteren Kammer ließ sich kein Laut vernehmen.

Glühend stieg ihm das Blut zu Kopf und seine Stimme wurde heiser. „Vroni! Wenn D’ jetzt kein Wörtl net find’st … na! nachher rührt sich nix in Dir für’n Schorschl!“

Da hörte er jenes merkwürdige Klopfen wieder.

„Du, Vroni, ich sag’ Dir ’s: mach’ Dich net auch noch lustig über mich!“ Er dämpfte die lautgewordene Stimme und bat: „Geh, Vronerl, geh, so komm doch her! … Du! Ich sag’ Dir’s: trau mir net!“ Seine Stimme hob sich wieder. „Wenn net herkommst auf der Stell’ … meiner Seel’, so spring’ ich ’nein!“ Er machte auch gleich den Versuch, diese Drohung auszuführen, stieß sich aber die Stirne recht unsanft an einer Eisenstange des Gitters. Zur Mehrung seines Ingrimmes mußte er sich auch noch erinnern, daß er selbst vor einigen Jahren dieses verwünschte Fenstergitter geschmiedet hatte. „Natürlich! Das hat man von der Arbeit!“ Er faßte die Stange und rüttelte an ihr. „Vroni! … Spiel’ Dich net z’lang mit mir! … Oder ich geh’! Und mit ’m Schorschl is aus und gar! … Und Du hast ihn auf ’m G’wissen.“

Keine Antwort.

„Recht so! Is schon gut!“ Schorschl tappte nach seiner Trompete. „Mich siehst fein nimmer im Leben! … B’hüt Dich Gott!“

Er brachte, als er sich vom Fenster abwandte, diesen letzten erbitterten Abschiedsgruß kaum mehr aus der Kehle.

Aber da hielt es ihn plötzlich wieder fest. Er meinte in der Kammer einen leisen Klapp gehört zu haben, als wäre jemand mit nackten Füßen auf die Dielen gesprungen.

„Jesses, sie kommt!“ stotterte Schorschl. Und da er im gleichen Augenblick hinter dem noch geschlossenen Fensterflügel etwas Weißgraues über dem Fensterbrett erscheinen sah, sprang er mit jähem Satz zur Mauer zurück. „Vronerl!“ jauchzte er in erstickter Freude, und hurtig griff er mit der Hand in das Fenster, um zu haschen, was er für den weißen Arm des Mädchens hielt.

„Himmelsakra!“

Mit diesem erschrockenen Ausruf, der ihm zugleich als Schmerzensschrei diente, zog er die übel zugerichtete Hand wieder zurück.

Eine Weile stand er völlig sprachlos, bis es plötzlich mit bebendem Zorn aus ihm hervorbrach: „Fein! Nobel! Das muß ich sagen! Da schau her!“ Er streckte die zerkratzte Hand gegen das Fenster, „’s Blut lauft mir über d’ Finger ’runter! Wie Du, so kratzt ja net einmal die wildeste Holzkatz’!“

„Miaaau!“ klang es aus der Tiefe der finsteren Kammer.

[554] Dieser Spott war mehr als Schorschl vertragen konnte. „So! Net schlecht! So spielst Dich Du mit mir! … B’hüt’ Dich Gott, Du! … Morgen kannst mich suchen lassen im tiefsten Graben! … B’hüt Dich Gott, Du!“

Jetzt brauchte er kein Geräusch mehr zu scheuen. Mit plumpsenden Tritten stolperte er über den Hof gegen die Böschung. Als er droben auf der Wiese stand, blickte er zurück nach dem stillen Haus und lachte vor sich hin – mit einer Wut, bei der ihm die Thränen über die Backen liefen.

„Ins Wasser springen? … Wegen so einer? Ah na! Jetzt bleib’ ich grad’ am Leben! Grad’ mit Fleiß! Und so was von lumpen, wie ich jetzt anfang’, so was hat’s noch nie net ’geben! Und anschauen soll sie ’s müssen! Anschauen! Und soll sich sagen müssen alle Tag: ‚Den hab’ ich auf ’m G’wissen!‘ … Wart’, Du!“

Und damit sie auch gleich wüßte, welch einen edlen Vorsatz er in seinem Rachedurst gefaßt hätte, setzte er die Trompete an den Mund und blies mit gereizten, häufig überkippenden Tönen in die schwarze Nacht hinaus:

„O Du lieber Augustin,
’s Geld is hin
Alles is hin!
Hätt’ ich nur ’s Madl beim Kragen
Wollt’ ich noch gar nix sagen …“

Mit einem grellen Mißton brach er die Weise ab.

„Was? So ein’ Wunsch sollt’ ich noch haben? … Ah na! Da muß ich ihr schon was anders blasen!“

Wieder setzte er die Trompete an, und schmetternd klang es durch die Finsternis:

„Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt juckt juckt,
Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt!
Hat hunderttausend Tha-aler
In einer Nacht verjuckt juckt juckt …
Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt!
Tütüüüh!“

Das war das schönste hohe C, welches Schorschl noch je geblasen hatte.

„So! Und jetzt kann meintwegen alles hin sein!“

Mit wütendem Schwung schleuderte er die Trompete in die Nacht hinaus. Sie flog so weit, daß er sie gar nicht fallen hörte.

Aber etwas anderes hörte er – das Klirren eines Fensters und Mutter Katherls erregte Stimme: „So was is aber doch ein bißl gar z’ arg! Müde Leut’ aus der Ruh’ aufschrecken! Du Tagdieb, Du gottssträflicher!“

„Tagdieb? Was, Tagdieb!“ schrie Schorschl mit zornigem Lachen zurück. „Es is ja net Tag … es is ja Nacht! Und Dein Katzerl kann Dir von ein’ andern Dieb g’stohlen werden … vor mir hat’s Ruh’!“

Die Fäuste in die Hosentaschen bohrend, stürmte er über die Wiesen hinauf, ohne sich weiter um die zweifelhaften Schmeicheleien zu kümmern, welche Mutter Katherl und der aus seinem Schlummer aufgestörte Simmerauer hinter ihm herriefen.

Wohin er wollte, wußte er eigentlich selbst nicht; er stolperte bergauf und immer bergauf, bis er kopfüber in eine Erdschrunde des laufenden Berges purzelte. Dieser Sturz brachte ihn aus seinem blinden Grübeln zu klarer Besinnung – und nach all dem verrauchten Zorn befiel ihn eine namenlose Traurigkeit. Dazu schmerzten ihn alle Glieder von dem harten Fall. Mühsam schleppte er sich weiter bis zum Purtschellerwald. Hier wußte er eine Holzerhütte. Aber bei solcher Finsternis war sie schwer zu finden – und das setzte Püffe und Beulen an Ellbogen, Knieen und Stirne, bis er endlich unter dem niederen Rindendach geborgen war. Seufzend streckte er sich auf die harte Holzpritsche nieder und verschlang die Hände unter dem Nacken. Anfangs spürte er die Kälte nicht, denn wie ein siedheißes Bächlein rollte ihm das erregte Blut durch die Adern. Alle paar Minuten hörte er ein dumpfes Krachen im Wald – und dabei hatte er den christlichen Gedanken: „Wenn nur der Berg heut’ nacht den ganzen Wald einschlucken möcht’ … und mich als Pfefferkörndl auf ’m Butterbrot!“

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 34, S. 565–568

[565] Schorschl schlief trotz seines harten Lagers in der Holzhütte endlich ein, hungrig und fröstelnd. Ein Dutzend Mal jedoch erwachte er im Laufe der Nacht und drückte immer wieder die Augen zu – auch als der Morgen schon zu grauen begann. Und da hatte er einen Traum. Ihm war, als säße er mitten im verschneiten Purtschellerwald, mit einem riesigen Butterbrot in der Hand. Ihn hungerte, daß ihm alle Rippen krachten, doch er konnte das Brot nicht zum Munde bringen, weil ihm Finger und Hände steif gefroren waren. Rings um ihn her bewegten sich alle Bäume, schüttelten den Schnee auf ihn nieder und zerkratzten ihm mit ihren rauhen Aesten die Hand, daß sie wie Feuer brannte. Er wollte aufstehen, um einen besseren Platz zu suchen, aber seine Beine waren wie Eiszapfen, völlig unbeweglich. Bald wollte er lachen, bald wieder schreien, aber die Zähne klapperten ihm so heftig, daß er keinen Laut hervorbrachte, nur ein Schnattern. Plötzlich sah er durch den Wald ein Mädchen daherkommen – und da dachte er sich gleich: „Paß auf, das is g’wiß kein’ andere als d’ Vroni!“ Und richtig war sie es, mit dem Spaten auf der Schulter und mit dem Beil in der Hand. Während er schnatternd und eiszapfenstarr im Schnee saß, blieb sie mit ihrer warmen, rosig blühenden Jugend vor ihm stehen, lachte ihn spöttisch an, zeigte ihm die gekrümmten Finger mit den langen Nägeln und sagte: „Miaaau!“ Wenn er nur wenigstens den einen Arm hätte rühren können – so dachte er in ohnmächtiger Wut – um ihr das Butterbrot an den Kopf zu werfen. Aber da ging sie schon wieder davon – und während er ihr grimmig nachblickte, sah er, daß die Bäume immer heftiger zu wackeln begannen. Der verschneite Boden fing an zu sinken, und krachend neigte sich eine riesige Fichte – gerade über Vronis Weg.

„Jesus Maria!“ kreischte Schorschl, und da hatte er plötzlich die Bewegung und all seine Kräfte wieder gefunden. „Vroni!“

Mit diesem Schrei stürzte er auf das Mädchen zu und versetzte ihm einen Puff in den Rücken, daß es unter der sinkenden Fichte hinaustaumelte auf einen sicheren Platz. Vroni war gerettet – doch er selbst lag unter dem Baum begraben.

Und da erwachte er. Es war heller Tag – von Schnee keine Spur zu sehen – aber draußen vor der Hütte hörte er im Erwachen noch ein dumpfes Dröhnen, als wäre wirklich ein Baum gefallen, und er selbst lag von der Kälte wie gelähmt auf der harten Pritsche. Aber das alles wäre ihm recht gewesen – nur eines rührte ihm die Galle auf: dieser höchst ungerechtfertigte Edelmut, den er im Traum gegen Vroni bewiesen hatte. In Wirklichkeit hätte er [566] das ganz anders gemacht. Wie, das wußte er freilich nicht. Aber ganz anders!

Mühsam rappelte er sich auf die Beine und brauchte eine halbe Stunde, bis er seiner starren Glieder wieder Herr wurde und die Kälte aus seinem Blut brachte. Ziellos stieg er bergan, immer bergan. Was er wollte, war ihm unklar – nur den Tag totschlagen, alles, nur nicht arbeiten! Aber da machte er eine sonderbare Erfahrung. Gestern hatte ihn die „Lüftigkeit“ gezwickt und gekitzelt – und jetzt quälte ihn eine ganz merkwürdige, ihm völlig neue Sehnsucht nach der Arbeit, nach Hammer und Amboß. Als er aus dem Wald auf die freien Almen kam, blieb er alle paar hundert Schritte stehen und blickte nach seiner Schmiede ins Thal hinunter. Und je ungestümer ihm das Herz pochte, desto deutlicher hatte er die Vorstellung der schönen klingenden Hammerschläge. Das zog und lockte! Aber um keinen Preis der Welt hätte er dieser Sehnsucht nachgegeben! Wie „die da drunten“ gelacht haben würde, wenn sie plötzlich aus der Schmiede herauf die Hammerschläge gehört hätte! Nein! Ein Lump sein, ein ärgerer noch als früher – das Versprechen wollte er unverbrüchlich halten! Und da war es ihm eine boshafte Freude, daß er jetzt auch seine Trompete los war – denn Musik machen, das war schließlich doch auch noch eine Arbeit, dazu eine Arbeit, mit der man unter Umständen den anderen Vergnügen macht! Er aber wollte nur eines noch: die Leute ärgern – und ganz besonders „die da drunten!“

Um Frühstück zu halten, setzte er sich in die Heidelbeerbüsche und speiste so reichlich von den überreifen Beeren, daß ihm Finger und Lippen schwarz wurden. Dabei studierte er, welche Streiche er in den nächsten Tagen ausführen wollte, um das ganze Dorf in Alarm zu bringen. Es fielen ihm ein paar Narreteien ein, so ausgesucht verrückt, daß er vor Vergnügen hell hinauslachte – aber merkwürdig, sein Lachen hatte etwas Gezwungenes.

Als er dann weiter bergan stieg, begann er mit kreischender Stimme zu singen. Doch ob er auch seine fidelsten Lieder auskramte – es wollte ihm nicht gelingen, sich in die richtige wurstige Lumpenlaune hineinzujodeln. Die Schuld trug wohl nur der abscheuliche Tag! Denn der echte Galgenvogelhumor pflegt sich nur einzustellen, wenn die Sonne scheint. Aber die spielte heute Verstecken mit dem Daxen-Schorschl. Alles um ihn her war kalt und grau, die Almen, das Gebirge, die Luft und das Gewölk, welches regungslos, wie ein endlos scheinendes Kellergewölbe, über Thal und Höhen lag.

Um sich warm zu machen, kletterte Schorschl über eine schier pfadlose Felswand hinauf, so hoch, daß er in die Wolken kam. Dann suchte er wieder den gefährlichsten Niederstieg – und dieses sinnlose Spiel trieb er den halben Tag so weiter. Endlich fiel ihm ein, daß heute Samstag wäre – da gab es auf den Abend lustige Gesellschaft im Wirtshaus drunten!

„Sakra! Paß auf! Da will ich wieder einmal aufhauen, daß der Tisch kracht!“ Und mit langen Sprüngen ging’s hinunter über Stock und Stein. Aber seltsam – es war doch seine Absicht gewesen, den geraden, nächsten Weg ins Wirtshaus zu suchen – und da entdeckte er plötzlich, daß er eine halbe Stunde umgegangen und ahnungslos zur Simmerau gekommen war.

Bevor er ganz zur Böschung kam, hielt er inne und duckte sich hinter das Heckengestrüpp. Von hier aus konnte er einen Teil des kleinen Hauses übersehen – und da musterte er mit spähenden Blicken die Mauern. Er wollte freilich mit „der da drunten“ all sein Leben lang nichts mehr zu schaffen haben – aber wenn er mit ihren Eltern und mit dem armen, bedrohten Häuschen Mitleid hatte, das war ja doch etwas anderes! So atmete er erleichtert auf, als er die Mauern unversehrt fand – Mathes hatte die Eisenschlaudern wohl nur anfertigen lassen, um sie im Fall einer Gefahr gleich bei der Hand zu haben!

Im Schutz des Gebüsches schlich er sich ein wenig näher, aber so scharf er auch die Ohren spitzte, er konnte nur die Stimmen der beiden Alten unterscheiden, welche für Schorschl unsichtbar unter der Böschung standen und die neu eingerammten Balken des Verhaues mit Ruten durchflochten.

Während Schorschl dem müd’ tröpfelnden Gespräch der zwei Alten lauschte, machte er immer größere Augen, denn Michel und Mutter Katherl sprachen just von ihm! Und die beiden Leutchen redeten nicht viel Gutes über den Daxen-Schorschl!

Um dieses zweifelhafte Lob nicht länger anhören zu müssen, richtete er sich auf, und lachend die Fäuste hinter den Rücken kreuzend, trat er dicht an den Rand der Böschung.

Die beiden Alten gewahrten ihn nicht gleich. Und Mutter Katherl behauptete soeben: „Ja, Michel, hast recht! So ein’ giebt’s doch nimmer in der ganzen Gegend um und um, so ein’ närrischen Lüftikus, wie der einer is!“

„Ja ja!“ nickte Michel. „Aber er soll seine verruckten Streich’ machen, wo er will, nur net bei mir da heroben! Uns soll er in Ruh’ lassen, ja! Und wenn ich ihm wieder einmal begegnen thu’, so will ich ihm dengerst ein ernstes Wörtl sagen! Dem!“

„So?“ rief Schorschl über die Böschung hinunter. „No also, sag’ mir’s halt! Schau her, da hast mich gleich!“

Mutter Katherl war erschrocken, und um ihren Mann zu besonnener Ruhe zu mahnen, stieß sie ihm gelinde mit dem Ellbogen in die Seite. Aber Michel schien eines derartigen Appells zum Frieden gar nicht zu bedürfen; er warf nur einen grollend vorwurfsvollen Blick zum Rand der Böschung hinauf und arbeitete schweigend weiter, als wäre „der da droben“ Luft für ihn.

Während Schorschl geduldig auf die ihm angekündigte Predigt zu warten schien, ließ er seine spähenden Augen über Hof und Garten huschen. Er sah wohl den Hackstock mit dem Beil, an das er eine neue Schneide geschmiedet hatte, und hörte den Mathes im Haus mit dem Hammer klopfen – aber von Vroni war nichts zu sehen und nichts zu hören. Und da konnte Schorschl die spöttische Frage nicht verschlucken: „No? Wo is denn euer liebs Katzerl?“

Die weiße Katze lag schnurrend auf der Hausbank, aber sie schien augenfällig der Meinung zu sein, daß diese Frage nicht an ihre Adresse gerichtet war. Die gleiche Meinung teilte wohl auch der alte Michel, denn mit bitterbösem Blick rief er zum Rand der Böschung hinauf: „So, Du! Sei lieber froh, daß d’ Vroni im Ort drunten is und net daheim! Die möcht’ Dir ein paar scharfe Wörtln sagen! Dir! Ja!“

„Geh’, Michel,“ flüsterte Mutter Katherl ihrem Mann in Sorge zu, „thu’ Dich net aufregen! So einer is’ ja gar net wert, daß sich ein ordentlicher Mensch seintwegen veralterieren thut! Sei stad, Michel! Laß ihn gehn! Den!“

Aber auch diese Mahnung war überflüssig. Denn seit der Daxen-Schorschl gehört hatte, daß Vroni drunten im Dorf wäre, schien er sich seiner Absicht, möglichst flink im Wirtshaus einzutreffen, plötzlich wieder zu erinnern. Mit wortlosem Gruß rückte er das Hütlein, trollte am Rand der Böschung entlang und kam in immer rascheren Lauf – natürlich, denn es ging ja bergab! Und solch ein abschüssiger Weg zieht in den Füßen!

Den nächtlichen Ruhestörer so ganz ohne Verweis zu entlassen – das schien sich aber nun doch mit Michels Groll und Gerechtigkeitsgefühl nicht zu vertragen. Drohend hob er das Rutenmesser und rief dem Ausreißer nach: „Gelt, Du! Wenn D’ wieder einmal die müden Leut’ aufschrecken willst aus’m Schlaf, so blas’ ein paar feinere Liedln, als wie heut’ nacht! Solchene Schelmenstückln is man net g’wöhnt bei uns da heroben!“

„Ja, is recht!“ rief Schorschl halb lachend und halb geärgert über die Schulter zurück. „’s nächste Mal blas’ ich halt: Ueb’ immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab!“

„Schau Dir nur so ein’ Unchrist an!“ schalt Mutter Katherl jetzt. „Der is heilig imstand und treibt sein G’spött mit so ein’ braven Lied!“

„Na na, Mutterl!“ klang Schorschl’s lachende Antwort zurück. „Bei mir is ausblasen jetzt! Höchstens blast mir noch der Wind durch d’ Joppenlöcher! Zu einer neuen Trumpeten bring’ ich’s nimmer … und die alte is hin! B’hüt Gott miteinander! Jetzt geht ein lüftig’s Lumpen an!“

Er war um die Scheune verschwunden, und mit den Händen in den Hosentaschen, das Hütchen im Genick, hopste er über die steilen, von Erdrissen durchklüfteten Bühel hinunter. Dazu sang er mit gezwungen hoher Stimme:

„Und ’s Lumpen is lustig,
Und ’s Lumpen is schön,
Und ein Lump, der laßt d’ Welt
Schön kugelrund gehn!

Und d’ Weltkugel dreht sich
Im Tag einmal um,
So ein schläfriger Schneckentrab
Wär mir schon z’ dumm!

Ein richtiger Loder,
Kreuz Teufel juheh,
Der dreht im Tag ’s Unterste
Zwanzgmal in d’ Höh’!“

[567] So sang er weiter, ein „lüftiges“ Schnaderhüpfl ums andere, bis er das Dorf erreicht hatte. Singend und jodelnd wanderte er die lange Dorfstraße hinunter und schlug einen Spektakel auf, daß an allen Häusern die Leute aus den Fenstern guckten oder unter die Thüre traten, um einander mit Kopfschütteln zuzurufen: „Schauts nur den Schorschl an! Heut’ hat er schon ein’ am helllichten Tag … der kann sich gut auswachsen übern Sonntag!“

Als Schorschl in die Nähe des Marktplatzes kam, begegnete er einem Trupp Burschen, die schon Feierabend gemacht hatten und in breiter, fast die ganze Straße füllender Marschlinie ihre qualmenden Pfeifen spazieren trugen.

„Wart’, da laßt sich jetzt gleich ein bißl was machen!“ dachte Schorschl. „Sie is ja im Dorf herunten … ich muß ihr was z’ hören geben!“ Inmitten der Straße stellte er sich in rauflustige Positur und ließ die Burschen herankommen. „Auf z’ Seiten, sag’ ich! Und mein’ Weg frei!“

„Ja ja ja!“ sagte einer der Burschen gutmütig, während die anderen lachten. Und die Linie teilte sich.

„Weiter auseinander!“ schrie Schorschl. „Das Gaßl is mir z’ klein! Ich brauch’ ein größers!“

„Aber Schorschl? Was hast denn?“ fragte einer der Burschen.

Ein anderer sagte: „No schau, hast ja doch Platz, bist ja kein Leiterwagen!“ Und ein dritter rief lachend: „Jeh, der Schorschl is narrisch ’worden und bild’t sich ein, er is die Bäckenmahm’!“

„Bäckenmahm’? Was? Bäckenmahm’?“ Das Gesicht des Daxen-Schorschl rötete sich und strahlte vor Vergnügen. Jetzt hatte er einen, den er packen konnte. „Bäckenmahm! Wart, Dir will ich’s austreiben, daß D’ mir die Bäckenmahm’ beleidigst!“

Er stülpte die Aermel auf und schritt auf den Burschen zu, der halb geärgert und halb eingeschüchtert zurücktrat, als er diese nackten, kraftstrotzenden Arme sah. „Wer über die Bäckenmahm’ was sagt, hat ’s mit mir z’ thun! Komm nur her! Fang’ nur gleich an! Und eh’ Dich umschaust, hast schon Deine Schläg’, daß D’ übern Sonntag nimmer …“

Schorschl verstummte. Jähe Blässe war ihm über das Gesicht geglitten – und als hätte er plötzlich alles um sich her vergessen, stand er vor seinem Gegner und starrte an ihm vorüber auf die Thür des Krämerhauses.

Lachend oder halblaut scheltend gingen die Burschen davon. Nur der Angerempelte blieb noch immer stehen, um nicht als feiger Ausreißer zu erscheinen. Doch einer seiner Kameraden zog ihn am Arm mit sich fort und flüsterte ihm zu: „Geh, komm und laß gut sein! Der Schorschl meint’s ja net ernst! Heut’ spinnt er halt ein bißl … es muß ihm was Schiechs übers Leberl g’laufen sein! Geh, sei g’scheit und komm!“

Schorschl hörte nichts und schien nicht zu merken, daß er allein inmitten der Straße blieb. Die Blässe seines Gesichtes hatte sich wieder in dunkle Glut verwandelt, und während er erregt an den Lippen nagte, hingen seine funkelnden Augen an Vroni, die aus der Thür des Krämerhauses getreten war.

Sie trug auf ihren Armen drei große Brotlaibe, die ihr bis ans Kinn reichten und in die blaue Schürze gewickelt waren, damit der scharf ziehende Wind das frische Brot nicht austrocknen möchte. Als sie den Daxen-Schorschl gewahrte, glitt auch ihr eine flüchtige Röte über Stirn und Wangen, und einen Augenblick schien sie zu überlegen, ob sie nicht einen anderen Weg nehmen sollte. Aber welche Ursache hatte sie denn, vor „dem da“ davon zu laufen? Sie lächelte mit schmalen Lippen und folgte ruhigen Ganges der Straße. Etwa zwanzig Schritte vor Schorschl bog sie auf den Fußweg ein, der von der Straße durch einen mit Wasser angefüllten Graben und eine Pappelreihe getrennt war.

Schorschl lachte – es war ein merkwürdig gereiztes und gezwungenes Lachen – und setzte mit einem Sprung über den Graben. Mitten auf dem Fußweg blieb er stehen, legte die Hände auf den Rücken und wartete.

Vroni that, als hätte sie dieses Manöver gar nicht bemerkt. Erst als sie dicht vor Schorschl stand und nicht mehr weiter konnte, blickte sie auf. „Grüß Dich Gott!“ sagte sie mit kalter Ruhe – und das klang so von oben herab, obwohl sie um einen halben Kopf kleiner war als er und zu ihm aufschauen mußte. „Gut, daß D’ mir grad’ in Weg laufst!“

Schorschl schwieg, kaute an seinem Schnurrbart und schaukelte sich auf den Fersen.

Diesem Schweigen gegenüber schien Vronis Ruhe ein wenig ins Schwanken zu geraten. „Ich hätt’ Dich heut’ eh schon daheim in Deiner Schmieden aufsuchen sollen,“ sagte sie und gab ihrer Stimme ein bißchen mehr Schärfe, „aber ich hab’ mir gleich ’denkt, daß man Dich net daheim trifft.“

Schorschl schwieg; aber er machte eine tiefe Verbeugung.

„Drum hab’ ich Dir die drei Mark, die mein Bruder gestern schuldig bleiben hat müssen, zur Kramerin ’neing’legt. Und ..“ es zuckte wie in Zorn und Spott um Vronis Lippen, „ich hab’ mich schon b’sonnen, ob ich Dir net zehn Pfennig noch dazulegen soll … hast ja heut’ nacht bei uns droben Musi g’macht und hast auf’s Absammeln vergessen!“

Dieses Wort hatte dem Daxen-Schorschl das dunkle Blut ins Gesicht getrieben; aber er schwieg noch immer.

Vroni wurde ungeduldig – der funkelnde Blick, mit welchem Schorschls heiße Augen auf sie gerichtet waren, schien sie völlig um ihren schwer bewahrten Gleichmut zu bringen. „Was schaust mich denn so an? Du! Ich fürcht’ Dich net! Na! So ein’, wie Du bist, noch lang net! … Und jetzt geh’ aus ’m Weg! Dir liegt freilich net viel an der Zeit! Aber mir!“

Schorschl rührte sich nicht vom Fleck; aber die Sprache fand er. „Vergeltsgott, Katzerl!“ Das sagte er ganz leise, und mit ersticktem Lachen hob er ihr die zerkratzte Hand bis dicht vor die Augen. „Da schau her! … Feine Nagerln hast! Du könntst ja ein’ Toten wieder aus ’m Grab aussikratzen!“

Vroni furchte die Brauen und trat zurück. „So ein unsinnigs G’red’ da! … Du wirst schon selber wissen, wo Dir den Kratzer g’holt hast! Bei mir net! … Geh weg und laß mich heim!“

„So? Leugnen thust auch noch?“ Diese Erkenntnis brachte dem Daxen-Schorschl das Blut ins Kochen. „Du bist mir die Richtige! Wenn eine kratzt … no ja, in Gottsnamen … aber lügen braucht s’ deswegen doch net!“

„Du! … Ich hab’ in mei’m Leben noch net g’logen … und Deinetwegen thät’ ich ’s am allerwenigsten! … Gieb mein’ Weg frei, sag’ ich zum letztenmal!“

Ihre Stirne brannte, ein Zucken und Zittern ging um die heißen Lippen, und helle Blitze sprühten aus ihren Augen! Bei allem Zorn, der in Schorschl rumorte, war er doch nicht blind für das schmucke Bild, das Vroni in ihrer Erregung bot. So gut wie jetzt hatte sie ihm noch nie gefallen! Und da erwachte plötzlich in ihm die Erinnerung an die Träume des vergangenen Abends – das alles war nun freilich ganz anders gekommen, als er es sich gedacht hatte – statt mit dem Herzen hatte sie ihm die Antwort mit den Fingernägeln erteilt! Aber sollte er nun ganz leer ausgehen? Trotz allem, was in der vergangenen Nacht geschehen war, keimte in einem Winkelchen seines verliebten Herzens noch immer die lockende Vorstellung, wie schön und süß es sein müßte, diesen schmucken Trotzkopf an sich zu reißen und diesen roten, heißen Mund zu küssen! Nur ein einzigsmal! – Und warum denn nicht? – Hatte er denn nicht so eine Art von Recht, sich für den Streich bezahlt zu machen, den ihm das „liebe Katzerl“ in der Nacht gespielt hatte? – Dieser Gedanke war kaum in ihm aufgetaucht, da streckte er auch schon die Arme nach dem Mädchen.

„Du! … Mein’ Fried’ laß mir!“ stammelte Vroni und wich vor ihm zurück.

„Aber geh’! Ich kratz’ ja net! Im Gegenteil, schau, ich zahl’ Dir die heutige Nacht heim mit einer christlichen Wohlthat!“ Mit einem Sprung stand Schorschl an Vronis Seite und schlang den Arm um ihren Hals. Er meinte leichtes Spiel zu haben, da sie die drei Brotlaibe trug und wehrlos war. Doch er hatte wieder einmal falsch gerechnet, wie schon so oft in seinem Leben! Kaum hatte Vroni die Absicht des Daxen-Schorschl erkannt und seinen Arm an ihrem Hals gefühlt, da ließ sie kurz entschlossen die drei Brotlaibe fallen, welche plumpsend nach verschiedenen Seiten auseinander kollerten – und just in dem Augenblick, in welchem Schorschls gespitzte Lippen ihre Wange streifen wollten, stieß sie dem Burschen ihre beiden Fäuste mit so derber Kraft vor die Brust, daß er rücklings gegen die Hecke taumelte.

„Öha! Langsam!“ brummte Schorschl, während er mit beiden Armen fuchtelte, um das Gleichgewicht wieder zu finden. „Auskommst mir doch nimmer! Du!“ Und mit einem Feuermut, der ihm auf dem Schlachtfeld sicher die goldene Tapferkeitsmedaille eingetragen hätte, ging er wieder zum Angriff über.

Doch Vroni, welche bleich bis in die Lippen war, hatte das Schürzentuch, in das die Brotlaibe gewickelt waren, vom Boden [568] aufgerafft, und als ihr Schorschl in hiebsichere Nähe kam, schwang sie mit der gesteigerten Kraft ihres Mädchenzornes diese echt weibliche Waffe – und dem Daxen-Schorschl wurde es für ein paar Sekunden schwarz vor Augen – wirklich schwarz, obwohl die Schürze nur ein verwaschenes Blau hatte. Bei dem klatschenden Schlag stäubte ein weißliches Wölklein um Schorschls Kopf; sein Gesicht, die Brauen, der Schnurrbart und die Nasenspitze waren grau gepudert von dem Mehl, das die Unterseite der Brotlaibe an das Schürzentuch abgegeben hatte.

„Ja sakra noch einmal!“ fing er zu räsonnieren an, während auf seinen Wangen das Blut in brennend roten Strichen die Falten der Schürze nachzuzeichnen begann. „Kratzen in der Nacht und dreinschlagen am Tag … und so was sollt’ ich mir g’fallen lassen? Ah, da stimmst Dich aber!“

Doch als er das bleiche, entstellte Gesicht des Mädchens sah, sanken ihm plötzlich die Arme und sein Atem stockte. Scheu und verlegen stand er vor Vroni und wußte nicht, was er sagen oder beginnen sollte. Während er ratlos um sich her blickte, wie nach Hilfe suchend gegen diese stärkere Macht, sah er auf dem rinnenden Wasser des Grabens einen Brotlaib tanzen, welcher schon zu sinken drohte. „Jesus Maria!“ stotterte er und machte sich auf die Jagd nach dem schwimmenden Wecken.

Schwer atmend band Vroni die Schürze um die Hüften und bückte sich nach den beiden Brotlaiben, von denen der eine im Gestrüpp der Hecke, der andere mitten auf dem Fußweg lag. Und während sie langsamen Schrittes mit ihrer verminderten Last davonging, rannen ihr große, glitzernde Zähren über die Wangen, deren Blässe einer fieberhaften Röte wich.

Keuchend kam ihr Schorschl nachgelaufen. „Da, Vronerl! Da!“ stammelte er und putzte mit dem Joppenzipfel das Wasser von dem gefischten Brotlaib. „Da hast Dein’ dritten Wecken! Es hat ihm nix g’macht! Gar nix! Gar nix!“

Vroni sagte kein Wort; aber als ihr Schorschl den Brotlaib auf die beiden anderen laden wollte, machte sie eine ungestüme Bewegung nach der Seite; und da sie keine Hand frei hatte, um die Zähren von ihren Wangen zu wischen, kollerten ihr die glitzernden Perlen über Kinn und Wangen.

„Mar’ und Josef! Ich könnt’ mir ja gleich den Kopf abreißen!“ stotterte Schorschl und machte neuerdings einen nutzlosen Versuch, den Brotlaib anzubringen. „Aber Vronerl, um Gottswillen, sei doch g’scheit! Wirst ja doch meinetwegen Deine braven Leut’ daheim net um das gute Brot verkürzen wollen?“

Da machte sie kürzere Schritte und litt es schweigend, daß er den feucht glänzenden Laib auf die beiden anderen legte. Doch als er an ihrer Seite bleiben wollte, sah sie mit einem Blick zu ihm auf, der dem Daxen-Schorschl die Füße lähmte.

Mit hängenden Armen, wie ein begossener Pudel, blieb er an der Hecke stehen und sah der Davonschreitenden nach, bis sie um eine Biegung der Straße verschwunden war.

„So! Schön! Jetzt hab’ ich d’ Suppen erst recht versalzen!“ philosophierte er mit trübseliger Kummermiene. „Wie ein Wilder bin ich dreing’fahren! Und was hat denn ’s Madl eigentlich verschuld’t an mir? Nix! Gar nix! Aber rein gar nix! Wenn einer ein Madl so gahlings anpackt in der Nacht … mit so einer groben Hand …“ er betrachtete prüfend seine klobigen Finger, „da hat s’ ja doch recht, wenn sie sich wehrt und kratzt ein bißl. Und wenn man ’s wie ein Rauber überfallt … am helllichten Tag und auf der Straßen? Ja Kruzineser!“ In der Wut über sich selbst packte er sich bei den Joppenflügeln. „Da hätt’ doch jede andere dreimal dreing’schlagen … statt bloß ein einzigsmal wie ’s Vronerl!“ Er sah über die leere Straße hinauf und seufzte tief. „Das vergißt s’ mir ihrer Lebtag’ nimmer! … Jetzt is ’s aus! … Aber ganz!“ Bei dieser Einsicht überfiel ihn die Verzweiflung in ihrer ländlich sittlichen Urform. „Sakra! Sakra! Jetzt därf ich mir aber gleich ein’ anbicheln, ein g’hörigen! Sonst weiß ich net, was mit mir g’schieht in der heutigen Nacht!“

Mit brennendem Kopf und langen Schritten stürmte er dem Wirtshaus entgegen.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 35, S. 581–587

[581] Vroni hatte schon das Wäldchen am Fuß des laufenden Berges erreicht, als ihr noch immer die hellen Thränen über die Wangen rannen, und das stumme, schmerzliche Spiel dieser fallenden Tropfen begleitete sie auf dem ganzen steilen Heimweg. Erst als sie bei sinkender Dämmerung in die Nähe des elterlichen Hauses kam, blieb sie stehen und legte die schweren Laibe zu Boden, um ein Weilchen zu rasten und ihre Wangen zu trocknen. Da sah sie im Gestrüpp einer Haselnußstaude etwas hängen, das wie Gold glänzte – und als sie näher trat, erkannte sie die C-Trompete des Daxen-Schorschl, die in den Zweigen verfangen hing, wie ein Christkindlgeschenk am Weihnachtsbaum.

„Na! So ein Unsinn! So einer!“ stieß sie mit bebender Stimme vor sich hin. „Und wie er umgeht mit dem teuren Sach’!“ Scheu blickte sie sich nach allen Seiten um, dann griff sie hastig nach der Trompete und wickelte sie sorgfältig in die Schürze.

Als sie wenige Minuten später daheim den Hof betrat, hörte sie, daß ihr Vater und Mathes im Garten noch bei der Arbeit waren. Flink und lautlos trat sie ins Haus und eilte zu ihrer Kammer; noch ehe sie die Brotlaibe niederlegte, verbarg sie die blinkende Trompete in dem Kasten, auf dessen Thüren man trotz der tiefen Dämmerung noch die rotbrennenden Herzen leuchten sah.

Sie wollte das Brot in die Küche tragen; doch ehe sie zur Schwelle kam, fiel sie auf einen Sessel nieder, ließ die drei Laibe auf die Kommode sinken und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

So fand sie Mutter Katherl, welche vor Schreck die Hände über dem Kopf zusammenschlug. „Ja um Gottswillen! Madl! Was hast denn?“

„Ich weiß net …“ stotterte und schluchzte Vroni in der ersten Verwirrung. „So ein’ Wehdam hab’ ich halt! … So ein’ Wehdam!“

„Mar’ und Joseph! Am End’ hast Dich verkühlt! Gelt, ich hab’ Dir’s aber gleich g’sagt: zieh Dich ein bißl wärmer an! … Na! Na! Ja was thu’ ich denn mit Dir! … Wart’ ein bißl, ich mach’ Dir gleich ein’ recht ein’ heißen Thee!“

Wie sich Vroni auch wehrte – sie mußte ins Bett und mußte sich auf die von Mutter Katherl diagnostizierte „Verkühlung“ behandeln lassen.

Wieder fiel eine kalte, sternenlose Nacht über die Simmerau. Während die beiden Alten vor dem Schlafengehen noch ein Weilchen bei der „Kranken“ in der Kammer blieben, saß Mathes mit seiner Pfeife draußen auf der Hausbank und blickte bald empor zu dem schwarzen, sich immer dichter sammelnden Gewölk, bald wieder hinunter ins Thal, in welchem ein paar erleuchtete Fenster gleich winzigen Funken glimmerten.

Wenn der frostige Nachtwind schärfer emporzog über die Halden, klang vom Wirtshaus mit verschwommenen Tönen das Johlen und Singen herauf …

[582] So laut und lustig wie an diesem Abend war es da drunten in der Wirtsstube schon lange nicht mehr zugegangen! Der Daxen-Schorschl hatte wieder einmal „aufgemischt!“

„Grüß Gott, Wirt! Pumpst mir noch?“ Mit dieser Frage war er bei sinkender Dämmerung, als die Kellnerin eben die Lampen anzündete, in die Stube getreten.

„Ja!“ hatte der Wirt lachend gesagt, „aber nimmer viel!“

„No also! Für ein’ g’sunden Rausch wird ’s doch noch reichen! … Wer weiß, ob’s net der letzte is!“ Mit dieser etwas melancholisch klingenden Andeutung hatte sich Schorschl hinter einen Tisch geschoben, an welchem schon mehrere Gäste versammelt saßen, um sich mit dem durch sechs Tage zusammengesparten Samstagsdurste in den Sonntag hinüberzutrinken.

Und ja, es hatte gereicht! Noch ehe die Stube richtig voll mit Gästen war – unter denen sich auch der Geschäftsführer der Bäckenmahm’ mit seinem Gesellen befand – hatte sich Schorschl bereits in eine Stimmung „hineingebichelt“, bei welcher er um so lebhafter die Hände rührte, je mehr er die Herrschaft über seine Füße zu verlieren drohte. Mit seiner gereizten Lustigkeit amüsierte er die ganze Stube, und als man ihm die Zither hingestellt hatte, ließ er unermüdlich die Saiten klingen und sang die ganze Litanei seiner „schnackerlfidelen“ Lieder herunter – natürlich auch die „Lumpeng’stanzeln“!

„Ein richtiger Loder,
Kreuzteufel, juheh!
Der dreht im Tag ’s Unterste
Zwanz’gmal in d’ Höh’!“

Noch war das Gelächter, das dieser Strophe folgte, nicht völlig verstummt, als draußen auf der Straße ein gellender Ruf ertönte:

„Feuerjo! Feuerjo!“

Und da hörte man auch schon die dumpfen Schläge der Feuerglocke.

In der Wirtsstube war es plötzlich still geworden; aber dieses atemlose Schweigen und Lauschen dauerte nur einen Augenblick; dann fuhren sie alle von den Bänken und Stühlen auf. Bevor noch die ersten zur Thüre kamen, stürzte einer von der Straße herein.

„Leut’! Es brennt!“

„Wo? Wo?“ schrieen zwanzig Stimmen durcheinander.

„Bei der dicken Bäckin!“

„Jesus Maria!“ stotterte Schorschl. „Die arme Frau!“

Als er aufgesprungen war, hatte er den frischgefüllten Maßkrug umgeworfen und dieser auf den Kopf gestülpte Krug war ein Bild für ihn selbst – wie dieser Krug, so leer und nüchtern war Schorschl mit einem Schlag geworden. „Jesus Maria! Wie soll denn die arme Frau aus ’m Haus! Die kann ja kein Schrittl net vom Fleck!“

Ein paar zu Boden werfend, die ihm den Weg verstellten, stürzte er zur Thüre. Keuchend rannte er die Straße hinunter und sprang, als er seine Schmiede erreichte, mit hohem Satz über den Staketenzaun. Da sich das Thor der Werkstätte auf den ersten Griff nicht öffnen wollte, warf sich Schorschl mit der Schulter gegen die Bretter, daß sie krachend auseinanderflogen. „Jesus Maria! Jesus Maria!“ stammelte er ein um das andere Mal, bis er in der finsteren Werkstätte gefunden hatte, was er suchte. Einen schweren Schmiedehammer auf die Schulter werfend, eilte er der Brandstätte zu.

Schon glomm die Feuerhelle über die Dächer der benachbarten Häuser auf, und blutrot färbten sich die niedrig hängenden Wolken.

10.

Rings um das brennende Haus her zuckte und zitterte alles von grellroter Helle und schwarzen Schatten. Schreiende Menschen füllten den Garten und rannten um das Haus; sie wollten retten und helfen, doch Rauch und Flammen verwehrten ihnen jeden Eingang. Das Feuer mußte in der Backstube ausgebrochen sein, hatte schon alle ebenerdigen Räume ergriffen und war über die Treppe in den Dachstuhl hinaufgeklettert. Der Rauch und das Geprassel hatten die alte Magd, die neben den Zimmern der Bäckin in einer Kammer schlief, aus dem Schlummer geweckt, und da sie die Treppe schon vom Feuer ergriffen sah, war sie im ersten sinnlosen Schreck, ohne sich weiter um ihre Herrin zu kümmern, aus dem Fenster in den Garten gesprungen. Jetzt heulte und jammerte sie um die arme Frau, die da droben hilflos verbrennen mußte und machte mit ihrem kreischenden Geschrei die Leute noch konfuser, als sie ohnehin schon waren. Einige riefen nach Leitern um die Fenster des oberen Stockes ersteigen zu können – andere wußten keinen besseren Rat, als gegen die geschlossenen, schon von Rauch umwirbelten Fenster hinaufzuschreien: „Bäckin! Bäckin! Bäckin!“ Kein Laut gab droben Antwort doch ein paar Leute, welche die ersten auf dem Brandplatze gewesen waren, erinnerten sich, im Hause einen matten Schrei und einen schweren Plumps gehört zu haben, als wäre ein Kasten umgefallen oder eine Bettstelle durchgebrochen.

Während alles noch wirr und ratlos durcheinander schrie, kam die freiwillige Dorffeuerwehr mit Spritze und Schubleiter angerasselt, und Purtscheller, der als kürzlich gewählter Kommandant eine funkelnagelneue Uniform und einen blitzblanken Messinghelm trug, begann mit hallender Stimme seine Befehle auszuteilen, von denen einer dem anderen widersprach. Alle wollten gehorchen, aber auch alle mitkommandieren, eine heillose Verwirrung entstand, und so hätte es der armen, bedrohten Frau in ihrem Stubenkerker dort oben gar übel ergehen können, wenn nicht der Daxen-Schorschl noch zur rechten Zeit mit seinem wuchtigen Schmiedehammer und einem fertigen Rettungsplan auf dem Brandplatz erschienen wäre.

Mit derben Ellbogen stieß er ein paar Feuerwehrmänner und den über diese Eigenmächtigkeit scheltenden Herrn Kommandanten beiseite, wälzte die Schubleiter vor die Firstmauer, und als er die Leiter bis zu einem Fenster aufgewunden hatte, kletterte er hurtig über die Sprossen hinauf. Mit einem einzigen Streich seines Hammers schlug er den ganzen Kreuzstock des Fensters in die Stube hinein und begann dann Hieb um Hieb auf die Mauer loszuarbeiten, mit so wilder Kraft, daß jeder Hammerstreich die Oeffnung in der Wand um eine ausgiebige Scharte erweiterte. Dicker Rauch quoll ihm entgegen, der ihm fast den Atem benahm, die Mauerbrocken fielen ihm auf Kopf und Schultern und streiften sein Gesicht – doch er schlug und schlug mit dem Hammer, bis das Loch in der Wand schon breiter als eine Thür geworden war.

Nun merkten die Leute, was er wollte, und da schrieen sie ihm Beifall zu und gehorchten willig jedem Wort, das er über die Schulter aus Rauch und Staub zu ihnen hinunterrief.

Durch die weite Oeffnung war fast der ganze Dampf und Qualm schon aus der Stube entwichen, und bei dem flackernden Schein der Flammen, welche durch die schon halb verbrannte Zimmerthür aus dem Treppenflur in die Stube hineinzüngelten, sah Schorschl die Bäckenmahm’ in weißer Nachtjacke und Schlafmütze bewußtlos auf den Dielen liegen.

„Wasser! Wasser!“ schrie er. „Die Pippen ’rauf!“ Und als der Spritzenmann mit dem Schlauch über die Leiter heraufgeklettert war, ließ Schorschl, um die Bewußtlose ein wenig zu ermuntern und das Holzwerk gegen das eindringende Feuer zu sichern, den kalten, zischenden Wasserstrahl über die Bäckenmahm’ und durch die ganze Stube spielen. Dann sprang er in das weit klaffende Mauerloch.

„D’ Leiter in d’ Höh bis unters Dach! Und den Flaschenzug ’runter vom Krahnen!“ befahl er. „Vierthalb Centner Frauenzimmer tragt ja keiner über d’ Leiter ’nunter! Net einmal der Goliath! Wir müssen s’ mit dem Flaschenzug ’nunterlassen wie ein’ Mehlsack! Aber flink! Um Gottswillen, nur flink! Mir scheint, es pressiert!“

Er wandte sich in die Stube, und da ihm von der fast übermenschlichen Anstrengung und von all dem geschluckten Rauch schon ein wenig wirblig zu werden begann, griff er mit beiden Händen in das auf den Dielen stehende Wasser und wusch sich das Gesicht. Dabei merkte er gar nicht, daß ihm die Hände blutig wurden. Jetzt hatte er auf andere Dinge zu achten, denn jetzt kam das Schwerste von allem: den ohnmächtigen Koloß der Bäckenmahm’ auf den Lehnstuhl zu heben! Viertehalb Centner frei vom Boden weg einen halben Meter emporzustemmen – das ist harte Arbeit! Aber sie gelang ihm. Freilich war ihm einen Augenblick, als wollten ihm von der gewaltsamen Anstrengung alle Adern zerspringen und alle Sehnen reißen. Entkräftet taumelte er gegen den Tisch, umwirbelt von dem rotbeleuchteten Dampf, der von der brennenden Thüre durch die ganze Stube wallte. Aber da [583] kletterte schon der Spritzenmann mit Stricken und mit dem Flaschenzug durch das Mauerloch. Mit sicheren Knoten und zwanzigmal gekreuzten Stricken wurde die Bewußtlose auf dem Lehnstuhl festgeschnürt und dann der Flaschenzug in die Stricke eingehakt.

„Auf!“ schrie Schorschl durch das Mauerloch hinunter.

Drunten begann ein halb Dutzend Leute aus allen Kräften am Seil zu ziehen – und der Lehnstuhl mit der Bäckenmahm’ geriet ins Schweben. Jetzt schwankte er durch das Mauerloch heraus und baumelte frei in der Luft – der Spritzenmann, der sich wieder auf die Leiter geschwungen hatte, vermochte das Schaukeln und Drehen des Sessels nicht zu verhindern – und so fing der Lehnstuhl mit der weiß gekleideten Bäckenmahm’ ein immer flinkeres Kreisen und Wiegen an, während er sich langsam zu Boden senkte. Das war bei allem Bangen des Augenblicks ein Bild von so drastischer Komik, daß die Leute trotz des bösen Schadens, den das Feuer anrichtete, und trotz des Erbarmens, das sie mit der armen Frau empfanden, den Ernst nicht völlig bewahren konnten. In das wirre Geschrei mischte sich lautes Lachen, und allen Lärm übertönte eine kreischende Weiberstimme: „Jesses na! Wie der heilige Geist schwebt s’ abi!“ Ein dumpfer Krach erstickte das Gelächter, welches diesen Worten folgte, und allen anderen Spektakel.

Es war höchste Zeit gewesen, daß der Lehnstuhl mit der Bäckenmahm’ den Boden erreichte. Der First des brennenden Hauses war entzwei gebrochen, brennende Balken stürzten nieder, droben in der Stube war die Decke eingesunken, und während ein Gewirbel von Rauch und Funken aus dem Mauerloch hervorquoll, sausten in dicken Garben die brennenden Flocken der auf dem Bodenraum explodierten Mehlsäcke durch das in Glut zerfallende Dach in die Nacht hinaus, flatterten im Winde und rieselten gleich einem feurigen Sprühregen über den ganzen Umkreis des Hauses.

Erschrocken stoben die Leute auseinander, und nur wenigen fiel es auf, daß der Daxen-Schorschl nicht beim Lehnstuhl der Bäckenmahm’ zu sehen war!

„Mar’ und Josef! Der Schorschl! Wo is denn der Schorschl?“

Entkräftet und halb besinnungslos saß er droben auf der Brüstung des Mauerloches und hielt den Kopf an die vom Rauch geschwärzten Steine gelehnt. Die Funken fielen auf ihn nieder, brannten ihm Löcher in das Gewand und versengten ihm die Haare. Als er seinen Namen schreien hörte, schaute er langsam auf und im gleichen Augenblick streifte ein fallender Glutstrunk seine Schulter.

„No, no, no … ein bißl langsam … ich geh’ ja gleich!“ brummte er, während ihm alle Sinne taumelten. „So gar pressiren wird’s ja doch net, daß der Teufel den Schorschl holt!“

Man wollte ihm die Leiter näher rücken, aber das wartete er nicht ab. Gemächlich, wie sich einer zu Boden gleiten läßt, der auf der Tischkante sitzt, so rutschte er von der Brüstung und ließ sich die fünf, sechs Meter in den Garten hinunter plumpsen. Ein paar Männer fingen ihn auf, aber der Sturz war doch ein so harter, daß sich Schorschl nur mühselig wieder aufzurichten vermochte.

„Um Gottswillen, Schorschl?“ fragte man. „Hast Dir ’was ’than?“

„Ah, Gott bewahr’! Unkraut verdirbt net!“ sagte er mit heiserer Stimme und schüttelte die Funken von der Joppe. „Aber wo is denn die Mahm’? Es is ihr doch hoffentlich nix passiert?“

Als er zum Lehnstuhl kam, von dem man gerade die Stricke löste, mußte er sich an den Knäufen der Lehne festhalten, um nicht umzusinken. Aber die kalte Nachtluft schien ihn langsam wieder zu ermuntern.

Die Bäckenmahm’ war aus ihrer Ohnmacht erwacht; doch ihre versunkenen Aeuglein blickten irr und verständnislos, während sie mit zitternden Händen an ihrem Nachtgewand umhertastete.

„Macht nix, Mahmerl, macht nix!“ tröstete Schorschl. „Dein Jankerl und d’ Schlafhauben trocknet schon wieder! Weißt, ’s Wasser is viel weniger gefährlich als wie’s Feuer!“ Aufatmend wandte er sich an die Umstehenden: „Ich bitt’ schön, Leut’ … mit dem besten Willen kann ich heut’ so ein Trumm Frauenzimmer nimmer tragen … packt’s halt ein bißl mit an! Wir müssen schauen, daß wir die Mahm’ zu mir heim bringen. Ich muß ihr halt in meiner Werkstatt aufbetten – wir bringen s’ ja in kei’m andern Haus zu keiner Thür net durch! Also, bitt’ schön, Leut’, packts an!“

Ihrer sechse faßten den Lehnstuhl, und wie eine „heilige Mart’rerin beim Umzug“ wurde die Bäckenmahm’ in die Daxen-Schmiede getragen.

Auf dem Brandplatze war jetzt Purtscheller als Feuerwehrkommandant wieder Herr der Situation. Er ließ alle nur erdenklichen Manöver ausführen, dirigierte den wirkungslos verpuffenden Wasserstrahl bald durch die Fenster in die brennenden Innenräume, bald wieder in die rauschende Lohe des Daches, und als die Brunnen kein Wasser mehr geben wollten, organisierte er aus den Leuten, welche von den entlegenen Gehöften immer zahlreicher zur Brandstätte strömten, zwischen der Feuerspritze und dem Bach eine dicht geschlossene Reihe, durch deren Hände die ledernen Wasserkübel auf und nieder wanderten. Aber die Leute, welche sahen, daß an dem brennenden Hause nichts mehr zu retten war, erlahmten bald in ihrem Eifer; die einen, welche in der Nähe wohnten und die eigenen Dächer von den fliegenden Funken bedroht sahen, eilten in Sorge ihren Häusern zu; und andere wieder fanden, daß ihnen das Schwatzen, Schelten und Jammern leichter wurde als die Arbeit, bei der sie nasse Kleider und steif gefrorene Finger bekamen. Nur eine kleine Schar hielt noch tapfer beim Wassertragen aus, und unter diesen geduldig und rastlos Arbeitenden befanden sich Mathes und Vroni mit ihrem Vater – die drei waren atemlos auf dem Brandplatz eingetroffen, gerade als man die Bäckenmahm’ in ihrem Lehnstuhl davongetragen hatte. Der Anblick des Daxen-Schorschl, der in seinem von Brandlöchern und Mauerschutt verwüsteten Gewand, mit dem versengten Haar und mit dem rauchgeschwärzten, blutfleckigen Gesichte kaum zu erkennen war, hatte Vroni stumm und bleich gemacht; und während sie die schweren Wasserkübel schleppte, horchte sie unruhig auf jedes Wort, das in ihrer Nähe gesprochen wurde.

Eine erregt durcheinanderschwatzende Gruppe hatte sich um den Geschäftsführer der Bäckin gebildet, der die Schuld am Ausbruch des Feuers auf eine Fahrlässigkeit des Gesellen schob und bald mit zornigem Schelten, bald wieder mit Thränen seinen Verlust bejammerte – er war ja nun brotlos und hatte den Koffer mit seinen Habseligkeiten und all seinem ersparten Gelde verloren. „An wen soll ich mich jetzt denn halten?“ klagte er. „Wer macht mir denn mein’ Schaden gut? Die Bäckin? Mein Gott, die hat ja selber nix mehr! Man hat ja nix ’raus aus’m Haus .. und ich weiß, sie hat ihr ganz’ Vermögen in Papier’ droben im Kasten g’habt! Und ihr G’schäft is hin! Und ihr Haus brennt nieder bis auf’n Boden! Und kriegen thut s’ auch nix dafür, weil s’ allweil z’ geizig g’wesen is, als daß sie sich hätt’ versichern lassen.“

Die Nachricht, daß die Bäckenmahm’ ihr Haus nicht versichert hatte, weckte in Purtscheller eine Erinnerung, die ihn im ersten Augenblick um alle Fassung brachte. Jetzt erst schien es ihm zum Bewußtsein zu kommen, daß er nicht nur Feuerwehrkommandant, sondern auch noch Besitzer des Purtschellerhofes wäre, für den er am ersten Oktober die Feuerpolice zu bezahlen „vergessen“ hatte. Verstört blickte er zu dem Flug der durch die grell erleuchtete Nacht dahintreibenden Funken auf, rief stotternd dem Spritzenwart zu, daß er das Kommando „für ein paar Minuten“ übernehmen möchte, und rannte auf die Straße hinaus. In der blinden, stolpernden Eile verlor er den schönen, neuen, blitzblanken Messinghelm und nahm sich gar nicht die Mühe, ihn wieder aufzuheben.

Als er seinen Garten erreichte, kam ihm Karlin’ von der durch den Feuerschein erhellten Hausthür entgegengeeilt. Sie trug ihr Bübchen auf den Armen, das sie zum Schutz gegen die Kälte der Nacht in eine warme Decke gehüllt hatte.

„Gott sei Dank, Toni, daß Du heimkommst!“ stammelte sie mit halb erloschener Stimme. „Schau, ich weiß mir ja nimmer z’helfen! ’s Tonerl bleibt mir net allein in der Stuben droben … und es muß doch wer herunten sein und aufpassen, ob nix passiert! All’ unsere Leut’ sind davong’laufen … und schau nur, wie d’ Funken ’rüberfliegen über unser Haus! Um Gott’swillen, Toni! Ich bin so viel in Sorgen!“

„Karlin’,“ keuchte Purtscheller, als er nach dem hastigen Lauf [586] ein wenig Atem gefunden hatte, „Karlin’ … hast net ein bißl Geld bei der Hand? Gieb her, sag’ ich! Gieb her!“

„Aber Toni! Wie sollt’ denn ich Geld haben? Vertraust mir ja doch nie was an! Aber ums Himmelswillen! Toni! Was is denn?“

„Du mußt doch was haben! Du mußt! Und ich brauch’s! Her damit, sag’ ich!“

Sein verstörtes Wesen mehrte noch ihre Sorge. „Ich bitt’ Dich, Toni, so sag’ mir doch, was hast denn?“

„Unglück überall! Und grad’ heuer muß mir’s passieren, daß ich net an d’ Versicherung denk’! Weil Du ein’ aber auch auf alles vergessen laßt! Und wenn jetzt was passiert …“

„Jesus Maria!“ Karlin’ umklammerte seinen Arm. „Wie viel brauchst denn? Ich selber hab’ ja nix! Aber dem Tonerl sein Sparbüchsl hab’ ich droben …“

„Her damit! Her damit!“

Alle beide stürzten sie in das Haus und über die Treppe hinauf. In der Stube brannte die Hängelampe, doch die Schlafkammer war ohne Licht, nur matt erhellt durch den roten Feuerschein der Brandstätte; gleich tanzenden Sternen flogen draußen vor dem Fenster die Funken vorüber.

„Sei stad, mein Herzerl, ich bitt’ Dich, sei stad!“ tröstete Karlin’ mit versagender Stimme das weinende Kind, während sie mit zitternder Hand aus einem Versteck ihres Wäschekastens die kleine Blechbüchse hervorsuchte. „Das Schlüsserl hab’ ich nimmer,“ stammelte sie, während ihr die Thränen kamen, „das hab’ ich in der Kirch’ der heiligen Muttergottes in d’ Hand g’legt!“

„Ich brauch’ kein’ Schlüssel! Her damit!“ Purtscheller packte die Blechbüchse, in der es klirrte und klimperte, rannte in die Stube hinaus und riß mit Gewalt das Vorhängeschloß von dem kleinen Schatzgut seines Kindes. Ein Dutzend Goldstücke kollerte über den Tisch. Purtscheller raffte sie zusammen und eilte davon, ohne für Karlin’ noch ein Wort zu finden.

Zuerst suchte er den Buchbinder auf dem Brandplatze; aber hier fand er ihn nicht; der Mann war nach Hause gegangen, hatte seine Kinder und Gesellen zusammengerufen, um das von den fliegenden Funken bedrohte Schindeldach seiner Scheune mit Wasser zu überschütten, und stieg gerade, als Purtscheller kam, mit einer Gießkanne über die Leiter hinauf.

„Du! Sei so gut, ein’ Augenblick!“ rief ihm Purtscheller zu, kaum seiner Stimme mächtig.

Aber der Buchbinder schleppte ruhig die Gießkanne vollends über die Leiter und reichte sie einem seiner Buben. Dann erst kam er. „Was schaffen S’, Herr Purtscheller?“

„Da! Nimm! Da bring’ ich Dir ’s Geld für die Polizzen! Geh, sei g’scheit und nimm’s!“ Purtscheller versuchte ihm die Geldstücke in die Hand zu zwängen. Doch der Buchbinder hielt die Faust geschlossen und schüttelte den Kopf. „Was hast denn? So nimm doch!“ Purtschellers Stimme wurde heiser. „Ob ich’s gestern ’zahlt hätt’, oder ob ich’s heut’ erst zahl’, das wird ja doch Wurscht sein! Ich bitt’ Dich um Gott’swillen, so sei doch gescheit! So nimm’s doch!“ Er wollte dem Mann das Geld in die Joppentasche stecken.

Aber der Buchbinder wehrte sich mit beiden Händen und trat zurück. „Na, Herr Purtscheller! Heut’ in der Nacht nimmer! Das könnt’ ich als Agent net verantwortigen vor der G’sellschaft! Ich hab’ Ihnen g’mahnt, und Sie haben net g’hört drauf. Jetzt kann ich nix mehr machen! Morgen, ja, wenn alles wieder in der Ruh’ is … meinetwegen! Aber heut’ in der Nacht, wo ’s Feuer umeinander fliegt? Na, mein lieber Herr! Das geht net!“

In Purtscheller loderte der Jähzorn auf. „So? Also so einer bist Du? Ganz recht, daß ich Dich endlich einmal kennenlern’! Dich! Wart’ nur, Du! Ein andersmal mach’ ich die Faust und halt’ mein’ Sack zu! Man muß sich ja net grad’ bei Dir versichern lassen! … Hörst! Ich frag’ Dich zum letztenmal! Nimmst das Geld oder net?“

„Vater!“ klang vom grell beleuchteten Dach herunter eine erschrocken kreischende Knabenstimme. „Vater! Da schau ’nüber! Da geht schon wieder ein anderes Feuer in d’ Höh’!“

Der Buchbinder blickte auf und sah hinter dem Dach des Purtschellerhofes eine helle Flamme emporsteigen, als wäre Stroh in Brand geraten. „Herr Purtscheller!“ stotterte er. „Schauen S’, daß S’ heimkommen … ich fürcht’, Sie kriegen Arbeit daheim!“

Purtschellers Gesicht war entstellt, und taumelnd suchte er an der Leiter eine Stütze; so stand er eine Weile, zitternd an allen Gliedern; dann stürzte er wortlos davon, ohne zu merken, daß ihm die Goldstücke durch die schlaff gewordenen Finger glitten. Als er in die Nähe der Dorfstraße kam, sah er schon einen Haufen schreiender Leute nach seinem Hof eilen. Er rannte und rannte, bis ihm der Atem versagte. Bei der Gartentreppe stieß er mit Karlin’ zusammen; sie sah ihn wohl, doch sie erkannte ihn nicht; in verzweifelter Angst hielt sie mit den Armen ihr Kind umklammert, und ohne die Stimme ihres Mannes zu hören, welcher keuchend ihren Namen rief, eilte sie über die Straße hinüber, um den Knaben im Haus des Nachbars in Sicherheit zu bringen.

Auf dem Kirchturm begann eine zweite Glocke anzuschlagen, und rasselnd kam die Feuerwehr, welche das rettungslos verlorene Haus der Bäckin verlassen hatte, zum Purtschellerhof gefahren. Mathes ritt auf einem der beiden Pferde, die vor die Spritze gespannt waren, und mit dem Leitseil peitschte er auf die vom Geschrei der Leute, vom Glockenschlag und vom Feuer scheu gemachten Tiere los, welche die hügelige Auffahrt in Purtschellers Hof nicht nehmen wollten; aber so wild sich die Pferde auch gebärdeten – er zwang sie. Als er vor der brennenden Scheune, durch deren offen stehendes Thor die zündenden Flugfunken einen ungehinderten Weg zu den in Unordnung umherliegenden Strohgarben gefunden hatten, vom Pferd gesprungen war und den Schlauch der Spritze auseinanderrollen half, klammerten sich zwei zitternde Hände um seinen Arm.

„Mathes!“

Als er in Karlin’s nasse, verstörte Augen sah, in diese von Kummer und Sorge abgehärmten und vom grellen Feuerschein überflackerten Züge, brachte er nicht gleich ein Wort heraus; dann klopfte er sie auf die Schulter und strich ihr mit der Hand übers Haar, als wäre er noch der Bub’ von dreizehn und sie noch das Dirnlein von neun Jahren. „Sorg’ Dich net, Linerl! Ich bin schon da! Es is net so arg! Na, na! Sorg’ Dich net, Linerl! … Hast doch Dein Büberl in gute Händ’ ’geben?“

„Ja, Mathes! Bei der Nachbarin drüben!“

„No also, schau! Und fürs Haus is ja gar kein’ G’fahr net! Den Stadel halt, den wird der Toni verschmerzen müssen! Sonst aber is kein’ G’fahr! Na, Linerl, na! Thu Dich net sorgen!“

Sie schüttelte den Kopf und atmete auf.

„Und komm, Linerl, komm, hilf mit!“ Er riß einen Ledereimer vom Spritzenwagen. „Da hast ein’ Kübel!“

„Ja, Mathes, ja! Gieb her!“ Mit so heller Stimme, daß es über all den wirren Lärm hinaus klang, schrie sie: „Leut’! Leut’! Da her! Da is Wasser!“ Und den anderen voraus eilte sie zum Garten, zwischen dessen Bäumen der Entenweiher lag. Vroni und der Simmerauer waren die ersten bei ihr.

„Michel! Vronerl! Vergeltsgott!“

Karlin’ reichte den beiden zu raschem Druck die Hand, dann warf sie sich am Rand des Weihers auf die Knie nieder und hob den ersten vollen Eimer aus dem Wasser.

Mathes brauchte nur wenige Minuten, um zwischen Spritze und Teich eine Doppelreihe für die laufenden Eimer zu bilden.

Während man schon zu pumpen begann, um das Wasser in den Schlauch zu treiben, rannte der Spritzenwart überall umher und schrie nach Purtscheller. Neben der Hinterthür des Hauses fand er ihn an die Mauer gelehnt, ratlos vor Schreck und mit schlaffen Armen – Zäzil war bei ihm und redete mit tröstenden Worten auf ihn ein.

„He! Purtscheller!“ Der Spritzenwart rüttelte ihn am Arm. „Purtscheller! Was is denn? So rühren S’ Ihnen doch!“

„Aber so lassen S’ ihn doch in Ruh’!“ murrte Zäzil. „Sehen S’ denn net, wie’s ihm zu Mut is, dem armen Herrn!“

Ueber das Rauschen der Flammen und über allen Lärm hinaus, der den Hof erfüllte, tönte die hallende Stimme, mit welcher Mathes der Spritze ein Kommando gab.

Purtscheller blickte auf. „Der Mathes …“ stammelte er, „der Mathes soll reden für mich! Der Mathes! Der versteht sich auf d’ Arbeit!“

Kopfschüttelnd brummte der Spritzenwart etwas in den Bart und eilte zu seinem Posten.

[587] Mit thränenden Augen starrte Purtscheller in die wachsenden Flammen. Dann machte er eine Bewegung, als wären ihm die Kniee schwach geworden.

„Was haben S’ denn, Herr?“ fragte Zäzil.

„Völlig übel is mir von der Aufregung … geh’, Madl, sei so gut und mach’ mir ein’ schwarzen Kaffee!“

„Trinken S’ lieber ein guts Glasl Wein! Das macht Ihnen warm im Magen und richt’ Ihnen wieder ein bißl auf!“

„Ja, hast recht! … Bist ein guts Madl!“

Purtscheller ließ sich von Zäzil, die ihn barmherzig unter den Arm genommen hatte, kraftlos ins Haus und hinauf in die Wohnstube führen.

Und während Zäzil für den „armen Herrn“, welchem „so viel ungut“ war, eine Flasche Tiroler holte und das Glas füllte, arbeiteten drunten all die anderen mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft, um des Feuers Herr zu werden.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 36, S. 597–600

[597] Mathes hatte im ersten Augenblick den Umfang der Gefahr auf dem Purtschellerhofe richtig erkannt: die in Brand geratene Scheune mußte man verloren geben, sie war vom Boden bis unter das Dach mit Getreidegarben angefüllt, und die brannten weg wie mürber Zunder; gegen dieses hastig fressende Feuer war nicht mehr anzukämpfen und es kostete schwere Arbeit genug, um wenigstens die umliegenden Wirtschaftsgebäude und die Ställe gegen den Anflug der Flammen zu schützen. Als dieses Rettungswerk in eifrigem und wirksam fortschreitendem Gange war, machte sich Mathes daran, das Vieh, das sich unter ohrbetäubendem Gebrüll in den Ketten würgte, aus seiner Qual und Angst zu erlösen. Er suchte sich die kräftigsten Bursche und Knechte aus, damit sie ihm bei diesem harten Stück Arbeit behilflich wären. Jedes einzelne Stück Vieh mußte gewaltsam aus dem Stall geführt und in einem entlegenen Teil des Gartens angepflöckt werden, denn die vom Lärm und Feuer scheu gemachten Tiere würden sich in sinnloser Flucht so weit verlaufen haben, daß man sie wohl in Wochen nicht mehr zusammengefunden hätte. Als das letzte Stück Vieh und alle Pferde in Sicherheit gebracht waren, kehrte Mathes in den Hof zurück und stellte sich an die Pumpe. All’ die anderen, die an seiner Seite arbeiteten und den Spritzenschwengel zogen, ließen sich von Zeit zu Zeit ablösen – nur Mathes nicht.

Als es gegen die fünfte Morgenstunde ging und der Tag schon matt zu grauen begann, war alle Gefahr überwunden und die Scheune in Asche und glimmende Kohlen zerfallen, deren letzte Glut der zischende Wasserstrahl der Pumpe leicht erstickte. Nun konnte die Spritze hinüberfahren zum Bäckenhaus, um auch dort die versinkenden Flammen vollends zu löschen.

Mit durchnäßten Kleidern, an denen kaum ein Faden mehr trocken war, und zitternd vor Erschöpfung und Kälte, stand Karlin’, als die Leute sich entfernten, unter dem Hofthor; und jedem, der hinausging, reichte sie die Hand. „Vergeltsgott, Nachbar! … Vergeltsgott, Bub! … Vergeltsgott, Mad’l! Hast Dich auch noch plagen müssen!“ Und jedes, dem sie ihr „Vergeltsgott“ sagte, hatte ein freundlich tröstendes Wort für sie. So deutlich, wie in dieser Stunde, hatte es Karlin’ noch nie gemerkt, wie gut ihr alle Leute waren. Diese Erkenntnis that ihr wohl und hauchte ein bißchen Wärme auf ihre bleichen, erschöpften Wangen.

Der Hofraum leerte sich. Nur Purtschellers Dienstleute waren noch bei der Arbeit, um die Pferde und das Vieh in die Ställe zurückzuführen, und der alte Simmerauer mit seinen Kindern half ihnen dabei. Dann konnten auch diese letzten gehen. Karlin’ wartete beim Hofthor, bis sie kamen, und reichte dem Alten die Hand. „Vergeltsgott, Michel! Tausendmal Vergeltsgott. Hast selber die härteste Sorg’ daheim und bist dengerst ’kommen!“

„Wär’ net übel, Frau Purtschellerin, wenn der Mensch kein’ Zeit net übrig hätt’ für sein’ bedrängten Nachbar!“ Der Alte streichelte Karlin’s Hand. „In der Not muß man z’samm’helfen, ja! Der gute Herr Purtscheller hat mir ja auch sein’ Hilf’ an’boten! … Wo is er denn? Daß ich ihm d’ Hand drucken kann?“

[598] „Ich weiß net!“ Es zuckte um Karlin’s Lippen. „Bei der Arbeit wird er sein … denk’ ich mir …“ Sie konnte nicht weiter sprechen und wandte sich zu Vroni.

Schweigend legte das Mädchen den Arm um Karlin’s Hals und schmiegte die Wange an das Gesicht der jungen Frau.

„Da kommt der Mathes auch!“ sagte Karlin’ mit schwankender Stimme. Sie machte sich von den Armen des Mädchens los, und während Vroni den Vater zum Hofthor hinauszog, ging Karlin’ auf Mathes zu und reichte ihm die beiden Hände.

„Vergeltsgott! ……… Vergeltsgott!“

Mathes erschrak, als er sie ansah. „Aber Linerl! Um Gottswillen, wie stehst denn da! Hast ja kein’ trocknen Faden mehr am Leib! Mußt Dir ja was holen bei so einer Kälten! Ich bitt’ Dich um Christi willen, geh doch ’nauf und thu Dich umg’wanden!“

„Ja, Mathes, ja, gleich geh’ ich ’nauf; bloß auf Dich hab’ ich noch gewart’, daß ich Dir Dein Vergeltsgott sagen kann … schau, ’s erste Wörtl nach so viel’ Jahr’!“ Sie drückte seine Hände und sah ihm in die Augen.

„Aber geh, Linerl! Ein Vergeltsgott? Mir? Das braucht’s ja doch net! … Schau nur an, wie der Wind herblast! Du mußt Dir ja was holen! Ich bitt’ Dich, geh ’nauf! … Und schau, es pressiert mir ja selber, daß ich heimkomm’! … B’hüt Dich Gott wieder, Linerl!“

„B’hüt Dich Gott!“ Lächelnd und mit nassen Augen nickte sie zu ihm auf, strich die losen Härchen hinters Ohr und ging der Hausthür zu. Auf halbem Wege kehrte sie um und rief: „Mathes! …. Die heutige Nacht vergiß ich Dir mein Leben nimmer! Vergeltsgott, Mathes!“

Er stand schon unter dem Thor. „Aber geh!“ sagte er, zog verlegen die Schultern auf und schob die Hände in die Joppentaschen, als ob er irgend etwas zu suchen hätte. Dann lächelte er und trat auf die Straße hinaus.

„Komm, Bub!“ sagte der Simmerauer, der auf ihn gewartet hatte. „Schauen wir, daß wir heimkommen! … Mein Gott, wie wird’s droben ausschauen!“

„Gut, Vater! Schau her …“ Mathes stampfte mit dem Fuß, daß die harte Erde klang, „der Boden is fest g’froren … und den thaut sobald kein’ Sonn’ nimmer auf! Heut noch, mein’ ich, fallt der Schnee! Und da haben wir gute Zeit, Vater!“

„Ja, kannst recht haben! … Aber die Angst, die d’Mutter heut’ in der Nacht ausg’standen haben muß, so allein in dem Häusl da droben! … Komm, Bub! Machen wir uns auf d’Füß’!“

„Ja! Aber wo is denn d’ Vroni?“

„Sie kommt gleich nach! Ein Sprüngl hat s’ ins Ort ’nein g’macht, nachschauen, wie’s der armen Bäckin geht.“

„Der Bäckin? … So so?“ Mathes nickte und spähte gegen die Daxen-Schmiede hinüber.

Während sie mit raschen Schritten dem Gehäng des laufenden Berges zustrebten, jammerte der Simmerauer: „Das arme Weiberleut! Die hat’s aber hart ’troffen in der heutigen Nacht! Alles verlieren müssen! Und ’s Häusl dazu! So ein schön’s Häusl! Völlig erbarmen thut s’ mich, ja! Und was soll s’ denn machen auf ihre alten Tag’? Sie hat ja kein’ Menschen net, als den Luftikus, den Daxen-Schorschl, der sich selber net erhalten kann! Mein Gott, mein Gott, die arme Frau!“

Als sie in der kalten Morgendämmerung über den ersten Wiesenhügel emporstiegen, blieb Mathes stehen und blickte nach dem Purtschellerhof zurück. Dünner Rauch, der zuweilen aussetzte, kräuselte sich noch über das Hausdach empor; doch nur ein scharfes Auge konnte ihn unterscheiden, denn er verschmolz beinahe mit der grauen, dunstigen Morgenluft zu einem einzigen Ton.

Der Hofraum, von welchem Mathes einen Teil überblicken konnte, war leer – Karlin’ hatte das Haus schon längst betreten.

Im oberen Stock des Purtschellerhofes, in der Wohnstube, hatten die Fenster noch roten Lichtschein. Jetzt verschwand er – Karlin’ hatte die Hängelampe ausgelöscht, welche sie brennend vorgefunden.

Erschöpft und zitternd stand die junge Frau am Tisch, starrte kopfschüttelnd die drei geleerten Weinflaschen an und sah in dem von Cigarrenrauch und Lampenqualm erfüllten Raum umher, mit so verlorenem Blick, als wäre sie in einer fremden Stube und wüßte nicht, durch welchen Irrtum sie hierhergekommen.

Ein Schauer befiel sie. Mit langsamen Händen strich sie an den nassen Kleidern hinunter, die ihr halb gefroren am Körper klebten, nickte vor sich hin und murmelte: „Ja, der Mathes hat recht, ich muß mich umg’wanden!“

Sie trat in die Schlafkammer, und da sah sie ihren Mann in der Feuerwehruniform und mit den Stiefeln auf dem Bett liegen. Als die Thüre ging, erwachte er halb aus seinem Dusel, seufzte schwer und drehte sich auf die Seite. Karlin’ wollte zu ihm gehen, aber ihr Schritt stockte, als wären ihr die Füße auf den Dielen angewachsen. Doch gewaltsam überwand sie dieses Widerstreben, ging auf das Lager zu und faßte die Hand ihres Mannes.

„Toni!“

„Geh, laß mich schlafen!“ brummte er und zog die Hand zurück. „Wie Blei liegt’s mir in alle Glieder!“ Dann richtete er halb den Kopf in die Höhe, blickte sie mit verschwommenen Augen an, und während er sprach, spürte Karlin’ den Geruch des Weines. „Wie schaut’s denn aus drunten?“

„’s Feuer is g’löscht, und die Leut’ sind fort.“

„Hast Dich bedankt bei die Leut’?“

„Ja!“

„Hast ein’ Wein oder Bier aufstellen lassen und Cigarren hergeben?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Du denkst aber auch an gar nix! Alles liegt auf mir! Alles!“ Wieder seufzte er und drückte den schweren Kopf in die Kissen. „Mit Dir is einer aufg’richt’, ja, das muß ich sagen!“

Wortlos wandte sich Karlin’ ab, ging zum Kasten und nahm heraus, was sie an Wäsche und Kleidern brauchte.

Als sie zur Thüre wollte, fragte Purtscheller unwillig: „Wohin denn schon wieder?“

„Zu meinem Kind!“

Karlin’s Stimme klang verändert. Und dieser fremde Klang schien auch ihrem Manne aufzufallen, trotz seines Dusels; er stierte sie an, als stünde nicht seine Frau, sondern eine andere vor ihm, die er noch nie gesehen hatte.

„Ich bitt’ Dich, mach’ mir jetzt keine so närrischen G’schichten!“ murrte er. „Was hast denn?“

Ohne zu antworten, verließ Karlin’ die Kammer. In der Stube kleidete sie sich um. Dann stieg sie die Treppe hinunter und verließ das Haus, wie eine Träumende, immer an der Mauer sich forttastend. Im Garten blieb sie stehen und atmete auf. Nun ging sie raschen Schrittes über die Straße und trat ins Nachbarhaus.

In einer niederen, behaglich durchwärmten Stube, durch deren kleine Fenster schüchtern das erste weiße Licht des Tages schimmerte, fand Karlin’ die alte Bäuerin in einem Lehnstuhl neben dem Ledersofa, auf welchem dem kleinen Tonerl mit geblumten Kissen ein wohliges lindes Bettchen hergerichtet war. Das Kind hatte rote Wangen, und ruhig gingen seine Atemzüge.

„Schauen S’ nur, wie gut er schlaft!“ flüsterte die Bäuerin. „Und guter Schlaf is Kinderglück! Da übertaucht so ein Hascherl alles und kann noch lachen dazu!“ Sie erhob sich, um ihren Platz der Mutter einzuräumen.

„Vergeltsgott, Nachbarin!“ sagte Karlin’ und drückte die Hände der alten Frau. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, während sie sich über die Kissen beugte und mit sachter Hand die dünnen Löckchen ihres Kindes streichelte. Die Bäuerin wollte von dem Unglück der Nacht zu reden beginnen, aber Karlin’ blickte flehend zu ihr auf und lispelte: „Ich bitt’ schön, Nachbarin, reden wir lieber net … ’s Kindl könnt’ aufwachen!“ Sie ließ sich müde in den Lehnstuhl sinken. „Und gelt, ich darf schon noch ein bißl bleiben … daherin is so schön still und warm … und das thut mir so wohl! Gelt, ich kann ein bißl bleiben?“

„Aber ja, Purtschellerin! So lang’, wie S’ mögen! … Natürlich, so die ganze Nacht bei’m eiskalten Wasser! So was geht ins Blut! Ja! Und da sollten S’ halt jetzt ein bißl was zum Auffrischen kriegen? Oder net? Was meinen S’ denn, wenn ich ein’ recht ein’ guten Kaffee machen thät’? Ja?“

„Ich bitt’ schön, Nachbarin … aber sein muß ’s net!“

„Aber ja! Aber freilich! Auf der Stell’!“ Und geschäftig humpelte die alte Frau zur Thüre hinaus.

Karlin’ wollte das kleine Händchen ihres Knaben fassen, das aus den Kissen hervorlugte – und da hauchte sie zuerst ihre Finger an, damit sie nicht so kalt wären. Nun saß sie regungslos, in tiefen Zügen atmend, den Kopf zurückgesunken in den Lehnenwinkel des Sessels. Vom nahen Ofen, in dem das Feuer knisterte, strömte die Wärme an ihren Körper und in ihr Gesicht. Das [599] frösteln ihrer Glieder löste sich, ihre Wangen begannen sich zu röten, und nach aller Angst und Erschöpfung dieser Nacht fiel ihr der Schlummer über die Augen. Doch auch im Schlaf noch schienen ihre Gedanken und Vorstellungen sich in Unruh’ zu bewegen, das verriet sich in dem zuckenden Spiel ihrer Mienen. Nur einmal lächelte sie im Traum und dabei flüsterten ihre Lippen: „Mathes? … Vergeltsgott, Mathes!“

Der kleine Vogel der Wanduhr rief die sechste Morgenstunde:

„Kuckuck!“

In der winterlichen Stube ein Frühlingsruf!

Doch weder das schlummernde Kind noch seine müde Mutter erwachte. Die Bäuerin, als sie den dampfenden Kaffee brachte, mußte die beiden wecken.

11.

Auf der Straße begann im kalten Grau schon das Leben des Morgens. Die Ochsengespanne zogen mit schwerem Schritt, die Leiterwagen rasselten und die Leute gingen ihrer Arbeit nach. Der erst halb zerflossene Rauch der beiden Brandstätten lag wie ein Schleier über dem ganzen Thal, und der widerliche Geruch des verbrannten Mehls erfüllte die Luft. Das war kein Morgen, um die Menschen fröhlich zu stimmen – und dennoch gingen die Leute auf der Straße mit vergnügten Gesichtern und lachendem Gruß aneinander vorüber. Jeder freute sich, daß das Unglück dieser Nacht an seinem Haus mit einem Umweg vorbeigeschritten war! Freilich äußerte keiner diese Freude und wenn sie auf der Straße beisammenstanden und von dem Brande schwatzten, wenn sie über den Zaun des Purtschellerhofes guckten oder den rauchenden Schutthaufen des Bäckerhauses betrachteten, wiegten sie ernst die Köpfe und sprachen breit von dem Mitgefühl, welches sie für die vom Unglück Betroffenen empfanden. Von Purtscheller war dabei wenig die Rede – nur von Karlin’ und von der armen Bäckin. Der Purtscheller-Toni würde den Stadel im Frühjahr wieder aufbauen, und wenn er auch ein paar tausend Mark an Getreide und Winterfutter verloren hätte, so könnte er den Schaden doch verschmerzen. Aber die Bäckin, die zur Bettlerin geworden war! Was sollte die verarmte Frau beginnen? Und dazu wäre sie von der überstandenen Angst so schwach und elend, daß man für ihre „dicke“ Gesundheit, vielleicht sogar für ihr Leben fürchten müßte. Wenigstens hätte der Doktor, welchen Schorschl noch in der Nacht gerufen, ein gar bedenkliches Gesicht gemacht.

Noch vor Anbruch des Tages hatte sich diese Nachricht im Dorf verbreitet, und in der Morgendämmerung wurde der Hof der Daxen-Schmiede nicht leer von Leuten, die aus Neugier oder Mitgefühl nach dem Befinden der Bäckin fragen wollten. Mit leisem Schwatzen standen sie vor der Werkstätte um das Thor gedrängt, welches Schorschl in der Nacht halb eingedrückt hatte, und lugten durch die Spalten der Bretter, oder sie belagerten die kleinen Fenster, um einen Blick in das Innere der Werkstätte zu erhaschen.

Vor dem Fenster, das gegen den Obstgarten der Schmiede ging, hatte sich Vroni ein Plätzchen erobert, und da stand sie mit pochendem Herzen und dunkelrotem Gesicht, spähte bald mit atemloser Vorsicht durch die halb erblindete Scheibe, bald wieder fuhr sie erschrocken mit dem Kopf zurück, als hätte sich drinnen in der Werkstätte irgend ein schreckhaftes Ungeheuer dem Fenster genähert.

Der Morgen wurde heller und heller. „Jesses, na! Ich muß ja doch heim!“ murmelte Vroni ein um das andere Mal vor sich hin und blickte in Unruh und Sorge über das sich grau entschleiernde Gehänge des laufenden Berges hinauf. Aber das „Mitleid mit der Bäckin“ war so stark in ihr, daß sie das kleine Fenster nicht verlassen konnte. All die anderen Neugierigen verzogen sich und gingen nach Hause – nur Vroni zögerte noch immer, ohne recht zu wissen, auf was sie denn eigentlich wartete.

Hinter ihr im Garten klangen die Beilschläge der beiden Zimmerleute, welche im ersten Morgengrauen begonnen halten, die Pfosten für die neuen Thüren zu zimmern, welche man in die Stubenwände der Daxen-Schmiede einsetzen mußte, um die Bäckenmahm’ aus der Werkstätte in einen wohnlicheren Aufenthalt verbringen zu können. Vorne im Haus waren auch schon die Maurer bei der Arbeit, um mit möglichst wenig Geräusch die alten Thürstöcke auszubrechen und die Lichtung in der Mauer zu erweitern.

Als Schorschl noch vor Anbruch des Tages die Handwerksleute vom Brandplatz weg geholt hatte, waren sie willig mit ihm gegangen, obwohl das Lohnversprechen, das ihnen der Daxen-Schorschl gab, etwas unbestimmt lautete. „Ich zahl’ schon einmal!“ hatte er gesagt. „Wann? Das weiß ich freilich selber net! Aber ich kann doch das arme, kranke Weiberleut net in der Werkstatt auf’m Boden liegen lassen! Seids halt so gut und helsts mir ein bißl!“

Während nun die Zimmerleute im Garten emsig auf die Balken loshackten, konnte Vroni sie mit halblauten Stimmen von dem „G’frett“ plaudern hören, das der Daxen-Schorschl haben würde, um in dem mit langen Schritten der Gant zulaufenden Hause sich selbst, die Bäckin und dazu noch deren Magd zu erhalten, die ihm zur Pflege der kranken Frau doch unentbehrlich war! „Man müßt’ ihm eigentlich doch ein bißl beibringen,“ meinte der Zimmermeister, „und schauen, daß ihm d’ Leut’ wieder Arbeit zutragen!“

Das hörte Vroni, und sie atmete so erleichtert auf, als hätte man ihr selbst eine ersehnte Wohlthat versprochen. Freilich, was ging sie „der da drinnen“ an? Mit dem „Wildling“ hatte sie ausgeredet ein für allemal! Aber wenn die Leute dem Daxen-Schorschl ein wenig auf die Beine halfen, das kam doch auch der armen Bäckin zu gute – und deshalb freute sie sich!

„Jetzt muß ich aber heim!“

Seufzend über das „harte Los der Bäckin“ warf sie noch einen letzten langen Blick durch die trübe Scheibe des Fensters und wollte sich um die Hausecke schleichen. Doch mit purpurrotem Gesichte fuhr sie zurück.

Schorschl war aus der Werkstätte getreten und ging zum Brunnen. In den Händen hielt er eine große irdene Schüssel mit einer Wasserflasche und zwei Gläsern, und ein paar nasse Handtücher hingen ihm über die Schulter. Er trug noch die von Brandlöchern durchsiebte Joppe; aber das Gesicht hatte er gewaschen; dabei hatte er freilich nur den Ruß und Mörtelstaub weggebracht, die roten Schrunden, welche ihm die scharfkantigen Mauerbrocken in Stirne, Nase und Wangen gerissen hatten, waren geblieben: und auf der einen Seite des Kopfes hatten ihm die Feuerfunken das Haar bis auf die Haut versengt – das war anzusehen, als hätte der Daxen-Schorschl Türke werden wollen, sich aber mit halb rasiertem Kopf noch eines besseren besonnen!

Beim Brunnen pumpte er so energisch, daß das Wasser mit dickem Strahl aus der Röhre schoß – freilich, aufs „pumpen“ verstand sich Schorschl wie kein anderer – und dann begann er die Handtücher auszuwaschen und die Gläser zu spülen.

Er stellte sich dabei durchaus nicht ungeschickt an – aber Vroni, die mit der Nasenspitze hinter der Hausecke hervorguckte, meinte doch, daß ihm diese Frauenzimmerarbeit nicht recht von der Hand ginge. Wär’s ein anderer gewesen als der Daxen-Schorschl, sie wäre flink zum Brunnen gesprungen und hätte ihm die Mühe abgenommen. Aber „dem da“ helfen? Nicht um die Welt!

Während Schorschl wusch und plätscherte, spähte er immer wieder nach allen Seiten, wie in Sehnsucht, einen Menschen zu sehen; aber die Straße war leer.

„Natürlich! Die ganze Nacht sind s’ mir auf die Füß’ umeinander ’treten!“ brummte er. „Und jetzt, wo ich ein’ brauch’, laßt sich keiner anschauen!“

Da sah er einen Buben mit dem Schulränzlein daherkommen und rief ihm zu: „Du, Büberl, geh, sei so gut, lauf’ zum Wirt ’nüber und sag’ ihm, er soll mir aus’m Eiskeller ein’ Zuber voll Eis ’rüberschicken.“

„Ich kann net, ich muß in d’ Schul’!“

„Aber schau, hast ja noch Zeit! Und ich brauch das Eis für die kranke Mahm’! Geh, Büberl, sei brav, lauf ’nüber!“

„Ich muß in d’ Schul’!“ wiederholte der kleine Bursch verlegen und trabte am Zaun vorüber.

Schon wollte Schorschl dem Buben ein Paar gesunde Grobheiten mit auf den Weg geben, als er hinter sich eine schwankende Mädchenstimme fragen hörte: „Schorschl? … Könnt’ ich net den Weg zum Wirt ’nüber machen?“

Der Daxen-Schorschl fuhr beim Klang dieser Stimme auf, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen. Und während er mit gespreizten Fingern, von denen das Wasser niedertropfte, vor Vroni zurücktrat, betrachtete er zuerst das Mädchen vom Kopf bis zu den Füßen, dann die Kratzwunden auf seiner Hand. Dazu lachte er ganz merkwürdig. „Ah, da schau her! … Du!“ sagte er und wischte mit der Hand über die Hüfte, als stünde noch das Blut auf den Wunden, die ihm das „liebe Katzerl“ geschlagen hatte. „Was willst denn?“

Die Antwort kam nicht gleich und klang auch nicht besonders freundlich. „Ob ich net ein bißl helfen muß … hab’ ich g’meint.“

[600] „So so? Helfen?“ Schorschl streifte mit schiefem Blick die blaue Schürze, die sich im kalten Morgenwind unruhig bewegte. „Helfen? So? … Wie gestern vielleicht? … Und mir willst helfen?“

„Dir?“ Vronis Augen schossen einen finsteren Blick. „Na! Dir net! … Der armen Bäckin aber gern!“

„So so? Der Bäckin? … Mir also net?“

Da fuhr sie ihn zornig an: „Der Bäckin, hab’ ich g’sagt!“

„Ich dank’ schön! Der Bäckin hilf ich selber! B’hüt Dich Gott!“

Mit diesem Gruß ließ Schorschl das Mädchen stehen, ging auf die Straße hinaus und eilte ins Wirtshaus hinüber, um das Eis zu holen.

Verblüfft und geärgert sah ihm Vroni nach. Schon wollte sie den Hof verlassen, aber da kam ihr in Gedanken die Frage: „Was kann denn die arme Bäckin dafür? Daß ihr so einer helfen muß!“ Sie ging zum Brunnen, spülte das Geschirr, wusch die Handtücher, daß kein Flecklein mehr an ihnen war, und trug die Sachen in die Schmiede. „O Du mein lieber Herrgott!“ stammelte sie bewegt, als sie bei dem Zwielicht, das die graue Morgenhelle und ein in der Esse flackerndes Holzfeuer in dem großen, rußgeschwärzten Raum verbreitete, die schwer geprüfte Frau in den von Schorschl aus dem ganzen Haus zusammengeschleppten Decken und Kissen auf der Erde liegen sah. Da man ein für ihren Umfang passendes Gewand zum Austausch für die durchnäßten Kleider nicht hatte auftreiben können, hatte man sie in zwei zusammengeheftete Leintücher und in den weiten, schweren Wintermantel gehüllt, der noch von Schorschls Vater und Großvater stammte. Ein nasser Umschlag bedeckte ihre Stirn, die Augen und das halbe Gesicht; kraftlos lagen die rund gepolsterten Hände auf der Decke und glühten von heißem Fieber.

„Schorscherl?“ lispelte die Kranke, als sie den Schritt des Mädchens auf der Schwelle hörte.

Mit zitternden Händen stellte Vroni das Geschirr auf den Amboß und sagte leis: „Ich bin’s, Bäckin, die Simmerauer-Vroni!“

„So? … Wo is denn mein Schorscherl?“

„Ins Wirtshaus is er ’nüber ’gangen, für Dich ein bißl ein Eis holen, weißt!“

„Kommt er bald wieder?“

„Ja, Bäckin!“ Vroni hatte sich auf die Kniee niedergelassen und streichelte die heißen Hände der Kranken. „Gleich wird er wieder da sein! Gleich!“

Da atmete die Bäckenmahm’ tief auf und ein mattes Lächeln huschte um ihre Lippen. „Mein Schorscherl! … Gott sei Dank, daß ich den noch hab’! … Und so viel ungut bin ich g’wesen zu ihm, wie er mich braucht hätt’!“ Sie hörte einen Schritt. „Kommt er schon?“ Aber es war die Magd, die aus der Küche kam und eine Schale mit Fleischsuppe brachte.

Thränen waren in Vronis Augen getreten. Hätte ihr die Bäckin eine lange Stunde das Lob des Daxen-Schorschl vorgesungen, es hätte bei Vroni nicht so tief gewirkt wie dieses erleichternde Aufatmen der Kranken, wie dieses matte Lächeln und der dankbar zärtliche Klang dieses kurzen Namens: „Mein Schorscherl!“

Mit fürsorglicher Geschäftigkeit war sie der Magd behilflich, um der Kranken die Suppe einzuflößen Dann erhob sie sich und versprach „ganz g’wiß“, recht bald wieder nachzuschauen, wie es der „lieben Bäckin“ ginge.

Als sie in den Hof hinaus trat, kam ihr Schorschl mit dem Eis entgegen. Sie nickte ihm zu und sagte: „B’hüt Dich Gott, Schorschl! Jetzt muß ich heim … aber die Handtücher hab’ ich Dir noch g’schwind ausswaschen! B’hüt Dich Gott!“

Er machte große Augen und schien nicht recht zu wissen, wie ihm geschah. Und während er kopfschüttelnd in die Schmiede trat, brummte er, was vom vergangenen Tag her seine Lippen so gewohnt waren: „B’hüt Dich Gott, Katzerl!“

Unwillig blieb Vroni stehen. „Katzerl! Allweil wieder: Katzerl!“ murrte sie. „Ich möcht’ nur wissen, was er denn eigentlich hat mit dem unsinnigen G’red da!“ Sie machte Miene, wieder umzukehren, um sich diesen zweifelhaften Kosenamen allen Ernstes zu verbitten.

Aber da sah sie, daß es durch die grauen Lüfte weiß und gaukelnd niederfiel – erst waren es nur ein paar vereinzelte Flocken – aber droben in der Höhe lösten sich alle Wolken schon in licht herniedersinkknde Schleier.

Mit warm aufquellender Freude dachte Vroni an die Ihrigen zu Hause. „Gott sei Lob und Dank! Der Winter is da!“ Sie begann zu laufen, daß ihre Röcke flatterten, und als sie an dem noch rauchenden Brandschutt des Bäckenhauses vorüberkam, wirbelten ihr die weißen Flocken schon in dichtem Tanze um den Kopf.

Straß’ auf und ab tönte das lustige Geschrei der Schulkinder, welche ihre Ränzlein und Taschen zu Boden warfen, um den ersten noch dünn liegenden Schnee von den Bretterplanken der Zäune zu streifen und die nassen Ballen mit sicher gezieltem Wurf hinter ein ahnungsloses Ohr zu pflanzen. Das kreischende Spiel setzte sich von der Straße in alle Gärten fort, sogar auf die Brandstätte, deren qualmende Ruine den tollenden Humor der Kinder nicht zu beeinträchtigen vermochte. Höchstens, daß das eine und andere ein paar Sekunden stehen blieb, um mit scheuem Blick die kahlen, rauchgeschwärzten Mauern zu überhuschen – dann ging’s aber gleich wieder mit Lachen und Kreischen in das lustige Treiben hinein. Und da gab es nun plötzlich für die Kinder ein großes, wundersames Ereignis! Ein Junge, der im Garten der Brandstätte den Schnee zu einem Ballen zusammenraffte, hatte einen Apfel gefunden. Das wäre nun allerdings für die Kinder nichts Neues und Erstaunliches gewesen. Aber der Apfel war gebraten! Freilich kalt – aber wunderschön gebraten, so recht wie der ideal gebratene Apfel sein soll: auf der einen Seite schön weich, auf der anderen Seite noch etwas fester, damit man doch Abwechslung im Genusse hat!

Zuerst betrachtete der Junge seinen merkwürdigen Fund mit verblüfften Augen; dann dachte er sich: probieren geht übers Studieren – und grub alle Zähne in den Apfel. Das schmeckte so gut, daß der Junge schmatzte vor Vergnügen. Er rief sein Schwesterchen und ließ es am Apfel beißen – die anderen Kinder sammelten sich mit neidischen Blicken um das Pärchen – und plötzlich machte jenes Bürschlein, das für den Daxen-Schorschl nicht zum Wirt hatte gehen wollen, weil es „in die Schule mußte“, die aufregende Entdeckung, daß all die vom Feuer versengten Bäume im Garten der Bäckin noch voll von gebratenen Aepfeln hingen. Da gab es nun, während lustig die Flocken tanzten, bis in die höchsten Aeste hinauf ein Klettern um die Wette und der Lehrer in der Schule hatte lang’ auf seine Schüler zu warten. Wie ein lärmender Spatzenschwarm hockte die Kinderschar im Gezweig, speiste die gebratenen Aepfel vom Baum und ergötzte sich an der wundersamen Schlaraffiade, zu der sich das Unglück der Nacht verwandelt hatte.

Man konnte das Jauchzen und Kreischen der Kinder bis hinüber zur Daxen-Schmiede hören, in welcher die arme Bäckin auf ihrem Schmerzenslager ruhte.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 37, S. 613–618

[613] Immer dichter wirbelten die Schneeflocken hernieder, und die Kälte drang unaufhaltsam durch das eingedrückte Thor in die Daxen-Schmiede. Schorschl mußte die Lücken vernageln. Aber auch das wärmende Feuer in der Esse hatte er löschen müssen, weil der flackernde Schein in der Fieberphantasie der Kranken schreckende Bilder erzeugte. Sie hatte irre geredet. Doch jetzt war sie wieder bei Bewußtsein – und als Schorschl die Eiskompresse auf ihrer Stirn wechselte und sich zu ihr ans Lager setzte, tastete sie nach seiner Hand und lispelte: „Schorscherl! … So viel Plag’ muß ich Dir aufhalsen!“

„Macht nix, Mahmerl, macht nix!“ tröstete er. „Thu Dich nur net aufregen! Thu Dich nur gar net sorgen! Schön langsam wird alles gehn! Und geht’s net auf zwei Füß’, so mach’ ich ihm noch zwei dazu, damit ’s viere hat! Da geht’s nachher g’schwinder!“

Die Bäckenmahm’ mußte lachen, und das brachte den Daxen-Schorschl noch lustiger ins Plaudern.

„Was D’ heut’ in der Nacht verloren hast, schau, Mahmerl, das kann ich Dir aus der Aschen nimmer aussikratzen!“ Das Wort machte ihn nachdenklich. „Ui jegerl! Da fallt mir schon wieder ’s Kratzen ein!“ Er seufzte; dann aber lachte er wieder, um nicht auch noch die Bäckenmahm’ melancholisch zu stimmen. „Thu Dich halt trösten, Mahmerl! Viel hast freilich verloren! Meintwegen alles! Aber viel is ja net dran an der irdischen Nichtigkeit … so predigt der Pfarrer an jedem Sonntag! Und hin is hin, sagt der Teufel, wenn die arme Seel’ in’ Himmel fahrt! Und schau, Mahmerl, schlecht sollst es deswegen bei mir net haben! Gott bewahr’! Die feinsten Bröckerln sollst kriegen! Und wenn ich Zeit hab’, fang’ ich Dir die schönsten Forellen! Gar z’ oft werd’ ich freilich net Zeit haben! Denn weißt, jetzt muß ich arbeiten! Fest! Ja! Aber macht nix! Arbeit is g’sund, sagen die faulen Leut’! Gott soll’s geben, daß ’s wahr is! Und paß nur auf, Mahmerl: jetzt will ich’s bei der Arbeit grad’ so halten, wie’s im Lumpenliedl heißt …“ Mit den Fingern schnalzend, begann er lachend zu singen:

„Und ein richtiger Loder,
Kreuz Teufel juheh!
Der dreht im Tag ’s Unterste
Zwanz’gmal in d’ Höh’!“

„Hör’ auf, Schorscherl … hör’ auf!“ stöhnte die Bäckenmahm’ zwischen Lachen und Thränen, „’s Lachen thut mir so viel weh!“

„Was, ’s Lachen thut Dir weh! O Du mein arm’s Mahmerl! Da wird’s Dir aber schlecht gehn bei mir! Da wirst lachen müssen den ganzen Tag! Und paß nur auf, wie schnackerlfidel das zum anschauen sein wird, wenn ich mich an’ Amboß anbind’ und dem Lüftigkeitsteufel in mir schön langsam die Stockzähn’ ausreiß’, ein’ nach ’m andern! Und geben mir d’ Leut’ im Dorf net Arbeit g’nug … meintwegen, so sollen s’ mich buckelkraxen tragen! In [614] der Stadt drin weiß ich ein’ Fabrikherrn … der giebt mir Arbeit, g’nug, wenn ich’s gut und billig mach’! Und bis ich den ersten Brocken verdient hab’, bleiben wir halt schön schuldig miteinander! Gelt, Mahmerl? Heut’ noch, ja, heut’ noch fahr’ ich in d’ Stadt ’nein und bring’ auf ’n Abend ein’ ganzen Wagen voll Arbeit mit! Und für Dich ein’ Bettstattl, wo schön drin Platz hast … ein zwieschläfrigs, weißt! Und da bett’ ich Dir nachher auf … aber nobel! So is kein Christkindl noch net g’legen!“

Schorschl erhob sich vom Lager der unter Schmerzen lachenden Bäckenmahm’, um die Eiskompresse zu wechseln. Sinnend betrachtete er das Handtuch und murmelte vor sich hin: „Sauber hat sie ’s gewaschen! Ja! Die versteht sich auf so was! … Mit der wär’ ich aufg’richt’ jetzt!“ Er that einen brunnentiefen Seufzer. „O Du mein Gott! Da is’ aus und gar! … Der Bäckenmahm’ z’lieb hat sie sich halt bemüht! … Der Bäckenmahm’ z’lieb!“

„Schorscherl?“ lispelte die Kranke, die den schweren Senfzer gehört hatte. „Was hast denn?“

„Nix hab’ ich … als ein’ Kratzer auf der Hand, der beißt mich!“

„Hast net ein bißl Pechsalben? Die is gut für so was!“

„Na, Mahmerl! Da könnt’ ich ein’ gehörigen Tiegel voll verschmieren … es that nix helfen!“

Mit dieser seufzenden Weisheit legte er der Kranken die Kompresse auf die Stirn und begann sein lustiges Geplauder wieder. –

Zwei Stunden später – einen Schuh tief lag schon der Schnee auf der Straße – fuhr der Daxen-Schorschl mit dem Wagen, den er sich vom Wirt geborgt hatte, in die Stadt. Am Abend kehrte er zurück, mit hundert Mark Vorschuß in der Tasche und reichlicher Arbeit für ein Vierteljahr. Und quer über den Eisenstangen, die auf dem Wagen rasselten, schwankte die „Zwieschläfrige“, die er für die Bäckenmahm’ mitgebracht hatte.

Es war auch an der Zeit, daß die Kranke in ruhigen Aufenthalt kam, denn die Befürchtung des Doktors, daß die Bäckenmahm’ den Schreck der Brandnacht mit einem schweren Nervenfieber bezahlen müßte, hatte sich bewahrheitet.

Ein Glück, daß auch der Maurer und die Zimmerleute tagsüber ihre Schuldigkeit gethan hatten! Die neuen Thüren waren fertig und hatten eine so geräumige Breite, daß Schorschl bei ihrem Anblick meinte: „Sakra! Da kann ich einmal mit meiner ganzen Familli am Arm durchmarschieren!“ Aber dieses Wort machte ihn nachdenklich, und er seufzte: „O mein Gott! Mit der Familli, scheint mir, hapert’s noch ein bißl! … Schier glaub’ ich, daß ich mit der Bäckenmahm’ z’frieden sein muß!“

Die Thüren bekamen noch Doppelwände aus dickem Strohgeflecht, damit der Hammerlärm der Schmiede die Kranke nicht belästigen möchte. Und so konnte Schorschl, während die Magd die Krankenpflege übernahm, mit dem Morgengrau des folgenden Tages die Arbeit beginnen.

Vom ersten Licht bis zur sinkenden Dämmerung stand er Tag um Tag mit unverdrossenem Eifer am Amboß. Er hatte es garnicht nötig, dem „Lüftigkeitsteufel“ einen Stockzahn auszureißen, denn dieser „Teufel“ erwies sich als so gutmütig und willig wie ein dressierter Pudel – die zwingende Not und die Ueberfülle der Arbeit legten ihn an eine dauerhafte Leine. Auch die Leute im Dorf, denen bei dem tiefen und noch immer wachsenden Schnee der Weg in die Schmiede des Nachbardorfes zu weit wurde, brachten Arbeit in die Daxenschmiede. So hatte Schorschl „wie ein Roß“ zu schaffen und mußte schon daran denken, sich nach einem Gesellen umzuschauen. Bei alledem waren seine Finanzsorgen nicht leichter geworden. Die Leute im Dorf, welche mit Arbeit zu ihm kamen, sagten: „Sei so gut und schreib’s auf d’ Rechnung!“ – und die hundert Mark Vorschuß, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, waren für die Forderung des Schneiders und für Anschaffungen, welche die Pflege der Kranken erforderte, bis auf wenige Mark aufgegangen. So mußte Schorschl bekümmert und ratlos an die kommenden Tage denken, und bei jedem Hammerschlag, welcher hell und lustig durch das Dorf hinaustönte, redete eine stumme drückende Sorge mit.

Eines Abends, als Schorschl gerade in recht verdrießlicher Stimmung seinen ruhelosen Kummer in das glühende Eisen hineinhämmerte, kam die Magd in die Schmiede und sagte: „B’such is drüben bei der Bäckenmahm’!“

Schorschl hämmerte weiter. „So? Wer denn?“

„D’ Simmerauer-Vroni!“

Da schwiegen die Hammerschlüge und dunkle Röte flog üler das rußfleckige Gesicht des Schmiedes.

„Hat Dich ’s Madl ’rüberg’schickt, daß D’ mir’s sagen sollst?“ fragte er stammelnd.

„Ah na! Das grad’ net! Sie is ja bloß zur Bäckin ’kommen. Aber ich hab’ halt g’meint …“

„So so? Bloß zur Bäckin!“ unterbrach Schorschl die Magd mit grober Stimme. „Natürlich! Ich hab’ mir’s eh’ gleich ’denkt! Und da brauch ja ich net dabei sein!“ Wütend drosch er mit dem Hammer auf das Eisen los und hörte nicht, was die Magd noch weiter sagte. Und als sie zur Thüre hinausging, rief er ihr nach: „Ich laß gute Unterhaltung wünschen!“

Er hämmerte, daß die Fensterscheiben summten und die glühenden Funken bis in die äußersten Winkel der Werkstätte flogen.

Nach einer Weile zog es ihn aber doch hinüber – er hatte ja seit Mittag nicht mehr nachgesehen, wie es der armen Mahm’ ginge. Doch als er in die Krankenstube trat, sah er nur die Magd am Bette sitzen. „Wo is denn die ander’?“ fragte er enttäuscht und brummend.

„Ich weiß net, was ’s Madl g’habt hat! Jetzt grad’, wie drüben die Hammerschläg’ ausg’setzt haben, springt s’ auf, sagt g’schwind ein B’hüt Gott und rennt davon wie narrisch!“

„Ah sooooo?“ Schorschl nickte mit bitterem Lächeln vor sich hin, und als hätte er plötzlich vergessen, daß er doch nur gekommen war, um nach der Mahm’ zu sehen, machte er auf der Schwelle kehrt und stapfte wieder in die Werkstätte zurück.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Schon eine halbe Stunde vor Beginn des Hochamtes stand Schorschl, mit seinem besten Feiertagsstaat angethan, im verschneiten Kirchhof und musterte aufmerksami alle Leute, die zur Messe kamen. Die Purtschellerin, welche allein den Kirchhof betrat, mit Gebetbuch und Rosenkranz in den bleichen, schmalen Händen, redete ein paar freundliche Worte mit dem Daxen-Schorschl. Dafür aber schien der Purtscheller-Toni, der eine Weile später in lustigem Geplauder mit Zäzil kam, den Schorschl für Luft anzusehen.

Schorschl zuckte die Achseln und lachte. Dann plötzlich wurde er unruhig.

Der alte Simmerauer mit seinen Kindern und Enkeln hatte den Kirchhof betreten.

„Grüß Gott!“ sagte Schorschl, wobei seine Stimme ein wenig heiser klang, so daß er sich räuspern mußte. „Jetzt heißt’s halt Schnee stapfen von der Simmerau ’runter? Gelt?“

„Ja! Der Schnee macht ein’ harten Weg!“ antwortete der Alte; dabei aber lächelte er. „Ich schimpf net! Na! Aus ganzem Herzen sag’ ich mein Vergeltsgott für den baldigen Winter! Jetzt haben wir doch ein bißl Ruh’ da droben.“

Michel und Mathes blieben stehen, reichten dem Daxen-Schorschl die Hand und fragten, wie es der Bäckin ginge. Aber Vroni, welche die beiden Kinder führte, hatte das Gesicht zur Seite gewandt und war schweigend vorüber geschritten.

Auch jetzt lachte Schorschl wieder – aber das klang ganz anders als jenes Lachen, das er für den trutzenden Purtscheller gehabt hatte.

Als die Simmerauer-Leute schon in die Kirche getreten waren, stand er noch immer wie angewurzelt und starrte das Portal an.

„No also! Jetzt hab’ ich die Quittung drauf!“

Da hatte er nun auch völlig die Lust verloren, seiner Christenpflicht zu genügen. Hastigen Schrittes wanderte er nach Hause, und weil er die Sonntagsruhe durch Hammerschlag nicht stören durfte, stellte er sich mit der Feile an den Schraubstock.

Während der nächsten Tage war der Daxen-Schorschl bei der Arbeit in gar übler Laune. Die Bäckenmahm’ lag bewußtlos im Fieber – aber wäre sie auch bei wachen Sinnen gewesen, sie hätte an ihrem „Schorscherl“ recht wenig zu lachen gefunden. – – –

Nun ging es seit der Brandnacht in die dritte Woche. Und dem Daxen-Schorschl wuchsen trotz seiner rastlosen Arbeit die Sorgen über den Kopf. Um alles herbeizuschaffen, was die Kranke zu ihrer Pflege brauchte, mußte er schon wieder beim Metzger, beim Krämer und in der Apotheke die Kreide in Anspruch nehmen. Sein ganzer Barbestand waren Vronis dreißig Pfennig, die er sorgsam eingewickelt in einem Winkelchen seines Kleiderschrankes versteckt hielt.

Da trat eines Morgens der alte Rufel mit seinem Zwerchsack in die Schmiede.

[615] „Mar’ und Josef!“ stotterte Schorschl, der bei der Esse stand. „Jetzt kommt der auch noch!“ Er that, als ob er den Juden nicht sähe.

Rufel legte neben der Thüre seinen Binkel nieder, zog die Schlappmütze und machte eine devote Verbeugung.

„Erlauben Se gefälligst, Herr Dax, daß ich Ihnen unterthänigst wünsch’ einen recht guten Morgen!“

„Grüß Gott!“ Schorschl trat den Blasbalg und schielte über die Schulter. „Was wollen S’ denn?“

„Weil ich grad’ vorübergeh’, hab’ ich bei Gelegenheit nachfragen wollen, ob der Herr Dax nix brauchen. Sagen wir: e bißl Eisen oder en feinen Stahl, oder e Werkzeug … oder sagen wir meintwegen auch: e Geld!“

Schorschl riß Mund und Augen auf, als hätte er nicht recht gehört.

Schmunzelnd nahm Rufel die langen Flügel seines Rockes auseinander und setzte sich auf den Amboßblock. „Nu? So reden Se doch, Herr Dax! … Wollen Se haben e Geld?“

„Haben möcht’ ich’s freilich!“ stotterte Schorschl, ließ den Blasbalg ruhen und kraute sich hinter den Ohren. „Aber geben S’ mir denn eins?“

„Hätt’ ich sonst gefragt? Sagen Se mir, wieviel Se brauchen, und der Rufel wird Ihnen schaffen das Geld bis morgen. Ich weiß doch, Sie brauchen Geld ins Geschäft und brauchen Geld für die kranke Frau, was Se haben im Haus. Gott soll Ihnen lohnen, was Se haben gethan an der armen Frau Bäckin! Aber nu reden Se doch emal! Wieviel brauchen Se? Durch vierzehn Täg’ hab’ ich gesehen, wie Se stehen bei der Arbeit von früh bis nacht … und ich kann Ihnen sagen, Herr Dax: alle Achtung! Ich hab’ wieder Vertrauen zu Ihnen, Se können haben vom Rufel, was Se wollen!“

„Rufel!“ stammelte Schorschl, während ihm das Wasser in die Augen stieg. Und mit beiden Fäusten packte er Rufels dürre Hand. „Geh her, alter Jud’! Dich hat mir unser Herrgott g’schickt!“

Rufel krümmte sich vor Schmerz bei diesem Händedruck. „Waih geschrieen! Lassen Se aus, Herr Dax!“ Vorsichtig rieb er die gequetschte Hand. „Und machen Se mir nix solche Sprüch’ mit dem Herrgott! Mich hat nix geschickt der Ihrig, mich hat nix geschickt der meinig’ … ich bin von selber gekommen, weil ich weiß, beim Herrn Dax is e Geschäft zu machen! Aber nu sagen Se doch endlich emal, wieviel Se brauchen!“

„Viel, Rufel … ein bißl viel is, was ich brauch’.“

„Viel? Was heißt viel? Für en Menschen, der nix bezahlt, is e Mark viel Geld … für en Mann, wie der Herr Dax, wo ich weiß, ich krieg’ mein Geld mit Zinsen wieder, sennen tausend Mark e Kleinigkeit! … Wollen Se haben tausend? Ich geb’s Ihnen!“

„Meiner Seel’, so viel wird’s bald ausmachen!“

„Glauben Se, der Rufel kann nix rechnen?“

„Vierhundert brauch’ ich auf meine Schulden … an die Hundert hab’ ich Gott sei Dank schon abzahlt …“

„Dreiundzwanzig haben Se abgezahlt bei der Kramerin,“ unterbrach ihn Rufel, „sechsunddreißig beim Schneider, macht neunundfünfzig … das sennen noch lang keine Hundert. Nix übertreiben, Herr Dax! Ich bin schon zufrieden, daß Se haben abgezahlt neunundfünfzig.“

Schorschl lachte zu dieser genauen Rechnung. „No ja, und zweihundert brauch’ ich auf d’ Hand, daß ich d’ Mahm’ und mich ohne Sorgen über’n Winter ’nüberbring’ und einkaufen kann, was ich ins Haus und in d’ Werkstatt brauch’! Dazu die vierhundert, die an Neujahr bei Ihnen fällig sind …“

„Die können Se lassen stehen. Und die anderen sechshundert sollen Se haben bis morgen. Sie zahlen mir sieben Perzent … fünfe muß ich selber geben, und verdienen möcht’ der Rufel doch auch e bißl was! Und Zeit will ich Ihnen lassen zwei volle Jahr’! Geben Se mir die Hand, Herr Dax, und das Geschäft is gemacht.“

„Ich dank’ Ihnen, Rufel!“ sagte Schorschl und drückte dem Alten die Hand, aber diesmal etwas gelinder. „Da haben S’ mir wirklich mit christlicher Nächstenlieb aus’m Wasser g’holfen.“

„Nächstenlieb’!“ Rufel schnitt eine Grimasse. „Lassen Se mich in Ruh’ mit so en großen Wort. Nächstenlieb’ is e schöne Sach’, aber haben muß man was davon! Ich geb’ Ihnen das Geld, weil ich bei Ihnen verdien’ mit Sicherheit! Und daß wir das auch noch bereden … ich will nix herumgehen im Dorf, Ihre Schulden bezahlen, sondern geb’ Ihnen das Geld auf die Hand, denn ich weiß jetzt, Sie werden machen glatte Ordnung. Und die Leut’ sollen nix herumtratschen, daß der Herr Dax is aufgekauft worden vom Juden!“

„Fragen werden s’ aber doch, wo ’s Geld her is?“

„Sagen Se, daß Se gemacht haben en Treffer … da kriegen de Leut’ Respekt und bringen Ihnen doppelte Arbeit. Und nu lassen Se den Mut nix sinken, sondern machen Sie e so fort, wie Se haben angefangen. Und in zwei Jahr’ können Se sagen: der Rufel hat’s gesagt … Ihr Haus wird sein wie e schöner grüner Berg, was steigt in die Höh und nix lauft herunter … so, wie herunterlauft en anderes großes, schönes Haus im Dorf … aber ich will nix gesagt haben!“ Rufel ging zur Thüre und hob seinen Zwerchsack auf die Schulter.

„Den Purtscheller meinen S’?“

„Ich will nix gesagt haben! Aber stecken möcht’ ich nix in der Haut, in was steckt der vornehme und feine Herr Purtscheller!“ Den Kopf zwischen den Schultern wiegend, kam Rufel zum Amboß zurück und dämpfte die Stimme. „Unter uns gesagt … denn mit Ihnen kann man reden, Herr Dax, Sie sennen e Mann! … aber unter uns gesagt: helfen hab’ ich ihm wollen! Helfen! Seiner braven, guten Frau zu lieb’! Aber was sag’ ich Ihnen! Mit dem Schießgewehr is er auf mich zugegangen! Als wär’ der alte Rufel e Gamsbock! Nu? Und was hat er jetzt? Jetzt hat er sich eingelassen mit einem … ich will nix gesagt haben! … aber vor dem soll ihn Gott bewahren bis zu hundert Jahr! Und da legen se jetzt e Hypothek von achtzigtausend Mark auf den Hof! Achtzigtausend Mark! E schweres Geld, Herr Dax! Hat e Gewicht, daß es wird eindrücken an dem schönen Haus das Dach und alle Mauern!“

„Um Gotts’willen,“ stammelte Schorschl, „ja hat denn der Purtscheller sein’ ganzen Verstand verloren?“

„Mein lieber Herr Dax! Man kann nix verlieren, was man sein ganz Leben lang nix gehabt hat! Und so en’ Menschen is nix mehr zu helfen! Ich dank’s ihm noch, daß er mich hat hinaus getrieben mit ’n Schießgewehr … denn ich hätt’ bei ihm verloren mein Geld! Der ander’, was ihm jetzt hat geholfen, wird bei Zeiten zusehen, daß er sein Geld wiederkriegt … und noch e bißl was dazu … e schöns bißl was! Noch e Jahr, und dem feinen Herrn Purtscheller wird nix mehr viel übrig bleiben! Mich erbarmt nur de arme gute Frau!“ Rufel seufzte und rückte den Zwerchsack höher auf die Schulter. „Und nun bitt’ ich, erlauben Se gefälligst, Herr Dax, daß ich auf Ihrem Herd mir koch’ mein bißl Essen!“

„Ja, recht gern!“

„Ich werd’ Ihren Herd schön sauber wieder fegen, damit Se nix haben e Grausen!“

„Aber Rufel!“

„Nu!“ Ein schmerzliches Lächeln zuckte um die welken Lippen des Alten. „Bin ich doch gewöhnt, zu rechnen mit solche christlichen Sachen!“ Da er sah, daß der junge Schmied ihn begleiten wollte, wehrte er mit der Hand. „Bleiben Se, bitt’ ich, Herr Dax! Ich will Se nix abhalten von der Arbeit. Das Holz trag’ ich mir selber, e Topf und e Fleisch und e Brot, alles hab’ ich bei mir … nix brauch’ ich als wie e Zündholz! Und das hab’ ich selber im Sack! Bleiben Se, Herr Dax, arbeiten Se schön fleißig und erlauben Se gefälligst, daß ich Ihnen wünsch’ en recht en schönen, guten Tag!“ Mit einem tiefen Bückling drückte sich Rufel zur Thüre hinaus, welche von der Werkstätte in den Hausflur führte.

Schorschl stand vor dem Amboß, mit glänzenden Augen, das rußfleckige Gesicht von heißer Röte übergossen. Tief aufatmend streckte er die nackten, sehnigen Arme und spreizte die Finger. Lachend, mit jähem Ruck, ergriff er den schweren Hammer, der das große Loch in die Mauer des brennenden Bäckenhauses gebrochen hatte, und mit übermütig spielender Kraft versetzte er dem Amboß einen Streich, daß es hell wie ein Glockenton durch alle Mauern des Hauses klang und weit hinaus ins Dorf!

Dann ging er zur Esse und nahm mit treibendem Fleiß die Arbeit wieder auf.

Am folgenden Morgen, noch in der ersten Dämmerung, brachte Rufel das Geld. Und nun konnte Schorschl die Runde bei all seinen Gläubigern machen. Da gab es überall ein heiliges Staunen und ein wortreiches Glückwünschen. Schorschl konnte [616] auf die Frage, woher er plötzlich das viele Geld hätte, schmunzelnd schweigen und die Schultern zucken – Rufel hatte am vergangenen Abend noch dafür gesorgt, daß die Nachricht vom Glück des Daxen-Schorschl, der „gemacht hat e so en schönen Treffer“, unter die Leute kam und von Haus zu Haus wanderte.

Das Gerücht fand seinen Weg auch in die Simmerau – der alte Michel brachte die Geschichte von dem Treffer, die er bei der Kramerin gehört batte, nach Hause und gab sie beim Mittagessen zum besten. Während Mutter Katherl dieses unverhoffte Glück auf Rechnung des „lieben Herrgott“ setzte, der den Daxen-Schorschl für die „Gutthat an der Bäckin“ belohnen wollte, wurde Vroni rot bis unter die Haare und stotterte: „Mar’ und Josef! Wenn er das viele Geld nur net wieder verjucken thut!“

„Na na,“ versicherte Michel, „er hat gleich all seine Schulden ’zahlt!“

Da lachte Vroni gereizt und zuckte die Schultern, „Geh? ’zahlt hat er? Da muß er ein’ Rausch g’habt haben! Der! Und g’wiß reut’s ihn heut’ schon wieder!“

„Aber Vronerl,“ warf Mutter Katherl mit sanftem Vorwurf ein, „wie magst denn gar so ungut denken über ein’ Menschen? Es kann sich doch einer auch zum Bessern ändern!“

„Der net!“

„Aber schau nur, wie er sich gegen die arme Bäckin so gutmütig anstellt! Und die ganzen Tag’ hat er doch allweil g’arbeit’ wie ein Roß! Da muß man doch ein bißl besser denken von ihm! Und schau, es steht doch in der heiligen Schrift, daß der Himmel viel mehr Freud’ über ein’ Sünder hat, der sich bessert, als über hundert Gerechte!“

„No ja! Meintwegen! Soll sich halt der Himmel freuen! Was geht’s denn mich an!“ Aergerlich legte Vroni den Löffel nieder und erhob sich.

„Aber, Madl, was hast denn? Geh, so iß doch!“

„Dank’ schön! Ich hab’ schon g’nug!“

Der Ton dieser Antwort schien dem Simmerauer nicht zu gefallen. „He! Du! Was is denn jetzt das auf einmal für ein’ Art und Weis’!“ begann er zu schelten. Aber da legte ihm Mathes die Hand auf den Arm und sagte mit seinem stillen müden Lächeln: „Geh, Vater, laß ’s Madl in Ruh’!“

Vroni hatte die Stube verlassen und war vor die Hausthür getreten. Hof und Garten waren hoch verschneit, und schmal ausgeschaufelte Wege führten zum Brunnen, zum Stall und zur Scheune. Der Schnee funkelte in der Sonne, als wäre er mit Millionen winziger Glassplitter überstreut, und lautlose Winterstille lag über dem weiten weißen Berggehäng. In diesem frostigen Schweigen tönte durch die klare, regungslose Luft ein leiser, kaum noch vernehmbarer Hall aus dem Thal herauf: kling, kling, kling, kling …

Das setzte immer aus und tönte nach einer Weile wieder: kling, kling, kling, kling …

Mit finsterem Gesicht wandte sich Vroni in den Flur zurück und brummte: „Ob der net narrisch is! So ein’ Spektakel machen, daß man’s bis da ’rauf hören muß!“ Unmutig ging sie an ihre Arbeit und war bis zum Abend in übler Laune.

Still und einförmig vergingen in der Simmerau die nächsten Tage. Neuer Schnee fiel auf den alten und machte den Weg ins Dorf hinunter bald zu einer schweren Mühsal. Drunten im Thal konnte man über den frühen Winter gar manches Wort der Klage hören; aber in dem kleinen Häuschen der Simmerau hatten sie den Winter wie einen Erlöser begrüßt, der ihnen nach all der wochenlangen, aufreibenden Arbeit und Sorge eine Zeit der Rast und des Aufatmens brachte. Der strenge Frost hatte den rinnenden Boden in starre Fesseln gelegt, das nagende Wasser in ruhendes Eis verwandelt, und glatt und weiß deckte der tiefe Schnee alle Klüfte und Risse des laufenden Berges. Wohl war wie die Ruhe in dem friedlichen Winterbild des Berges – auch die Ruhe, die der alte Simmerauer mit den Seinen gefunden hatte, nur äußerlich; denn die Furcht vor dem Frühjahr ging neben allen hoffenden Gedanken einher wie ein graues Gespenst, begleitete sie auf Schritt und Tritt, legte sich am Abend mit ihnen schlafen und war mit ihnen am Morgen wieder auf den Beinen.

Vorerst aber war doch Zeit gewonnen, und es that den beiden Alten wohl, daß sie nach all diesem Übermaß von Arbeit die mürb’ gewordenen Glieder ein wenig schonen konnten. Stundenlang saßen sie mit ihrem Enkelpärchen in der warmen Stube beisammen und ließen sich geduldig und lächelnd von den Kindern quälen, die bald den „Ahnlvater“ als Rößlein an die Leine nahmen, bald wieder die „Ahnlmutter“ als „Jungfer Köchin“ zum Einkaufen hinter den Ofen schickten.

Vroni erledigte mit einer unruhigen Beschäftigungswut alle Arbeit im Haus, so daß für Mathes kaum mehr etwas zu schaffen übrig blieb. Diese Ruhe schien ihm übel anzuschlagen; seine Wangen wurden noch schmäler, sein ganzes Wesen noch verschlossener und ernster, und immer schwermütiger blickten seine stillen Augen. Eines Abends, als er in der dämmerigen Stube mit dem Vater auf der Ofenbank saß, während Mutter Katherl nebenan in der Kammer die munter schwatzenden Kinder zu Bett brachte, sagte er:

„Schau, Vater, d’ Arbeit bei uns hat ein End’ für ein halbs Jahr, und ich kann Dir doch net den ganzen Winter so faul auf der Schüssel liegen! Meinst net, ich sollt’ mich um ein bißl was umschauen?“

„Auf der Schüssel liegen! Aber Mathes!“ Michel nahm die Pfeife aus den Zähnen und legte seinem Buben die Hand aufs Knie. „Weißt ja doch, daß ich Dich gern daheim hab’! Und wo fünfe essen, ißt der sechste auch noch mit! Freilich, ein’ Lohn kann ich Dir net zahlen, und da därf ich Dir’s auch net wehren, daß Dir ein bißl was verdienst den Winter über.“

Eine Weile schwiegen sie; dann sagte Michel: „Schau, jetzt hat der Purtscheller ’s Fallholz in sei’m Wald drüben an ein’ Händler verkauft, und da fangt man bald’s Arbeiten an. Was meinst? Wenn ein’ Holzknecht’ machen thätst? Da kriegst ein nobels Geld … d’Liegerstatt und’s Essen könntst bei mir haben … da hättst ein leichts Sparen dabei! Was meinst?“

„Ja ja!“ sagte Mathes zögernd. „Wenn D’ meinst!“

„Oder hättst ’leicht was anders in Aussicht?“

„Wenn Dir’s recht wär’, Vater, ja!“

„Was denn?“

„Denkst nimmer an’s selbig Anbot, das mir der Purtscheller g’macht hat?“

„Sooo? … Ah ja, freilich denk’ ich noch dran!“

„No schau … weißt doch selber, was d’ Leut’ allweil reden jetzt … ich mein’, der Purtscheller könnt’ mich brauchen!“ Das sagte Mathes ruhig, doch seine Stimme hatte gepreßten Klang.

„Brauchen? So?“ Auch dem Alten wollte die Stimme nicht recht gehorchen, als wäre ihm eine Sorge in die Kehle gestiegen. „Ja freilich! Wie der Hungrige ’s Brot, so könnt’ er Dich brauchen, mein’ ich schon selber bald! Du thätst ein guts Werk und könnst ein’ ordentlichen Brocken Geld verdienen! Aber …“

„Was, Vater?“

„Schau … wenn er ein’ hat, wie Du einer bist, den wird er halt im Frühjahr nimmer auslassen mögen?“

„Na, na, Vater! Das mach’ ich mir schon gleich zur Bedingnis, daß er mich im Frühjahr freigeben muß, so lang mich Du daheim brauchst! Das hab’ ich mir gar net anders ’denkt!“

Michels Sorge schien plötzlich beschwichtigt, und da war er nun völlig einverstanden mit dem Plan seines Buben. „Ja, Mathes, ja! Pack’s nur gleich an! Wann willst denn schon ’nunter zu ihm?“

„Gleich morgen in aller Fruh!“

Eine Weile redeten sie noch weiter, dann erhob sich Mathes und verließ die Stube. Schwer aufatmend trat er ins Freie, wanderte um das Haus und stieg durch den tiefen Schnee zum Rand der Böschung hinauf. Ihm zu Häupten funkelten die tausend hellen Sterne der klaren Winternacht, und drunten im Thal blitzten kleine, zerstreute Lichter, als läge ein See dort unten, in dessen Wasser sich die Sterne des Himmels spiegelten.

Mit den Händen auf dem Rücken, stand Mathes im Schnee; er schien die Kälte nicht zu fühlen und blickte zum Dorf hinunter, so versunken in Gedanken, daß er den Schritt der Schwester nicht hörte. Erst als sie die Hand auf seinen Arm legte, blickte er auf.

„Mathes?“ Die Stimme des Mädchens bebte vor Erregung.

„Was willst?“

„Mathes! Um Gott’swillen! Is denn wahr, was mir der Vater g’sagt hat?“

Er nickte.

Und da schien ihre Angst noch zu wachsen. „Mathes! Hast Dir’s auch überlegt?“

„Ja!“

Gut, Mathes?“

[618] „Ja! Seit Wochen schon, Tag und Nacht! Weißt ja doch selber, was d’ Leut’ übern Purtschellerhof reden. Und da denk’ ich mir halt, es könnt’ ihr d’ Sorg’ ein bißl leichter machen, wenn s’ ein’ hat, der bei der Arbeit einholt, was der Toni versäumt.“

„Mathes! Mathes!“

„Geh, red’ mir net ab! Ich muß ’nunter! ’s Bleiben thät’ mir’s Herz abdrucken!“

Das schien sie zu verstehen, denn sie nickte. Und nach einer Weile fragte sie ganz leise: „Mathes? … Thust Dich denn der G’fahr net fürchten?“

„G’fahr?“ Er schüttelte den Kopf. „’s Linerl hat den Toni gern! … Und was liegt denn an mir! … Ich bin z’frieden, wenn ich ihr ein bißl was helfen kann … Was mir zusteht, will ich schon tragen!“

Mit jäher Bewegung legte Vroni den Arm um seinen Hals, als möchte sie den Bruder vor den Schmerzen schützen, denen er entgegen ging.

Er schien den Sinn dieser Zärtlichkeit zu verstehen und zog die Schwester an sich. Und da er im Schweigen der Nacht den leis verschwommenen Hall der Hammerschläge vernahm, die dort unten im Dorf so rastlos klangen, sagte er lächelnd: „Hörst ihn? Wie fleißig als er noch allweil hämmert beim Licht … bis in d’ Nacht ’nein!“

„Aber geh’!“ murrte Vroni. „Thu mich Du auch noch plagen!“ Dann plötzlich drückte sie das Gesicht an den Hals des Bruders und umklammerte ihn, daß ihm der Atem fast verging.

Er streichelte ihre Haare und flüsterte ihr ins Ohr: „Sorg’ Dich net, Schatzerl! Wenn er jetzt bei der Arbeit festhalt’, laßt er auch bei der Lieb’ net aus! Sei nur Du g’scheit! Und thu Dir nix vergeben, eh’ Dir net sagen kannst: er is Dich wert!“ Mit beiden Händen nahm er ihren Kopf, hob ihn empor, sah ihr beim Sternschein lächelnd in die naß glänzenden Augen und küßte sie auf den Mund. „Komm! Und jetzt gehn wir ’nein! Es muß Dich ja frieren da heraußen … d’ Nacht is kalt!“

Wortlos stiegen sie über den Schnee hinunter, und als sie den Flur betreten hatten, stieß Mathes an der geschlossenen Hausthür den Riegel vor.

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 38, S. 643–646
[643]
12.

Ein Morgen von schneidender Kälte. Die Raben waren aus den Wäldern bis in die Dorfgärten geflogen, und mit aufgeblähtem Gefieder saßen die Meisen und Sperlinge frierend in den verschneiten Hecken. Laut krachte der Schnee bei jedem Tritt, und die Berge, in deren gefrorener Schneedecke sich matt die Farbe des Himmels spiegelte, hatten eisblauen Schimmer.

Es war gegen neun Uhr morgens, als Mathes in den Vorgarten des Purtschellerhofes trat. Er trug die Soldatenhose, die blaue Mütze und seine Sonntagsjoppe mit grüner Seidenkrawatte. Sorgfältig klopfte er den Schnee fort, der ihm bis zu den Knieen herauf in Klumpen an den Beinkleidern hing, und kratzte ihn mit einem Reis von den Schuhen; denn in der warmen Stube wäre der Schnee geschmolzen und hätte die Dielen beschmutzt, und so etwas ist immer ein Kummer für eine junge Frau, welche auf Sauberkeit in ihrem Hause hält.

Mathes sah frischer und jugendlicher aus als sonst; der mühsame Niederstieg über den verschneiten Berghang hatte sein Gesicht gerötet. Als er die Hausthür öffnete, zitterte seine Hand. In der Küche sah er die Magd beim Herd beschäftigt.

„Is der Herr Purtscheller daheim?“ fragte er.

„Ja. Geh nur ’nauf! Er is schon droben!“

Während er langsam und auf den Fußspitzen die weißgescheuerte Treppe hinaufstieg, pochte sein Herz mit hörbaren Schlägen. Da vernahm er aus der Wohnstube das gedämpfte Kichern und Kreischen einer Mädchenstimme. Die Thür wurde aufgerissen und mit zerrauften Haaren kam Zäzil über die Schwelle gestolpert. Eine Münze fiel ihr aus der Hand und rollte klingend über den Treppenflur bis vor Mathes’ Füße – ein Goldstück! Er wollte sich bücken, um es aufzuheben. Aber Zäzil kam ihm zuvor und raffte kichernd die Münze vom Boden auf. Mit verwunderten Augen sah sie den Burschen an, als wollte sie sagen: „Was willst denn Du da?“ … und die zerzausten Haare glättend, huschte sie mit leisem Lachen über die Treppe hinunter. Mathes sah ihr nach, und alle Farbe schwand aus seinem Gesicht. Eine Weile stand er, als käme er nicht mit den Gedanken zurecht, die sich ihm aufdrängten; dann ging er zögernd zur Thür und pochte.

„Herein!“

Er trat in die Stube und atmete auf, als er den Hausherrn allein fand.

Purtscheller saß in Hemdärmeln hinter dem Tisch, mit der qualmenden Cigarre. Neben sich in der Fensternische hatte er eine Flasche Tiroler stehen und einen Teller mit aufgeschnittenem Schinken. Der Tisch war mit Banknoten und Goldstücken bedeckt, Welche zu kleinen Stößen geordnet waren.

„Mathes? Du? Ah, da schau her!“ Purtscheller lehnte sich behaglich zurück und lachte. „Hast Dir mein’ Antrag endlich überlegt? No freilich! Was der Purtscheller ei’m antragt, schiebt man net von der Hand! Also, grad’ ’raus g’sagt … willst einstehen bei mir?“

„Ja, Herr Purtscheller … wenn S’ mich brauchen können!“

„Brauchen! Was, brauchen!“ Purtscheller blies eine Rauchwolke vor sich hin. „Einer wie ich, der alle haben kann, steht am End’ auf ein’ einzigen net an! Aber ich weiß, was ich krieg’ an Dir, drum sag’ ich Dir Grüßgott im Haus und im Dienst … und die Sach’ is abg’macht!“ Freundlich winkte er mit der Hand über den Tisch. „G’legen kommst mir auch g’rad! Ich hab’ ein’ harten Winter vor mir und muß viel außer Haus sein … da is mir’s lieb, daß ich ein’ daheim weiß, auf den Verlaß is.“

„Wollen S’ die Arbeit im Holzschlag droben überwachen?“

„Was?“ Purtscheller lachte, als hätte ein Kind gesprochen. „Ah na! Den Schmarren da droben hab’ ich verkauft bei Butz und Stingel, wie er liegt. Und da weiß ich mir was Besseres, als in der Kälten da droben stehn! Aber Plag’ werd’ ich g’nug haben den Winter durch! Schau nur an: jetzt nimmt die Zimmerstutzen-Fexerei in der ganzen Gegend überhand, alle paar Tag’ is wo ein Schießen … und natürlich, wegbleiben kann man net, wenn man Purtscheller heißt! Und ein Winter wie der heurig’, der treibt’s Hochwild in ganze Rudel auf d’ Felder ’runter … da muß natürlich fleißig abg’schossen werden in der ganzen Gegend, wenn uns der Wildschaden net übern Kopf wachsen soll … und da geht die halbe Woch’ mit die Jagden drauf. Und gestern in der Stadt drin hab’ ich mir ein’ neuen Traber ’kauft … morgen kommt er, und den tauf’ ich auf den Namen ‚Lüftikus‘!“ Purtscheller lachte wieder. „Weißt, gleich gestern beim ersten Versuchsfahren wär’ er durchgangen, wenn net der Herr Purtscheller am Bockschlitten sitzt. Gegen mich kommt er net auf! Ein närrischer Kerl … aber ich g’wöhn’ ihm seine Mucken ab! Bei mir lernt er was! Mein ‚Herzbinkerl‘ selig is g’wiß ein feiner Traber g’wesen … aber aus’m ‚Lüftikus‘ trau ich mir noch was Bessers ’rausz’bringen! Freilich, den halben Winter wird’s kosten! Aber spitzen sollen s’, die g’wissen Herrn, beim Frühjahrsrennen … was mein ‚Lüftikus‘ für Arbeit macht …. Geh, so setz Dich doch ein bißl! Sonst trägst mir am End’ den Frieden aus’m Haus, wie ’s Sprichwort sagt!“

„Auf mich paßt’s net!“ erwiderte Mathes ernst. „Was an mir liegt, will ich beitragen dazu, daß der Frieden daheim is in Ihrem Haus.“ In einiger Entfernung vom Tische setzte er sich auf die Wandbank und nahm die Mütze zwischen die Kniee.

„No also, wann kannst denn einstehn?“

„Wenn’s Ihnen recht is, heut’ noch! Aber ein’ Fürhalt muß ich machen.“

„Oho?“

„Im Frühjahr, wenn der Berg wieder ’s Laufen anfangt, müssen S’ mich frei geben.“

„Für ganz?“ fragte Purtscheller enttäuscht.

„So lang’ mich der Vater halt braucht.“

„No ja, meinetwegen. Auf die paar Tag kommt’s mir net an! Lang’ dauert’s ja net im Frühjahr, wenn’s Wasser einmal stark wird – da wird bald alles drunten liegen im Bach.“ Purtscheller steckte eine frische Cigarre in Brand. „Sei g’scheit und red’ dem alten Trotzkopf zu, daß er ’runterzieht, eh’ der Winter ausgeht. Sonst passiert noch ein Unglück!“

Mathes schwieg.

„Also, und so wären wir in der Ordnung. Magst gleich ein’ Vorschuß haben? … Schau her, Geld liegt da wie Heu!“

„Z’erst will ich arbeiten. Mit’m Lohn hat’s Zeit, wenn ’s halbe Jahr aus ist.“

„Gut! Is mir auch recht! Die gleich ’s Geld allweil sehen wollen, die g’fallen mir eh’ net zum besten!“

Mathes erhob sich. „So weisen S’ mich halt gleich in d’ Arbeit ein!“

[644] „Geh, bleib’ sitzen, das pressiert net gar so arg. Z’erst muß i ich das Geld da überzählen!“ Ohne sich weiter um Mathes zu kümmern, begann Purtscheller die Banknoten abzublättern und die Geldstücke zu sortieren. Diese ihm sichtlich angenehme Beschäftigung unterbrach er mit der Frage: „Was meinst, wie viel daliegt am Tisch?“

„Aufs Geldschätzen versteh’ ich mich net!“ sagte Mathes trocken.

„Ganze zehntausend Mark! Ja, mein Lieber, so was kannst öfters bei mir sehen! Und mehr auch noch! Erst gestern hab’ ich in der Stadt drin dem Schloßbräu fufzigtausend, die an Neujahr erst fällig g’wesen wären, blank auf’n Tisch hin g’strichen! Der hat Augen g’macht! … Aber beim nächsten Rennen soll er noch ganz anders dreinschauen! Der!“ Purtscheller legte die Cigarre nieder, und während er ein Liedchen vor sich hinpfiff, zählte er: „dreihundert, vierhundert, fünfe, sechse, sieben, achte, neune … viertausend!“

Draußen im Treppenflur ließ sich ein leichter Schritt und das Geplauder einer milden Frauenstimme vernehmen. Dünne Röte glitt über Mathes’ Züge, und fester schlossen sich seine Hände um die Mütze.

Karlin’ trat ein. Noch auf der Schwelle nahm sie ihrem Bübchen, das sie an der Hand führte, die pelzbesetzte Mütze ab und löste das wollene Tuch, das dem Kinde um das Hälschen geschlungen war. „So, Schatzerl! Schau nur, wie schön warm daherin wieder is im Stüberl! Und jetzt geh’ hin und sag’ dem Vaterl schön Grüßgott!“ Als sie sich aufrichtete, sah sie das Geld auf dem Tisch, und ihre Lippen zitterten.

Mathes erhob sich.

Und jetzt erst gewahrte ihn Karlin’. „Mathes!“ Die Freude leuchtete aus ihren Augen – aber als hätte sie nicht den Mut, dieser Freude zu glauben, so blickte sie fragend von Mathes auf ihren Mann.

„Ja, der Mathes steht ein bei uns!“ sagte Purtscheller und zählte weiter: „Sechse, sieben, achte, neune … fünftausend!“

In wortloser Bewegung ging Karlin’ auf Mathes zu, und aufatmend, als wäre ihr eine drückende Sorge vom Herzen genommen, streckte sie ihm die beiden Hände hin.

Mathes nahm sie und sagte: „Grüß Gott, Frau Purtschellerin!“

Sie lächelte. „Aber Mathes! Frau Purtschellerin? Was fallt Dir denn ein! So geh und sag’ doch: Linerl! Ich bin’s ja seit meiner Kindheit gar net anders g’wöhnt von Dir!“

Mathes schüttelte den Kopf. „Das sind andere Zeiten g’wesen, Frau Purtschellerin!“

Sie sah ihn verwundert an. „Aber geh, was hast denn?“

„Recht hat er!“ fiel Purtscheller ein. „Der Knecht muß Respekt haben vor der Frau im Haus! Sieben, achte, neune … sechstausend!“

Karlin’ stand schweigend, strich die losen Härchen hinters Ohr und blickte in Gedanken auf ihren Knaben nieder. Tonerl schien seine Verpflichtung, den Vater zu grüßen, beim Anblick der himmelblauen Soldatenhose völlig vergessen zu haben. Mit flinken Schrittlein wackelte das kleine Kerlchen auf Mathes zu und griff nach dem roten Hosenstreif. Da bückte sich Mathes, hob den Knaben auf seinen Arm, betrachtete ihn lange, und während er ihn herzlich an sich drückte, sagte er leis: „Ganz die Ihrigen Augen hat er, Frau Purtschellerin!“

„Aber geh,“ schmollte Karlin’, „jetzt thust gar noch Sie sagen zu mir! … Gelt, Toni, das muß doch net sein?“

„Achte, neune, siebentausend!“ brummte Purtscheller. „Das kann er halten, wie er mag, der Mathes. Aber lieber is mir’s schon, er sagt Sie … wegen die andern Dienstboten.“

Mathes schien nicht zu hören, was Purtscheller sagte. Er hatte sich auf die Bank gesetzt und den Knaben auf den Schoß genommen. Mit scheuer Hand scheitelte er ihm die dünnen Härchen und fragte: „Geh, Büberl, weißt denn auch schon wie D’ heißen thust?“

„Tonele Putsella,“ antwortete das Bürschlein zutraulich und streckte die Hände nach der Soldatenmütze.

„So? ’s Kapperl willst haben? No schau …“ Mathes setzte dem Knaben die blaue Mütze auf, die ihm bis über die Ohren fiel, „jetzt bist ein kleins Soldaterl! Und so ein schöns! Du! Da hätt’ der Herr General sein’ Freud’ ’dran, wenn er Dich sehen möcht’!“

Das Bürschlein zog mit beiden Händen an der Mütze und jauchzte der Mutter zu: „Tonele Soldati, Mammi! Schöne Soldati!“

Die Freude des Kindes verscheuchte die drückende Stimmung, von welcher Karlin’ befallen schien. Lächelnd setzte sie sich neben Mathes auf die Bank und sagte: „Schau nur … sonst is er allweil so viel scheu gegen fremde Leut’ … und mit Dir is er gleich so schön zutraulich, als ob er Dich lang’ schon kennen thät’!“

„No ja, ich bin halt g’wöhnt mit Kinderln umz’gehen. Droben hab’ ich unsere zwei Hascherln … und wo ich die fünf Jahr’ her im Dienst g’wesen bin, da waren drei Kinder da, die den ganzen Tag allweil um mich ’rum g’wesen sind … eins grad’ so im Alter wie’s Tonerl!“

„Neuntausend neunhundert achtzig!“ Mit dieser Ziffer schloß Purtscheller seine Zählarbeit und erhob sich, um das Geld in einen Wandschrank einzuschließen. „So, Mathes, jetzt komm! Jetzt will ich Dich ’rumführen im Hof und will Dich mit unsere Ehhalten bekannt machen!“ Er zog den Sammetflaus an und setzte den Hut auf.

Mathes küßte dem Knaben die Wange und hob ihn auf den Schoß der Mutter.

„Aber gelt,“ sagte Karlin’, „wenn Dich jetzt eing’wöhnt hast bei uns, mußt mir einmal ganz g’nau erzählen, wie’s Dir denn eigentlich in der Fremd’ allweil ’gangen is die ganzen langen fünf Jahr her!“

„Ja, gern … wenn ich Zeit hab’, einmal,“ erwiderte Mathes, den Blick der jungen Frau vermeidend, und ging zur Thüre. „B’hüt Gott für jetzt!“

Sie sah ihn mit großen Augen an und nickte.

Purtscheller kam hinter dem Ofen hervor und knöpfte den Sammetflaus zu. „B’hüt Gott, Linerl! Und sei so gut und richt’ mir mein Jagdzeug her, ich möcht’ heut’ noch ein bißl ’naufschauen auf ein’ Gamsbock … die Brunft is im besten Gang … und der Schnee hat die Gams g’hörig ’runterdruckt, da brauch’ ich net hoch steigen. Gelt, sei so gut und richt’ mir alles her!“ Er wollte sie gnädig in die Wange kneifen.

Aber sie bog den Kopf zurück und wehrte mit dem Arm.

„No no no no? Was hast denn schon wieder?“ fuhr er geärgert auf und trat zurück. „Meiner Seel’, jetzt möcht’ ich schon bald wissen, was seit ein paar Wochen denn eigentlich los is mit Dir? Du mußt Dich ja rein verkühlt haben selbigsmal beim Feuer! Froschblut hast eh’ schon allweil g’habt … und jetzt, scheint mir, hast Dich ganz in ein’ Eiszapfen verwandelt! Paß auf, Du, solche G’schichten vertrag’ ich net!“

Brennende Röte schlug über Karlin’s Züge, und mit erschrockenem Blick suchte sie die Thüre. Aber Mathes hatte die Stube schon verlassen. Aufatmend erhob sie sich, und ohne ein Wort zu sagen, trug sie ihren Knaben in die Kammer hinaus.

Verblüfft sah ihr Purtscheller nach. „Ah, da hört sich aber doch alles auf!“ Mit zornigem Gelächter verließ er die Stube und warf hinter sich die Thüre zu, daß es durch das ganze Haus dröhnte.

„Da nimm Dir ein Beispiel d’ran!“ schalt er, als er im Flur mit Mathes zusammentraf. „Und schlag’ Dir nur ’s Heiraten aus’m Kopf! Nix wie G’frett und Aerger hat man mit die Frauenzimmer. Und die meinig’ is die reine Sulz … so kalt und langweilig … und wo man s’ anrührt, zittert s’!“

„Ich muß bitten, Herr Purtscheller,“ sagte Mathes mit heiserer Stimme, „reden S’ zu mir von solche Sachen net! Was Sie mit Ihrer Frau haben, geht kein’ andern was an! Und ’s Ehglück is was Heilig’s, mein’ ich. Da sollt’ man doch in anderer Weis’ d’rüber reden!“

Purtscheller schien nicht recht zu wissen, wie er diese von bebendem Ernst erfüllten Worte aufnehmen sollte. „Geh, Du Narr, Du!“ brummte er und stieg die Treppe hinunter.

Als sie nach einem raschen Gang durch die ebenerdigen Räume des Hauses den Wirtschaftshof betraten, hatte Purtscheller seine behagliche Laune schon wieder gefunden. Die Cigarre im Mund und die eine Hand in der Flaustasche, deutete er mit der anderen auf die verschneite Brandruine. „Den Stadel bauen wir im Frühjahr wieder auf. Aber nimmer aus Holz! Da dank ich schon, für so was! Sondern aus feste Mauern!“ Dann ließ er die Knechte und Mägde zusammenrufen und sagte: „Da schauts her! Das is der Simmerauer-Mathes! Der steht jetzt als Maier bei mir in der Wirtschaft ein! Und wenn ich net daheim bin, gilt [646] sein Wort wie’s meinig’! Und wer net pariert, kann abfahren! Jetzt muß einmal ein anderer Zug in d’ Arbeit kommen!“

Die Leute sahen den Mathes mit scheuen Augen an; nur Zäzil lachte.

Mathes, der den üblen Eindruck, den Purtschellers grobe Worte gemacht hatten, wieder verwischen wollte, redete freundlich zu den Leuten und reichte jedem die Hand; nur Zäzil übersah er. Und dann sagte er noch zu allen: „Gelt, Leut’, wir kommen schon gut miteinander aus! Ich verlang’ von jedem nur, was recht is … und ’s Gröbste mach ich schon allweil selber! So helfen wir halt ordentlich z’samm’, daß der Purtschellerhof dasteht, wie er’s verdient! Gelt ja, Leut’?“

„Ja ja!“ sagte der Altknecht, und die anderen nickten. „Wenn wir den richtigen Wegweiser haben, laufen wir schon mit. Auf mich kannst Dich verlassen, Mathes!“

Purtscheller schmunzelte zufrieden; die Art, wie Mathes die Leute für sich gewonnen hatte, gefiel ihm. Und als sie weiterschritten, klopfte er ihn gnädig auf die Schulter. „Brav, Mathes! Ich merk’ schon, Du packst die Sach’ beim richtigen Zipfel an! Auf Dich kann ich mich verlassen.“ Er zeigte dem neuen „Maier“ noch den jetzt leer stehenden „Sportstall“, in welchem jedoch das Messingschildchen mit dem Namen „Herzbinkerl“ schon vertauscht war gegen ein neues, das in schöner Gravierung den Namen „Lüftikus“ trug. Dann war Purtscheller der Arbeit dieses Umherwanderns müde. „Jetzt muß ich schauen, daß ich zu meine Gamsböck’ ’naufkomm,“ sagte er. „Nimm Dir halt den Altknecht und laß Dir alles zeigen, was D’ sehen willst.“

Mathes versuchte noch eine Einwendung, da es doch manches zu besprechen geben würde; aber Purtscheller war nicht mehr zu halten. „Na, na, ich hab’ kein Zeit nimmer … und ich laß Dir freie Hand in allem, was D’ machen willst! B’hüt’ Dich Gott jetzt!“

Den Kopf schüttelnd blieb Mathes allein unter der Stallthür stehen und sah dem Purtscheller-Toni, der es so eilig hatte, mit bekümmerten Blicken nach. Dann rief er den Altknecht und ließ sich von ihm durch alle Ställe und Scheunen führen.

Von Schritt zu Schritt erkannte er mit wachsender Sorge die erschreckende Verwahrlosung, in der sich die ganze Wirtschaft befand. Er sah es gleich: hier kostete es entweder schweres Geld, oder zum mindesten ein Jahr rastloser und gedoppelter Arbeit, um den bös verfahrenen Karren wieder in gutes Geleis zu bringen und an der ins Stocken geratenen Maschine dieser weitläufigen Wirtschaft alle fehlenden Räder und Schrauben wieder einzusetzen. Und das wußte er auch: daß er trotz der zehntausend Mark, die er droben auf dem Tische hatte liegen sehen, einen schweren Stand haben würde, wenn er zu Purtscheller käme, um Geld für die Wirtschaft zu verlangen. Also blieb ihm zur Hilfe nur eines: seine Arbeit!

Der Altknecht, der sich vor Mathes’ sachkundigem Urteil der verlotterten Wirtschaft zu schämen schien, wollte mit scheltenden Vorwürfen alle Schuld auf den „Herrn“ schieben. Aber das wies Mathes mit ruhigen Worten zurück. „Wenn der Herr viel abg’halten is, müssen sich d’ Ehhalten doppelt fest zur Arbeit stellen,“ sagte er. „Und so wollen wir’s halten, gelt? Und ordentlich z’samm’helfen!“

Als sie aus der Wagenremise in den Hof traten, hörten sie vom ersten Stock herunter trotz der geschlossenen Fenster die in Jähzorn schreiende Stimme Purtschellers.

„Da! Jetzt schimpft er wieder mit der Frau!“ brummte der Altknecht. „Ich sag’ Dir’s, Mathes, die arme Frau hat ein unguts Leben! Und sie wär’ doch eine, wie man’s so bald net wieder find’t! Wenn die was z’reden hätt’, möcht’s anders ausschauen auf’m Hof! Aber gar kein Recht net laßt er ihr! Gar keins!“

Schweigend blickte Mathes zu den Fenstern hinauf, und seine Lippen zitterten. Dann sagte er: „Jetzt geh’ ich heim und hol’ mein’ Kufer. Essen thu ich droben … heut’ hab’ ich ja herunt’ noch nix g’arbeit’t. Aber bis um zwei, wenn Futterzeit im Stall is, bin ich schon wieder da.“

Durch das Hofthor trat er auf die Straße – dabei sah er die Stelle an, auf welcher Karlin’ am Morgen nach der Brandnacht gestanden und zu ihm gesagt hatte: „Vergeltsgott, Mathes!“

Er brauchte anderthalb Stunden, um durch den tiefen Schnee in die Simmerau hinaufzuwaten. Zu Hause kam er gerade recht, um sich zum gedeckten Tisch setzen zu können. Der Vater und die Mutter bestürmten ihn mit Fragen, wie er die Wirtschaft im Purtschellerhof gefunden hätte. Aber er sagte nur: „No ja, es schaut net gar so schlecht aus, und ich mein’ doch, es laßt sich bald alles wieder in gute Ordnung bringen.“

Nach dem Essen halfen ihm die Mutter und Vroni den Koffer packen. Als dann Mutter Katherl für einen Augenblick die Stube verließ, fragte Vroni hastig und leise: „Hast d’ Linerl ’troffen?“

„Ja.“

„Was hast denn g’red’t mit ihr?“

„Net viel. Ein paar Wört’ln halt! … Aber ’s Kindl hat mir so viel g’fallen!“

„Geh?“

„Ja! Und ganz ihre guten, stillen Augen hat’s.“

Mutter Katherl trat wieder ein, und die beiden schwiegen. – Um die gleiche Stunde saßen drunten im Purtschellerhof die Dienstboten in der Gesindestube um den Mittagstisch. Sie schwatzten vom „neuen Maier“, und ohne sich durch die für Mathes freundliche Stimme der anderen beirren zu lassen, führte Zäzil mit spöttischen Reden das große Wort. Plötzlich verstummte sie – die Purtschellerin, mit dem Tonerl auf den Armen, war in die Stube getreten.

Verwundert musterte Karlin’ den Tisch. „Wo is denn der Mathes?“

Als sie hörte, daß Mathes heimgegangen wäre, um seinen Koffer zu holen, setzte sie sich neben den Altknecht und fragte: „Hat er alles ang’schaut? Und was sagt er denn?“

„G’sagt hat er net viel … aber was er g’sagt hat, hat Hand und Fuß g’habt! Ja, Frau! Mit dem hat der Herr ein’ guten Griff g’macht! Reden thut er net viel … aber zwei Arm’ hat er! Sakradi! Da passen S’ auf: wenn der einmal ’s Schaffen anfangt! Der bringt was vom Fleck!“

Karlin’ lächelte, drückte ihr Kind an sich und streichelte ihm das Köpfchen, als hätte sie zu ihm sagen mögen: „Schatzerl, der schafft für Dich!“

Als die Dienstboten nach beendeter Mahlzeit das Gebet sprachen, betete sie mit heller Stimme mit. Dann ging sie, um das kleine Bürschlein, dem schon die Lider zufielen, für das gewohnte Mittagsschläfchen zur Ruhe zu bringen. Vom Hausflur rief sie der Magd in der Küche zu: „Morgen untertags, mein’ ich, wird der Herr wieder heimkommen. Gelt, schau, daß ein gut’s Stückl Wildbret für ihn bei der Hand is, damit er sein’ Sach’ gleich kriegt!“ Und leichteren Schrittes als sonst stieg sie über die Treppe hinauf.

Wenige Minuten vor zwei Uhr brachte Mathes atemlos seinen Koffer auf einem kleinen Schlitten in den Hof gezogen. Er war schon im Arbeitsgewand und hatte sich abgehetzt, um die Futterzeit nicht zu versäumen. Den Koffer, für dessen Bergung am Abend noch Zeit war, ließ er auf dem Schlitten stehen und eilte gleich in den Stall.

Als Karlin’ im Lauf des Nachmittags – sie hatte in der Waschküche etwas nachzusehen – herunterkam und über den Hof ging, vernahm sie seine Stimme. Da trat sie unter die Stallthür und hörte, wie er die Leute mahnte, beim Auslegen des Futters nicht so viel zu verstreuen. Und die Kühe, meinte er, müßten am Barren näher aneinandergerückt werden, damit sie durch Wühlen und Schleudern nicht so viel Futter verderben könnten. Diese Umstellung begann er auch gleich ins Werk zu setzen. Karlin’ sah dieses emsige Schaffen eine Weile mit an, und als seine Augen einmal für einen flüchtigen Blick den ihren begegneten, nickte sie ihm lächelnd zu. Dann kehrte sie ins Haus zurück. Vor der Thüre blieb sie sinnend stehen, atmete auf und strich die losen Härchen hinters Ohr.

Droben in der Stube setzte sie sich zur Arbeit; vor zwei Tagen war große Wäsche gewesen, und da waren nun all diese hundert Linnenstücke durchzusehen und die schadhaft gewordenen auszubessern. Karlin’ arbeitete bis zum Abend und dann bei der Lampe noch bis in die späte Nacht hinein. Sie hatte noch immer das Ihre gethan und in dem beschränkten Wirkungskreis, den Purtscheller ihr als Hausfrau zugestand, nie das geringste versäumt – aber so flink und eifrig wie heute war ihr die Arbeit noch selten von der Hand gegangen.

Alle anderen im Hause lagen um neun Uhr abends schon in den Federn. Nur Mathes saß in seiner dunklen Kammer noch auf, rauchte sein Pfeiflein, und während er die Arbeit des kommenden Tages überlegte, blickte er auf den Schnee hinaus, über den aus einem Fenster des oberen Stockes die rötliche Helle der Lampe fiel. –

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 39, S. 662–667

[662] Am folgenden Mittag kam Purtscheller von der Jagd zurück, in sehr guter Laune. Er hatte bei der Abendpirsch eine Dublette auf Gamsböcke gemacht; und es stand ihm ja für heute noch eine Freude bevor: sein neuer Traber sollte den Einzug im Purtschellerhof feiern! Persönlich überwachte Toni die Säuberung des Raumes, der an Stelle des verewigten „Herzbinkerl“ jetzt den edlen „Lüftikus“ beherbergen durfte. Als Purtscheller bei dieser Fürsorge zufällig auch den großen Stall der Milchkühe betrat, bemerkte er die praktische Aenderung. „Brav, Mathes!“ sagte er. „Schau, das hab’ ich selber schon lang allweil machen wollen! Aber natürlich, dazu’kommen bin ich halt net.“

Bei Einbruch der Dämmerung wurde „Lüftikus“ von einem Stallknecht des Händlers aus der Stadt gebracht. Der Bursche hatte eine blutige Hand, der ganze Aermel war ihm aufgerissen, und vor Ermüdung vermochte er sich kaum mehr aufrecht zu halten – so übel hatte das Pferd ihm während der Wanderung mitgespielt. Dazu lachte Purtscheller, und stolz, mit strahlendem Gesicht musterte er das Tier. Es war ein Rappe von edlem Blut und ausgesuchter Schönheit. Aber ein scheues Feuer glomm in den schillernden Augen des Pferdes; wenn ihm jemand nahe kam, begann es zu tänzeln oder zitterte an allen Gliedern. Seinen Einstand in „Herzbinkerls“ Stall feierte „Lüftikus“ mit einem wilden Aushieb, der die ganze Holzrampe zertrümmerte. Der Knecht, welcher das Pferd an den Barren hatte legen wollen, [663] rettete sich erschrocken mit einem Sprung ins Freie – und Mathes mußte kommen, um das scheue Tier zu bändigen. Als er ihm den Halfter angelegt und die Decke umgeschnallt hatte, sagte er: „Herr Purtscheller! Ich möcht’ Ihnen raten, daß S’ den Gaul wieder weggeben! Und wenn ’s mit Schaden is!“

Purtscheller lachte. „Ah na! Daß ich so ein’ Wildling zwing’, das prickelt mich grad’!“

Und wirklich, die erste Bändigungsprobe, welche Purtscheller am nächsten Morgen unternahm, fiel glücklich aus; wenigstens kam er von seiner Schlittenfahrt ohne nennenswerten Unfall nach Hause.

So hatte er nun doppelte Freude an seinem „Lüftikus“ und widmete dem „Training“ des Pferdes jeden Tag, den ihm nicht die Jagd oder ein Zimmerstutzenschießen wegnahm. Da er bei diesem Treiben, das ihn Woche um Woche vom Hause ferne hielt, nur selten einen Blick in die Wirtschaft warf, mußte er, wenn er sich wirklich einmal zu einem Besuch der Ställe und Scheunen herabließ, mit Staunen all das Neue und Gute gewahren, das Mathes in der Zwischenzeit mit rastlosem Fleiß geschaffen hatte. Fast von Woche zu Woche wuchsen die Beträge, welche Purtscheller von den Händlern für Milch und Butter verrechnet erhielt – und dank der strengen Sparsamkeit, mit welcher Mathes bei der Fütterung hauste, ließ sich hoffen, daß man trotz des Brandes, welcher eine der vollen Scheunen aufgefressen hatte, ohne Futterankauf über den langen Winter wegkommen würde. Und da Mathes auch nur selten Geld verlangte – nur dann, wenn es eine dringende, nicht mehr zu vermeidende Anschaffung galt – so war Purtscheller mit dem Lauf der Dinge zufrieden und kam mit seinem neuen Maier ganz leidlich aus. Trotz der vorsichtigen Art, in welcher Mathes seinen Herrn behandelte, ging es aber bei Purtschellers reizbarem Naturell und bei seiner Gewohnheit, zur Unzeit den Herrn herauszukehren, so ganz ohne kleine Reibereien doch nicht ab. Und es wäre wohl manchmal zu einer bösen Scene gekommen, hätte Mathes nicht die Ueberwindung gefunden, Purtschellers aufbrausende Grobheiten schweigend hinzunehmen. Zu Anfang hatte er wohl diese verletzenden Heftigkeiten mit ernsten Worten von sich abgewehrt – doch seit er bemerkt hatte, daß Purtscheller, der dieser besonnenen Ruhe gegenüber den Aerger nicht völlig zu entladen wagte, seinen verhaltenen Jähzorn ins Haus trug, um ihn an seiner Frau zu kühlen – seit dieser Zeit ließ sich Mathes auch die kränkendste Ungerechtigkeit geduldig gefallen. Höchstens, daß er sagte: „Sie wissen net, was S’ reden, Herr Purtscheller!“

In all diesen Wochen fand Karlin’ nur selten Gelegenheit, mit Mathes ein paar Worte zu wechseln. Er war vor dem Morgen auf und hatte bis spät in die Nacht zu schaffen. Häufig auch fehlte er beim Mittagstisch und ließ sich, wenn er gerade eine Minute Zeit hatte, in der Küche einen Bissen reichen. Und da glaubte Karlin’ zu bemerken, daß er geflissentlich jede Begegnung mit ihr zu vermeiden suchte. Weshalb denn nur? Das verstand sie nicht! Und eines Tages sprach sie ihn deshalb an.

„Mathes? Was hast denn? Warum thust denn so fremd? Schau, ich kenn’ Dich ja gar nimmer! Und meiner Seel’, ich hab’ Dir doch g’wiß nie ein Wört’l g’sagt, das Dich verdrießen hätt’ können?“

„Na! G’wiß net!“

„No also, schau! Und wie stellst Dich denn zu mir?“

„Wie der Knecht zur Bäuerin!“ sagte er ruhig.

„Aber geh’!“ Dieses Wort machte sie fast böse. „Meinst denn, der Toni und ich, wir wissen net, was Dir verdienst bei uns? Schau, Du bist ja doch wirklich mehr wie der Knecht im Haus!“

Er schüttelte den Kopf, ohne Karlin’ anzusehen. „Mehr will ich net sein! … Und jetzt muß ich zur Arbeit!“ Seine Stimme schwankte: „B’hüt Gott, Frau Purtschellerin!“

Karlin’ strich die losen Härchen hinters Ohr und sah ihm nach. „Möcht’ nur wissen, was er hat?“

Seit diesem Tag war Mathes noch seltener im Hause sichtbar. Und die paar freien Stunden, die er sich an Sonn- und Feiertagen vergönnte, brachte er droben bei seinen Eltern zu. Auch am heiligen Abend stieg er durch den Schnee in die Simmerau hinauf – und Karlin’, die ihn vergebens im ganzen Hause suchte, mußte ihm sein „Weihnächten“ in die Kammer legen. Purtscheller schimpfte über die „Flegelei“, am heiligen Abend „so mir nix Dir nix davon z’laufen“ – und da Karlin’ den Wunsch eines Sohnes, das Weihnachtsfest bei den Eltern zu verbringen, berechtigt fand und verteidigte, machte Purtscheller aus diesem Widerspruch eine Scene, welche damit endete, daß er wütend vom brennenden Baum davonging und sich im Wirtshaus schwer bekneipte, während Karlin’ die ganze Nacht mit verweinten Augen am Bett ihres Knaben saß.

Der Januar brachte linde Winterszeit, und häufig war es in den Mittagsstunden so warm, daß Mathes, wenn es eine Besorgung im Dorfe gab, diese Gänge ohne Hut und in Hemdärmeln machte. Früher hatte er immer einen der Knechte zum Wagner oder zu den anderen Handwerksleuten geschickt. Jetzt aber machte er selbst jeden Weg, der außer Haus zu erledigen war – als wäre ihm jeder Schritt willkommen, der ihn aus der Luft des Purtschellerhofes brachte. Und mit sichtlicher Vorliebe griff er nach jedem Geschäft, das ihn zur Daxen-Schmiede führte. Daß Schorschl all die viele Arbeit auf dem großen Hof bekam, das hatte Mathes bei Purtscheller nach langen Kämpfen mit den zwei schlagenden Gründen durchgesetzt: der Weg zur Schmiede des Nachbardorfes kostet zu viel Zeit – und der Daxen-Schorschl arbeitet besser und billiger als jeder andere Schmied!

Hauptsächlich die viele Arbeit, welche Schorschl für den Purtschellerhof zu liefern hatte, war die Ursache, daß er zu dem Gesellen, den er schon anfangs Dezember angeworben hatte, nach Neujahr noch einen zweiten nehmen mußte. Da gab es nun ein lebendiges Treiben in der Werkstätte und im Haus, und wenn die drei Schmiede bei der Arbeit standen, hörte man den gleichmäßigen Taktschlag ihrer Hämmer durch das ganze Dorf: klingeling kling – klingeling kling! Den festen Nachschlag in diesem Takt gab immer der Hammer des jungen Meisters. Und diese lustige Musik lockte ein schönes Geld in die Schmiede. Schorschl brauchte keinen Pfennig mehr schuldig zu bleiben, trotzdem er jetzt fünf mit gesundem Appetit gesegnete Kostgänger zu nähren hatte – und pünktlich am ersten eines jeden Monats konnte er die fällige Rate an Rufel bezahlen.

Die Leute im Dorf begannen allmählich den jungen Meister so ernst zu nehmen, als hätte es niemals einen „lüftigen Schorschl“ gegeben. Nur Schorschl selbst schien mit dem Gang der Dinge nicht recht zufrieden; niemals äußerte er ein Wort der Freude über das Aufblühen seines Geschäftes, und wenn er auch als Meister seelengut mit seinen Gesellen war, so hatten sie doch manchmal unter seiner merkwürdigen Verdrossenheit zu leiden. Bei der rastlosen Arbeit ging ihm der Brustkorb auseinander wie eine Tonne, an seinen Armen wuchsen die Muskeln zu dicken Hügeln an – aber sein Gesicht verlor immer mehr jene farbige, heitere Frische, welche dem „lüftigen Schorschl“ einst von den Wangen geleuchtet und aus den Augen gelacht hatte.

Als Mathes wieder einmal Purtschellers Pferde zum Hufbeschlag in die Schmiede brachte, fragte er: „Schorschl! Was is denn mit Dir?“

„Warum?“

„Gar net g’fallen thust mir die ganze Zeit her! … Bist krank?“

„Ja ja, es kann schon so was sein!“ brummte Schorschl – und als wollte er nach dem Wetter sehen, spähte er durch das Fenster gegen den laufenden Berg hinauf.

Mathes lächelte. „Was fehlt Dir denn?“

„So ein Fieber, so ein g’spassigs! Net krank bin ich und net g’sund!“ Seufzend betrachtete er den Rücken seiner rechten Hand.

Das war ihm in den letzten Wochen so zur Gewohnheit geworden: mit bitterem Lächeln die Narben jener Kratzwunden zu studieren. Alle die Schrunden, welche in der Brandnacht die Mauerbrocken in sein Gesicht gerissen hatten, waren spurlos verheilt – nur diese drei feinen weißen Linien auf seiner Hand wollten nicht verschwinden. „Ja! Und gleich gar nimmer auslassen thut’s mich!“

Mathes schien sprechen zu wollen. Doch er schwieg. Auch sonst hatte er zu Schorschl niemals mit einem Wort von Vroni gesprochen und niemals hatte Schorschl eine Frage gestellt.

Als die Pferde beschlagen waren und Mathes die Koppel aus der Werkstätte führte, sagte er: „Du, Schorschl!“

„Was?“

„An die Sonntag’ nachmittag bin ich allweil droben bei meine Leut’ … magst net einmal ’naufkommen auf ein’ Plausch?“

„Na! Ich dank’ schön!“

„Warum denn net?“

„Da droben geht mir der Wind z’kalt!“

„Geh! Bist denn so wehleidig?“

[664] „Ja!“ Schorschl winkte mit dem Kopf gegen die Esse. „Ich bin ’s warme Feuer g’wöhnt. Die kalten Lüfterln vertrag’ ich net!“

„So wart’ halt bis auf’s Frühjahr! Die Mailüfterln lassen sich vielleicht ein bißl linder an!“

„So? Meinst?“

„Ja! … Und b’hüt Dich Gott!“ Draußen im Hof blieb Mathes wieder stehen und fragte mit halblauter Stimme: „Du? Schorschl? Is denn wahr, was d’ Leut’ reden?“

„Was denn?“

„Daß Dir der Zillerlenz sein Töchterl hat antragen lassen?“

„Da weiß ich nix davon! B’hüt Dich Gott!“

Sichtlich geärgert von dieser Frage kehrte Schorschl in die Werkstätte zurück und nahm die Arbeit wieder auf. Daß er gelogen hatte, schien sein Gewissen nicht sonderlich zu drücken. Denn es verhielt sich wirklich so, wie die Leute redeten: der Zillerlenz, der die Versöhnung mit dem Daxen-Schorschl suchte, da ihm das aufblühende Geschäft in die Augen stach, hatte den alten Rufel als „Hochzeitsschmuser“ in die Schmiede geschickt.

Schorschls Antwort war kurz und bündig gewesen: „Dank’ der Ehr’! Aber ams Heiraten denk’ ich net … und von die Frauenzimmer will ich nix wissen! Da hab’ ich so meine Erfahrungen g’macht!“ Er hatte seine Hand betrachtet und mit der Zunge über die weißen Narben gestrichen. „Die einzig, mit der ich auskomm’, is die Bäckenmahm’! Die hab’ ich! Und mit der bin ich z’frieden!“

Und wirklich, er hatte alle Ursache, mit seiner Mahm’ zufrieden zu sein! Kurz vor den Weihnachtstagen hatte sich die Bäckin vom Krankenbett erhoben. Sie hatte ihre volle Gesundheit wieder gewonnen – und fast einen Centner an Fett verloren. Als Schorschl, um dieses Wunder zu konstatieren, die Mahm’ in der Werkstätte auf die große Eisenwage setzte, wog sie genau zweihundertsechzig Pfund. In der Freude über diese körperliche Erleichterung verschmerzte sie gern den schweren Verlust, den die Brandnacht ihr gebracht hatte. „Wie ein Federl komm’ ich mir vor,“ sagte sie mit Lachen ein dutzendmal des Tages, „wie ein Federl so leicht!“ Und es wurde für sie eine Art von Sport, die engsten Thüren im Hause aufzusuchen und sich schief durchzuschmiegen, ohne auch nur mit der Jacke an den Pfosten anzustreifen. Bei dieser „Federleichtigkeit“ konnte sie nun ihrem Neffen danken, was er für sie gethan hatte. Mit emsiger Fürsorge wackelte sie den ganzen Tag zwischen Stube, Werkstätte und Küche hin und her, überwachte die Zubereitung aller Mahlzeiten und begann ihr „Schorscherl“ auf eine Weise zu verhätscheln, daß die Gesellen darüber ihre Späße machten, die sich der junge Meister mit geduldigem Lächeln gefallen ließ.

Aber nicht nur für das „Schnaberl“ ihres „Schorscherl“ sorgte die Bäckenmahm’! Sie kassierte für ihn die Gelder ein, führte Buch über alle Einnahmen und Ausgaben, brachte allmählich alle Räume des Hauses in freundlichen Stand, hielt Schorschls Kleider in sorgsamer Ordnung und füllte durch fleißige Näharbeit alle Lücken des bedenklich gähnenden Wäschekastens. Am Morgen des Lichtmeßtages konnte sie Schorschl vor den Schrank führen, in welchem all die weißen Linnenstöße mit blauen Litzen gebunden und so eng aneinander gerückt waren, daß kein Stücklein mehr Platz gefunden hätte.

„Komm her, Schorscherl! Schau Dir’s an, Dein Kasterl! Fix und fertig liegt alles da … gleich morgen kannst heiraten!“

„Geh, laß mich doch aus!“ brummte Schorschl in der ersten Verblüffung. „Was brauch’ denn ich solchene Sachen! Ich bin doch kein Madl net! Zwei Hemeder, eins zum Anziehen und eins zum Waschen … und ein paar Schneuztücheln … das wär’ lang g’nug für mich g’wesen! Was mußt Dir jetzt da so viel Müh’ machen! Geh! Und vom Heiraten … Da bitt’ ich schön, red’ mir nur gleich gar net davon!“ Aergerlich ging er zur Thüre, kehrte aber doch wieder um und drückte seinem dicken Hausmutterl die Hand. „No ja, ich dank’ Dir halt schön! … Aber gelt, mit’m Heiraten laßt mich in Ruh!“

Das versprach sie. Aber schon nach wenigen Tagen begann sie, ihm die Mitgift zu rühmen, welche die Tochter des Berghofbauern zu erwarten hätte.

„Hörst mir net auf?“ fuhr ihr Schorschl in die Rede. „Die Putzgredl, die schieche! Die könnt’ mir grad’ noch g’fallen! Und Zahnlücken hat s’ wie Ofenlöcher!“

In der Woche darauf konnte die Mahm’ ihrem Schorscherl nicht genug erzählen, wie gut ihr das Bürgermeisterdirndl gefiele!

„Was? Das Krisperl, das dürre!“ murrte Schorschl. „Na na! An der ihre Knöcherln soll sich ein anderer die Zähn’ ausbeißen! Ich hab’ jetzt allweil Dich ang’schaut – jetzt bin ich an runde Leut’ g’wöhnt!“

Trotz dieser Mißerfolge schmiedete die Bäckenmahm’ immer neue Pläne. Der Gedanke, daß sie den Platz räumen müßte, wenn eine junge Frau ins Haus käme, machte sie wohl seufzen. Aber sie war so ehrlich für das Wohl ihres „Schorscherl“ bedacht, daß sie ihr eigenes Schicksal in zweite Reihe setzte. Und sie hatte ja auch schon für diesen Fall ihr Plänchen fertig. Wohl war sie durch den Brand um ihr Erspartes gekommen und hatte mit dem Haus all ihre bewegliche Habe verloren. Aber es war ihr doch der Bauplatz geblieben, der große Garten und die Licenz für das Bäckergeschäft, die als verbrieftes Recht auf dem Grundstück lag. Dafür hatte man ihr schon dreitausendfünfhundert Mark geboten – aber sie wollte viertausend haben und hatte Zeit, zu warten, bis der richtige Käufer kam. Dann konnte sie sich im Garten der Daxen-Schmiede – um ihrem „Schorscherl“ nur ja recht nah’ zu sein ein Häuschen mit zwei Stuben und einer Küche bauen. Und mit dem Rest des Geldes und der Erbschaft des Häuschens – in welches Schorschl und seine Frau einmal, wenn sie alte Leutchen geworden waren und ihrem ältesten Buben die Schmiede übergaben, in den „Austrag“ ziehen konnten – wollte sie sich in Schorschls Hausstand für die freie Verpflegung einkaufen bis an ihr seliges Lebensende – „Gott verhüt’s noch lang!“ –

Als im März der Thalschnee zu schmelzen begann und linde Tage kamen, ließ sich die Bäckenmahm’ in warmen Mittagsstunden den Lehnsessel unter das offene Thor der Werkstätte stellen, und wenn sie nicht für ihr „Schorscherl“ zu sticheln und zu flicken hatte, nähte sie an den Leinwandvorhängen für die Fenster ihres Häuschens, zu dessen Bau die Ziegel noch gar nicht gebrannt waren.

Und da sah sie eines Tages die Simmerauer-Vroni mit dem Henkelkorb vom Krämer kommen und draußen vor dem Staketenzaun vorüberwandern – ganz auf der anderen Seite der Straße, so weit als möglich vom Zaun der Schmiede entfernt.

„He! Du!“ rief die Bäckenmahm’. „Geh, kehr’ ein bißl ein auf ein Plauscherl!“

Aber Vroni schien wie mit Taubheit geschlagen; krampfhaft zu Boden blickend, machte sie lange Schritte und eilte um die Straßenecke.

Mit prüfenden Augen hatte die Bäckenmahm’ ihr nachgesehen.

„Sapperlot! Sapperlot! Is das Madl aber sauber! Dahermarschiert s’, als hätt’ s’ Federn unter die Schuh’! Ein G’sichtl wie der Apfel an Micheli! Die Zöpferl liegen ihr droben wie ein Krönl! Fein g’wachsen wie ein Röhrl … und doch schön rund, wie er’s g’wöhnt is jetzt!“ Sie beugte sich vor und lugte in die Schmiede, aus welcher der Taktschlag der drei Hämmer tönte: klingeling kling – klingeling kling! „Vielleicht thät’ ihm die g’fallen!“ Und lächelnd rief sie: „Schorscherl!“

Sie mußte ein paarmal rufen, bis er hörte, den Hammer niederlegte und kam.

„Du, Schorscherl!“

„Was denn, Mahmerl?“

„Was thätst denn zur Simmerauer-Vroni sagen?“

„Himmelsakra!“ fuhr Schorschl auf, als hätte ihm die Bäckenmahm’ ihre Nähnadel ins Herz gebohrt. Aber gleich bereute er seine Heftigkeit wieder und stotterte: „Nix für ungut, Mahm’! … Aber geh, laß mir doch ein’ Ruh’!“

Die Mahm’ gewahrte auf seinem Gesicht die brennende Röte zwischen den Rußflecken und schmunzelte. „No? Was thätst denn sagen zu der?“

„Zu der da droben? … Zu der sag’ ich gleich gar nix!“

Bei seinem blinden Aerger über die Schwelle stolpernd, kehrte er in die Werkstätte zurück.

Bedächtig zog die Bäckenmahm’ den Nähfaden über die Lippen und studierte. „So so soooo? … Und aussetzen kann er gar nix an ihr?“ Lächelnd guckte sie in die Schmiede. „Wart’, Schorscherl, wart’! Da kriegst mir aber jeden Tag ein Pülverl jetzt! Schön langsam … aber sicher!“

Hätte die Mahm’ mit achtsamen Ohren auf die Musik der Schmiede gelauscht, so hätte sie merken müssen, daß schon das erste [666] „Pülverl“ im Herzen des Daxen-Schorschl bedenklich zu rumoren begann. Denn im taktmäßigen „Klingeling kling“ dieses Hammertrios tönte der Nachschlag, den der Hammer des jungen Meisters führte, so laut und ungestüm, daß neben diesem schmetternden Klang die Hammerschläge der Gesellen kaum zur Geltung kamen.


13.

Mit den letzten Tagen des März war der Schnee im Thal so weit geschwunden, daß man die Arbeit auf den Feldern und den Bau des Hafers beginnen konnte.

Die Lenden mit der weißen Samenschürze umgürtet, schritt Mathes einen Tag um den anderen vom Morgen bis zum Abend durch die frischgebrochenen Ackerfurchen und streute den Samen in Purtschellers Erde.

Das Säen ist eine Kunst – und manch ein Bauer wird alt, ohne diese Kunst so recht zu erlernen. Es gehört eine ruhige und achtsame Hand dazu, um für jeden Wurf das richtige Quantum Körner aus der Schürze zu fassen, nicht zu groß und nicht zu klein bemessen. Und gleichmäßig muß der gestreute Same über die lockere Krume fallen, nicht zu spärlich, da sonst die Ernte leidet, und nicht zu dicht, da sonst die Halme sich im Wachstum drücken und magere Aehren treiben.

Mathes verstand sich auf diese Kunst. Häufig hielten die Bauern, welche auf den Nachbarfeldern die Körner warfen, in der Arbeit inne, um dem jungen Sämann nachzuschauen, wie ruhig er einen Schritt vor den anderen setzte, und wie schön zerteilt von seiner streuenden Hand der Same rieselte.

Als er wieder einmal das Ende des langen Feldes erreichte, nickte ihm ein altes Bäuerlein freundlich zu und sagte: „Heuer wird er lachen können, der Herr Purtscheller, wenn er im Sommer seine Felder anschaut!“

Mathes atmete schwer. Aus dem großen Sack, der am Rain des Ackers stand, füllte er die leer gewordene Schürze.

Zog das Gewicht des Samens an seinen Schultern? Denn er ging gebeugt durch die lange Furche hin. Aber sein Körper richtete sich auch nicht auf, als die Schürze wieder leicht und leer wurde.

Wenn er an das Ende einer Furche kam, blieb er eine kleine Weile stehen und blickte über die Felder nach dem Dach des Purtschellerhofes oder über das Gehäng des laufenden Berges hinauf zur Simmerau.

Doppelte Sorge bedrückte ihn.

Wohl lagen die Halden der Simmerau noch halb im Schnee, aber der gefrorene Boden begann schon aufzutauen, das rieselnde Schneewasser verschwand in allen Schrunden des zerklüfteten Berghanges, und deutlich konnte Mathes das Rauschen der aus dem Innern des Berges hervorströmenden Bäche hören, deren Wassermenge mit jedem Tage wuchs.

Vor drei Tagen, am letzten Sonntag, als Mathes für die gewohnte Plauderstunde zu den Seinen in die Simmerau hinaufgestiegen war, hatte der Vater ihn hinters Haus geführt und mit banger, erstickter Stimme zu ihm gesagt: „Bub! Er fangt schon wieder an, der Berg! Heut’ in der Nacht … d’ Mutter hat g’schlafen, Gott sei Dank! … aber heut’ in der Nacht hab’ ich’s g’spürt, wie’s ganze Häusl ’zittert hat … weißt, wie der Tisch zittert, wenn einer dranstößt mit ’m Ellbogen.“

Sie waren durch Hof und Garten gegangen, hatten die Böschung, den Balkenrost und allen Grund genau untersucht, doch nirgends eine Veränderung wahrgenommen.

„Thu Dich net sorgen, Vaterl!“ hatte Mathes in seiner stillen, ruhigen Art gesagt. „Die G’fahr is noch weit! Und in drei Tag’ bin ich drunt’ mit ’m Haberbau fertig. Da laß ich mir freigeben vom Herrn Purtscheller und komm, daß ich Dir helfen kann.“

„Ja, Bub! Und Vergeltsgott! … Und meinst denn, daß wir’s Häusl durchreißen?“

„Ja, Vater, ich mein’ schon!“

Der alte Simmerauer hatte tief geseufzt. „So viel Angst hab’ ich vor’m Frühjahr! So viel Angst! … Schaffen wollen wir fest! Gelt, Bub? … Aber weißt, ’s Wasser sollt’ halt wieder in d’ Höh’ steigen aus die untrischen Gäng’! Eh’ kriegen wir kein’ Fried’ net! Das hat die Kammissoni g’sagt: daß ’s Wasser wieder steigen müßt’! ’s Wasser, weißt! … Und gelt, thu Dich halt bei der Saat ein bißl tummeln.“

„Das geht net, Vater! Richtige Saat braucht ihr Zeit!“

„Ja, ja! Das is wahr! So laß Dir halt Zeit! … Aber meinst net, daß D’ länger brauchst als drei Tag?“

„Na, Vater!“

„Gott sei Lob und Dank!“ –

Nun waren diese drei Tage vergangen, und Mathes streute den Samen über das letzte Feld.

Als die Elfuhrglocke läutete, gingen die Bauern und Knechte, die auf den anderen Aeckern bei der Arbeit waren, zur Mahlzeit nach Hause. Nur Mathes blieb. Wenn er diese Stunde verlor, konnte er bis zum Abend mit der Saat nicht fertig werden.

Mit sinnenden Blicken sah er, während er durch die Furche schritt und den Samen warf, dem lautlosen Fall der Körner zu.

Für wen würden wohl aus dieser Saat die Halme wachsen? Für wen die Ernte reifen?

Daß er auf diese Frage keine Antwort fand, das war die andere Sorge, die ihn drückte.

Er hatte sich krumm gearbeitet in diesem Winter, und was half es! Wohl nahm jetzt die Wirtschaft ihren geregelten Gang und die Einkünfte wuchsen mit jedem Monat; aber was Mathes mühsam mit kleinen Steinen aufbaute – Purtschellers Leichtsinn warf alles wieder über den Haufen und grub noch Löcher in die Erde. Man wußte schon im ganzen Dorfe von dem Geschäft, das Purtscheller im November abgeschlossen hatte: die alte Hypothek war getilgt worden, zehntausend hatte er bar auf die Hand bekommen – und dafür lag jetzt eine Hypothek von achtzigtausend auf dem Purtschellerhof. Und jene zehntausend, von denen Zäzil die ersten zwanzig Mark davongetragen hatte? Fast die Hälfte war für den Ankauf des neuen Trabers draufgegangen, und der Rest war flink und lustig durch Purtschellers offene Hände gerollt. Seit dem Fasching war er schon wieder in der Klemme, ließ sich Vorschüsse von den Händlern geben und suchte auf allen Seiten Geld aufzutreiben. Daß ihm diese Bohrversuche nicht immer gelangen, das steigerte seine jähzornige Reizbarkeit in solchem Grade, daß Karlin’ und die Leute im Haus kaum mehr ein Auskommen mit ihm fanden. Wer die junge Frau betrachtete, dem mußte der Anblick ihres abgehärmten Gesichtes ins Herz schneiden. Ihre schlimmste Zeit war jene Woche gewesen, in welcher Purtscheller mit verbundenem Kopf und verpflasterten Gliedern das Zimmer hatte hüten müssen – bei einer Trainingfahrt hatte „Lüftikus“ den Gig mitsamt dem Trainer über die hohe Straßenböschung in den Bach hinuntergeworfen. Und Purtscheller war, wenn es um seinen kostbaren Leib ging, gar wehleidiger Natur. Das ganze Haus atmete auf, als er den ersten Ausgang machte. Nun hatte auch Karlin’ wieder ruhigere Tage; denn vom Morgen bis zum Abend war Purtscheller unsichtbar; freilich, wenn er in später Nacht bekneipt nach Hause kam, weckten seine jähzornige Stimme und die Scenen, die er droben in der Stube aufführte, alle Schläfer im Haus. Nur bei einem war das Wecken überflüssig – denn der schlief nicht! Und als die junge Frau nach solch einer Nacht am Morgen in den Hof kam, sah Mathes ein bläuliches Mal an ihrer Schläfe.

Er wurde bleich. „Karlin’!“ Zum erstenmal hatte er die förmliche Anrede vergessen, doch nur für einen Augenblick. Dann fragte er: „Is Ihnen was passiert, Frau Purtschellerin?“

Brennende Röte huschte über ihre vergrämten Züge; doch sie schüttelte den Kopf. „Ein bißl ang’stoßen hab’ ich mich … am Kasten … in der Finsternis halt!“ Noch während sie sprach, hatte sie sich abgewandt und war ins Haus getreten, um vor Mathes die Thränen zu verbergen, die ihr in die Augen stiegen.

Nach ein paar Tagen war dieses häßliche Zeichen vergangen. Aber wenn Mathes die junge Frau mit ihrem Knaben droben in der Stube am Fenster gewahrte, oder wenn sie im Hof an ihm vorüberging, mußte er immer nach ihrer Schläfe sehen – und immer wieder sah er diesen bläulichen Schatten, der doch seit Tagen schon verschwunden war. Und wenn er bei der Arbeit an sie dachte, konnte er sich ihr Gesicht gar nicht mehr anders vorstellen als immer mit diesem häßlichen Mal.

So sah er sie auch jetzt, während er durch die Furche schritt und sich bei jedem Samenwurf mit einem sorgenden Gedanken fragte: Was soll aus ihr werden? Aus ihr und ihrem Kind, wenn kommt, was kommen muß – Purtschellers Ruin und die Gant seines Hofes?

Er ging gebeugt und atmete schwer.

Da wehte von Süden ein linder Hauch über die kahlen Samenfelder, warm und befruchtend. Mathes fühlte ihn und blickte auf, [667] als hätte er Sorge, daß ein Föhn im Anzug wäre. Doch der Himmel war ohne Wolken, sonnig und blau. Am Saume des nahen Wäldchens schlug eine Drossel, und in das eintönige Rauschen der Bäche, die aus den Hohlen des laufenden Berges rannen, klang vom Dorf herüber das Hammertrio der Daxenschmiede.

Die Sonne begann zu sinken, und es kam ein Abend, lau und windstill, leuchtend in allen Farben.

Gegen fünf Uhr wurde Mathes fertig mit der Saat. Am Rain des Ackers stehend, nahm er den Hut ab und drückte ihn an die Brust. „Lieber Herrgott, gelt, leg’ halt Dein’ Segen drauf!“

Dann hob er den Sack mit dem Rest des Samens auf die Schulter und trat den Heimweg an. Als er bei einer Hecke vorüberkam, spürte er zarten Wohlgeruch – den Duft der ersten Veilchen. Er pflückte die kleinen, blauen Blüten, welche halb noch Knospen waren, und steckte sie hinter das Hutband.

Auf der Straße vor dem Purtschellerhof begegnete ihm Karlin’, die mit kleinen Schritten ihren Knaben an der Hand führte, damit das Kind den schönen Frühlingsabend und die linde Luft genießen möchte – es war ja um diese Zeit im Freien wärmer als in den Häusern, aus deren Mauern noch die feuchte Kälte des Winters hauchte.

„Guten Abend, Frau Purtschellerin!“ sagte Mathes, ohne den Schritt zu verhalten.

Da fiel ihr zum erstenmal seine gebeugte Haltung auf, und sie vergaß, den Gruß zu erwidern. Als er schon vorüber war, fragte sie mit beklommener Stimme: „Mathes? … Trägst denn so schwer?“

Er blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Bloß ein’ halben Metzen! Den hab’ ich sparen können bei der Saat.“

Mit besorgtem Blick betrachtete sie sein hageres Gesicht. „Sag’, Mathes? Thust denn net ein bißl gar z’viel schaffen? So viel müd schaust aus!“

„Ah na! Gott bewahr’!“ sagte er hastig, während matte Röte seine Züge überflog. „Das hab’ ich halt so im Frühjahr! Da druckt mich ’leicht der Winter ein bißl! Ja! Die ganzen Jahr’ her hab’ ich’s allweil so g’habt! Das vergeht schon wieder und thut mir nix! Ah na!“ Er hatte den Sack zu Boden gestellt und die Veilchen vom Hut genommen. Sich niederbeugend, drückte er dem Kind die Blumen ins Händchen. „Da schau, Tonerl! Was ich Dir mit’bracht hab’! Gelt, die sind lieb! Und schmecken so viel gut!“ Er roch an den Blüten und stellte sich, als ob er von der Stärke ihres Duftes niesen müßte: „Hazzi!“

Das gefiel dem Bürschlein; eifrig grub es sein Rüschen in die Blumen und machte „Hazzi!“

Lächelnd erhob sich Mathes und nahm den Sack wieder auf.

Doch er zögerte zu gehen – es drängte ihn, Karlin’ zu sagen, daß er heute von Purtscheller Urlaub für so lange nehmen wollte, als der Vater ihn nötig hätte. Aber er brachte es nicht über die Lippen. Sie hatte ja Kummer genug im eigenen Hause weshalb sollte er auch noch eine fremde Sorge auf ihr Herz legen und ihr sagen, wie schlimm es dort oben in der Simmerau um das kleine Häuschen stand.

„B’hüt Ihnen Gott, Frau Purtschellerin!“ murmelte er und ging davon.

Langsam strich Karlin’ die losen Härchen hinters Ohr, blickte ihm mit sinnenden Augen nach und atmete tief.

Als Mathes den Hof betrat, sah er Purtscheller, der für die Jagd gekleidet war und die Schrotflinte auf dem Rücken trug, vor einer Stallthür stehen und lachend mit Zäzil schwatzen. Die Magd schien ihren Herrn auf die Heimkehr des Knechtes aufmerksam zu machen, denn er blickte über die Schulter; dann sagte er der Dirne ein leises Wort und ging auf das Thor zu.

Mathes vertrat ihm den Weg. „Grüß Gott!“

„Grüß Gott auch! Bist endlich fertig mit der Aussaat?“

„Ja!“

„No also! Aber lang g’nug hast ’braucht!“

„Gute Saat will ihr’ Zeit haben.“

„Natürlich! Solche Sprüch’ haben die Langsamen allweil bei der Hand! … B’hüt’ Dich Gott!“

„Ich hätt’ was z’reden, Herr Purtscheller.“

„Ein andersmal!“

„Es muß heut’ noch sein!“

„Oho! Soll ich mir ’leicht Vorschriften von Dir machen lassen? Jetzt grad’ mag ich net! Und wenn’s gar so pressiert, so wart’ halt, bis ich heimkomm’! Jetzt hab’ ich kein’ Zeit! Heut’ is der erste schöne Abend – da muß ich schauen, ob net der Schnepf schon am Strich is. Wenn ich Glück hab’, schieß’ ich heut’ den ersten!“ Ohne sich darum zu kümmern, was Mathes noch sagte, wanderte er zum Thor hinaus und brummte: „Hoffentlich begegnet mir kein alts Weib net.“ Als er auf der Straße seine Frau gewahrte, machte er ärgerlich einen Umweg.

Er hatte nicht weit zu gehen. Gleich bei den aus dem laufenden Berg hervorströmenden Bächen, in den mit dichtem Buschwerk durchsetzten Moorwiesen war seit Jahren der beste Schnepfenstrich. Als Purtscheller seinen Stand gewählt hatte und die Flinte schußbereit machen wollte, merkte er, daß er die Patronen vergessen hatte. Mit einem Fluch begann er zu schimpfen: „Natürlich! Weil einem das Frauenzimmer aber auch allweil die Patronen aus’m G’wehr und aus der Joppen nehmen muß! Als ob was passieren könnt’, wenn’s G’wehr am Rechen hängt!“ Aber da half ihm nun alles Schelten nichts; er mußte den Heimweg wieder antreten.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 40, S. 683–687

[683] Es begann schon leicht zu dämmern, als Purtscheller sein Haus erreichte. Droben in der Stube schob er zwei Patronen in die Flinte und steckte ein paar andere in die Tasche, während Karlin’ nebenan im Schlafzimmer den Knaben zur Ruhe brachte und ihm mit leiser Stimme ein Schlummerliedchen sang:

„Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schätzerl hab’!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Als Purtscheller in Eile die Treppe hinunterstolperte, hörte er aus einer der Gesindekammern Zäzils schluchzende und in Erregung kreischende Stimme: „Und wenn ich’s auch g’sagt hab! Geht’s Dich vielleicht was an? Bist Du vielleicht für d’ Frau im Haus als Hüter aufg’stellt?“

„Red’ nimmer lang! Pack’ ein!“ fiel ihr Mathes mit zornbebender Stimme ins Wort.

„Is schon gut! Einpacken thu’ ich! Aber draußen auf der Straßen laß’ ich mein’ Kufer stehn und wart’, bis der Herr heimkommt! Nachher paß auf, Du … ob das gar so leicht is, die Zäzil aus’m Haus z’ jagen!“

Purtscheller stellte die Flinte an die Mauer und trat in die Kammer. „Was is denn da? Muß denn allweil der Spektakel im Haus sein?“

Zäzil schwieg verlegen und trocknete sich die Thränen vom erhitzten Gesicht, während Mathes sagte: „Das Madl da hab’ ich aus ’m Dienst schaffen müssen. Und hab’ ihr ’boten, sie soll ihren Kufer packen, gleich auf der Stell’!“

„Oho, Du!“ fuhr Purtscheller auf. „So geht man doch mit ei’m Madl net um! Und ’s Recht über meine Dienstboten hab’ ich Dir noch allweil net ’geben! Du nimmst Dir ein bißl viel ’raus!“

„Ich könnt’ Ihnen an den Tag erinnern, wo S’ g’sagt haben, daß mein Wort im Haus gelten soll wie ’s Ihrig’!“ erwiderte Mathes mit mühsam bewahrter Ruhe. „Aber das braucht’s wohl net! Denn ich denk’ mir, Sie selber hätten für das Madl da kein anders Wort net g’funden als das einzig’: fort aus’m Haus! … Vor alle Dienstboten hat s’ ung’hörig g’red’t von der Frau!“

Purtscheller wurde rot und wußte nicht gleich, was er sagen sollte. Dann fragte er: „Was hat s denn g’red’t?“

„So was red’t man ein zweitsmalnimmer nach!“ antwortete Mathes mit schwankender Stimme. „Es mag Ihnen g’nug sein, wenn ich sag’, daß in Ihrem Haus kein Platz mehr sein kann für ein’ Dienstboten, der so von der Frau red’t!“

Zäzil hatte sich auf den halb gepackten Koffer gesetzt, nahm die Schürze vors Gesicht und begann ein herzbrechendes Weinen.

[684] „No no no! Es wird ja doch so arg net g’wesen sein!“ meinte Purtscheller begütigend. „Geh weiter, Mathes! Laß mich allein mit dem narrischen Frauenzimmer reden! Und wenn die Sach’ wirklich so arg is, will ich ihr den Dickschädel ordentlich waschen!“

Einen Augenblick zögerte Mathes; dann ging er wortlos aus der Kammer.

Purtscheller wartete, bis die Schritte im Flur verklangen. Aergerlich schloß er die Thür und das offenstehende Fenster, puffte die Magd mit der Faust in den Rücken und schnauzte sie an: „Du Gans, Du dumme! Was hast denn eigentlich g’sagt?“

„Was wahr is!“ Zäzils Thränen waren plötzlich versiegt.

„Was denn?“

„Daß für ein’ Herrn, wie Sie einer sind, jede andere Frau besser passen möcht’ als so ein verschmachts Millihaferl!“

In Wirklichkeit hatte die freche Rede freilich anders geklungen; aber Purtscheller verspürte nicht die geringste Lust, lange den Untersuchungsrichter zu spielen. „Wahr oder net wahr … so was sagt man net!“ brummte er. „Und ein andersmal sei g’scheit und halt’ Dein’ Schnabel vor die Leut’!“

„No ja! Es is mir halt in der Wut so ’raus g’rumpelt! So schiech hab’ ich’s ja auch gar net g’meint. Und im Grund g’nommen kann man ja über d’ Frau nix sagen. Sie soll mich in Ruh’ lassen, so thu’ ich ihr auch nix! Aber das muß ich schon einmal grad’ ’raussagen … das laß ich mir nimmer länger g’fallen: allweil so über ein’ weg schauen, als ob man Luft wär’! Da mach’ ich schon lieber …“

„Jetzt laß die Sach’ gut sein und pack’ Dein Kufer wieder aus!“ fiel ihr Purtscheller ins Wort. „Mit ’m Mathes red’ ich schon! Und fang’ mir nur mit dem keine Reibereien an! Der arbeit’ wie ein Roß … den Menschen brauch’ ich! Und jetzt gieb ein Fried’! Den Schnepfenstrich hab’ ich eh’ versäumt … mit so einer Dummheit!“

In gereizter Laune ging er aus der Kammer, nahm die geladene Flinte, welche draußen an der Mauer stand, trug sie in die Stube hinaus und hängte sie an den Gewehrrechen. Wütend schleuderte er den Hut in den dunklen Ofenwinkel und ging zum Tisch, um die Hängelampe anzuzünden.

Als er sich nach einer echauffierenden Wanderung durch die Stube auf das Sofa werfen wollte, trat Mathes ein.

„Herr Purtscheller …“

Der ließ ihn nicht weiter reden. „Gut, daß kommst! Ich hab’ eh’ schon ’nunter wollen und ein Wörtl reden mit Dir!“

„Grad’ kommt die Zäzil in’ Hof ’naus, lacht vor alle Leut’ und sagt: sie bleibt! Is das wahr, Herr Purtscheller?“

„No ja! ’s Madl hat mich erbarmt! Man kann’s doch net so bei Nacht und Nebel auf d’ Straßen ’nausjagen! Und die Sach’ is ja am End’ gar net so arg! Ich mach’ Dir ja kein’ Vorwurf. Hast es ja gut g’meint, und es freut mich, daß D’ so viel auf den Respekt vor meiner Hausehr’ haltst … aber … No ja! Sei halt jetzt auch g’scheit und laß die G’schicht gut sein! Thust mir ein’ G’fallen damit!“

Mathes sah ihn mit erschrockenen Augen an und brauchte eine Weile, bis er zu antworten vermochte. „Da kann ich freilich nix mehr sagen! Sie selber müssen am besten wissen, wie viel Ihnen d’ Achtung vor Ihrer Frau wert is im Haus!“

„Ich hab’ dem Madl ordentlich d’ Leviten g’lesen, das wird sie sich zur Warnung sein lassen. Und somit is die Sach’ in Ordnung! … Oder willst noch was?“

„Ja, Herr Purtscheller!“ sagte Mathes mit veränderter Stimme. „Der Vater braucht mich, weil der Berg wieder anfangt. Und ich möcht’ ersuchen, daß ich heut’ noch heim kann.“

„Was? Jetzt im Frühjahr?“ fuhr Purtscheller auf. „Wo d’ Arbeit brennt im Hof? Wie soll ich denn da auf ein’ grünen Zweig kommen, wenn mir d’ Leut’ davon laufen, sobald die richtig’ Arbeit anfangt? Und für was zahl’ ich Dich denn eigentlich?“

Er schien bei dieser Frage zu vergessen, daß er seinem Maier an Lichtmeß den Lohn schuldig geblieben war. „Nix da! Du bleibst!“

„Thut mir leid, Herr Purtscheller, aber ich muß heim!“ erwiderte Mathes ruhig. „Den Fürhalt hab’ ich g’macht, wie ich eing’standen bin.“

Ärgerlich überlegte Purtscheller. „Steht’s denn schon gar so schlecht da droben?“

„Ja! … Und wenn noch was z’helfen is, muß g’holfen werden, eh’ ’s Wasser wachst.“

„No also, meinetwegen! Am End’ erbarmt er mich ja auch, Dein Vater! … Und wann meinst denn, daß D’ wieder kommen kannst?“

„In der ersten Stund’, in der mich der Vater g’raten kann!“

„Gut! So geh’ halt!“ brummte Purtscheller und drehte dem Knecht den Rücken.

Mathes atmete schwer und zerknüllte mit zitternden Händen den Hut. „Um eins muß ich noch bitten …“

Purtscheller schien die Geduld zu verlieren. „Was denn schon wieder?“

„Daß der Zäzil ’kündigt wird, bis ich wieder komm’!“

„Ja Himmelkreuzteufel …“

„Das muß ich verlangen! Sonst wär’ in Zukunft jedes Wort, das ich an d’ Ehhalten richt’, in Wind ’nein g’red’t! Soll ich d’Leut’ fest bei der Arbeit und in der Hand halten, so müssen s’ Respekt vor mir haben und mein Wort muß gelten!“

„So? Und ich? Ich soll vielleicht der gar niemand sein im Haus! Da stimmst Dich aber!“ schrie Purtscheller und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Da erschien Karlin’ mit blassem Gesicht auf der Schwelle der Schlafkammer und zog hinter sich die Thüre zu. „Toni! ’s Kindl schlaft! Geh, sei net so laut und gieb ein bißl acht …“

„So? Acht geben? Schon wieder einmal? Auf alle Leut’ im Haus soll ich acht geben! Allweil acht geben! Aber auf mich giebt gar keiner acht! Und aller Verdruß fallt nur allweil auf mich!“ In wachsendem Jähzorn wandte sich Purtscheller an Mathes.

„Und Dir will ich sagen … mach’ Dich net gar so wichtig! Du!“

Der Atem ging ihm aus.

„Thun S’ Ihnen beruhigen, Herr Purtscheller!“ stammelte Mathes, während er mit besorgtem Blick die junge Frau streifte.

„Wir können ja die Sach’ ein andersmal ausreden!“

„Hättst die ganze Dummheit net aufg’rührt! Du! Ein andersmal misch’ Dich net in Sachen, die Dich ein’ Pfifferling angehen!“

„Aber Toni!“ fiel Karlin’ erschrocken und mit bebender Stimme ein. „So thu’ doch net so mit ’m Mathes reden! Das hat er doch wirklich net verdient um uns!“

„Natürlich! Den soll ich vielleicht noch extra in Baumwoll’ wickeln, weil er mir den ganzen zwecklosen Aerger da herg’macht hat! Und wer is im Grund’ wieder Schuld dran? Du! … Schau mich net so an, sag’ ich Dir! Das kalte G’schau vertrag’ ich net!“

„Aber Herr Purtscheller!“ sagte Mathes, dem die Stimme kaum gehorchte. „Thun S’ mir doch den einzigen G’fallen und ziehen S’ net die Frau noch in den Handel ’nein! Es kann ja sein, daß ich unrecht g’habt hab’. Und lassen wir die Sach’ gut sein für heut’! B’hüt Ihnen Gott, Herr Purtscheller!“ Er wollte zur Thüre.

„Nix da! Jetzt bleibst mir!“ schrie Purtscheller in hellem Zorn. „Oder meinst vielleicht, ich trau’ mich vor meiner Frau net Farb’ bekennen? Das käm ja bald so ’raus, als ob ich weiß Gott was für ein G’heimnis verbergen müßt’! Ah na! So steh’ ich gottlob noch lang’ net da!“ Mit zuckenden Fäusten riß er an der Weste und trat auf Karlin’ zu, die ihn mit ihren stillen, schwermütigen Augen ansah, ohne einen Schritt zu weichen. „Natürlich! Net g’nug, daß ich den Unfrieden hab’ im Haus. Jetzt mußt mir auch noch die ganzen Dienstboten durcheinanderbringen! Weil net weißt, wie man d’ Leut’ behandeln muß!“

„Aber Herr Purtscheller, um Gottswillen …“ stammelte Mathes mit bleichen Lippen. „Kommen S’ mit ’runter! Reden wir drunt’ miteinander! Ich bin ja mit allem einverstanden!“

Purtscheller hörte nicht und schrie seiner Frau mit kreischender Wut ins Gesicht: „Die armen Leut’ drunt’ arbeiten den ganzen Tag und haben ein Recht drauf, daß ihnen d’ Frau ein freundlichs Wörtl giebt.“

„Aber Toni!“ erwiderte Karlin’ ruhig. „Das hab’ ich doch jedem von unsere Leut’ noch allweil von Herzen ’geben!“

„So? Und wie machst es denn mit der Zäzil? Gelt, jetzt schlagt Dir’s Blut übers G’sicht! Warum is denn das Madl allweil Luft für Dich? Meinst vielleicht, Du bist was Bessers?“

Mathes zuckte, als wäre ihm ein Messer ins Herz gefahren.

„Purtscheller!“ glitt es ihm mit heiserem Laut über die Lippen.

Aber Purtscheller achtete des Knechtes nicht. „So geht man net um mit die Leut’! Verstehst mich?“ schrie er auf Karlin’ ein. [686] „Und wenn dem Madl nachher im Zorn einmal ein unguts Wörtl ’rausfahrt, kann man’s ihr gar net verargen! Und schließlich hat ja ’s Madl gar nix anders g’sagt als die traurige Wahrheit, die ich lang’ schon spür’: daß jede andere besser für mich langen möcht’ wie Du! Beloben hätt’ ich das Madl noch müssen für so ein Wort, … statt daß der da mit seine groben Fäust’ dazwischen fahrt und möcht’ ’s Madl gleich ’nauswerfen zum Haus, mir nix und Dir nix! So was könnt’ mir grad’ noch taugen! Das Madl is eh’ noch die einzig’ im Haus, von der ich ein guts und ein lustigs Wörtl …“ Purtscheller verstummte und starrte seine Frau in maßloser Verblüffung an.

Karlin’ war auf Mathes zugegangen und hatte ihm die Hand gereicht. „Ich dank’ Dir schön, Mathes!“ sagte sie, während ihr aus den verstörten Augen die Thränen über die bleichen Wangen rannen. „Schau, ich hab’ mir eh’ schon immer ’denkt, daß noch wer auf der Welt is, der sich um mich noch ein bißl annimmt!“

„Frau Purtschellerin, … Mar’ und Josef … ich bitt’ Ihnen …“ stotterte Mathes und gab ihre Hand frei, die er kaum zu berühren gewagt hatte.

Unter Thränen lächelnd nickte sie zu ihm auf und wollte in die Schlafstube gehen.

Da vertrat ihr Purtscheller den Weg. Er hatte Schaum in den Mundwinkeln, und keuchend klang seine Stimme: „Du! … Du! … Solchene G’schichten verbitt’ ich mir fein! Und wenn nimmer weißt, an wen Dich z’halten hast … paß auf, Du … so könnt’ ich Dir ’leicht wieder einmal ein’ Deut’ geben, den acht Tag lang umeinander trägst im G’sicht!“ Der ernste, kalte Blick, mit welchem Karlin’ zu ihm aufsah, reizte noch seinen Zorn. „Schau mich net so an! Du! Oder es kann Dir gleich passieren …“ Er stürzte auf Karlin’ zu und hob die Faust zum Schlag.

Aber da klammerte sich eine eiserne Hand um seinen Arm.

„Bub’, Du! … den Knochen brich ich Dir auseinander!“

Purtscheller stöhnte vor Schmerz.

Ein paar Sekunden war lautloses Schweigen in der Stube; dann sagte Karlin’ mit versunkener Stimme: „Laß ihn, Mathes … er weiß ja net, was er thut!“

Mathes gab den Arm frei, den seine Faust gefangen hielt.

„So? … So?“ lallte Purtscheller, der den schmerzenden Arm rieb und nur halb aus seinem Jähzorn ernüchtert schien. „So was traust Dich Du gegen Dein’ Herrn!… Paß auf, Du! … Mit Dir will ich Rechnung halten, wenn ’s an der Zeit is!“ Er packte seinen Hut und rief seiner Frau über die Schulter zu: „Und Du kannst warten auf mich … aber lang’!“ Mit zornigem Gelächter verließ er die Stube und warf die Thüre zu.

Zitternd und wortlos standen Mathes und Karlin’ voreinander, Aug’ in Auge. Keines regte sich, und immer schwerer gingen Karlin’s Atemzüge. Mathes brauchte nicht zu sprechen – der Schmerz, der um seine Lippen gegraben lag, der heiße Glanz seiner Augen und seine bleichen Züge sagten ihr auch ohne Worte, was er gelitten und was er fühlte für sie.

„Mathes? … Um Christiwillen?“ hauchte sie tonlos und starrte ihn zu Tod erschrocken an.

Er nickte.

„Ja, Linerl! … Ich hab’ Dich gern g’habt, seit ich denk’!“

„Jesus Maria!“ stammelte sie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

So standen sie schweigend. Dann sagte er: „Gelt, Linerl, das siehst doch ein, daß ich jetzt nimmer bleiben kann?“

„Ja, Mathes!“ Aufatmend ließ sie die Arme sinken. „Jetzt mußt freilich fort!“

„Für ganz …“

„Ja, Mathes! Für ganz!“

Scheu und zögernd bot er ihr die Hand. „So b’hüt’ Dich halt Gott, Linerl!“ Zwei schwere Thränen fielen ihm über die hohlen Wangen auf die Brust.

„B’hüt’ Dich Gott auch!“ Die Hand, welche sie in die seinige legte, war kalt und zitterte. „Und grüß’ mir Deine guten Leut’ daheim!“

„Ich dank’ schön, ja!“

Er hob den Hut auf, der ihm entfallen war, und verließ die Stube. Karlin’ sah ihm mit nassen Augen nach, und als sich die Thür geschlossen hatte, griff sie in Schmerz mit beiden Händen an ihre Brust. Sie hatte den Irrtum ihres Lebens erkannt und sah mit träumenden Augen das stille, freundliche Glück, an dem sie blind vorübergegangen war. Und diese Erkenntnis wurde in ihrem Herzen zu jäher Sehnsucht, die sie mit heißer Freude empfand und dennoch mit einem Schreck, der sie halb von Sinnen brachte. Die Hände verschlingend, fiel sie auf die Kniee nieder und stammelte in Angst: „O, lieber Herrgott! Thu’ mich bewahren vor der Sünd’!“ Auf der Erde liegend, grub sie das Gesicht in die Arme und schluchzte …

Als die Erschöpfung kam und ihre Thränen versiegten, als sie müd’ und gebrochen sich aufrichtete, hörte sie aus der Kammer das leise Weinen ihres Kindes. Mit ersticktem Aufschrei wankte sie in den dunklen Raum, brach vor dem Bettlein nieder und umschlang den Knaben, wie ein Sinkender sich an die Rettung klammert.

Das Kind erschrak; doch von der schmeichelnden Hand der Mutter ließ es sich bald wieder beruhigen. „Bitt’ schön, Mammi,“ bat es mit schläfrigem Stimmchen. „Thu’ mir Liederl singen!“

„Ja, mein Herzerl!“ lispelte Karlin’. Und während ihr Thräne um Thräne über die Wangen sickerte, sang sie mit erloschenem Ton:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so lieb!
Zwitschert Wald aus und ein:
Wo mag mein Schätzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so lieb!

Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein …“

Sie stockte und konnte die Zeile nicht zu Ende singen. Zitternd preßte sie das Gesicht in die Kissen, auf denen das Köpfchen ihres Kindes ruhte.

Aus dem Raum, der unter der Schlafstube lag, klang der gedämpfte Hall von Schritten herauf, welche langsam hin und hergingen. Dort unten lag die Kammer, welche Mathes bewohnte.

Beim flackernden Schein einer Kerze ging er zwischen Kasten und Koffer hin und her und packte ein, was er vor fünf Monaten in den Purtschellerhof mitgebracht hatte. Als er fertig war, räumte er sauber die Kammer auf, blies das Licht aus – und da er sich aus Purtschellers Wirtschaft einen Karren nicht borgen wollte, nahm er den Koffer auf die Schulter. Niemand sah ihn das Haus verlassen. Draußen auf der Straße blieb er stehen, blickte zu den dunklen Fenstern hinauf und flüsterte: „B’hüt’ Dich Gott, Linerl!“

Die Nacht war lau; nur wenn der Wind ein wenig schärfer über die Berggehänge niederzog, spürte man den kühlen Hauch des Winters, der noch dort oben auf den Almen und in den Felsenkaren lag. Die wachsenden Bäche rauschten, und zahllos funkelten am stahlblauen Himmel die Sterne. Als der Weg steiler wurde, mußte Mathes alle paar hundert Schritt rasten. In der Nähe der Simmerau führte der Pfad über Stellen, auf denen der Schnee noch in großen Flecken lag; er sah sich schwärzlich an, und rings um seine Ränder war ein leises Rieseln zu vernehmen. Von der Höhe des Gehänges leuchtete ein rötlicher Schein.

„Sie schaffen beim Licht!“ murmelte Mathes.

Als er rascheren Ganges weiterstieg, sah er plötzlich vor seinen Füßen eine tiefe Kluft, welche quer den Pfad durchriß. Sie mußte in den letzten Tagen entstanden sein, denn am Sonntag, als er in der Simmerau zu Besuch bei seinen Leuten war, hatte er diese Schrunde noch nicht gesehen.

„Jetzt macht er flinke Arbeit, der Berg!“ Während Mathes die Kluft umging, welche zu breit war, als daß er sie mit seiner schweren Last hätte überspringen können, sah er mit sorgenvollen Blicken zum Himmel auf, dessen sternhelle Klarheit einen sonnigen Tag versprach. „Morgen wird ’s Wasser geben … und harte Stunden für ’n Vater!“

Er begann so rasch zu steigen, daß ihm der Schweiß in Fäden über Stirn und Wangen rann.

Als er in die Nähe des elterlichen Hauses kam, dessen Dach sich schwarz von der roten, den Garten erfüllenden Fackelhelle abhob, klang ihm eine zitternde Männerstimme entgegen:

„Bub’! Bist Du ’s?“

„Ja, Vater!“

„Gott sei Lob und Dank!“

Der Alte kam in Hemdärmeln über den Bühel herunter gehumpelt und fragte verwundert: „Warum bringst denn Dein’ Kufer mit?“

[687] „Man kann ja net wissen, wie lang’ ich daheim bleib’.“

„Ja freilich! Je länger, so lieber! Geh, laß Dir helfen!“

Selbander trugen sie den Koffer in den Hof hinauf.

„Wo is denn d’ Mutter und d’ Schwester?“ fragte Mathes.

„Hint’ draußen am Verhau flechten s’ die Ruten ein.“

„Da kann sich ja d’ Mutter jetzt schlafen legen. Ich fang’ gleich an! … Und wie steht ’s denn sonst?“

„Arg treibt er’s, der Berg! Recht arg! Jetzt könnt’s mich schon bald verdrießen! … Und wart’ nur, ich zeig’ Dir gleich was! … Aber sag’, hat Dich der Herr Purtscheller gutwillig fort’lassen?“

„Ja.“

„Und hat er Dich doch hoffentlich aus’zahlt für ’n Winter?“

„Ja!“ erwiderte Mathes ruhig. „Warum fragst?“

„Weißt, heut’ hat mir einer erzählt, es that’ recht schlecht um den armen Herrn Purtscheller stehn, und an Lichtmeß hätt’ er seine Dienstboten nimmer zahlen können.“

„Na, na! Da weiß ich nix davon!“

„No also, schau, wie d’ Leut’ reden! … Hast aber Dein Geld doch ordentlich eing’macht, daß D’ es net verlieren hast können am Weg?“

Mathes fand die Ausrede nicht gleich. „Ich hab’ ’s in d’ Stadt ’nein g’schickt auf d’ Sparkass’. Wenn aber grad’ was brauchen thätst, kann ich Dir schon was geben.“

„Gott bewahr’! Bloß g’sorgt hab’ ich mich, weißt, ob Dein’ Sach’ auch in der Ordnung ’kriegt hast.“

„Ja, ja!“

Sie waren ins Haus getreten und stellten in der Stube, in welcher die Lampe mit winziger Flamme brannte, den Koffer nieder.

Dann faßte Michel den Arm des Sohnes und zog ihn in den Flur. „Da, stell’ Dich her an d’ Wand!“ sagte er mit schwankender Stimme. „Und schau hart am Thürpfosten vorbei und gegen den Stadel ’naus.“

Mathes schmiegte das Gesicht an die Wand und visierte über den Thürbalken gegen die schwarze Scheune.

„Merkst was?“ fragte Michel beklommen.

„Ja, ein bißl was. Um ein Ruckerl schauen die Kanten auseinander.“

„Gelt? Schon gestern hab’ ich’s g’merkt, daß die Hausthür hin geht und der Stadel her! Eins muß schief stehn! … ’s Häusl, meinst?“

„Gott bewahr’! Der Stadel halt! Weißt, so ein g’ring’s Holzwerk verschiebt sich ja leicht.“

„Gelt? Das hab’ ich mir selber schon ’denkt!“

„Ja! Und da thu’ Dich net sorgen, Vater! Der Stadel laßt sich leicht wieder aufpölzen! Und komm’, schauen wir ’naus zur Mutter! … Die Kinderln schlafen schon?“

„Ja, Gott sei Dank!“

Sie gingen in den Garten, in welchem drei flackernde Kienfackeln an Bäume gebunden waren. Vroni stand am Fuß der Böschung und flocht zwischen das neue Pfahlwerk die Ruten ein, welche die Mutter ihr reichte.

„Katherl, da schau her!“ rief Michel. „Unser Bub’ is endlich da!“

„Ja grüß Dich Gott!“ Mutter Katherl humpelte den beiden entgegen. Als sie beim Fackelschein das Gesicht ihres Buben sah, erschrak sie. „O Du lieber Herrgott! Was hast denn gar so rennen müssen über ’n Berg ’rauf?“ Mit der Schürze trocknete sie ihm den glitzernden Schweiß vom Gesicht. „Und so viel z’sammg’arbeit’ schaust aus!“

„Na, na, Mutterl! Es is net so arg! In der Nacht schaut man sich halt so an!“ Mathes nickte ihr lächelnd zu und wandte sich zur Schwester. „Grüß Dich Gott, Madl!“

Vroni reichte ihm wortlos die Hand. Sie sah es ihm gleich an den Augen an, daß etwas geschehen war aber vor den Eltern wagte sie nicht zu fragen.

Nun that es Mathes nicht anders: die Mutter mußte sich niederlegen. „Das hol’ ich schon ein, was D’ versäumst!“ sagte er und begann auch gleich die Arbeit.

Er und die Schwester flochten am Verhau die Weiden ein, während sie dem Vater die leichtere Arbeit ließen: die Ruten zu holen und mit dem Messer abzuästen. Als Michel sich einmal entfernte, um ein neues Bündel herbeizutragen, flüsterte Vroni:

„Mathes? Geh, sag’ mir’s! Is drunten was passiert?“

Er nickte.

„Geh’, so red’ doch!“

„Schlagen hat er s’ wollen … und das hab’ ich net sehen können und hab’s ihm g’wehrt! Natürlich, da hat sie ’s g’merkt!“

Vroni schwieg erschrocken eine Weile. „Und jetzt kannst nimmer ’nunter?“

Er schüttelte den Kopf. „Das is mir noch ’s Aergste, daß ich ihr nix mehr helfen kann!“

„Aber sag’ mir …“

„Der Vater kommt!“

Sie schwiegen. Und Mathes ging dem Vater entgegen, um ihm das schwere Rutenbündel von der Schulter zu nehmen.

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 41, S. 699–706
[699]
14.
Der Morgen brachte einen Märztag, so warm und sonnig und lüfteblau, als käme der Mai schon über die Berge gezogen.

Mit jeder Stunde konnte man sehen, wie der Schnee auf den Almen schmolz und um weite Strecken gegen die Felsen zurückwich. Ueber alle Wände und Halden stürzten mit fröhlichem Rauschen die silbernen Bäche zu Thal – nur auf den Gehängen des laufenden Berges blitzte kein Schneebach und rauschte kein Wasser. Dafür aber wälzten sich in der Thalsohle die wachsenden Wassermengen mit dumpfem Tosen aus den unterirdischen Gängen des Berges hervor, erweiterten mit jeder Minute die Mündungen der Höhlen, überschwemmten die Straße und vermurten weite Wiesenstrecken mit dem Kies und Schlamm, den die fressenden Wellen aus dem Innern des Berges hervorwuschen.

Die Leute, deren Aecker von der Ueberschwemmung bedroht waren, hatten schon früh am Morgen die Arbeit begonnen und warfen Gräben aus, um dem angestauten Wasser einen Abfluß zu schaffen. Nur auf den frisch bestellten Saatfeldern, die zum Purtschellerhof gehörten und von welchen eines schon halb unter Schlamm und Geröll versunken lag, war niemand bei der Arbeit.

Um acht Uhr, als der Altknecht seinem Herrn die Nachricht von der den Feldern drohenden Gefahr bringen wollte, lag Purtscheller noch im Bett und mußte geweckt werden. Er konnte sich kaum ermuntern und brummte in seinem Dusel: „Net einmal im Bett hat man sein bißl Ruh’! Schauts halt, was z’ machen is … da brauchts ja mich net dazu! Oder meinetwegen holts den Mathes! Der wird schon Rat schaffen!“ Sprach’s und drehte sich auf die Seite, um die fünf Flaschen Tiroler, die er in der Nacht beim Hazardspiel ausgestochen hatte, völlig aus seinem sumsenden Kopf hinaus zu schlummern.

Gegen halb elf erwachte er und machte Spektakel um sein Frühstück. Als er verdrossenen Gesichtes und mit der Hand an der Stirn aus der Schlafkammer trat, war der Tisch schon gedeckt, und eben wollte die alte Magd die Stube verlassen.

„Natürlich! Gleich in aller Früh muß ich wieder ein altes Weib anschauen! … Wo is denn die Frau schon wieder?“

„Mit die Leut’ zur Arbeit auf d’ Felder ’naus!“

„Was der alles einfallt! Wär’ g’scheiter, sie blieb’ daheim und thät’ schauen, daß ich mein Sach in der Ordnung krieg’!“

„Aber ich bitt’, Herr, schauen S’ doch den Tisch an! Sie haben ja alles!“

„No ja!“ brummte Purtscheller. „Mir geht halt was ab, wenn d’ Frau net daheim is!“ Er schob sich hinter den Tisch.

„Und wo is denn der Kleine?“

„Den hat d’ Frau zur Nachbarin ’nüber’geben!“

„Was? Das is wohl die neueste Mod’? Als ob’s Kindl daheim net am besten aufg’hoben wär’! … Jetzt fahr’ ab! B’hüt’ Dich Gott!“

Während Purtscheller seinen Kaffee schlürfte, den Schinken kaute und die weichen Eier auslöffelte, tauchte verschwommen die Scene des vergangenen Abends vor seinen Gedanken auf. Ohne viel zu brüten oder sonderlichen Kummer zu verspüren, fühlte er doch, wie gewöhnlich nach solchen Auftritten, eine gelinde Anwandlung von Reue über die Roheit, zu der ihn sein Jähzorn hingerissen hatte. „Aber sie weiß ja doch, daß ich’s net so mein’,“ tröstete er sich, „und daß ich hintnach wieder der beste Kerl bin!“ Bei diesem halben Nachdenken erschien es ihm „merkwürdig“, daß er, der doch sonst gegen alle Menschen „so seelengut“ war, gerade seiner Frau gegenüber immer und immer in diese „schauderhaft aufgeregte“ Stimmung geriet! Aber das hatte er nun einmal so an sich – wie man seine Nase, seine großen oder kleinen Ohren, seine braunen oder blonden Haare hat! Damit mußte seine Frau [700] eben rechnen – und sie hatte doch allen Grund zu geduldiger Nachsicht, denn „so ein Glück hat net bald eine g’macht“! Freilich, Wenn er ehrlich sein wollte, mußte er zugestehen, daß Karlin’ all die Jahre her das Möglichste gethan hatte, den „Zornteufel“ in ihm zu beschwichtigen. Aber augenscheinlich war es doch auch, daß sie seit einiger Zeit, wie er meinte, „die pflichtschuldige Geduld verlor“! Dadurch setzte sie sich ihm gegenüber ins Unrecht! „Ganz entschieden!“ Denn statt wie ein immer „zum Ueberlaufen aufg’legts Millihaferl“ in allen Winkeln herumzustehen und ihm diese kalte, stillgekränkte Art zu zeigen, wäre es ihre Pflicht, ihn mit doppelter Zärtlichkeit zu behandeln und ihm durch liebenswürdige Lustigkeit den Druck seiner Sorgen zu erleichtern.

„Warum kann’s denn die Zäzil? Die doch noch lang net mein’ Frau is?“

Er nahm sich vor, Karlin’ auf ihre Pflicht mit freundlichen Worten aufmerksam zu machen und ihr alles nötige in Güte zu sagen. „Da wird’s ja wieder ein’ Zeit lang gut thun! Sie hat ja doch den besten Willen!“ Aber wie er nun auch mit seiner Frau auskam, so oder so, das ging jedenfalls keinen anderen etwas an! Und am allerwenigsten einen Knecht, den er bezahlte! – Bezahlte? – Bei diesem Wort mußte Purtscheller an Lichtmeß denken. „No ja, er kriegt sein Sach’ schon noch! Pressieren thut’s ihm ja net, sonst hätt’ er mich ang’fordert! Aber der Kerl soll sich nur net einbilden, daß er bei mir im Haus außer der Arbeit noch was anders z’ reden hat!“ Und nun gar auf solche Art den Flegel herauszukehren und sich handgreiflich in Dinge einzumischen, die ihn einen Pfifferling angingen! „Ein’ gleich ein’ Buben heißen und ei’m den Arm halbet auseinanderbrechen, daß ich fünf blaue Fleck hab’ davon! So was will ich ihm austreiben für ein andersmal!“

Freilich – mit einer Regung von Gerechtigkeitssinn suchte Purtscheller sich in die „Sitawazion“ hineinzudenken, in der sich Mathes befunden hatte – freilich, wenn man die Sache so beim richtigen Licht betrachtete, konnte man dem Knecht diese Einmischung nicht allzusehr verübeln. „Am End’ hätt’ ich’s selber net anders g’macht, wenn ich’s mit anschauen hätt’ müssen, wie so ein rabiates Mannsbild ein Frauenzimmer schlagen will!“ Da hätte sich in ihm doch ebenfalls das gute, mitleidige Herz gerührt! „No also, meinetwegen, er soll recht g’habt haben! Und schließlich brauch’ ich den Mathes, daß er mir den Hof wieder in d’Höh’ bringt! In Gottsnamen, ich will die Sach’ gut sein lassen!“

Als Purtscheller bei Kaffee, Schinken und weichen Eiern sich diese Einsicht und Ueberwindung abgerungen hatte, kam er sich ordentlich groß und bewunderungswürdig vor – und in satter Zufriedenheit wischte er sich mit der Serviette den Mund ab. Das ausgiebige Frühstück hatte auch das Sumsen seines Katers leidlich zur Ruhe gebracht.

„Jetzt an d’ Arbeit!“

Geld schaffen, das war vor allem das nöthigste für ihn; denn beim Wirt drüben hatte er eine Spielschuld von siebenhundert Mark stehen. Die mußte beglichen werden, wenn seine Reputation als „Sportsmann“ nicht leiden sollte. Für den Ostermontag war ja schon das erste Trabrennen angesetzt – und da wollte er mit dem „Lüftikus“ seine fünfzehn bis zwanzig Tausend an Preisen und Wetten holen! Bis dahin hieß es, sich fortfretten und Geld auftreiben, wo es aufzutreiben war. Mit dem Gewinn des Rennens war dann sein Lebensbedarf für ein Jahr gedeckt – und so konnte der Betrag, den Mathes aus dem Hof herausbrachte, rein dazu verwendet werden, um einen Teil der Hypothek zu löschen.

Glänzendere Aussichten als der Purtscheller-Toni hatte kein Mensch auf der Welt!

„Aber selber muß ich dazu schauen!“

Denn jener Geldgeber, der für die Hypothek von achtzigtausend und für das Fallholz des halbzerstörten Waldes so bereitwillig jene sechzigtausend bar gegeben hatte, war an der Hand von einem zähen Krampf befallen und wollte sie nicht wieder öffnen. Der alte Rufel zeigte noch immer Angst vor dem „Schießgewehr“ … und bei anderen Zwischenhändlern hatte Purtscheller schlechte Erfahrungen gemacht. Nun wollte er selbst in die Stadt und „dazu schauen“! Dabei traf er zwei Fliegen mit einem Schlag: er betrieb ein wichtiges Geschäft und konnte eine flotte Trainingfahrt mit seinem „Lüftikus“ machen.

Fröhlich vor sich hinpfeifend, ging er in den Hof hinunter.

Aber da hatte er gleich wieder einen Aerger zu überstehen – denn mit Karlin’ waren alle Knechte und Mägde zur Arbeit aufs Feld gegangen, um die bedrohten Saatfelder gegen den Andrang des aus dem laufenden Berg hervorströmenden Schlammwassers zu sichern – und so war niemand im Hof, der für Purtscheller den „Lüftikus“ vor den Gig hätte spannen können. Auf sein lautes Schelten kam endlich Zäzil zum Vorschein – neben der alten Köchin die einzige im Haus, welche von Karlin’ nicht zur Arbeit gerufen war. Mit lustigem Eifer war die hübsche Dirne ihrem Herrn behilflich, den Gig aus der Wagenremise zu ziehen und den Rappen einzuschirren. Das ging unter Schwatzen, Lachen und Kneifen vor sich, und beinahe hätte das Kichern und Kreischen des Mädchens das zur Scheuheit neigende Pferd in Unruhe gebracht.

Aber Purtschellers schmeichelnde Hand machte das nervöse Tier wieder gehorsam. In flottem Tempo fuhr er zum Dorf hinaus, sacht geschaukelt von den geschmeidigen Federn des neuen Gig, dessen rotlackierte Speichen in der Sonne blitzten, als wären die Räder rollende Feuersterne.

Aus der Ferne konnte Purtscheller seine Frau und die Dienstboten auf den Feldern bei der Arbeit sehen. –

Gegen fünf Uhr abends kam er aus der Stadt zurück, in seelenvergnügter Laune. Denn seine Fahrt hatte doppelten Erfolg gehabt: binnen drei Tagen sollte er zehntausend Mark auf zweite Hypothek erhalten – und mit dem „Lüftikus“ hatte er einen Rekord erzielt, der ihm den Sieg beim nächsten Trabrennen in sichere Aussicht stellte: ohne das Pferd auszupumpen, hatte er auf ebener Straße den Kilometer in nicht ganz zwei Minuten gefahren. Und in welch’ famoser Kondition kehrte das Pferd nach solcher Leistung in den Stall zurück: frisch und feurig, kaum mit einem Schweißfleck am glänzenden Fell! Da mußte Purtscheller jetzt das Pech, das er mit seinem „Herzbinkerl“ gehabt hatte, als ein rechtes Glück betrachten! Er lachte, als er sich an den Rat erinnerte, den ihm Mathes bei der Ankunft des neuen Trabers gegeben hatte! Den „Lüftikus“ verkaufen? „Net um ein G’schloß!“ Dank seiner unermüdlichen Arbeit war der Rappe jetzt fertig für die Rennbahn und sollte Geld bringen!

Da die Dienstboten mit Karlin’ noch immer auf den Feldern waren, versorgte Purtscheller selbst das Pferd, rieb ihm das Fell trocken und schnallte ihm die warmen Decken um.

Ein wenig müde von dieser Arbeit, doch in der behaglichen Laune eines Menschen, dem das Glück nichts zu wünschen übrig läßt, setzte er sich an den gedeckten Tisch. Zu allem Erfolg dieses Tages gesellte sich noch die Aussicht auf das Jagdvergnügen, das ihm der schöne Abend versprach: heute würde ihm sicher die erste Schnepfe vor das Rohr streichen.

Als die alte Magd auftrug, plauderte er so fidel mit ihr, daß sie ihn verwundert ansah. „Und schau,“ sagte er, „was ich der Frau aus der Stadt mit heim’bracht hab’!“ Schmunzelnd zog er ein Schächtelchen aus der Tasche. „Ah na! Das is ja net ’s Richtige … das g’hört für wen andern!“ Lachend schob er das Ding wieder ein, zog ein kleines Lederetui hervor, ließ den Deckel aufspringen und zeigte der Magd einen goldnen Armreif mit funkelndem Rubin. „Solche Sachen schenk’ ich meiner Frau! Da kann’s ihr Freud’ d’ran haben!“

„Ich weiß net,“ erwiderte die Magd in Zweifel, „aus G’schmucksachen hat sich d’ Frau noch nie was g’macht!“

„Aber so was Schön’s hat s’ ihrer Lebtag noch net g’habt! So was kann jede Gräfin tragen. Dreihundert Mark hab’ ich ’zahlt dafür!“ In dieser Behauptung lag freilich ein kleiner Verstoß gegen die Wahrheit – dreihundert Mark, das stimmte – aber er war sie schuldig geblieben; auch die hundert für die Perlenohrgehänge, die das andere Schächtelchen barg. „Und am nächsten Sonntag muß d’ Frau das Armband anlegen für’n Kirchgang. Sie soll endlich einmal zeigen vor die Leut’, was das sagen will: Purtschellerin heißen!“ Er band sich die Serviette vor und rührte mit dem Schöpflöffel in der Suppenschüssel. „Leberspatzerln? Heut’ hast es ’troffen, Alte! Die mag ich gern! … Und wo is denn mein Prinz? Noch allweil bei der Nachbarin?“

„Ja! D’ Frau hat g’sagt, ich soll ihn drüben lassen, bis sie selber heimkommt und holt ihn!“

„Nix da! Gleich holst mir ihn ’rüber! Soll ich denn gar nie was haben von mei’m Büberl! So viel viel bangen thut’s mich nach ihm! Mach weiter, hol’ ihn ’rüber!“

Die Magd zögerte. „Ich trau’ mich net recht! Sie geben ihm heilig wieder was z’essen und verderben ihm ’s Magerl.“

Purtscheller lachte. „Na na, ich gieb ihm nix! Ein halbs Stündl [702] hab’ ich noch Zeit bis zum Schnepfenstrich … und da möcht’ ich mit dem lieben Schneckerl ein bißl hänseln, ’s Kind wird ja sonst völlig fremd zu mir! Mach’ weiter und hol’ mir den Prinzen ’rüber!“

Die Magd wollte noch eine Einwendung erheben; aber ein grobes Wort machte ihr flinke Füße. – Mit rotem Schimmer lag die Abendsonne auf der Straße und über den kahlen Gärten, als die Magd aus dem Haus des Nachbars trat und auf ihren Armen das kleine schwatzende Bürschlein zu seinem Vater heim trug. Während sie über die Stufen zur Hausthür hinaufstieg, flog’s mit sachtem Gesurr über die blätterlosen Reben des Weinspaliers.

„Meckerling!“ Der Kleine streckte die Händchen. „Meckerling haben möcht’ ich!“

„Aber geh, Tonerl,“ sagte lachend die Magd, „jetzt fliegt doch noch kein Schmetterling umeinander! Da mußt schon noch ein paar Wochen warten!“

Droben im ersten Stock klirrte eine Scheibe und Purtscheller streckte das vergnügte Gesicht zum Fenster heraus. „Bürscherl! Da schau her, wer da is! Dein Vaterl!“

„Meckerling haben möcht’ ich!“ wiederholte der Kleine, während ihn die Magd in das Haus trug.

Purtschellers Gesicht verschwand; dann hörte man durch das offene Fenster den zärtlichen Gruß, mit dem er seinen „Prinzen“ empfing, den lustigen Unsinn, den er trieb, und das Jauchzen des Kindes, das am Spiel mit dem Vater eine seltene Freude zu finden schien.

Es wurde lebendig auf der Straße; die Bauern kehrten von den Feldern heim, und nach einer Weile kam auch Karlin’ mit ihren Leuten. Die Arbeit, welche sie seit dem Morgen geleistet hatten, war von Erfolg gewesen. Freilich hätten die ausgeworfenen Gräben und die in Eile aus Felsbrocken aufgebauten Dämme die Saatfelder auf die Dauer nicht vor Vermurung geschützt, wenn nicht im Laufe des Nachmittags das aus dem Innern des laufenden Berges hervorströmende Wasser unerwartet gesunken wäre, so daß es gegen Abend fast ganz versiegte. Die Leute erklärten sich die Ursache dieser plötzlichen Wendung auf verschiedene Weise; die einen meinten, beim Niedergang der Sonne und in den kühlen Nachmittagsstunden wäre droben auf den Almen der Schnee aus dem Schmelzen gekommen, und so hätte der Zufluß an Wasser sich vermindert – und die anderen sagten: entweder hätten die Bäche in den Höhlen des Berges einen anderen Weg genommen, oder ein schwerer Erdbruch hätte dem unterirdischen Wasser einen Riegel vorgeschoben.

Schweigend hatte Karlin’ die Reden der Leute mit angehört, und manchmal bei der rastlosen, erschöpfenden Arbeit war ihr stiller Sorgenblick über die Gehänge emporgeglitten gegen die Simmerau. Welch’ bange Stunden mußten die dort oben zu überstehen haben! Welch’ einen harten Kampf mochten sie führen gegen die dunkel drohende Gefahr!

Als man für die Felder nicht mehr zu fürchten hatte und den Heimweg antreten tonnte, war Karlin’ von der schweren neunstündigen Arbeit und von allem, was insgeheim an ihrem Herzen nagte, so müd’ und gebrochen, daß sie sich kaum mehr aufrecht zu halten vermochte. Die Steine, welche sie zum Bau des Dammes herbeigetragen, hatten ihr die Hände zerschunden, ihre Kleider waren durchnäßt, und in Klumpen hing der Schlamm und die Ackererde an den Säumen ihres Rockes. Wortlos ging sie inmitten der schwatzenden Leute; verloren irrte ihr schwermutsvoller Blick über den Märzenstaub, die feuchten Härchen klebten ihr an Stirn und Schläfen, ihre Lippen zitterten, und tiefes Leiden redete aus dem blassen, verhärmten Gesichte, das in der vergangenen Nacht und an diesem Tag um Jahre gealtert schien.

Vor dem Thor des Purtschellerhofes blieb sie stehen und nickte den Dienstboten mit müdem Lächeln zu. „Vergeltsgott, meine guten Leut’! Und geht’s mir ’nein derweil ins Haus … wenn ich heimkomm’, richt’ ich’s Essen gleich und stell’ euch ’s Bier auf! Bloß mein Kindl möcht’ ich noch holen!“

„Ja, Frau, ja,“ sagte der Altknecht, „es pressiert net so!“

Und die anderen grüßten freundlich: „B’hüt Gott derweil, Frau Purtschellerin!“

Während die Leute in den Hof traten, ging Karlin’ zum Nachbar hinüber. Als sie hörte, daß die Magd das kleine Bürschlein schon vor einer halben Stunde heimgeholt hätte, eilte sie in Unruh’ nach Hause – sie kannte ja die Art von Spielen, welche Purtscheller alle heiligen Zeiten einmal mit seinem Kind’ zu treiben pflegte – und noch immer war der Kleine dabei gar übel weggekommen, im besten Fall mit Thränen.

Während Karlin’ über die Stufen des Gartens emporstieg, hörte sie aus dem offenen Fenster das flehende Stimmlein ihres Kindes: „Vaterl, bitti, bitti, noch ein bissi Rosserl machen!“

„Na, mein Bürscherl,“ klang die Stimme Purtschellers, „für heut’ is’ g’nug! Jetzt muß ich fort auf d’ Jagd!“

„Bitti, Vaterl, bitti gar schön!“

„Morgen, mein Schnaberl, morgen wieder! Und da thun wir Haserl und Jaager spielen miteinander, gelt! Aber jetzt muß ich fort!“

„Vaterl, bitti, bitti, Haserl spielen!“

„No also, in Gottsnamen, ein bisserl noch! Aber g’schwind, mein Haserl! G’schwind thu Dich verstecken im Krautacker! Der Jaager kommt schon mit der Büx …“

„Haserl guguk!“ tönte der lustige Ruf des Kindes.

Von banger Sorge befallen stürzte Karlin’ ins Haus und über die Treppe hinauf. Doch ehe sie die Stubenthüre noch erreichen konnte, dröhnte der Hall eines Schusses durch das Haus.

Gelähmt vom Schreck, hörte sie einen erstickten Schrei ihres Mannes und das Fallen von Mörtelbrocken. Als sie nach einer Sekunde, welche ihr wie eine Ewigkeit erschienen war, die Bewegung wiederfand und in verzweifelter Angst die Thüre aufriß, sah sie ihren Mann mit verzerrtem aschfarbenen Gesicht an die Mauer gelehnt, das rauchende Gewehr in der Hand. Vom ziehenden Pulverdampf verschleiert, stand das kleine Bürschlein neben dem Ofen; es zitterte vom Schreck, den der Knall und das Feuer des Schusses ihm eingejagt hatten, und blickte mit großen, scheuen Augen an seinem Kleidchen hinunter, aus dessen Falten die roten Tropfen sickerten.

„Mammi, schau,“ begann das Kind verschüchtert zu plaudern, als es die Mutter gewahrte, „Vaterl Hasi tot ’schossen!“ Es wollte die Aermchen strecken aber da fiel es vornüber zu Boden und regte sich nicht mehr.

Mit röchelndem Schrei, wie eine Wahnsinnige, stürzte Karlin’ auf ihren Mann zu und klammerte ihm die Hände um den Hals, als könnte sie mit Gewalt das schon geschehene Unglück noch verhüten.

Er wehrte sich nicht, sondern lallte nur und ließ die Flinte aus den schlaffen Händen gleiten. Das Gepolter, das sie machte, weckte Karlin’ aus dem Irrsinn, der sie befallen hatte.

„Mein Kindl! Mein Kindl! Mein Alles, was ich noch hab’! Mein Kindl!“ schrie sie mit herzzerreißenden Lauten und warf sich schluchzend auf die Dielen nieder. Sie hob das blutende Körperchen an ihre Brust, raffte sich taumelnd auf, schrie mit gellender Stimme um Hilfe und wollte das Kind zu seinem Bettlein tragen. Doch ehe sie die Schwelle der Schlafstube erreichte, erlosch ihre Kraft, und ohnmächtig sank sie zu Boden.

Die Dienstboten, die den Hall des Schusses und Karlin’s Hilfeschrei gehört hatten, stürzten in das Zimmer und schrieen erschrocken durcheinander. Die einen hoben Karlin’ und das Kind von den Dielen auf, die andern drängten sich mit entsetzten Fragen um Purtscheller.

Zitternd saß dieser auf der Wandbank, stierte die Leute mit glasigen Augen an und lallte in Thränen wie ein Kind: „Ich weiß net … aber ’s G’wehr is g’laden g’wesen … ich bin net schuld d’ran … ’s G’wehr is g’laden g’wesen …“

Ein anderes Wort war nicht aus ihm herauszubringen.

Der Altknecht rannte davon, um den Doktor zu holen. Der kam auch gleich; aber er konnte nichts mehr helfen – Tonerl hatte in schmerzlosem Tod die Augen für immer geschlossen.

Während der Doktor um das Kind beschäftigt war und die Mutter aus ihrer Ohnmacht wieder zur Besinnung brachte, kamen schon die Nachbarn gelaufen. Wohnstube und Schlafkammer füllten sich mit Menschen, und tröstend versuchten die Frauen auf Karlin’ einzureden. Sie hörte nicht. Thränenlos, wie versteinert, saß sie neben dem Bettlein ihres Kindes und wollte das starre, kalte Händchen nicht lassen.

Der Doktor strich ihr in wortlosem Erbarmen mit der Hand über den Scheitel. Dann wandte er sich ab und ging in die Wohnstube hinaus.

Die Leute schwiegen, als er kam, und zitternd sah ihm Purtscheller entgegen, erschöpft vom Weinen und das Gesicht von den heißen Thränen aufgedunsen.

„Herr Purtscheller,“ sagte der Doktor, „es ist meine Pflicht, ich muß den Unfall, dessen Opfer Ihr armes Kind geworden ist, zur Anzeige bringen!“

[703] Purtscheller sah, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren. Und da erhob er sich und zwang seine Stimme zu festem Klang. „Ich bitt’, Herr Doktor … machen S’ Ihnen kein’ Arbeit net! Wer ein Mann is, muß einstehen können für alles, was er thut! Wenn ich auch schuldlos bin … ich fahr’ selber in d’ Stadt ’nein und geh zum G’richt! Noch allweil bin ich der Purtscheller!“ Da stürzten ihm wieder die Thränen über die Wangen.

Der Doktor sah ihn an und sprach kein Wort; während er sich an den Tisch setzte, um den Totenschein auszufüllen, sagte Purtscheller zum Altknecht: „Spann’ mir den ,Lüftikus’ ein!“

„Aber ich bitt’ Ihnen um Gott’swillen, Herr …“

„Thu’, was ich sag’. Ich muß zum G’richt! Und mein Traber bringt mich am schnellsten auf den Weg, der mir jetzt noch übrig bleibt!“

Der Reihe nach ließ sich Purtscheller von allen Leuten die Hand drücken und wollte aus der Stube gehen: doch es zog ihn zur Kammer. Aber als man die Thür vor ihm öffnete, als er die blutigen Kissen sah und das wachsbleiche Gesichtchen seines Knaben, faßte ihn ein Schauder, und schluchzend bedeckte er mit zitternden Händen die Augen.

„Ich kann ihn nimmer anschauen … ich kann net … ich bring’s net fertig!“

Taumelnden Schrittes ging er zur Flurthür und tauchte – was er seit Jahren nicht mehr gethan hatte – die Finger in den Weihbrunnkessel. Schluchzend wankte er die Treppe hinunter und schluchzte noch immer, als ihm der Wagen vorgeführt wurde.

„Ich bitt’, Herr, lassen S’ lieber mich fahren!“ sagte der Knecht. „Sie haben ja doch die Kraft nimmer, daß S’ den Gaul heut’ noch regieren können!“

Purtscheller schüttelte den Kopf und schwang sich auf den Gig. Hätte ihm Zäzil nicht den Hut gebracht, er wäre barhäuptig davongefahren.

Während er bei sinkender Dämmerung durch das Dorf hinauskutschierte, rollten ihm unaufhörlich die Thränen über die zuckenden Lippen; gedankenlos starrte er vor sich hin, ohne des Pferdes zu achten, welches bald, von der ersten Fahrt noch müde, das Traben aufgab und in gemächlichem Schritt der Straße folgte.

Immer grauer senkten sich die Schatten des Abends über Thal und Berge, obwohl im Westen ein roter Glanz noch leuchtete, in den sich die Konturen ferner Höhenzüge schwarz emporhoben. Die Unken riefen, in den kahlen Büschen pisperten die Meisen ihre letzten Töne, und gleichmäßig klang auf der harten Straße der Hufschlag des ruhig schreitenden Pferdes.

Als bei Purtscheller diese gedankenlose Dumpfheit allmählich schwand und die Erschütterung des ersten Jammers sich löste, tauchte plötzlich das Bild seiner selbst und seines Lebens vor ihm auf, wie es wirklich war, und mit einer ihn entsetzenden Klarheit sah er die große, Glied an Glied gereihte Schuld, die er an sich selbst und an anderen verbrochen hatte. Aber diese Helle seiner Gedanken währte nicht lange – sie war über ihn gekommen wie ein Blitz und ging vorüber wie ein Wetterleuchten, hinter welchem die Sterne scheinen. Gleich war das Mitleid wieder da, das er mit sich selbst empfand, und die Sucht, seine Fehler zu beschönigen und die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Ja, er hatte durch Leichtsinn viel gesündigt – aber nicht er, sondern alles andere trug die Schuld! Weshalb waren seine Eltern so früh von ihm gegangen und hatten ihn unreif im Leben zurückgelassen, nicht gewöhnt an Arbeit, den Forderungen seines reichen Besitzes nicht gewachsen, wie ein schwankendes Rohr jedem wechselnden Winde und wie ein Kind jeder Anfechtung ausgesetzt! Und weshalb mußte er zu seinem Unstern gerade in diese Heirat hineintappen!

Wäre er an eine andere Frau geraten, die ihn zu behandeln, zu erziehen und zu lenken verstanden hätte, – alles, alles wäre anders gekommen! Und auch dieses letzte, grauenvolle Unglück, das seine schuldlosen Hände mit dem Blut des eigenen Kindes befleckte, wäre nicht geschehen! Nein! Nein! Sicher nicht! Jetzt sah er es deutlich: nicht er, sondern Karlin’ war die wirklich Schuldige!

„Die ganzen Jahr’ her hat s’ mir allweil die Patronen aus die G’wehr’ und aus der Joppen g’nommen! Heut’ zum erstenmal vergißt sie’s! Hätt’ d’ Frau net ihr’ Pflicht versäumt, so hätt’ das Unglück net g’schehen können!“

Die Thränen liefen ihm übers Gesicht, während ihn sein hilfloser Kummer und die Angst vor der Selbsterkenntnis in heißen Zorn gegen diese pflichtvergessene Frau hineinredeten. Den Zorn, der ihn quälte, mußte er entladen und da er plötzlich auch den gemächlichen Paß des Rappen gewahrte, griff er wütend zur Peitsche.

„Wart’, Dich will ich’s Laufen lehren, wenn’s so was gilt!“

Und mit klatschendem Schlag sauste die Peitschenschnur auf die Weiche des Pferdes nieder.

Schnaubend bäumte sich das mißhandelte Tier, und noch scheuend vor einem Meilenstein, der sich mit grellem Weiß aus dem Dunkel des Abends hob, fiel es in so rasenden Galopp, daß Purtscheller, den der Schreck von allem Rausch seines Zornes und seiner Schmerzen ernüchterte, diese wilde Jagd des Pferdes nicht mehr zu hemmen vermochte.

Wie ein tanzendes Spielzeug flog der leichte Gig von einer Seite der Straße zur andern, schlug hier gegen einen Felsen, dort gegen eine Balkenbrüstung und verschwand in den Wolken des aufgewirbelten Staubes …

Zu dem in dunkler Ferne verhallenden Hufschlag des Pferdes gesellten sich die wimmernden Töne einer kleinen Kirchenglocke.

Klagend schollen die in Pausen absetzenden Klänge durch das abendstille Thal.

Die Leute, welche noch nicht von dem Unglück wußten, das im Purtschellerhof geschehen war, traten erschrocken aus ihren Häusern, als sie die Glocke hörten. In Sorge lief jeder zum Nachbar und fragte: „Wem wird denn ’s Glöckl ’zogen? Wo war denn ein Kindl krank?“

Auch über die Gehänge der Berge drang noch ein verschwommener Ruf der Glocke empor und sie hörten ihn in den einsam gelegenen Höfen, hörten ihn droben in der Simmerau, wo die vier Menschen im Fackelschein bei der Arbeit standen, erschöpft, die Gesichter von Schweiß überronnen.

Seit Stunden hatten sie nur wenige Worte gesprochen, nur was die Arbeit erforderte. Als sie nun die Glocke vernahmen, blickten sie alle lauschend auf.

„Hörst, Mutter!“ sagte Michel. „Sie läuten ’s Zügenglöckl!“

„’s kleine Glöckl! Ein Kindl muß g’storben sein!“

„So ein arms Hascherl! Der liebe Gott soll’s aufnehmen in sein’ ewigen Himmelsfrieden! Beten wir ein Vaterunser dafür!“

Ohne die Arbeit auszusetzen, sprachen sie mit lauten Stimmen das Gebet. Als Mathes sich bekreuzigt hatte, griff er tastend nach einem Baum, und so stand er eine Weile, als hätte ihn ein Schwindel befallen.

„Is Dir net gut, Mathes?“ fragte ihn die Schwester in Sorge.

„Net gut? Ah na! Aber ich weiß net, was ich hab’ … so viel bang sein thut’s mir um ’s Linerl!“

Schweigend strich ihm Vroni mit der Hand über die Wange.

Und drüben, wo die beiden Alten standen, sagte Michel zu Mutter Katherl: „Müd bin ich, Mutterl, arg müd! Aber völlig aufschnaufen thu’ ich, weil ich weiß, daß unsere Kinderln ein sichers Platzl haben! Und die G’vatterin drunten is doch gut mit ihnen, gelt?“

„Ja, Michel, da kannst Dich verlassen!“

„Gott sei Dank! Denn weißt, um kein’ Preis mehr hätt’ ich die Kinderln heut’ in der Nacht noch im Häusl schlafen lassen.“

Bang seufzend blickte der Alte an den vom zuckenden Fackelschein erhellten Mauern hinauf, von denen der weiß getünchte Mörtel in großen Brocken niedergefallen war.

Dann schwiegen sie wieder, und man hörte beim Knistern der Fackelflammen nur noch den Hall der Beilschläge, das Knirschen der Säge, das Krachen der Ruten, die beim Flechten entzwei brachen, und den schweren Atem der Schaffenden.

Der müden Erschöpfung, mit der sie so bei der Arbeit standen, war es anzusehen, daß sie harte Stunden hinter sich hatten. –

Es hatte aber auch der laufende Berg im Herbste während vieler Wochen nicht solche Unruh’ gezeigt wie heute an diesem einzigen Tag. In der Nacht schon war es angegangen, dieses Zittern des Grundes, dieses Rieseln der Erde. Viermal seit dem Morgen hatte es dumpf gedröhnt im Innern des Berges, und jeder Einsturz, der in einer der unterirdischen Wasserhöhlen erfolgte, hatte sich an der Oberfläche des Gehänges merklich gemacht. Rings um die Simmerau waren alle Halden verwandelt in ihrer Form, zu wulstigen Buckeln aufgeschoben oder von Klüften durchrissen. Drüben, wo sonst die grünen Masten des Purtschellerwaldes in dicht gedrängter Schar den Berghang bedeckt hatten, waren nur einige hundert Wipfel noch zu sehen. War seit dem vergangenen Tag der Boden versunken, der die von der Axt des Händlers verschonten Bestände getragen hatte? Oder war das [704] Gelände zwischen der Simmerau und dem Wald so sehr verändert, daß es den Ausblick auf die noch stehenden Bäume verwehrte?

In der Simmerau fanden sie nicht Zeit, um die Antwort auf diese Fragen zu suchen. Sie hatten sich allzuviel um die eigene Gefahr und Not zu sorgen! Nur Mathes schickte manchmal einen still bekümmerten Blick hinüber zu den verschwindenden Wipfeln des Purtschellerwaldes.

Wie rings nur die Simmerau, so hatte sich die vom reichlich strömenden Schneewasser gesteigerte Bewegung des Bodens auch in unmittelbarer Nähe des Hauses geäußert. Ein Teil der Böschung war niedergebrochen, hatte den neuen Verhau zerdrückt, den halben Garten begraben und das Geröll bis an die Mauern des Hauses geworfen. Im Hofraum war beinahe der ganze, mit so mühsamer Arbeit gezimmerte Balkenrost aus den Fugen geraten, und lange Risse hatten den Grund zerspalten. Der Brunnen war verschüttet und die Röhre so gewaltsam eingeklemmt, daß sich der Pumpkolben nicht mehr bewegen ließ.

Gegen Mittag waren von den weißen, so sauber gehaltenen Mauern des Hauses die ersten Mörtelbrocken niedergefallen.

Als Michel mit nassen Augen den Schaden betrachtete, kamen über einen nahen Grat ein halb Dutzend Leute heruntergestiegen, welche schwere Päcke schleppten und einen Karren zogen, den sie mit Hausgerät beladen hatten. Das war der Brunnthaler mit Weib und Kindern – auf dem Gehäng des laufenden Berges der einzige Bauer noch, der gleich dem Simmerauer bis zur äußersten Gefahr bei seinem bedrohten Häuschen ausgehalten hatte. Jetzt suchte auch dieser Letzte die Sicherheit im Thal und rettete von seinem Hab’ und Gut, was noch zu retten blieb.

Als die Vorüberziehenden verschwunden waren, sagte Michel mit erloschener Stimme zu seinem Weib: „Mutter, was meinst? Sollten wir net auch die Kinderln ’nunterschicken ins Dorf … über Nacht bloß, weißt?“ Daß die Hoffnung ihn zu verlassen begann – ihr das zu sagen, brachte er nicht fertig. Er sagte nur: „Wir alle müssen ja schaffen in der Nacht … und da liegen halt die Kinderln gar so ohne Aufsicht da! Meinst net, wir sollten s’ ’nunterschicken zu gute Leut’?“

„Ja, Michel! Jetzt mein’ ich schon selber bald!“ Bei diesen Worten fuhr Mutter Katherl mit der Schürze übers Gesicht, um sich den kalten Schweiß von der Stirne zu wischen.

Während sie nun berieten, wem sie die Kinder drunten im Dorfe anvertrauen sollten, sagte Mathes zu seiner Schwester: „Das Beste wär’, Du thätst die Kinderln zur Bäckin führen! Die nimmt sie g’wiß gern ins Haus … und der Schorschl noch lieber, mein’ ich!“

Brennende Röte flog über Vronis Züge; aber sie schüttelte den Kopf. „Unser’ G’vatterin müßt’ sich kränken, wenn wir die Kinderln zu fremde Leut’ geben thäten.“

Mit der „G’vatterin“ waren auch Michel und Mutter Katherl einverstanden. Man rief die Kinder, die mit Lachen und Singen auf einer sonnigen Halde spielten, packte ihnen ein bißchen Wäsche und Kleider in ein Bündel, und dann führte Vroni das kleine, über diese „Reise“ seelenvergnügte Pärchen ins Dorf hinunter.

„Gelt, Madl, sei so gut,“ rief Michel seiner Tochter nach, „und bring mir vom Schmied ein g’hörigs Packl lange Eisenstiften mit ’rauf!“

„Ja, Vater!“

Zwei Stunden später, um drei Uhr nachmittags war Vroni wieder zurück, mit Grüßen von der Gevatterin, welche die Kinder mit offenen Armen aufgenommen hatte, und mit den Eisenstiften, um die sie nicht zum Schmied, sondern zum Schlosser gegangen war. Fünfzig Pfennig hatten sie gekostet.

„Aber geh,“ sagte der Vater, „warum bist denn net zum Schmied ’gangen? Der Schorschl hätt’ Dir die Stiften um dreißig Pfennig ’lassen! Oder ’leicht billiger noch! Der ander’ is ja viel teurer!“

Ohne ein Wort zu erwidern, war Vroni zum Hackstock gegangen und hatte nach dem Beil gegriffen.

Mit vereinten Kräften und erschöpfender Hast hatten sie dann Stunde um Stunde gearbeitet, von jeder Minute erzwingend, was sie geben konnte. Um den zerstörten Balkenrost wieder neu zu fügen, dazu fehlte ihnen das Holz – und auch die Zeit, denn nach den Erfahrungen dieses Tages mußten sie fürchten, daß der nächste Erdrutsch nicht, wie im Herbst, eine Woche auf sich warten ließe; jede Stunde konnte ihn bringen! So flickten sie mit Brettern und Latten die zersplitterten Balken des Rostes zusammen – und als hiezu die vorrätigen Bretter nicht reichen wollten, zerstückelte Michel mit Thränen in den Augen das Thor der Scheune.

„Wenn ich nur ’s Häusl halten kann! ’s Häusl allein! So bin ich schon z’frieden und dank’ dem lieben Herrgott!“

Die geflickten Balken des Rostes wurden, statt sie mit Fugen zu verschränken, mit den langen Eisenstiften übereinander genagelt. Sie wußten wohl, daß jede leichte Bewegung des Bodens dieses notdürftige Fachwerk wieder zerstören mußte …

„Aber ein bißl könnt’s halt doch noch helfen!“ meinte Michel.

„Und wenn der Mensch einmal ’s Vertrauen verliert und die faulen Händ’ in’ Schoß legt, so könnt’ auch den lieben Herrgott ’s Festhalten verdrießen! Und hat er uns seine Lieb’ und Güt’ net sichtbar merken lassen? Schauts nur umeinander, Kinder! Alle Häusln auf’m Berg heroben sind verlassen oder liegen halb versunken im Boden drin … und ’s unser’ steht noch allweil da! Allweil steht’s noch! Ja!“ Als er das sagte, zitterte ihm die Stimme, und sein scheuer Blick glitt über Mauern und Dach des kleinen Hauses empor zum Himmel, der im Gold des Abends leuchtete.

Mit Einbruch der Dämmerung hatten sie im Hof die Arbeit am Rost vollendet und konnten bei Fackellicht im Garten den neuen Verhau beginnen – es war der vierte, den sie bauten. Unter dem Schutt der eingestürzten Böschung wühlten sie die umgedrückten Pfähle hervor und schlugen sie wieder ins Geröll, das über den Garten hergefallen war. Neue Ruten hatten sie nicht mehr – also mußten die alten verwendet werden. So waren sie still und emsig bei der Arbeit, als der Hall des Zügenglöckleins zu ihnen empordrang …

Stunden vergingen. Als Michel wieder einmal von den Fackeln, damit sie heller brennen möchten, die glühenden Kohlenstümpfe abgestreift hatte und zum Verhau zurückkehrte, sagte er zu Mathes: „So schön windstill is d’ Nacht! Man müßt’ doch alles hören aus’m Thal ’rauf! Und gar nix hör’ ich nimmer … gar nix!“

Mathes verstand, was der Vater meinte. Es war ihm selbst schon aufgefallen, daß seit dem Nachmittag das Rauschen des Wassers, das dort unten im Thal aus dem Innern des Berges hervorströmte, von Stunde zu Stunde schwächer geklungen hatte. Und als er jetzt hinauslauschte in die stille Nacht, hörte er keinen Laut dieses Rauschens mehr.

„Geh, sag’ mir, Mathes, was denkst denn Du dazu? Haltst es für ein unguts Anzeichen?“

„Na na, Vater! G’wiß net!“ erwiderte Mathes, doch seine Stimme hatte bangen Klang. Es war die Sorge in ihm erwacht, daß die im Innern des Berges sich stauenden Gewässer einen schweren Erdbruch vorbereiten könnten – und da wußte er nicht gleich, welchen Trost er dem Vater sagen sollte. „D’ Nacht is kühl … wir spüren’s halt net, weil uns warm is vom Schaffen … aber es muß kalt machen, denk ich mir! Und natürlich, da schmilzt halt droben kein Schnee nimmer, und ’s Wasser wird g’ring. Das is gut für uns, Vater!“

„So, meinst? … Der liebe Gott soll’s geben, daß D’ recht hast!“

Seufzend nahm der Alte die Arbeit wieder auf und schaffte, daß ihm der Schweiß über die furchigen Backen rann.

Als drunten im Thal die Turmuhr Elf schlug, sagte Mutter Katherl: „Geh, Michel, endlich einmal müssen wir doch aufhören und d’ Nachtruh’ suchen. Ich merk’ Dir’s doch an, daß D’ schier nimmer weiter machen kannst vor lauter Müdigkeit!“

„Ein bißl noch, Mutter … bis d’ Fackeln ausbrennt haben! Andere hab’ ich eh’ nimmer … gleich morgen in aller Früh muß ich wieder neue machen für die nächste Nacht!“

Ein Viertelstündchen brannten die Fackeln noch, dann drohten sie zu erlöschen.

„In Gottesnamen,“ sagte Michel, „lassen wir’s halt gut sein für heut’!“

Zögernd legten sie in ihrer Sorge die Arbeit nieder, und dennoch war ihnen allen bei dieser Erschöpfung die Ruhe willkommen.

Sie verwahrten die Werkzeuge im Hausflur und löschten die glühenden Kohlenstümpfe zweier Fackeln.

Da quoll ein mattes, langgezogenes Knirschen aus dem Grund, als hätte die Erde geseufzt – so, wie ein Müder seufzt, bevor er die Augen zur Ruhe schließen will. Langsam bewegten sich an der Böschung die neu geschlagenen Pfähle und legten sich auf die Seite, im Hof verschob sich der Balkenrost, mit trägem Krachen knickten die geflickten Hölzer entzwei, und während von den Mauern des Hauses der Mörtel niederbröckelte, klang von der Scheune ein [706] dumpfes Aechzen, das Klirren der vom Dache gleitenden Schindeln und das Gepolter losgebrochener Bretter, welche zu Boden fielen.

„Jesus Maria!“ stammelte Mutter Katherl. Und Michel sagte mit erstickter Stimme: „Da! Jetzt lauft er schon wieder!“

Wortlos hatte Mathes die letzte, noch brennende Fackel vom Baum gerissen, an den sie gebunden war, und eilte den anderen voraus über den Hof und auf die Scheune zu.

Das sahen sie gleich, daß die ganze, mühselige Arbeit dieses Tages völlig wieder zerstört war. Doch um in der Nacht und bei dem spärlichen Fackellicht den Schaden zu erkennen, den die Scheune genommen hatte, dazu brauchten sie längere Zeit. Schweigend, als hätte der Schreck und die Sorge sie der Sprache beraubt, gingen sie rings um den grauen Holzbau und nickten nur zu jeder bösen Entdeckung, die sie machten.

Alle Balkenwände der Scheune standen schief, das Dach war verschoben und hatte Lücken bekommen, fast von der Hälfte der Rückwand waren die Bretter niedergebrochen, und durch die klaffende Oeffnung quoll in dicken Wülsten das eingelagerte Heu.

Als sie das gesehen hatten, mußte Mathes die Fackel löschen, denn ihre Flamme war schon bis zu seinen Fingern niedergebrannt. Er drückte den qualmenden Stumpf in den Schlamm und zertrat die glühenden Kohlenftücke, damit nicht etwa ein Funke in das dürre Heu geraten könnte.

Nun standen sie wortlos in der dunklen Nacht, durch deren reine Luft die Sterne niederleuchteten, groß und mit farbigem Gefunkel.

„No ja,“ brach endlich Michel mit müder Stimme dieses bange Schweigen, „jetzt in der Nacht können wir allweil nix mehr machen! Fangen wir halt in der Früh wieder an! … Komm, Mutter! Kommts Kinder! In Gott’snamen, suchen wir halt unseren müden Schlaf …“ seine Stimme versank in Gemurmel, „wenn er sich finden lassen will … der Schlaf!“ Mit zitternden Händen fuhr er sich über die Augen und ging gebeugt und mit schweren Schritten auf das Haus zu.

Wortlos folgten ihm die anderen. Jetzt wußte auch Mathes dem Vater keinen Trost mehr zu sagen. Und hätte im Herzen des Alten noch ein Funke von Hoffnung geglommen, er hätte wohl, um einen tröstenden Zuspruch zu hören, wie sonst seinen Buben gefragt: „Mathes, was meinst? Was denkst Dir denn?“ Jetzt fragte er nicht mehr – aber er sprach es auch mit keiner Silbe aus, wie schwer ihn die Sorge vor dem kommenden Tag bedrückte. Doch als er zur Hausthür kam, legte er den Arm um den Hals seines Weibes und fragte mit einer Stimme, die ihm kaum aus der Kehle wollte: „Katherl? Möchtest net lieber mit der Vronerl über d’ Nacht ins Ort ’nunter und bei der G’vatterin schlafen? Es is ja g’nug, wenn der Mathes und ich noch bleiben!“

„Na na, Michel, net um d’ Welt!“ stammelte Mutter Katherl erschrocken und schmiegte den grauen Kopf an seine Brust. „Ich bleib schon bei Dir!“

Und Vroni nahm seine Hand. „Geh, Vaterl, wirst mich doch auch net fortschicken!“

Er drückte die beiden an sich. „Vergeltsgott! Ja! Vergeltsgott! D’ Sorg’ hat mich ’trieben, daß ich’s g’sagt hab’ … aber ein Stückl von der Seel’ hätt’s mir g’rissen, wenn ich allein hätt’ bleiben müssen! Jetzt is mir gleich wieder ein bißl leichter! Aber ’raussagen muß ich’s endlich einmal: grausen thut mir vor dem morgigen Tag! Völlig grausen! Wenn der Einzig’ net hilft, der jetzt noch was ausrichten kann, so könnt’s morgen ein bißl schlecht ausschaun um unser’ Häusl! Ja! Ein bißl gar schlecht! Unsere müden Händ’, die richten jetzt nix mehr aus!“

„Ja, mit der Arbeit hat’s ein End’,“ sagte Mutter Katherl kleinlaut, „aber beten können wir noch!“

„Hast recht, Mutter! Reden wir ein bißl mit ihm! Oder beten wir lieber wieder d’ Litanei zur guten Gottesmutter! Die hat ein’ starken Einfluß droben im Himmel… von der, mein’ ich, laßt er sich doch was sagen, wenn wir s’ in der richtigen Frömmigkeit ansprechen um ihre mächtige Fürbitt’!“ Michel blickte zum Himmel auf, als könnten ihm die funkelnden Sterne die Wahrheit seiner Worte bestätigen. Dann sagte er: „Komm, Mathes! Eh’ wir’s Beten anfangen, müssen wir noch ein Sprüngerl in’ Stall ’nein machen.“

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 42, S. 716–720

[716] Während Vroni und Mutter Katherl in den Hausflur traten, ging Mathes mit dem Vater zum Stall; sie lösten die beiden Ziegen von den Stricken, nahmen der Kuh die Kette ab, öffneten das Gitter des Hühnerkäfigs und banden die Stallthür offen an die Mauer fest, damit die Tiere in drohender Gefahr einen freien Weg zu ihrer Rettung hätten.

Als sie in die Stube kamen, in welcher die Hängelampe brannte, fanden sie den Tisch bestellt.

„Geh’, Michel,“ sagte Mutter Katherl, „thu’ noch ein Bröserl essen! Hast ja seit Mittag kein’ Bissen nimmer g’habt! Völlig schwach mußt sein … und ’s lange Beten, wenn man richtig dabei is, strengt ein’ doch auch noch ein bißl an.“

Sie bekreuzten sich und nahmen am Tische Platz. Schweigend tranken sie die Milch, kauten langsam das schwarze Brot und schnitten kleine Stücke von dem Rauchfleisch, das Mutter Katherl aus dem Kamin geholt hatte. Während Michel aß, blickte er fortwährend in der Stube umher, prüfte sorgenvollen Blickes die Decke und strich mit der Hand ein paarmal über die weiße Mauer.

Die Mahlzeit währte nicht lange.

„So!“ Michel erhob sich. „Fangen wir halt an!“

„Vater? Soll ich Dir ’s Büch’l holen?“ fragte Vroni.

„Dank’ schön! Na! Das brauch’ ich net!“ Michel hatte in all diesen Wochen der Gefahr die Litanei zur Gottesmutter schon so oft gesprochen, daß er sie auswendig wußte.

Seufzend drückte er die steifen Kniee zu Boden und faltete über dem Tisch die Hände. Sein Weib kniete neben ihm, und hinter ihnen, mitten in der Stube, knieten ihre Kinder.

Michel machte mit schwerer Hand das Zeichen des Kreuzes und betete vor:

„Herr, erbarme Dich unser!“

„Erbarme Dich unser!“ fielen die anderen ein; ihre Augen hingen an der niederen Decke, und inbrünstige Andacht sprach aus dem bebenden Klang ihrer Stimmen.

„Christus, erbarme Dich unser!“

„Erbarme Dich unser!“

„Gott Vater vom Himmel, Gott Sohn, Erlöser der Welt, Gott heiliger Geist!“

„Erhöre uns!“

„Du heilige Maria!“

„Bitt’ für uns!“

„Heilige Gottesgebärerin!“

„Bitt’ für uns!“

„O Mutter Christi … Du gute, Du!“

„O bitt’ für uns!“

So beteten sie weiter, Ruf um Ruf, in heißer Andacht und zitterndem Hoffen.

Als Michel zu der Stelle kam: „Du Pforte des Himmels, du Morgenstern!“ – da versagte ihm die Stimme; denn ein dumpfes Dröhnen tönte durch die Nacht und rollte über das Haus hinweg – es klang, als hätte man auf der Höhe des Berges den Schuß einer riesigen Kanone gelöst.

Mathes erhob sich, während Mutter Katherl sich erbleichend an den Arm ihres Mannes klammerte.

„Sorg’ Dich net! Na! Thu’ Dich nur gar net sorgen!“ [718] stammelte Michel. „Das macht uns nix! Das muß ganz droben g’wesen sein in der Höh! Der Boden hat sich net g’rührt bei uns, und kein bißl net hat ’s Häusl ’zittert! Das hätt’ ich ja spüren müssen … da hab’ ich ein G’fühl dafür, ein ganz ein feines! Thu’ Dich net sorgen, Mutter! Beten wir weiter! Und nur recht fest einfallen, Kinder! Recht fest!“ Zähren erstickten fast seine Stimme, als er wieder die Litanei aufnahm: „Du Pforte des Himmels! Du Morgenstern!“

„O bitt’, o bitt’ für uns!“ fielen die anderen ein, und ihre Stimmen klangen wie ein vereinter Schrei um Hilfe.

„Du Heil der Kranken!“

„Bitt’ für uns!“

„Du Trösterin der Betrübten!“

„Bitt’ für uns!“

„Geh, sei doch so gut und thu’ doch für uns ein bißl, grad’ ein bißl was … Du Hilfe der Christen, Du!“

„O bitt’ für uns!“ riefen die Mutter und Mathes, während Vroni sich zitternd erhob. „Vater! Vater!“ stammelte sie. „Hörst denn das g’spaßige Sausen net, droben in der Höh’! Kann’s denn ein Wetter sein, was aufzieht?“

„Thu’ beten, mein Madl! Thu’ net ums Wetter fragen … ein Wetter thut uns nix!“ Michel hob die verschlungenen Hände gegen die Decke. „Du Königin der Engel!“

„Bitt’ für uns!“

„Du Königin der Propheten!“

„O bitt’ für uns!“

Wie ein Frühlingssturm, der mit Toben und Brausen über die Berge fährt, so klang es durch die Nacht von der Höhe der fernen Almen herunter, immer deutlicher, immer näher dem bedrohten Haus.

„Du Königin der Apostel!“ betete Michel mit versagender Stimme, zitternd an all seinen müden Gliedern. „Königin der Märtyrer!“

„O bitt’, o bitt’ für uns!“

„Du Königin der Jungfrauen! Königin aller Heiligen!“

„Bitt’ für uns!“ fielen Vroni und die Mutter ein, während Mathes aufsprang, vor Erregung bleich bis in die Lippen. „Vater! Vater! Ja hörst denn net?“ Mit beiden Händen umklammerte er den Arm des Vaters. „Das kann ja kein Wetter net sein! So thut kein Sturm! Hör’ an, Vater, so hör’ doch an! Das thut ja, als ob ’s ein Wasser wär’ …“

„Wasser…“ stotterte Michel. Dann war lautloses Schweigen in der Stube, und mit verhaltenem Atem lauschten sie alle.

Da hörten sie es deutlich, dieses dumpfe Strömen und Rauschen, das über die Gehänge des laufenden Berges niederkam. Jetzt klang es schon ganz in der Nähe … jetzt war ’s, als hätt’ es den Garten schon erreicht … jetzt ging es mit dem Tosen eines mächtigen Wasserfalles zur Linken und Rechten des kleinen Hauses vorüber und jagte dem Thal entgegen. Und mitten in diesem dumpfen Brausen hörte man, wie freundliches Kinderplaudern, das helle Glucksen und Geplätscher der kleinen Wellen, die gegen den Sockel der Mauern schlugen.

„Heilige Mutter!“ schrie Michel wie von Sinnen und raffte sich auf. „’s Wasser is da! ’s Wasser! ’s heilige Wasser!“ Nach Atem ringend fuchtelte er mit den Armen, und in seiner jäh erwachten Hoffnung und Freude stürzten ihm die Thränen aus den Augen, „’s Wasser is g’stiegen aus der Tief’! ’s Wasser is wieder am Licht! ’s Wasser hat uns g’holfen … und die heilige Mutter!“ Seinen Buben beiseite stoßend, rannte er zur Thüre und eilte hinaus in die von rauschendem Lärm erfüllte Nacht.

Als ihm Mathes mit stammelnden Worten folgte und Vroni und die Mutter ihm schluchzend nachliefen, hörten sie ihn bald im Hof und bald ihm Garten schreien: „Ja schauts doch das Wasser an! Das schöne Wasser! Das viele Wasser! Meiner Lebtag’ hab’ ich so viel Wasser noch net g’sehen!“

Rauschende Bäche, deren tanzender Schaum auch in der dunklen Nacht noch weißlich schimmerte, sprudelten von allen Seiten über die steile Böschung nieder und überschwemmten fußhoch den ganzen Hofraum, während die größeren Massen des aus dem Inneren des Berges hervorgebrochenen Wassers brausend ihren Weg durch die das Gehöft begrenzenden Mulden und Gräben nahmen.

„Michel! Michel! Wo bist denn?“ rief Mutter Katherl mit Schluchzen. Und Mathes und Vroni schrieen: „Um Gottswillen! Vater! So komm’ doch!“

Bis zu den Hüften von Wasser triefend, lachend und weinend, kam er aus einem der Sturzbäche hervorgestiegen und ließ sich zur Hausthür führen. Da machte er seine Hände wieder frei und fuchtelte.

„Mutter! Kinder! ’s Wasser is wieder da! Jetzt können wir ausschnaufen! Unser Häusl is g’sichert jetzt! Das hat ja die Kammissoni g’sagt: wenn ’s Wasser wieder steigt, so muß er sein Laufen einstellen, der närrische Berg! Der! Hat g’meint, er kann treiben, was er will! Jetzt hat er aber doch eine g’funden, die noch ein bißl stärker is als er! … Katherl! Kinder! Kommts her!“ Die Freudenthränen erstickten seine Stimme fast. „Jetzt sagen wir aber gleich der Gottesmutter unser Vergeltsgott! Aber recht ein fest’s!“

Sie wollten ihn in die Stube ziehen, aber er that es nicht anders: inmitten des den Hofraum überschwemmenden Wassers warf er sich auf die Kniee nieder und lallte das Salve Regina, in dessen Worte er das Gestammel seines eigenen Dankes mischte:

„‚Gegrüßt seist Du, Königin, Mutter der Barmherzigkeit, unser Leben, unsere Süßigkeit und Hoffnung, sei gegrüßt!’ … Schau, tausendmal sag’ ich Dir Vergeltsgott, Hunderttausendmal, daß Dich ein bißl ang’nommen hast um Dein’ alten Michel und sein Häusl! … ,Zu Dir rufen wir Kinder Evas, zu Dir seufzen wir Trauernde und Weinende in diesem Thal der Zähren!’ … Und schau, ich will Dir’s danken, daß D’ mich g’hört hast, danken mein Leben lang! Und so oft ich’s auf meine alten Tag’ noch anschau’, mein Häusl, mein liebs, will ich mir sagen: das hat Dir die Himmelsmutter geschenkt! … ,O Du, unsere mächtige Fürsprecherin, wende Deine barmherzigen Augen auf uns!’ … No freilich hast Deine gütigen Augen g’wendt auf uns! Und schau, vergelten will ich Dir’s nach meiner schwachen Kraft! An die hundert Markln hab’ ich mir g’spart! Die g’hören Dir ganz! Da b’halt’ ich kein’ Pfennig davon! Dein heiligs Bildl will ich schön g’wanden lassen! Und wächserne Kerzln zünd’ ich Dir an, Tag für Tag eins, bis sie sich jähren thut, die heutige Freudennacht! … ‚O Du gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria!‘“

Taumelnd erhob er sich, umhalste unter Thränen sein Weib und seine Kinder, riß sich los von ihnen und watete wieder in einen der schäumenden Bäche hinein. „Das Wasser schauts an, das schöne Wasser!“ Lachend, wie ein Berauschter, griff er mit beiden Armen in das Gesprudel, als hätte er kein köstlicheres Gut an sein Herz zu drücken als diese tanzenden Wellen.

In Sorge jammerte Mutter Katherl über diese „Narretei“, und Mathes mußte hinzuspringen, um den Vater mit Gewalt aus dem kalten Sturzbad herauszuziehen: fast hätten die schießenden Wellen den von Mühsal und Freude Entkräfteten zu Boden geworfen.

Sie führten ihn in die Stube und Vroni lief, um ein trockenes Gewand für ihn zu holen.

Als er umgekleidet war, merkte er schon die Erkältung, die er sich in dem eisigen Schneewasser geholt hatte. Er mußte niesen.

Mutter Katherl schlug vor Schreck die Hände über dem Kopf zusammen. „No also, schau, jetzt hast Dich richtig verkühlt!“

„Macht nix, Mutterl!“ wollte er sagen. Aber da mußte er wieder niesen, gleich ein paarmal. Und als es vorüber war, lachte er: „Helf’ Gott, daß ’s wahr is!“


15.

Das dumpfe Rauschen der Bäche, die sich über die Gehänge des laufenden Berges in das Thal hinunterstürzten, weckte im Dorf die Bauern aus dem Schlaf und ließ sie mit Sorge an ihre Felder denken. Ehe der Tag noch anbrach, eilten sie schon mit Spaten und Pickeln aus allen Häusern.

Als der Daxen-Schorschl, der nach seiner schweren Tagesarbeit einen festen Schlaf gethan, in der ersten Dämmerung des klaren Frühlingsmorgens das Thor seiner Werkstätte öffnete, sah er auf der Straße die Leute rennen.

„He! Was is denn?“ fragte er.

„Auf dem närrischen Berg da droben is ’s Wasser wieder ausbrochen!“ rief man ihm zu. „Die ganzen Felder herunt’ überschwemmt’s, und droben reißt’s die halbe Simmerau davon!“

„Mar’ und Josef! ’s Wasser wird mir ja doch da droben das Madl net mitreißen?“ stotterte Schorschl im ersten Schreck. Dann rannte er um die Hausecke und spähte im Zwielicht des Morgens gegen die Simmerau hinauf. Was er gewahrte, weckte ein Gefühl in ihm, als hätte sich eine eiserne Klammer um sein Herz gelegt. Am vergangenen Abend, als vor dem Schlafengehen seine Blicke in einer Sehnsucht, die er sich selbst nicht hatte eingestehen wollen, suchend über die dämmrige Höhe emporgeglitten waren, hatte er, das kleine braune Dächlein mitten im welken Grün der Halden [719] und zwischen den braunen Schrunden des laufenden Berges liegen sehen. Und jetzt war alles weiß dort oben! Als wäre seit dem Abend neuer Schnee über die Simmerau gefallen! Aber dieser weiße Schnee schien Leben und Füße zu haben: er bewegte sich, er rieselte und schob sich durcheinander, machte Buckel wie eine flüchtige Natter und schlug einen Purzelbaum um den anderen wie ein ausgelassener Junge. Und dumpfes Rauschen klang im windstillen Morgen von der Höhe nieder, als wäre dort oben ein Mühlenrad mit hunderttausend Schaufeln in Bewegung.

„Jesus Maria! Das arme Madl da droben!“ stammelte Schorschl mit erblaßtem Gesicht. „Jesus Maria! Der narrische Berg, der is ja bloß g’laufen …, aber das Wasser, das rennt ja umeinander wie b’sessen! Jesus Maria! Das arme Madl!“

In dieser brennenden Sorge nahm sich der Daxen-Schorschl nicht mehr die Zeit, mit dem gewohnten Blick die Kratznarben auf seiner Hand zu betrachten. Er machte Sprünge wie ein Hirsch, der den Tritt des Jägers hörte. In der Werkstätte riß er einen schweren Eisenpickel aus der Ecke, und durch alle Räume des morgenstillen Hauses tönte seine gellende Stimme: „G’sellenleut’! He! G’sellenleut’! Da her zu mir! Pressieren thut’s!“ Er wartete nur, bis die beiden Gesellen kamen – – nicht, bis sie fertig waren. „Nur g’schwind, um Christiwillen! Laßts alle Arbeit liegen! Nehmts Pickeln und Schaufeln und laufts mir nach! G’schwind, sag’ ich! Geschwind! Jesus Maria! Das arme Madl!“ Er schwang den Pickel auf die Schulter und stürzte davon, ohne Hut und Joppe.

„He! Meister! Wohin denn?“ riefen die Gesellen. „Das müssen wir doch auch noch wissen!“

„Dalkete Dippeln übereinander!“ schrie Schorschl in hellem Zorn über die Schulter zurück, ohne seinen Sturmschritt zu verhalten. „In d’ Simmerau! Wohin denn sonst? Wie kann denn da ein Mensch noch fragen!“

Er eilte weiter, immer mit dem Blick in der Höhe, stolperte in seiner blinden Hast über jede Wasserfurche des Weges, rumpelte bei jeder Ecke gegen die Zäune und rannte die Straße hinunter, daß er schon außer Atem war, als er den Fuß des Berges erreichte. Keuchend hetzte er über den schief ziehenden Fußsteig empor, bis der Pfad unter den sprudelnden Bächen verschwand, die auf dem kreuz und quer zerklüfteten Berghang nach allen Seiten hin ihre Wege suchten: droben in der Höhe schimmerten sie weiß, hier unten aber waren sie gelb von all der Erde, die sie aus den Schrunden des Berges hervorgewaschen hatten und mit sich hinunterführten ins Thal, dessen Moorwiesen und Saatfelder in einen grauen See verwandelt waren. Schorschl verirrte sich in dem Netzwerk dieser mit jedem Augenblick sich verändernden Wassergassen und mußte, um wieder den Ausweg zu finden, hier einen Bach überspringen und dort eine breite Rinne durchwaten. Wenn er die Heubüschel, die geknickten Ruten und die zersplitterten Balkenstümpfe sah, die mit dem Schaum der Wellen von der Simmerau herunterschwammen, brach er immer wieder in den Stoßseufzer aus: „O mein Gott, mein Gott, das arme Madl! Alles reißt’s ihr davon!“

Erschöpft, von Schweiß und Wasser triefend, erreichte er die Nähe der Simmerau und gewahrte gleich den Schaden, den der letzte Erdrutsch und die fressenden Wellen an der Scheune angerichtet hatten.

„Mar’ und Josef! Der ganze Stadel is hin! Jetzt hat das Madl kein’ Stadel nimmer!“

Noch sah er keine Leute; doch im Lärm der Wellen hörte er die Stimmen des alten Simmerauer und seines Sohnes. Aufschnaufend hielt er inne und lauschte.

„Daß ich ’s Madl net hör! ’s Madl! ’s Madl!“

Plötzlich vernahm er die Stimme Vronis.

Jetzt hab’ ich’s gehört!“ Mit diesem Jubelruf sprang er so flink über den steilen Hang empor, daß ihm das Wasser der Pfützen, in die er trat, bis über den Kopf emporspritzte. Auf einem der Bäche, die an der Scheune vorübersprudelten, sah er ein langes Brett daherschwimmen. „Wart’ ein bißl, du! Das Madl braucht ihre Bretter!“ rief er, jagte mit hurtigen Sprüngen hinter dem schwimmenden Brett her, riß es aus den Wellen und trug es an eine sichere Stelle.

Als er in brennender Erregung und dennoch mit befangener Scheu den Hofraum betrat, war Michel der erste, der ihn kommen sah.

„Jeh, da schau! Da kommt der Daxen-Schorschl! Und den Pickel bringt er auch gleich mit!“ rief der Alte in heller Freude. „Grüß Dich Gott, Schorschl! Grüß Dich Gott tausendmal!“

Bei diesem Ruf ließ Vroni, die neben dem Brunnen einen Graben ausschaufelte, den Spaten sinken und fuhr mit dem Kopf in die Höhe. Sie sprach kein Wort und hatte nicht einmal einen stummen Gruß für den jungen Schmied, der bei ihrem Vater stand und mit scheuen Augen zum Brunnen herüberblinzelte. Aber die Röte, die auf ihren Wangen brannte, vertiefte sich noch, als Mathes ihr mit müdem Lächeln zuflüsterte: „Gelt, ich hab’ recht g’habt, daß er kommt?“

Tiefatmend nickte sie vor sich hin und begann die Arbeit wieder.

Schorschl schien wie auf Kohlen zu stehen; es zog ihn zum Brunnen, aber Michel hatte ihn beim Hemdärmel gefaßt und wollte nicht loslassen.

Erst mußte der Alte ein paarmal niesen, bevor er lachend sagen konnte: „Schau Dir an, Schorschl! Was sagst! Das Wasser umeinander! Das viele, schöne Wasser! Und alles reißt’s davon … den halben Stadel, die Bretter und Balken, den ganzen Boden im Garten … alles reißt’s mit ’nunter! Kruzifix noch einmal! Schau Dir nur an, wie alles schwimmt!“

Das sagte Michel mit so strahlendem Vergnügen, daß Schorschl den Alten erschrocken anstarrte und in Verblüffung stotterte: „Jesses! Michel! Was hast denn? Bist überg’schnappt? Oder hast ein’ Schwammer?“

„Ein’ Schwammer bloß?“ erwiderte der Simmerauer zwischen Lachen und Niesen. „Ah na! Ein’ ganzen Rausch hab’ ich! Ein’ ausg’wachsenen! Ja! Aber vom Wasser, weißt! Vom Wasser! Schau nur an, wie’s arbeit’t, das Wasser! Aber dem Häusl kann’s net an! Na na! Mein Häusl hat g’sunde Mauern! Dem hat der Berg mit seiner ganzen Lauferei nix machen können … dem kann auch ’s Wasser net an! Hatschiiiiih!“ Wäre die Sonne, welche die östlichen Grate vergoldete, schon in der Höhe gewesen, es hätte um Michels Nase her den schönsten Regenbogen gegeben.

„Aber helfen muß man dem Häusl halt, schön fleißig helfen, ja! Und gelt, Schorschl, hilfst mir ein bißl mit, daß wir ’s Wasser in die Gräben ’nüberdrucken?“

„No freilich, Michel! Deßwegen bin ich ja da! Und gleich pack’ ich’s an! Wo kannst mich denn brauchen?“

„Komm nur her da!“

Schorschl wollte den Pickel fassen, doch er zögerte und sah mit ratlosem Blick zum Brunnen hinüber. Es war ihm jener Herbstmorgen eingefallen, an welchem er dem Simmerauer mit so ehrlichem Willen seine Hilfe angeboten hatte – und da klangen ihm wieder Vronis zornige Worte im Ohr: „Na, Vater! Wenn wir allein unser Häusl net halten können … der hilft’s uns g’wiß net halten! Dem lauft ja ’s eigene Haus davon! Was der anrührt, schwimmt ’nunter in’ Bach! Der hat keine guten Händ’! Bleiben wir lieber allein, Vater!“

Schorschl wurde bei dieser Erinnerung rot wie ein Krebs und kraute sich unschlüssig hinter den Ohren.

„So geh’, Schorschl, mach’ weiter!“ rief der Simmerauer, während Mathes kam, um dem Daxen-Schorschl zum Gruß die Hand zu reichen.

Den schweren Atem durch die Nase blasend, spähte Schorschl ins Thal hinunter, in welchem das Dach seiner Schmiede mit dem spitzen Giebel deutlich hervorstach zwischen den anderen Dächern.

Dieser Anblick schien ihm Mut zu machen. Mit dem Ellbogen schob er die Hand zurück, die ihm Mathes reichte, und machte ein paar Schritte gegen den Brunnen.

Noch immer kehrte ihm Vroni den Rücken zu; sie schien nicht zu merken, was hinter ihr vorging, und arbeitete mit solcher Hast, als wäre für die Rettung des Hofes kein Augenblick zu verlieren.

„He! … Du! … Madl!“ klang es mit würgenden Lauten aus Schorschls Kehle.

Vroni ließ den Spaten ruhen und blickte langsam auf.

Als Schorschl diese glänzenden Augen sah, blies er die Backen auf, als ob ihm schwül wäre, und fragte kleinlaut: „Geh, sag’ … verlaubst mir’s denn, daß ich ein bißl mithilf’?“

Der Simmerauer machte große Augen, stemmte kopfschüttelnd die Fäuste in die Hüften und wandte sich zu seinem Buben: „Was treibt er denn da? Hab’s ihm ja ich schon verlaubt! Warum muß er denn erst noch ’s Madl fragen?“

„No mein’,“ flüsterte ihm Mathes zu, „haben thun s’ halt was miteinander, die zwei!“

„Ah! Da schau Dir an!“ Michel mußte niesen. Dann fuhr er sich mit dem Hemdärmel über die Nase und wiegte schmunzelnd [720] den weißen Kopf. „No ja … wär’ gar net einmal so übel … mein Madl und der Schmied! Jetzt hat er sein’ Sach’ wieder nobel bei ’nander!“ Mit vergnügten Augen musterte er das Paar und war sichtlich gespannt, was jetzt geschehen würde.

Vroni hatte den Spaten in die Erde gestoßen, und, sorgfältig die Hände an der Schürze säubernd, ging sie auf den Daxen-Schorschl zu. Wie hübsch sie war: mit diesem leuchtenden Blick in den nußbraunen Augen, mit dieser glühenden Röte auf den von der Arbeit erschöpften Zügen!

„Grüß Dich Gott, Schorschl!“ sagte sie beklommen und bot ihm die Hand, die er mit seinen schwieligen Rußpranken haschte, wie der Geier den Hasen greift. „Und ja, ich thät Dich schon selber recht schön drum anreden, daß dem Vater ein bißl hilfst! Ja … schau, auf Deine Händ’ liegt der Segen,“ sie hob die glänzenden Augen zu ihm auf, und herzliche Bitte lag in diesem Blick, „und solchene Händ’ sind allweil gut zur Hilf!“

Schorschl hielt zitternd die Hand des Mädchens umklammert, lachte nur immer wie ein unbehilfliches, verlegenes Kind und brachte kein Wort über die Lippen.

„Der is ja rein wie’s Staarl, eh’s reden kann!“ meinte der Simmerauer mit Schmunzeln. „Dem muß ich wohl ’s Züngerl lösen?“

Aber Mathes zog ihn am Aermel zurück. „Geh, Vater, laß die zwei ihr Sach’ allein miteinander ausmachen!“

„Ja, hast recht!“

Michel griff nach der Schaufel, nieste ein paarmal und nahm die Arbeit wieder auf. Da hörte er hinter sich zwar noch immer kein Wort aber einen klingenden Jauchzer und platschende Sprünge im nassen Schlamm. Und plötzlich stand der Daxen-Schorschl mit dem Pickel neben ihm, lachend über das ganze Gesicht, mit knallroten Wangen und blitzenden Augen.

„So, Vaterl, jetzt packen wir’s an!“ sagte er und that mit dem Pickel den ersten Streich. „Wart’ nur, das Luderwasser wollen wir bald unterkriegen!“

Schorschl begann zu arbeiten, daß der Simmerauer ein paarmal mahnen mußte: „Geh, thu nur net gar so narrisch!“ Aber in Schorschls Fäusten schien im besten Sinn des Wortes der „Loder“ lebendig geworden, von dem es in den Lumpen-G’stanzeln seligen Angedenkens hieß, daß er zwanzigmal im Tag das Unterste zu oberst kehrt. Er drosch mit dem Pickel drauf los, daß sich mit jedem Riß des Eisens der das Gehöft begrenzende Wassergraben, in welchen die den Garten überschwemmenden Sturzbäche geleitet werden sollten, um einen guten Bauernschuh erweiterte. So oft er für einen Augenblick die Arbeit unterbrach, um sich mit dem Aermel über die Stirn zu wischen, blinzelte er seelenvergnügt zum Brunnen hinüber, von wo ihm Vroni lächelnd zunickte.

Die Sonne kam hinter den schattigen Felsengraten emporgestiegen, ein warmes Leuchten goß sich über den blauen, wolkenlosen Frühlingshimmel aus, breite Fluten goldenen Morgenlichtes schwammen über die Gehänge des zur Ruhe gekommenen Berges hernieder und spielten schmeichelnd um die von den Wellen umrauschten Mauern des kleinen Hauses. Alle die Sturzbäche schienen in blitzendes Silber verwandelt, jeder Tümpel spiegelte das Himmelsblau, und während von der Sonnenwärme die feuchten Flecken am Sockel des Hauses zu trocknen begannen, kräuselten sich die zarten, bläulichen Wasserdünste spiegelnd an den Mauern empor.

Dieses Schimmern und Gleißen der Morgensonne goß den von der Arbeit Erschöpften neue Kraft und frischen Mut ins Herz und in die Glieder. Nur der alte Michel hatte über die Sonne zu schelten, denn dieses Glitzern und Blenden machte ihn niesen und immer wieder niesen, so daß ihm die Nase schwoll wie ein gebratener Apfel.

Schorschl stand fast eine Stunde schon bei der Arbeit, als seine Gesellen endlich kamen. Sie brachten aus dem Dorf noch ein paar andere Helfer mit. Und da gab es nun bei rastlosem Schaffen ein Reden hin und her über allen Schaden, den der laufende Berg seit dem Herbste angerichtet, über die löbliche Thatsache, daß er „jetzt endlich ein bißl Verstand ang’nommen hat’“, und über die Gefahr, die das ausgebrochene Wasser drunten im Thal den frisch bestellten Saatfeldern gebracht hätte. Da bekamen sie nun in der Simmerau auch das erste Wort von dem Unglück zu hören, das am vergangenen Abend im Purtschellerhof geschehen war. Und der Jammer um das verlorene Kind, erzählte einer der Gesellen, wäre nicht der einzige, den die arme Frau dort unten zu tragen hätte. „Grad’ jetzt haben wir’s g’hört drunten: der Purtscheller geht ab seit gestern am Abend. Mit ’m Rennwagl is er ’neing’fahr’n in d’ Stadt, daß er sich stellt beim G’richt und sein Unglück zur Anzeig’ bringt. Aber mitten in der Nacht is sein Rößl daherkommen, ohne Wagen, mit der ab’brochenen Gabel und so schauderhaft zug’richt’t, daß man dem armen Tier gleich den Gnadenstoß hat geben müssen, damit man’s doch von seinen Leiden erlöst. Und in der Nacht noch hat sich d’ Frau mit all ihre Leut’ aufg’macht gegen d’ Stadt ’nein … den Purtscheller suchen!“

„Um Gott’swillen! Ja um Gott’swillen!“ stammelte Michel, dem dieser fremde Jammer zu Herzen ging wie eigenes Leid. „Die arme Linerl, die arme! Die muß sich ja gar nimmer z’helfen wissen vor lauter Prast und Kümmernis! Mathes, Mathes! Ja sag mir nur …“ Dem Alten erlosch vor Schreck die Sprache, als er seinen Buben ansah. Zitternd auf den Stiel der Schaufel gestützt, bot Mathes den Anblick eines Menschen, dem das Leben aus dem Herzen rinnt, wie Blut aus einer klaffenden Wunde.

Michel sprang auf ihn zu. „Mein Bub, mein lieber! Jesus Maria! Was is Dir denn’?“

Mathes starrte die Leute an, die um ihn her standen, und tonlos kam es über seine weißen Lippen: „Ich weiß net, Vater … so g’spaßig in die Knie’ ’nein is mir’s g’fahren … ich mein’ schier, ich muß ein bißl in d’ Stuben und muß mich niedersetzen!“

„Ja, Mathes! Ja, mein Bub! Geh’ nur ’nein gleich auf der Stell’! Schau nur an: hast Dir halt doch ein bißl gar z’viel zug’mut’t die ganzen Tag’ und Nächt’ her! Und jetzt noch so was anhören müssen! Da glaub’ ich’s freilich!“

Michel wollte den Wankenden stützen. Aber Vroni, welche mit bleichem Gesicht Vom Brunnen gekommen war, hatte schon den Arm des Bruders genommen. „Komm, Mathes, ich führ’ Dich ’nein ins Haus!“

Er stützte sich schwer auf ihren Arm, und seine Kniee taumelten, als müßte er niedersinken bei jedem nächsten Schritt. Mit entstelltem Gesicht und nassen Augen blickte er zur Schwester auf und stammelte: „’s Linerl, Vroni! … ’s Linerl! … Und das liebe, gute Kindl!“

Vroni schwieg: sie wußte keinen Trost für den Schmerz, der aus diesem verstörten Blick und aus diesen tonlosen Worten redete. Noch fester klammerte sie den Arm des Brnders an sich, während ihr die Thränen über die zitternden Lippen rollten.

Im Hausflur kniete Mutter Katherl mit durchnäßten Röcken auf den Dielen und suchte mit einer Holzkelle das Wasser aufzuschöpfen, das vom Hof herein über die Schwelle geronnen war und die Küche überschwemmte. Als die beiden kamen, erhob sich die alte Frau erschrocken. „Um Christi willen! Mathes? Was is Dir denn?“

„Nix, Mutterl! Thu Dich net sorgen!“ sagte Vroni mit erzwungener Ruhe. „Ein bißl ungut is ihm halt! Und jetzt grad’ haben wir hören müssen …“

Ein flehender Blick des Bruders machte sie verstummen.

Sie führte ihn in die Stube und zur Holzbank. Da saß er mit schlaff hängenden Armen, den Kopf an die Wand gelehnt. Mit erloschener Stimme sagte er ein Vergeltsgott zu allem, was die Mutter in ihrer Sorge für ihn that; er leerte das Gläschen Enzian, das sie ihm brachte, und aß den Bissen Brot, den sie ihm zwischen die Lippen schob. Und als sie fragte: „Is Dir schon besser, Bub?“ da nickte er und sagte: „Ja, Mutter! Ich mein’, jetzt kann ich dem Vater schon wieder helfen … er braucht mich, weißt!“

„Aber geh’, so thu Dir doch grad’ ein bißl Rast vergönnen!“

„Na na!“ Schwer atmend erhob er sich. „Es geht schon wieder!“ Als er vor die Hausthür trat, irrte sein Blick hinunter ins Thal. Rote, brennende Flecken erschienen auf seinen bleichen Wangen, und mit zitternder Hand fuhr er sich über die Stirn, wie um einen Gedanken zu verscheuchen, der ihn marterte.

„Wie geht’s Dir denn, Mathes?“ fragte der Vater.

„Dank’ schön, ja, es thut’s schon!“

„Aber magst net lieber bei der Vroni drüben schaffen? Da hast es leichter.“

Mathes schüttelte den Kopf und stellte sich neben Schorschl an die Stelle, wo es die schwerste Arbeit zu leisten gab.

In hartem Schaffen vergingen die Stunden des Vormittags. Dem rastlosen Kampf all dieser fleißigen Arme gelang es, die den Garten überschwemmenden Sturzbäche in die beiden Bergfurchen abzuleiten, welche die Simmerau zur Rechten und Linken begrenzten, und im Hof begann die Sonne schon den aus dem verrinnenden Wasser auftauchenden Grund zu trocknen.

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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 43, S. 735–739

[735] Ueber die helle Freude, mit welcher Michel und die Seinen nach all dieser harten Prüfung jetzt die Rettung ihres Heimwesens hätten begrüßen können, war der dunkle Schatten gefallen, der vom Purtschellerhof den Weg in die Simmerau gefunden hatte.

Auch Schorschl, der zu Beginn der Arbeit in glücklich übermütiger Laune jeden Pickelhieb am liebsten mit einem Jauchzer begleitet hätte, robottete Stunde um Stunde in gedrückter Stimmung. Mit tiefem und herzlichem Erbarmen dachte er der unglücklichen Frau dort unten und dennoch verstand er nicht, wie Vroni und Mathes dieses Unglück so schwer nehmen konnten, als hätt’ es nicht fremde Menschen, sondern sie selbst getroffen. Doch ohne klar zu sehen, litt er in seinem verliebten Herzen unter der Sorge und bangen Erregung, die er auf Vronis Züge geschrieben fand, und immer wieder konnte er den scheu bekümmerten Blick gewahren, mit welchem die Schwester den Bruder suchte.

Mathes hatte, seit er die Arbeit wieder aufgenommen, kaum ein Wort gesprochen. Er arbeitete wie einer, der nicht weiß, was seine Hände treiben und was rings um ihn her geschieht. Nur manchmal ließ er den Pickel ruhen, richtete sich schwer atmend auf, wischte mit dem Aermel über die Stirn und spähte verstörten Blickes ins Thal hinunter.

Als drunten die Elfuhrglocke gezogen wurde, traten die paar Leute, die mit den Schmiedegesellen zur Hilfe in die Simmerau gekommen waren, den Heimweg an. Und wenige Stunden später war man des Wassers so weit Herr geworden, daß Schorschl auch die beiden Gesellen heimschicken konnte. Die Bäche, welche von der Höhe des Berges niederströmten, begannen spärlicher zu fließen [736] und sprudelten auf den Wegen, die ihnen die Arbeit der Menschenhände angewiesen hatte, mit gleichmäßigem Rauschen zu Thal. Nur einige Gräben waren noch zu ziehen, um das nachquellende Sickerwasser vom Sockel der Mauern abzuleiten.

Als auch dieses Letzte gethan war, legte Michel erschöpft den Spaten aus der Hand und sagte: „Jetzt haben wir’s! Und Gott sei Dank, muß ich sagen … denn lang’ hätt’ ich’s nimmer weiter g’macht! Jetzt bin ich fertig, ja! Jetzt geht’s mir wie dem Mathes … jetzt muß ich ’nein in d’ Stuben und muß mich niedersetzen!“ Langsam und mit gekrümmtem Rücken ging er zur Hausthür. Vor der Schwelle blieb er aufseufzend stehen, und während er an der Mauer seines Hauses hinaufblickte, erwärmte ein zufriedenes Lächeln seine welken, müden Züge. „Die Kammissoni! Schau Dir nur an! Die g’scheite Kammissoni! ’Nunter, hat s’ g’meint, ’nunter wird’s noch müssen, mein Häusl! ’Nunter? So so?“ Zärtlich strich er mit den schlaffen Händen über die feuchte, des Mörtels halb entkleidete Mauer. „Gelt, mein Häusl! Jetzt haben wir Dich aber mit Gotteshilf’ halt doch schön sauber durch ’bracht! Ja!“ Er wollte in den Hausflur treten: doch auf der Schwelle wandte er das Gesicht. „Vergeltsgott, Kinder! Fest habts mitgeholfen! Ja! Das muß ich sagen! Vergeltsgott, meine lieben Kinder!“

„Geh, Vater,“ sagte Mathes mit erloschener Stimme, „da braucht’s doch kein Vergeltsgott! Jetzt laß Dir halt d’ Ruh’ schön schmecken!“

„Ja, Bub! Ja! Die laß ich mir schmecken jetzt!“ Nickend wischte sich Michel den Schweiß von Stirn und Wangen und trat ins Haus.

Mathes arbeitete noch eine Weile, dann stellte auch er die Schaufel an die Mauer und wusch sich am rauschenden Bach die Hände und das Gesicht. Mit schmerzlichem Lächeln nickte er der Schwester und dem Daxen-Schorschl zu, sprang über den Bach, stieg mit schweren Schritten über den verwüsteten Grashang hinauf, und bei der kahlen Haselnußhecke, aus deren Zweigen er einst als Knabe die lustig tönenden Pfeifen für das kleine Linerl geschnitten hatte, setzte er sich in die Sonne. Die zitternden Arme um seine Kniee schlingend, spähte er mit heißen Augen hinunter ins Thal.

Schorschl und Vroni wußten nicht, was sie jetzt noch schaffen sollten. Aber sie machten sich bald hier, bald dort noch ein bißchen Arbeit, und dabei gingen sie schweigend und verlegen aneinander vorüber. „No ja,“ sagte Schorschl endlich mit unsicherer Stimme, während er mit einem Span den Schlamm von seinem Pickel kratzte, „d’ Arbeit is gar … jetzt kann ich heimmarschieren!“ Er hob den Pickel auf die Schulter. „Oder net, Madl?“

Da kam sie mit glühendem Gesicht auf ihn zugegangen und legte die Hand auf seinen Arm. „No schau … jetzt hast Dich so viel plagt … so kann Dich d’ Mutter jetzt doch net heimgehen lassen! Magst net zum Essen dableiben?“

„Freilich! Ja freilich!“ stotterte er und sah sie mit glücklichem Lachen an. „Das kannst Dir doch denken, daß ich gern dableib’! Recht gern!“

„No also!“ Sie atmete erleichtert auf. „Bleibst halt da!“ Die nassen Hände an der Schürze trocknend, ging sie zur Hausbank. Und als sie saß, rückte sie gleich auf die Seite, damit er neben ihr sein bequemes Plätzchen hätte.

„Mit Verlaub!“ sagte er, lehnte den Pickel an die Mauer und setzte sich auf die Kante der Bank.

Broni sah ihn verwundert an. „So geh! Ruck doch ein bißl zu! Es is ja Platz da!“

Da rutschte er gleich so dicht heran, daß sein Ellbogen den ihren drückte. Dazu lachte er mit dem ganzen Gesicht. „Ja ja ja ja … so geht’s halt!“ Etwas Klügeres fiel ihm nicht ein.

Das machte sie verlegen. Und dann sprang sie auf.

„Was is denn?“ stotterte Schorschl erschrocken. „Wirst doch um Gotteswillen jetzt net davonlaufen?“

„No ja,“ stammelte sie, „ich muß doch sagen drin, daß d’ Mutter mit’m Essen auf Dich antragt!“

„Aber kommst gleich wieder, gelt?“

„Ja, gleich wieder!“ Sie huschte ins Haus und fand die Mutter in der Küche beim flackernden Herdfeuer. „Du, Mutterl,“ sagte sie und suchte mit den Händen das heiße Gesicht zu kühlen, „der Schorschl bleibt da zum Essen!“

In Mutter Katherl schien eine Ahnung aufzudämmern. „Was? Der Schorschl? Gleich da bleiben thut er? Ah, da schau her!“

„Aber Mutter! Das bißl Mittagmahl hat er sich heut’ doch ehrlich verdient, mein’ ich … und mehr hab’ ich net g’sagt!“

„Na na! Gott bewahr’!“ Mutter Katherl schmunzelte gerührt und vergnügt. „Mehr hast net g’sagt!“

„Geh, Du … der da draußen plagt mich … und jetzt plagst mich Du auch noch!“ Mit schwerem Seufzer verließ Vroni die Küche; doch im Flur fragte sie über die Schulter: „Sag’, Mutter! Hast doch ein bißl was gut’s?“

„Ja! Tirolerknödel mach’ ich!“

„Gott sei Lob und Dank! Die macht Dir so gut net bald eine nach! Die müssen ihm schmecken!“

Mit sichtlich erleichtertem Herzen kehrte Vroni zur Hausbank zurück. Schorschl haschte ihre Hand und wollte sie an seine Seite ziehen. Aber sie machte sich verlegen wieder los, ging zum Fenster und spähte in die Stube.

„Da schau her!“ sagte sie lächelnd. „Der Vater is schon drüben … auf der Ofenbank liegt er und schlaft!“

„Geh? Is’ wahr?“ Auf den Fußspitzen kam Schorschl zum Fenster geschlichen, legte den Arm um Vronis Schultern, schmiegte seine Wange an die ihre und so guckten sie alle beide in die Stube.

„Ja, Du,“ flüsterte Vroni, „so fest und gut hat er fein schon lang’ nimmer g’schlafen!“

„Da müssen wir ihm aber das bißl Schlaf vergunnen und müssen uns schön stad halten!“ zischelte Schorschl, während er den Arm noch enger um das Mädchen schlang. „Komm, Schatzl, setzen wir uns wieder auf d’ Hausbank … sonst rumpelst am End’ noch ans Fenster an und weckst den Vater auf!“

„Ja, hast recht!“

Mit glänzenden Augen blickte sie zu ihm auf und ließ sich führen.

Da saßen sie nun in der warmen Sonne des Nachmittages, Wange an Wange geschmiegt, mit fest verschlungenen Händen. Verträumt und alles um sich her vergessend lauschten sie dem eintönigen Rauschen der Bäche und genossen wortlos die erste Freude ihres jungen Glückes, mit dem sie schneller fertig waren als Mutter Katherl mit ihren Tirolerknödeln.

Während Schorschl die Geliebte umfangen hielt, suchte er mit lachenden Augen drunten im Thal das Dach seines Hauses. „Die Bäckenmahm’! Jesses na! Die wird aber d’reinschauen!“ dachte er sich. Als er diesen Gedanken aussprechen wollte, sah er, daß Vroni, deren Kopf an seiner Zchulter ruhte, die Augen geschlossen hatte. Scheu streifte er mit den Lippen ihre zerzausten Haare und flüsterte: „Herzerl? Schlafst denn?“

Tiefatmend öffnete sie die Augen, blickte in Verwirrung zu ihm auf und stammelte: „Aber na, so was! … No schau, ich hab’ halt ein bißl viel schaffen müssen die letzten Tag’ und Nächt’ her … und da hab’ ich jetzt so ein schön’s und ein warm’s Platzl g’habt … und so viel gut is mir’s Rasten g’wesen … meiner Seel’, da wär’ ich jetzt schiergar ein bißl eing’schlafen! Bist mir doch net harb d’rum, gelt?“

„Aber na! Gott bewahr’! Ich kann mir’s ja denken, daß D’ müd’ bist!“ Er preßte sie zärtlich an sich. „Ich thu mich recht schön stad halten … schenier’ Dich nur gar net und mach’ Deine lieben Guckerln wieder zu!“

„Na na!“

„So geh’, warum denn net?“ Er wollte ihren Kopf recht bequem an seiner Schulter betten und diese Gelegenheit auch gleich benutzen, um ihr den ersten Kuß zu geben.

Aber das wehrte sie ihm erschrocken und blickte scheu über den Wiesenhang hinauf. „Geh, Schorschl, net! … Jetzt net! … Weißt, der Mathes schaut her … und das möcht’ ich doch net, daß er jetzt so was sehen muß!“

Er begriff diese Sorge nicht und verstand ihre Worte falsch. „Geh, was hast denn?“ sagte er schmollend. „Der Mathes weiß doch eh’ schon lang, wie’s steht mit uns! Und schenieren mußt Dich doch auch net wegen meiner! Ich bin ja nimmer der Schorschl, der ich g’wesen bin! G’wiß wahr! Jetzt bin ich ein anderer!“

„Ja, Schorschl! Ein ganz ein anderer!“ Sie sah mit stolzer Freude zu ihm auf. „Du! Das hab’ ich fein lang’ schon g’merkt!“

„Und so bleib’ ich, weißt! Denn was bei mir einmal richtig drinsitzt im Blut, das laßt nimmer aus. Das bleibt! Ja! Grad’ so wie die drei weißen Stricherln da …“ er zeigte ihr die Hand mit den Kratznarben, „die sieht man noch allweil! Da schau her!“

Als sie schwieg und ihn so merkwürdig ansah, lachte er. „Ich trag’ Dir’s fein gar net nach! Ah na! Weißt, ich an Deiner Stell’ [738] hätt’ selbigsmal auch ’kratzt! … Ja, ich weiß schon: ein bißl gar grob hab’ ich zugriffen!“

Sie machte immer größere Augen. „Aber Schorschl! Was red’st denn jetzt da? Wer soll Dich ’kratzt haben? Ich?“

„Geh!“ Er blinzelte sie lustig an. „Verstell’ Dich net so … Du!“

„Aber Schorschl!“ Sie sah seine Hand an, sah ihm wieder in die Augen und schüttelte den Kopf. „Und jetzt fallt’s mir auch wieder ein, wie D’ allweil g’red’t hast im Herbst … Katzerl, Katzerl … allweil: Katzerl! Jetzt möcht’ ich doch endlich wissen …“

„Ah, da hört sich doch alles auf!“ Er lachte, schien aber dabei doch zu denken, daß sie die Verstellung ein wenig zu weit triebe. Aber ihre Augen sahen ihn so ehrlich an und der Ausdruck ihrer Züge war so wahrhaft erstaunt, daß Schorschl verblüfft sein Lachen einstellte und nicht mehr wußte, was er glauben sollte. „Vronerl! No geh! Weißt es denn wirklich nimmer?“

„Was denn?“

„No ja … selbigsmal in der Nacht …“ Er hob die Hand und machte mit gekrümmten Fingern eine leicht verständliche Bewegung.

Dennoch verstand sie nicht und schüttelte wieder den Kopf. „Wann in der Nacht?“

„Aber geh’! So b’sinn’ Dich doch ein bißl! Wie ich’s zweite Mal bei Dir am Fensterl war!“

„Du? … ein zweitsmal? Da weiß ich ja gar nix davon!“

„Aber hörst!“ Jetzt schüttelte auch er den Kopf. Und nur ihre so vollständig eingeschlummerte Erinnerung wieder zu wecken, wurde er immer deutlicher und erzählte immer ausführlicher von jener stillen, stockfinsteren Nacht, in welcher er vor einem „g’wissen Fensterl“ all seine guten Vorsätze gebeichtet und um freundlichen Beistand auf dem harten Weg seiner Besserung gebettelt hatte.

Bald gerührt, bald wieder seltsam gespannt und beklommen hörte ihm Vroni zu. Verdächtig begann es um ihre Mundwinkel zu zucken und ehe Schorschl noch völlig zum Ende jener nächtlichen Fenstergeschichte kam, brach Vroni plötzlich in lautes Lachen aus. Das war ein Lachen, so hell und lustig, wie man es seit Jahresfrist in der Simmerau nicht mehr gehört hatte.

Mutter Katherl erschien mit dem Kochlöffel in der Hausthür und zog, um von dem jungen Paar nicht bemerkt zu werden, hurtig und schmunzelnd den grauen Kopf wieder zurück. In der Stube erwachte Michel aus seinem Schläfchen, kam verwundert zum Fenster, drückte die Nase an die Scheibe und lächelte zufrieden. Und droben auf dem verwüsteten Grashang, bei den kahlen Haselnußstauden, erhob sich Mathes und blickte auf das kleine Haus hinunter, als hätte ihn dieses laute, herzliche Lachen aus schweren Träumen geweckt.

Nur Vroni selbst erschrak vor diesem Lachen. „Jesus Maria!“ stammelte sie, gewaltsam gegen den Lachreiz kämpfend, der sich nicht wollte unterdrücken lassen. „Lachen kann ich! Lachen! Und da droben der Mathes … und da drunt’ im Dorf …“ sie sprach nicht zu Ende, denn ob sie wollte oder nicht: sie mußte lachen! Und dabei kamen ihr die Thränen.

Schorschl saß neben ihr wie ein begossener Pudel. Jetzt verstand zur Abwechslung er nicht! Er mußte mitlachen, denn der Frohsinn dieses Lachens wirkte ansteckend; aber er war doch so verblüfft, daß er eine Weile brauchte, bis er die Frage fand: „Aber Madl? Jesses na! Was hast denn? Bist denn narrisch worden?“

„Schorschl … Schorschl …“ Vroni preßte die Hände auf ihre Brust, denn dieses Lachen wider Willen that ihr weh. „Aber Schorschl! Ich hab’ ja doch selbigsmal gar net in meiner Kammer g’schlafen!“

„Was?“ Schorschl riß die Augen auf, so weit er konnte. „Ja sag’ mir um Gott’swillen: bei wem hab’ denn ich nachher g’fensterlt?“

„Bei unserm Katzl!“ Lachen konnte sie nicht mehr – jetzt mußte sie schreien.

Schorschl verstand nicht gleich. Dann aber kam ihm die Erleuchtung, und er platzte los. Vroni suchte ihn zu beschwichtigen, und die eigene Lachlust mühsam bekämpfend, stammelte sie ein um das andere Mal: „Net so laut, Schorschl … ich bitt’ Dich, net so laut!“ Aber es währte lange Zeit, bis er sich beruhigen konnte.

Die Zähren von den Backen wischend und erschöpft vom Lachen, schlang er den Arm um Vroni. „Sag’ mir, Schatzerl … wenn Du in der Kammer g’wesen wärst … hättst Du mich auch ’kratzt?“

Sie besann sich. „Na, Schorschl … ich glaub’ doch net!“

Ganz gerührt von diesem Bekenntnis, wollte er sie küssen. Aber da stand Mathes vor ihnen, und erschrocken schob Vroni den Geliebten von sich. Mit nassen Augen blickte sie zu dem Bruder auf und stotterte: „Geh, thu mir net harb sein, Mathes … ich hab’ lachen müssen … schau, ich kann net anders …“

Stieg ihm das warme Blut in die bleichen Wangen, oder war’s nur die Sonne, die seine vergrämten und erschöpften Züge so warm überhauchte? Er lächelte, und dem jungen Paar seine Hände auf die Schulter legend, sagte er: „Schau, Schwester, so von Herzen, wie ich, vergönnt Dir keiner Deine junge Freud’! Seids halt gut miteinander! Und thuts fest z’sammhalten in Lieb’ und Treu’! Sonst hat ja ’s Leben kein’ Wert!“ Er wollte ins Haus treten; doch auf der Schwelle wandte er sich um und fragte, ohne die Schwester anzusehen: „Thust nur ein G’fallen, Vroni?“

„Ja, Mathes!“ sagte sie, mit Thränen in der Stimme. „Alles thu ich Dir, was D’ willst.“

„So mach’ nach’m Essen ein Sprüngerl ’nunter zu ihr, gelt? Damit s’ doch ein’ Menschen hat!“

„Ja, Mathes, gleich auf der Stell’ geh ich ’nunter!“ Und zögernd fragte sie: „Magst net mit?“

Er preßte die Lippen aufeinander, daß sie weiß wurden, und schüttelte den Kopf.

Als Mathes in der Thür verschwunden war, erhob sich Schorschl mit ernstem Gesicht. Er mochte empfunden haben, daß hier neben seinem hellen Glück ein dunkler Schatten das kleine gerettete Haus umwandelte. Er wollte fragen, doch er brachte nur ein einziges Wort über die Lippen: „Schatzerl?“

Dem Schluchzen nahe, schlang Vroni die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, als hätte sie Angst, ihn zu verlieren. Und in heißer Liebe erwiderte sie seinen ersten Kuß.

Mutter Katherl rief aus dem Hausflur: „Kommts, Kinder, ich hab’ schon auftragen!“

Das gab eine stille Mahlzeit. Dem Alten fielen während des Essens vor Müdigkeit schon halb die Augen wieder zu, und Mutter Katherl stach in schweigsamer Fürsorge einen Knödel um den anderen aus der Schüssel heraus und legte ihn schmunzelnd auf Schorschls Teller. Mathes sprach kein Wort und aß kaum einen Bissen – und das verliebte Paar bedurfte der Sprache nicht; das hatte sich genug mit den Augen zu sagen.

Hier weilte die wortlose Freude vertraulich neben dem stummen Schmerz, so wie an einem stillen Abend der Tag einhergeht neben der Nacht. Doch wenn die Sonne zu sinken droht, verspricht sie mit ihrem letzten flammenden Gruß: Ich komme wieder, verjage die Nacht, und dann herrsch’ ich allein!

Als die Mahlzeit vorüber und das Gebet gesprochen war, sagte Vroni: „Vater? Verlaubst mir’s, daß ich ein bißl ’nunterschau zur Linerl?“

„Ja, Madl, gern! Und thu mir s’ grüßen, die arme, gute Frau! Gleich morgen geh’ ich selber ’nunter, heut kann ich nimmer! Wie abg’schlagen sind mir d’ Füß’! … Und gelt, bring’ mir die Kinder mit heim! So viel bangen thut’s mich nach die lieben Hascherln … und jetzt haben s’ ja wieder ihr sicheres Bleiben im Häusl da! Gott sei Dank! … Und thu mich aufwecken, gelt, wenn die Kinderln heimbringst! Denn heut schlaf’ ich gleich ein! Ja! Gleich!“ Er humpelte zur Kammerthür, und in seiner Müdigkeit vergaß er völlig, dem Daxen-Schorschl gute Nacht zu wünschen.

Die Almen und Felsenzinnen leuchteten im Gold des Abends, und die ersten grauen Schatten verschleierten schon das tiefe Thal, während Vroni und Schorschl am Ufer des neu entstandenen Bergbaches über die Gehänge hinunterstiegen.

Mathes stand bei der halb zerstörten Scheune und blickte den beiden nach.

So lange Vroni ihn sehen konnte, winkte sie immer wieder mit der Hand zu ihm hinauf. Als die Hügel ihn endlich verdeckten, seufzte sie und umklammerte die Hand des Geliebten.

„Geh, sag mir’s,“ flüsterte Schorschl, „was hat er denn, der Mathes?“

„Du därfst es ja wissen jetzt …“ scheu blickte sie um sich, als hätte sie Sorge, daß jemand in der Nähe wäre, der sie hören könnte. Und ganz leise wisperte sie: „’s Linerl hat er gern!“

Der stammelnde Laut, den Schorschl zur Antwort fand, ging unter im Rauschen des Baches. Doch hinter seinem Schreck kam [739] gleich die Freude wieder: daß die Geliebte sich eins mit ihm fürs Leben fühlte, das hatte ihm kein Händedruck, kein leuchtender Blick und auch nicht ihr Kuß so deutlich gesagt wie dieses leise, zitternde Wort, mit dem sie ihm das Geheimnis des Bruders anvertraute! In tiefer Bewegung umschlang er sie.

Und da blickte sie zu ihm auf und flüsterte: „So viel gut bin ich Dir … schau, so viel gut!“

„Und auf mich kannst Dich verlassen! Fest, sag’ ich Dir … fest!“

Weiter sprachen sie kein Wort. Eng aneinander geschmiegt, stiegen sie Schrittlein um Schrittlein thalwärts im stillen, leuchtenden Frühlingsabend.

Am Himmel glomm der Schein des ersten Sternes auf, als man drunten im Dorf den Abendsegen läutete.

Der schwebende Hall war schon eine Weile verstummt – da wurde noch eine andere Glocke gezogen: das Zügenglöckl, das einen Tod verkündete.

Die beiden hörten den klagenden Ton dieser Glocke nicht. So ganz versunken waren sie in ihr lebendes Glück!

Es wurde dunkler Abend, bis sie das Dorf erreichten. Sie hatten den Weg an der Daxen-Schmiede vorüber genommen, und so sehr es Vroni zu Karlin’ zog, auf ein Grüßgott mußte sie doch bei Schorschls „dickem Mutterl“ vorsprechen und sich ein „Schnauferl“ in der Luft des Hauses vergönnen, in dem sie wohnen und schalten sollte als junge Frau. In der durch die Fürsorge der Bäckenmahm’ so traulich verwandelten Stube fanden sie den Tisch gedeckt und daneben im Lehnstuhl die Mahm’, die seit der Heimkehr der Gesellen mit zappeliger Ungeduld auf ihr „Schorscherl“ gewartet hatte. Da gab es nun eine Scene, bei der die dicke Mahm’ vor freudigem Staunen dicke Thränen vergoß; und das „liebe Bildl“ des jungen Paares, beteuerte sie, thäte ihrem Herzen doppelt wohl nach dem jammervollen Anblick, den sie hätte mit ansehen müssen: vor einer Stunde, als sie im Lehnstuhl vor der Hausthür gesessen, hätte man den Purtscheller als stillen Mann auf der Straße vorübergetragen, und neben der blutigen Reisigbahre wäre die arme Frau gegangen – –

„Jesus Maria!“ stammelte Vroni, aus all der stillen Freude ihres Glückes aufgerüttelt. Und da war sie nicht mehr zu halten. „Ich bitt’ Dich, Schorschl, hol’ mir die Kinder von der G’vatterin … ich lauf zur Linerl ’nüber …“ Sie stürzte davon und hörte nicht mehr, was Schorschl ihr nachrief.

Eine halbe Stunde später stand der junge Schmied mit den beiden Simmeraukindern vor dem Purtschellerhof und wartete. Die Straßenlampe, die am Stamm einer Pappel hing, warf ihren matten Lichtschein über den dunklen Weg. Der Vorgarten des Purtschellerhauses war mit Leuten angefüllt; sie redeten halblaut zu einander, schlichen durch die Hausthür aus und ein, oder drängten sich um die Fenster, welche vom Schein der Wachskerzen wie festlich beleuchtet erschienen. Hastigen Schrittes ging der Pfarrer, der das weiße Chorhemd trug, an Schorschl und den Kindern vorüber, und ihm folgte der Meßner mit dem Weihbrunnkessel.

„Du?“ fragte das kleine Zenzerl den Daxen-Schorschl. „Thun s’ Hochzet halten da drin?“

„Ja, mein Mäderl!“ sagte Schorschl, von diesem Kinderwort erschüttert. „Freilich thut einer Hochzeit halten … Hochzet für alle Ewigkeit! Und ’s Bräutl heißt Leben, und der Hochzeiter heißt Stehnimmerauf!“

„Stehnimmerauf?“ plapperte das kleine Mäulchen und lachte. „Is das aber ein g’spaßiger Nam’!“

Neugierig lugten die Kinder nach den erleuchteten Fenstern und wollten wissen, wann die „Musi“ käme.

Schorschl vergaß zu antworten, denn er sah, daß sich Vroni durch die im Garten stehenden Leute gegen die Straße drängte. „Schatzer!!“ rief er. „Da bin ich schon!“

Sie zitterte vor Erregung an allen Gliedern und hatte verweinte Augen. „Schorschl, Schorschl,“ stammelte sie, während die beiden Kinder sich jubelnd an ihre Schürze hängten, „wie mich das arme Frauerl da drin derbarmt, das kann ich Dir gar net sagen! So gern wär ich d’ Nacht über blieben bei ihr … aber mit der eiskalten Hand hat’ s’ mir so viel lind über’s G’sicht g’strichen und hat’s Köpfl g’schüttelt … und g’sagt hat s’ kein Wörtl net!“ Sie brach in Schluchzen aus.

Das fanden nun die Kinder merkwürdig, daß bei einer Hochzeit geweint wurde. Doch Pepperl grübelte sich für dieses Rätsel eine Lösung aus: „Gelt, Vronerl, thust weinen, weil D’ jetzt schon heim mußt vom Tanzen? Geh, bleiben wir noch ein bißl da, bis d’ Musi anfangt!“

Erschrocken sah sie den Knaben an; aber als ihr Schorschl die Erklärung dieser Kinderworte zuflüsterte, sagte sie: „Ja, Schorschl, lassen wir s’ drauf! Besser, sie glauben an d’ Freud’ im Leben, als wie ans andere!“ Ihre Thränen von den Wangen trocknend, küßte sie die Kinder, kniete vor ihnen auf die Straße nieder, knöpfte ihnen die Kittelchen zu und wand ihnen die wollenen Tüchel fürsorglich um die Hälschen, damit sie die Kühle des Abends nicht spüren möchten.

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
Titel: Der laufende Berg
aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 44, S. 750–754

[750] Vroni nahm den Knaben an die Hand, Schorschl hob das Zenzerl auf seine Arme, und so stiegen sie durch die sinkende Nacht in die Simmerau hinauf. Der Mond kam über die Berge gestiegen und übergoß ihren Weg mit seiner silbernen Helle.

Der Kinder wegen sprachen sie mit keiner Silbe von dem doppelten Tod, dem dort unten die flackernden Kerzen leuchteten. Doch unermüdlich mußten sie Antwort geben auf all die Fragen der beiden Kleinen, für welche diese Wanderung durch die träumerische, vom Rauschen der Bäche erfüllte Mondnacht zu einem märchenhaften Ereignis wurde, das ihre kindlichen Herzen mit scheuer Lust und wohligem Gruseln erfüllte. In jedem kahlen Busch, dessen Zweige sich im fahlen Zwielicht bewegten, in jedem Felsblock, den der Mondschein umwebte, und im schwarzen Schatten jeder Bodenschrunde erblickten sie irgend etwas Geheimnisvolles. Der schwermütige Ruf eines Käuzleins machte sie zittern, und das muntere Geplauder der Bäche weckte ihre Neugier auf „die G’schichtln, die ’s Wasser erzählt“.

Geduldig schwatzte Schorschl mit ihnen und erzählte, was der Augenblick ihm eingab, harmlose Dinge, unter die sich zuweilen ein ernstes Wort mischte, dessen versteckten Sinn die Kinder nicht verstanden.

Das schwarze, verschobene Dach der Scheune tauchte hinter dem letzten Hügel hervor, den sie noch zu übersteigen hatten.

Da legte Vroni die Hand auf Schorschls Arm und flüsterte: „O mein Gott … schau, da droben steht er schon und wart’t!“

Das hatte sie kaum gesagt, als es wie ein erstickter Schrei über den Hügel herunterklang: „Vroni?“

Die Kinder erkannten die Stimme, winkten mit den Händen und schrieen in jubelnder Freude durch die Nacht hinauf: „Mathes! Grüß Dich Gott, Mathes! Ja! Wir kommen schon!“

Vroni nahm das Zenzerl von Schorschls Armen. „Gelt, Schorschl, bist mir net harb … aber jetzt thust mich allein lassen mit ihm?“

„Aber gern, Schatzerl! Schau, das begreif’ ich doch … könntst ja gar net aufrichtig reden mit ihm, wenn ich dabeisteh’. Gut’ Nacht halt, Schatzerl, gut’ Nacht für heut!“ Er wollte sie küssen.

Aber sie entzog sich ihm und flüsterte: „Geh, wart’ noch ein bißl … und nachher kommst noch ein Sprüngerl zu mir ans Fenster! Magst?“

„Ob ich mag? Da kannst noch fragen? Aber hörst! Acht Tag’ lang hock’ ich mich her da und wart’, wenn’s sein muß!“

Er ließ sich auf einen Felsblock nieder und trocknete sich die Stirn; so leicht das kleine Dirnlein auch war – bei dem langen, steilen Weg über die Halden herauf hatte ihm das Kind doch warm gemacht.

Als er Vroni mit den Kindern auf der Höhe des Hügels verschwinden sah, machte ihn der Gedanke an Mathes ganz beklommen. Aber verliebte Herzen schlagen flinke Purzelbäume über alle Tiefen weg – und so war auch der Daxen-Schorschl bald wieder mitten drin in seinem träumenden Glück. Das erste, was er sich ausdachte, war das Brautgeschenk, mit dem er Vroni am Hochzeitsmorgen überraschen wollte: eine silberne Halskette – eine ganz dünne, die nicht teuer ist, denn jetzt mußte er sparen! Aber an dem Kettlein sollten, schön in Silber gefaßt, jene dreißig Pfennige hängen, die er sich damals an jenem ersten Arbeitstag von Vroni verdient hatte. Diese drei Nickel, die er in all seinen Sorgen krampfhaft festgehalten, hatten ihm das Glück ins Haus gebracht!

Und die Bäckenmahm’ – das war sein zweiter Gedanke – die sollte es gut haben bei ihm! Der hatte er ja so viel zu danken! Denn eigentlich war doch sie es, die ihm geholfen hatte, indem ihr Unglück ihn zur Arbeit zwang. „Wenn die net so warm ’kriegt hätt’ in derselbigen Nacht, ich mein’ schier, es wär’ ein bißl kalt blieben bei mir in der Schmieden!“ Und gerade zur richtigen Zeit war die Hilfe gekommen – als er in seiner „Wildheit“ den Karren seines Glücks recht übel verfahren hatte! Bei diesem Gedanken durchlebte er in der Erinnerung wieder jene Begegnung am Rand des Straßengrabens – er hörte das Plumpsen und Kollern der Brotlaibe, sah Vronis zornblitzende Augen und hörte den sausenden Schwung der blauen Schürze.

Lachend duckte er den Kopf und wischte mit den Händen über die Wangen, als hinge ihm noch der Mehlstaub um die Ohren. „Sakra! Sakra! Das Madl hat die richtige Schneid’! Bei der muß ich mich gut aufführen … oder es kracht!“

So spann er in seinem warmen Glück einen fröhlichen Gedanken an den anderen und guckte mit lachenden Augen in den Mond. Als er nach geduldigem Warten endlich emporschlich über den Hügel, sah er, daß alle Fenster an dem kleinen Haus schon dunkel waren.

„Mar’ und Josef! Sie wird doch net schon warten auf mich?“

Da machte er lange Sprünge – und als er durch den verwüsteten Garten atemlos zur Mauer kam, an welcher der [751] angeschwemmte Schutt fast bis zur Höhe der Kreuzstücke lag, fand er richtig das kleine Fenster schon offen.

Ein „Bußl“, das kaum enden wollte, leitete die zärtliche Zwiesprach’ ein, die mit Lispeln und Flüstern durch das eiserne Fenstergitter gehalten wurde. Und schließlich gab es für den Daxen-Schorschl noch eine ungeahnte Ueberraschung.

„So, Schorschl! Jetzt is’ aber g’nug! Jetzt geh’ schön heim, gelt, und schlaf Dich g’hörig aus!“ so hatte Vroni gemahnt. „Hast Dich ja auch müd g’rackert den ganzen Tag über! Und morgen mußt wieder an d’ Arbeit! Gut’ Nacht, mein Liebster Du!“

„Gut’ Nacht, mein Schatzl, mein lieb’s!“

„Tausendmal gut’ Nacht!“ Erst noch ein Kuß, und dann kam der Nachsatz: „Aber wart’ ein bißl, jetzt kriegst noch was!“

„Was denn?“

„Paß nur auf!“

Vroni verschwand vom Fenster, und als sie wieder kam, sah Schorschl im Mondschein etwas blinken wie Gold.

Seine C–Trompete!

„Die hab’ ich g’funden und hab’ Dir s’ aufg’hoben, daß nix passiert dran!“

„Jesses na!“

In der ersten Freude dieses Wiedersehens wollte Schorschl die Trompete gleich an die Lippen setzen. Doch erschrocken griff Vroni mit beiden Armen zum Gitter heraus und stotterte: „Aber Schorschl! Was fallt Dir denn ein!“

„Meiner Seel’! Jetzt hätt’ ich schier gar vergessen …“

Da ging nun das Geflüster von neuem an, bis Vroni, um ihres Liebsten Schlaf und Ruhe besorgt, einen Gewaltstreich übte und jählings das Fenster schloß.

Schorschl plauderte noch eine Weile seine Zärtlichkeiten an die im Mondlicht blinkende Scheibe hin; aber die wollte sich nicht wieder öffnen.

„No also, in Gott’snamen! Gut’ Nacht halt, Schatzer!! Vieltausendmal gut’ Nacht!“

Seufzend nahm er die Trompete unter den Arm und trat mit hurtigen Schritten den Heimweg an.

Als er in die Nähe des Dorfes kam, konnte er der Versuchung, die ihn auf dem ganzen Weg gequält hatte, nicht länger widerstehen – er mußte seine Trompete hören, mußte das selige Glücksgefühl, das in ihm sprudelte und kochte, mit hellen Tönen hinausschmettern in die Nacht.

Lachend setzte er die Trompete an den Mund, und um der jubelnden Freude, die sein Herz erfüllte, so recht den passendsten Ausdruck zu geben, blies er mit schmachtenden Klängen, aber mit aller Kraft seiner gesunden Lunge in den stillen Mondschein:

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Das ich so trau–au–rig bin …“

Klingend warfen die Wälder und Berge das Echo zurück, als stünde am Fuß jeder Felswand und in jedem Waldwinkel ein Trompeter, der „so traurig“ war!

*  *  *

Tage und Wochen vergingen, der Frühling wandelte sich in Sommer, auch auf den höchsten Zinnen war längst das letzte Flecklein Schnee geschwunden, das Almrausch blühte in leuchtendem Rot, und gleich einem gestickten Fürstenmantel schmiegte sich in wechselnden Tönen das satte Grün der Halden und Wälder um die Flanken aller Berge.

Da war es an einem Tag in der zweiten Juliwoche. In der vergangenen Nacht hatte sich ein schweres Ungewitter über den Bergen entladen. Die Bäche waren noch gelb vom Regen und rauschten mit verdoppelter Macht; doch der Himmel leuchtete in reinem Blau – nur ein paar kleine kugelige Wölklein noch, die letzten Nachzügler der verschwundenen Wetterwolken, schwammen sacht und in silberweißem Glanze über die Berge hin. Alle Farben an Wald und Wiesen hatten gesteigerte Leuchtkraft, und die Luft war so rein und frisch, daß sich auch in den heißeren Mittagsstunden noch jeder Atemzug wie eine Erquickung genoß.

Alle Gehänge des zur Ruhe gekommenen Berges waren belebt; bald hörte man lachende Stimmen, bald einen Jodelruf oder die muntere Weise eines Liedes. Auf den tiefer liegenden Halden, welche durch die Erdbewegung und Überschwemmung weniger gelitten hatten, war schon die Heuernte im Gang, und mehr in der Höhe, auf den zerrissenen Wiesen, arbeiteten die Leute mit Pickel und Spaten, füllten die tiefen Bodenschrunden aus und bestreuten den geebneten Grund mit Grassamen. Von einzelnen Gehöften, die seit dem Herbste verlassen gestanden, hörte man Hammerschläge und das Geräusch der Säge; da waren die Maurer und Zimmerleute bei der Arbeit, um die übel zugerichteten Gebäude wieder in wohnlichen Stand zu bringen.

Aus dem Gärtlein der Simmerau hallten die schweren Schläge einer Axt, und zu diesem eintönigen Pochen gesellte sich mit drolliger Disharmonie die Weise des Liedes, das die beiden Kinder mit lustig kreischenden Stimmchen sangen:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo mag mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!“

Die Kinder saßen, von lindem Sonnenglanz umzittert, mitten im hohen Gras einer Wiese und banden einen Blumenstrauß für den „Daxen-Vetter“ und die „Daxen-Mahm’“ – für Schorschl und Vroni, die vor drei Tagen fröhliche Hochzeit gehalten hatten.

Schorschl hätte sich freilich die junge Frau am liebsten schon im Mai in seine Schmiede geholt; aber der Simmerauer hatte sein Mädel bei der Arbeit gebraucht und wollte nichts von der Hochzeit wissen, ehe nicht sein Häuschen wieder so schmuck und freundlich dastand wie im vergangenen Sommer, ehe der Berg sein „närrisches Laufen“ begonnen hatte.

Nun blinkten aber auch die frisch getünchten Mauern wieder so weiß wie Schnee; Hausthür und Fensterläden waren mit grüner Oelfarbe neu angestrichen, die Scheiben spiegelten, und auf allen Gesimsen blüthen die roten Nelken. Auf dem Dache waren die neuen Ziegel so verteilt, daß sie zwischen den älteren, schon gebräunten Platten die Anfangsbuchstaben von Michels Namen zeigten, die Jahreszahl und die verschlungenen Initialen I. H. S. „Jesus, Heiland, Seligmacher.“

Der Brunnen war wieder in Ordnung, der Hofraum mit feinem Kies überstreut, der Zaun ohne Lücken. Auch die Scheune war gründlich repariert und Michel kränkte sich nur darüber, daß sein „schöner Stadel“ durch das Gemisch der alten und neuen Bretter einen so „schecketen“ Anblick bot!

Im Garten freilich sah es noch übel aus. Der brauchte Jahre, um sich ganz zu erholen. Wohl hatte man allen Schutt entfernt, den die Erdbrüche und das Wasser bis an die Mauern geworfen; auch die Beete waren neu hergerichtet und schon mit Gemüse und Blumen angepflanzt. Aber an die zwanzig Obstbäume waren zerstört, und die jungen Wildlinge, auf welche Michel schon im Mai die Edelreiser gepfropft hatte, wollten in dem steinigen Boden nur langsam vorwärts kommen und hatten noch kaum die ersten Blättchen getrieben. Jene Bäume, die nur zu kränkeln schienen, hatte der Alte all die Wochen her gepflegt wie leidende Kinder, hatte gute Erde um ihre Wurzeln gelegt und die Stämme, von denen die Rinde abgeschunden war, mit wachsgetränkten Lumpen umwickelt. Ein Paar dieser Patienten hatte er auch glücklich durchgebracht – aber die anderen waren abgestorben, als die Sommerhitze begonnen hatte. Und nun mußten sie umgeschlagen werden, damit doch das Holz sich noch verwerten ließe!

Seit dem Morgen waren Michel und Mathes mit den Aexten bei der Arbeit – und so oft von den dürren Bäumen einer mit Krachen niederstürzte, rollten dem Alten ein paar Zähren über die runzligen Wangen. Und von jedem fallenden Baum beteuerte er: „Der hat die besten Aepfel ’tragen! Solchene giebt’s fein nimmer in der ganzen Gegend!“ Bei diesem Kummer war es ihm aber doch ein Trost, wenn er von einem der jungen Stämmchen zum andern ging und die kleinen blaßgrünen Blättchen musterte, welche die zarten Pfropfreiser getrieben hatten.

„Ich sag’ Dir, Mathes, die strecken sich mit jedem Stündl! Weißt, jetzt spüren s’ halt die warme Sonn’! Und allweil mein’ ich, daß ich von denen noch ein’ guten Apfel erleb’!“

„Ja, Vater! Der soll Dir noch schmecken!“ sagte Mathes, während er die Axt aus den Händen legte und nach der Säge griff, um einen gefällten Stamm in Stücke zu schneiden.

Sein Aussehen hatte sich gebessert seit dem Frühjahr. Wohl [752] war bei der schweren Arbeit seine Gestalt so hager geblieben, wie sie immer gewesen; doch seine Bewegungen waren nicht mehr so eckig wie sonst, viel weicher und geschmeidiger. In seinem Antlitz hatten sich alle die harten Züge gemildert, und unter der sonnverbrannten Stirne leuchteten die Augen wie zwei klare Sterne.

Rastlos stand er bei der Arbeit; doch sein ganzes Wesen war, so sehr er sich dem Vater gegenüber auch zur Ruhe zwang, von einer ungeduldigen Erregung befallen, die sich mit jeder Minute noch zu steigern schien.

Als die Turmuhr drunten im Thal die dritte Nachmittagsstunde schlug, legte Mathes tiefatmend die Säge nieder.

„Vater … schau, es leid’t mich nimmer … jetzt muß ich ein bißl ’nunterschauen!“

Michel nickte ihm lächelnd zu. „Ja, Mathes! Wenn D’ meinst, so geh halt! Es plagt mich schon selber, daß ich erfahr’, wie der Hof auf der Gant heut weg’gangen is und wer ihn eing’steigert hat … und ob ihr ein bißl was blieben is.“

Mathes schwieg, und seine Lippen zitterten.

„No also, Bub! So geh halt! Und b’hüt’ Dich Gott!“

„B’hüt Dich Gott, Vater!“

Mathes ging ins Haus, um die Arbeitskleider gegen sein Sonntagsgewand zu vertauschen. Als er, zum Ausgang fertig, wieder ins Freie trat, sah er die Mutter bei der Scheune stehen. Sie hatte die Hände auf dem Rücken liegen und blickte träumend ins Thal hinunter, aus welchem, wenn der Wind ein wenig schärfer bergwärts zog, mit halbverwehtem Klang das Hammer-Trio der Daxenschmiede herauftönte.

Als Mutter Katherl den Schritt des Sohnes hörte, blickte sie auf. „Hörst ihn, wie er dreinschlagt da drunten?“ sagte sie lächelnd; aber dabei hatte sie feuchte Augen. „Er, natürlich, er hammert den ganzen Tag!“ Sie seufzte leis. „Aber was wird wohl jetzt mein Madl treiben?“

„No mein, arbeiten halt!“

„Ja freilich, in so ein Hauswesen mit sechs g’wachsene Leut’, da heißt’s ordentlich schaffen! … Und meinst, sie hat’s gut bei ihm?“

„Ja, Mutterl! Besser hätt’ sie ’s net treffen können!“

„Gott sei Dank fürs Madl, ja!“ Wieder seufzte Mutter Katherl. „Aber mich kommt’s hart an, weißt! An das leere Stüberl da drin kann ich mich halt gar net g’wöhnen!“

Dunkle Röte huschte über die gebräunten Wangen ihres Sohnes, und es schien, als wollte er sprechen; doch er schwieg und rückte nur den Hut.

„Wo gehst denn hin?“

„Ein bißl ’nunterschauen halt!“

„So so! … B’hüt Dich Gott!“

Der forschende Blick der Mutter machte ihn ganz verlegen. Mit schwankender Stimme erwiderte er den Gruß und ging; doch nach wenigen Schritten kehrte er wieder um, faßte die Hand der alten Frau und sagte: „Mutterl! Wenn’s gut geht … ’leicht bring’ ich Dir wen … ins leere Stüberl ’nein …“

„Mathes! Jesus Maria! Bub! Mein lieber Bub!“

Aber da hatte er sich schon von der Hand der Mutter losgerissen und eilte mit langen Sprüngen davon.

Während sie ihm freudig betroffen nachblickte, sangen in der Wiese die beiden Kinder:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so süß,
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab’!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Mathes konnte die fröhlichen Stimmchen des kleinen Paares noch hören, und während er thalwärts eilte, murmelte er die Worte des Liedes mit. Er selbst hatte ja, als er noch ein Knabe war, dieses Liedlein gesungen da drüben unter den Haselnußstauden, nicht weit vom Gaßnerhäuschen. Und als ihm diese Erinnerung kam, war es ihm plötzlich, als klänge dicht an seiner Seite eine zarte, weiche Mädchenstimme:

„… Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab’ …“

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, und seine Schritte wurden langsamer. Mit heißen Blicken spähte er über all die Pfade aus, die vom Dorf über den Berghang emporführten. Doch niemand kam aus dem Thal heraufgestiegen. Er sah nur die Leute, die auf den Halden mit Schwatzen und Lachen bei der Arbeit waren.

Als er das letzte Wäldchen erreichte, ließ er sich im Schatten einer alten Wetterfichte nieder. Von hier aus konnte er die Straße vor dem Purtschellerhaus und einen Teil des Wirtschaftshofes überblicken.

Die Versteigerung, welche Purtschellers Gläubiger erwirkt hatten, mußte schon vorüber sein; denn Mathes sah dort unten ein fortwährendes Kommen und Gehen von Leuten; Möbelstücke wurden aus dem Haus geschleppt und auf bereitstehendes Fuhrwerk geladen; die Scheunen wurden geleert und die Pferde und Rinder davongeführt.

Immer wieder mußte Mathes mit der Hand über die Augen wischen, so umflort war ihm der Blick. Dieses Treiben dort unten sehen zu müssen, das schnitt ihm in die Seele. Es war ja Karlin’s Habe, die von diesen hundert fremden Menschen vertragen wurde in alle Winde! Und es hing doch an dem Gut, das hier verschleudert wurde, seine eigene Arbeit und sein Schweiß, ein Teil seines Lebens und ein Stück seines Herzens!

Mit brennenden Wangen, die Fäuste auf den Knieen, saß er an den Stamm der Fichte gelehnt. Stunde um Stunde verging; vor dem Purtschellerhof fuhren die hochbeladenen Wagen davon und die Leute begannen sich zu verlaufen.

In wachsender Unruhe wartete Mathes; plötzlich sprang er auf, mit erblaßtem Gesicht und zitternd an allen Gliedern.

Dort unten war eine schwarz gekleidete Frau aus der Hausthür getreten, mit einem weißen Bündel in der Hand. Im Garten blieb sie stehen und blickte lange auf das Haus zurück. Mathes konnte sehen, wie sie sich bückte, um eine Blume zu brechen. Dann trat sie auf die Straße, und hier stand sie wieder still, als wüßte sie nicht, welchen Weg sie nehmen sollte.

Mathes streckte in jäher Bewegung die Arme aus, als möchte er der Verlassenen dort unten seine Hände reichen, um sie zu führen.

Da schlug sie den Pfad ein, der von der Straße gegen den Berghang lenkte. Das gewahrte Mathes, und von seinen Lippen rang sich ein stammelnder Laut – wie erstickter Jubel, der sich nicht zu äußern wagt.

Eine Viertelstunde verging.

Dann kam sie müden Schrittes über den steilen Weg emporgestiegen. Sie trug ein schwarzes Wollkleid und hatte um den Kopf ein schwarzes Tuch geknüpft, aus welchem schmal und bleich das verhärmte Gesicht hervorlugte. An der Brust hatte sie eine rote Nelke stecken.

Ein Paar Schritte ging ihr Mathes entgegen. „Grüß Dich Gott, Linerl!“

„Mathes! … Du?“ Dünne Röthe stieg ihr in die bleichen Wangen, und ihre Augen wurden feucht. Ohne ihm die Hand zu reichen, sagte sie leise: „Grüß Dich Gott auch!“

Seit jenem Abend, an welchem Mathes mit zornigem Griff den zum Schlag erhobenen Arm Purtschellers gefesselt hatte, waren das die ersten Worte, die sie miteinander sprachen.

Scheu blickte sie zu ihm auf.

„Mathes?“

„Was, Linerl?“

„Wie kommst denn jetzt da her?“

„G’wart’t hab’ ich auf Dich! Weißt, weil ich mir ’denkt hab’: es könnt’ doch sein, daß kommen thätst!“

Sie nickte. „Hätt’ ich ein’ andern Weg denn g’habt?“ Eine Weile schwieg sie. „Schau, d’ Vroni hat mir zug’red’t … und so will ich halt jetzt ’naus zu Deine Leut’ und will s’ drum anreden, daß s’ mir ein’ Unterstand geben, bis ich was anders find’.“

„Ja, Linerl, da hast recht g’habt! Und der Vroni ihr Stüberl wart’t schon auf Dich! Aber so viel müd’ schaust aus …“

Die Stimme versagte ihm, „geh, magst Dich net ein bißl niedersetzen?“ Mit beiden Händen kratzte er im Schatten der Fichte die dürren Reiser aus dem Moos und stäubte mit seinem Hut das Plätzchen ab. „Schau, Linerl, da hast ein guts Rasten jetzt!“

„Ja, Mathes! Vergeltsgott!“ Seufzend legte Karlin’ das Bündel ab und ließ sich nieder.

Nun saßen sie wortlos nebeneinander und blickten ins Thal hinunter. Leuchtend drangen einzelne Sonnenstrahlen durch die dichten, schwarzgrünen Zweige, die sich im Winde sacht bewegten – [754] und das gab auf den Händen und Gesichtern der beiden ein zitterndes Spiel von Lichtern und Schatten.

Nach einer Weile fragte Mathes: „Is drunten schon alles aus?“

„Ja, Mathes! Alles!“

„Und wie is er denn weg’gangen, der Hof?“

„Grad’ um d’ Hypothekenschuld.“

„Jesus Maria! Wie kann denn so was geschehen! Wenn auch droben der Wald halb ausg’schlagen und halb versunken is … der Hof allein is ja doch seine Hunderttausend und drüber wert!“

„Ja! Das hat mir gestern der Rufel auch g’sagt! Und er hat mir ’s Geld an’boten, daß ich mitsteigern könnt’!“ Karlin’ lächelte müd’ und schmerzlich. „Aber was thät’ denn ich allein mit so ein’ Hof!“

„Aber schau, ich hätt’ Dir ja g’holfen!“

Mit nassen Augen blickte sie zu ihm auf. „Und hätt’st Dir d’ Finger blutig g’arbeit’t … für andere Leut’!“ Ruhig schüttelte sie den Kopf. „Na, Mathes! Lieber net! Und schau, für mich is ja eh’ kein Platzl nimmer g’wesen in dem Haus da drunten!“

„Und gar nix is Dir ’blieben?“ stammelte Mathes mit erstickten Worten.

„Nix!“

„Aber ’s Inventari, und d’ Roß’ und ’s Vieh … das muß doch auch was ’bracht haben!“

„Ja! Siebentausend Mark! Aber da haben dem Toni seine Verwandten gleich d’ Hand drauf g’legt und haben g’sagt: ich hätt’ kein Recht net, weil kein Kind nimmer da is … und sie thäten Prozeß machen! Hätt’ ich streiten sollen, Mathes? Na! Ich hab’ ihnen alles zug’standen und hab’ g’sagt: ich will nix! Hab’ ich net recht g’habt, Mathes?“

Er drückte ihre Hände, und seine Stimme klang, als wäre ihm leichter und mutiger ums Herz geworden. „Ja, Linerl, ja, da hast recht g’habt!“

„Und schau, das is noch’s einzig’, was mir lieb is an allem Unglück: daß ich ’nausgeh’ aus dem Haus, grad’ so, wie ich ’nein’gangen bin … und schau, nix anders trag’ ich mit mir fort als wie den Kummer um mein Kindl!“ Die Thränen rollten ihr über die Wangen, und zitternd bedeckte sie die Augen.

Da rückte Mathes dicht an ihre Seite und zog ihr mit scheuer Zärtlichkeit die Hände nieder.

„Linerl … geh, sag mir … was willst denn machen jetzt?“

„Was bleibt mir denn über? Ein’ Dienst muß ich halt suchen. Und ich thu’s ja gern! D’ Arbeit fürcht’ ich net!“

Er schüttelte den Kopf und atmete schwer.

„Linerl …“

„Ja, Mathes?“

Es wollte kaum über seine Lippen: „Schau, Linerl, ich thät Dir was wissen!“

„Was denn?“

„Der Gaßner baut jetzt drunten im Ort … und sein Häusl am Berg droben, das könnt’ man jetzt billig haben. Gut schaut’s freilich net aus … aber ich mein’, es thät sich doch wieder herrichten lassen! Was meinst?“

Heiße Röte färbte ihre bleichen Züge. Das Gaßner-Häuschen! Das Haus ihrer Eltern! Das Dach, unter dem die Mutter sie geboren hatte! Die Mauern, zwischen denen ihr die Kindheit verflossen war in stillem, sonnigem Glück!

„Geh, Linerl, sag’ mir: thät’s Dich net freuen, das Häusl da droben?“

Karlin’ zitterte. Und obwohl sie verstand, wie er es meinte, sagte sie doch: „Verschenken thut’s ja der Gaßner net … und ich hab’ doch nix!“

„Aber schau, ich hab’ ein bißl was! Ja, Linerl, ich hab’ mir ein schöns Geldl z’samm’ g’raspelt die ganzen Jahr’ her! Siebenhundert Markln hab’ ich in der städtischen Sparkass’ drin. Das thät grad’ langen, mein’ ich. Vierhundert könnten wir dem Gaßner anzahlen … und mit dem andern thäten wir ’s Häusl einrichten. D’ Maurerarbeit mach’ ich selber, und aufs Zimmern versteh’ ich mich auch net schlecht! Wenn ich mich den Sommer über ein bißl rühr’, könnt’ ’s Häusl im Herbst wieder ausschauen, daß Dein’ Freud’ d’ran haben thät’st!“ Seine Stimme klang heiser und mit scheuem Bangen hing sein Blick an ihren Lippen. „Was meinst denn, Linerl?“

Da nahm sie seine Hände und sah ihm in die Augen. „So gut wie Du bist, Mathes, so gut is keiner nimmer!“ Sie löste die Nelke von ihrer Brust, und während ihr die Thränen über die Lippen rannen, reichte sie ihm die Blume hin: „Schau, das Nagerl hab’ ich mir noch ’brochen drunt’, weil mein Kindl die roten Nagerln so viel gern g’sehen hat … magst das Blümerl haben, Mathes?“

Heiß leuchtete ihm die Freude aus den Augen, und verlegen sagte er: „Ja, Linerl … da sag’ ich Dir fein Vergeltsgott dafür!“ Mit zitternden Händen nahm er den Hut ab und steckte die Blume achtsam hinter die Schnur. „Weißt, das Blümerl heb’ ich mir auf … und gut! Ja! Und sag’ Linerl …“ vorsichtig drückte er den Hut aufs Haar. „Wenn wir jetzt gleich ’naufgehen thäten, das Häusl ein bißl anschauen? Was meinst?“

„Ja, Mathes! Wie D’ willst!“

Mit festem Druck umspannte er ihre Hand. „So komm, Linerl, komm!“

Ein paar Schritte ließ sich Karlin’ von ihm führen; doch ehe der Pfad um die Ecke des Waldes lenkte, blieb sie stehen.

„Komm, Linerl!“

„Geh, laß mich noch ein bißl ’nunter schauen!“

Mathes sah, wohin ihre Blicke gingen, und da legte er den Arm um ihre Schultern. So standen sie lange schweigend und blickten zum Kirchhof hinunter, auf dessen Gräbern sich die eisernen Kreuze wie dünne schwarze Striche zwischen Grün und Blumen unterschieden.

Tief atmend trocknete Karlin’ ihre Thränen. Dann stiegen sie Hand in Hand über den steilen Hang empor, vom warmen Gold der Sonne umleuchtet. Die Drosseln schlugen in den Haselnußbüschen und die Luft war erfüllt von dem würzigen Wohlgeruch, der dem frischen Heu entströmte.

Es wollte schon Abend werden, als sie das einsame, verlassene Gehöft erreichten. Das kleine Haus, in welchem ihr Glück sich heimisch machen sollte, lag vor ihnen wie eine öde Ruine: die Mauern brüchig, das Dach verschoben, die Fenster ohne Kreuzstöcke, der Eingang ohne Thür und Balken. Und wie ein Schuttfeld waren Hof und Garten anzusehen, übergossen von Geröll und schweren Steinen.

Dennoch hingen ihre Augen mit leuchtendem Blick an dem kahlen Gemäuer – denn ihre Herzen sahen, was hier werden sollte. In Karlin’s Seele erwachte bei jedem Schritt ein Gedenken an die Kinderzeit, und diese Erinnerung belebte alles, was tot und verwüstet vor ihren Füßen lag.

Als sie die öden Räume durchwandert hatten und wieder ins Freie traten, nahm Mathes den Zollstab aus der Tasche und maß die Lichtung der Fensterhöhlen.

„Gleich morgen, wenn ich mit ’n Gaßner g’redt hab’, fang’ ich mit die Kreuzstöck’ an und laß vom Glaser d’ Scheiben einschneiden … weißt, damit’s nimmer ’neinregnet in d’ Stuben! Sonst fangt der Fußboden ’s Faulen an!“

„Ja! Und ich mach’ mich gleich über’n Garten her!“ sagte Karlin’. „Da müssen d’ Steiner aus’klaubt werden, eh’ man noch mit der Schaufel anfangt.“ Sie legte ihr Bündel nieder, hob einen schweren Stein vom Boden auf und trug ihn zu der aus Felsbrocken aufgeschichteten Mauer, die sich um den Garten zog.

Als sie den zweiten holen wollte, der noch gewichtiger war, so daß sie ihn kaum von der Erde emporbrachte, rief ihr Mathes zu: „Aber geh, Linerl, der is Dir ja z’ schwer! Den laß für mich!“ Er kam gesprungen, nahm ihr den Stein aus den Händen und trug ihn zur Mauer.

Nun sammelte Karlin’ das minder grobe Geröll, während Mathes sich mit den großen Brocken schleppte.

So begannen sie den Bau ihres Glückes! Und bei dem Eifer, mit dem sie schafften, bemerkten sie kaum, daß die Sonne zur Ruhe ging, daß drunten im Thal der Abendsegen geläutet wurde und aus dem dämmerigen Blau des Himmels die ersten Sterne leuchteten.



  1. Lehm.
  2. Raphael.