Die höchste Brücke der Welt
Die höchste Brücke der Welt.
Der in Nr. 40 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ enthaltene interessante Artikel über „die höchsten Bauwerke und Denkmäler der Welt“ veranlaßt mich, die Aufmerksamkeit ihrer Leser heute auf ein erst vor wenigen Monaten vollendetes Bauwerk der „Neuen Welt“ zu lenken, welches nicht nur in Ingenieurkreisen, sondern auch im größeren Publicum nicht geringes Aufsehen erregt. Es ist dies die höchste Brücke der Welt, der schnell berühmt gewordene „Kinzua-Viaduct“ bei Alton in McKean-County im Nordwesten Pennsylvaniens.
Die eben vollendete Eisenbahnlinie der New-York, Lake Erie u. Western Coal und Railroad Co. nämlich, eine Zweigbahn der Erie Railroad, einer der großen Verkehrsadern zwischen New-York und dem Westen, verbindet die Stammlinie mit den bedeutenden Kohlenlagern von Elk-County in Pennsylvanien und erschließt ihr dadurch einen unermeßlichen Vorrath des kostbaren Materials, dessen Mangel sich bei der Eriebahn bisher in drückender Weise fühlbar gemacht hat. Auf dem Wege dahin, etwa 26 englische Meilen südlich von Bradford, dem Emporium der Petroleumproduction von McKean County, überschreitet diese Bahn das großartige Kinzuathal, das, bei einer Tiefe von über 90 Meter und einer Breite von mehr als 600 Meter, sich circa 30 Meilen lang hinzieht. Unabsehbare Tannenwaldung, in der bis zum Beginn der Vorarbeiten für den Brückenbau noch nie ein Axtschlag gehört worden war, bedeckt, einem Urwalde gleich, die in einem Winkel von etwa 20 Grad abfallenden Thalwände. Prachtstämme, 30 bis 40 Meter hoch, strecken ihr stolzes Haupt empor; aber weit über sie hinaus ragt der großartige Viaduct bis zu der enormen Höhe von 92 Meter und legt beredtes Zeugniß ab von dem Genie und Unternehmungsgeiste, dem es gelungen, den kolossalen Abgrund zu überbrücken.[1]
Der ganze Bau, mit Ausnahme der gußeisernen Säulenköpfe und Füße sowie der Mauerplatten, ist aus Walz- und Schmiede-Eisen ausgeführt und ruht, fest verankert, auf massiven Steinpfeilern, die direct auf den Felsboden des Thales fundirt sind. Die Tragfähigkeit der Brücke dürfte den strengsten Anforderungen der amerikanischen sowie europäischen Praxis genügen. Ebenso ist dem Winddrucke gehörig Rechnung getragen, sodaß die Brücke dem heftigsten Sturmwinde Widerstand leisten kann. Um ein Entgleisen des Zuges auf der Brücke, wenn nicht unmöglich, so doch gänzlich gefahrlos zu machen, ist ein System von stählernen Doppelschienen sowie hölzernen Langschwellen außerhalb derselben vorhanden, wodurch es dem Zuge unmöglich ist, die Fahrbahn zu verlassen, da die Räder im Falle des Entgleisens sich zwischen diesen Sicherheitsschienen auf den in sehr engen Zwischenräumen gelegten Querschwellen fortbewegen müssen. Auch sind zum Passiren der Brücke durch Fußgänger zu beiden Seiten der Fahrbahn geräumige Fußwege, mit starkem Geländer geschützt, angebracht.
Betreten wir nun einmal in Begleitung eines Reisegefährten, der sich uns beim Verlassen des Zuges auf der nächsten Station angeschlossen hat, die Brücke, um bis zu ihrer Mitte hinauszuschreiten. Hier bleiben wir stehen, gefesselt von dem großartigen Panorama, das sich unserem Auge bietet. Hoch über den Gipfeln der Bäume stehend, sehen wir, so weit das Auge reicht, nichts als undurchdringliche Waldung, welche durch ihre sanften Wellenlinien die Contour des Thales verräth, das erst in weiter Ferne durch einen davorliegenden Höhenzug seinen Abschluß findet. Es ist der Blick über die unabsehbare Wildniß unter uns, mit ihrer geheimnißvollen Ruhe, der einen so überwältigenden Eindruck verursacht. Fast überkommt uns ein Gefühl des Schwindels, wenn wir hinabblicken in die Tiefe, wo sich, einem zarten Silberfaden gleich, das Kinzua-Flüßchen dahinschlängelt. Tiefe Stille herrscht überall, nicht das geringste Lebenszeichen gewahren wir im Thale. Doch was ist das? Was bewegt sich dort unten ameisengleich am Ufer des Flüßchens entlang? Sind wir im Lande der Liliputer? Oder was sind das sonst für Gestalten, die durch ihre winzigen Größenverhältnisse unser Erstaunen verursachen? Ja so! wir hatten vergessen, daß wir 92 Meter hoch über der Thalsohle stehen, und indem wir durch den Feldstecher in den vermeintlichen Pygmäen ganz gemüthliche Touristen erkennen, die in das Thal hinabgeklettert sind, um das eiserne Wunder von unten zu betrachten, [196] fangen wir nun erst an, die ungeheure Höhe unseres Standpunktes recht zu würdigen.
Da ertönt aus der Ferne dumpfes Rollen und Brausen; ein mächtig durch den Wald schallender Pfiff klärt uns über die Ursache desselben auf, und gleich darauf erscheint am Ausgange des Waldes eine Locomotive, die, schnell der Brücke sich nähernd, unter heftigem Keuchen und Schnauben einen langen Kohlenzug heranschleppt. Jetzt ist der Zug auf der Brücke. Das Geräusch des Rollens nimmt, immer stärker werdend, eine tiefere Resonanz an. Vorüber schnaubt das Ungethüm, während der Boden unter uns dröhnt und doch kaum merklich zittert. In wenigen Minuten ist der lange Zug an uns vorüber gebraust und drüben auf der entgegengesetzten Hügelseite im Walde wieder verschwunden. Unser Gefährte, der mit Eisenconstructionen weniger vertraut ist, als wir, und dem als unfreiwilligem Zeugen bei dieser improvisirten Festigkeitsprobe nicht ganz wohl zu Muthe geworden, erholt sich jetzt von seinem Schreck, und mit einem bedeutsamen Lächeln nickt er uns zu, womit er sein nunmehr unbegrenztes Vertrauen in die Tragfähigkeit an den Tag legen will.
Folgen wir nun dem Beispiele der Pseudo-Pygmäen, indem wir dem Thale einen Besuch abstatten. Es ist dies kein allzuleichtes Unternehmen, denn die Thalseiten fallen ziemlich steil ab, und das Princip der gleichförmig beschleunigten Bewegung sucht sich beim Hinabsteigen geltend zu machen. Die Eisenbahngesellschaft beabsichtigt binnen Kurzem zur Bequemlichkeit der Touristen einen zickzackförmigen Pfad anzulegen, sowie auch im Thale selbst ein Hôtel zu bauen, denn schon jetzt besuchen wöchentlich Tausende den „Jumbo-Viaduct“ (so hat der Volksmund nach dem durch Barnum dem Londoner zoologischen Garten entführten Riesenelephanten die höchste Brücke der Welt getauft), und Extrazüge von den nahen Großstädten, sogar von Buffalo und New-York, sind schon längst zur Regel geworden.
Endlich sind wir wohlbehalten unten angekommen. Am Rande des Flüßchens stehend, blicken wir empor. Fürwahr, es verlohnte sich der Mühe, den steilen Hügel herabzuklettern, denn der Eindruck ist unbeschreiblich großartig.
Schier in den Himmel hinauf, so dünkt es uns, ragen die schlanken, eisernen Säulen. Wie Stangen sehen sie aus, diese Säulen, wie Spinnengewebe die starken Diagonalstangen der Verstrebung, wie Filigranarbeit die Linien der schweren Gitterträger, deren Gewicht nach vielen Tonnen gerechnet wird. Erst wenn wir näher herantreten und uns von den Vertrauen einflößenden Proportionen der unteren Constructionstheile überzeugen, verschwinden die Zweifel hinsichtlich der Tragfähigkeit, die momentan in uns aufgestiegen waren.
Während wir uns auf einem Baumstumpf niederlassen, um uns von den Strapazen unseres Abstieges ein wenig auszuruhen, und während unsere Blicke unwillkürlich immer wieder nach der Himmelsbrücke hinaufwandern, erzählen wir unserem Gefährten auf dessen Wunsch, wie auch dem Leser, Folgendes über den Mann, dem die Ehre gebührt, der Schöpfer dieses Wunderbaues genannt zu werden.
Ein Deutscher ist’s, Adolf Bonzano, der schon vor mehr als dreißig Jahren als junger Bursche aus Württemberg nach den Vereinigten Staaten auswanderte, wo er sich erst dem Maschinenfache, später aber dem Brückenbau widmete, in welchem er sich den hohen Ruf erworben, den er jetzt genießt als Ober-Ingenieur und Theilhaber des berühmten Brückenbau-Etablissements von Clarke, Reeves und Comp. zu Phönixville bei Philadelphia. Viele der großartigen amerikanischen Brücken, sowie der größere Theil der New-Yorker Hochbahnen, sind nach seinen Entwürfen aus diesem Etablissement hervorgegangen. So war es auch sein Entwurf, der von den mit Prüfung der eingesandten Pläne für den Kinzua-Viaduct betrauten Ingenieuren der Eriebahn für den besten und praktischsten erklärt wurde, worauf die Direction der Gesellschaft seinem Hause die Ausführung des Baues übertrug.
Am 15. December 1881 wurde die Ausführung der Detailarbeiten, Berechnungen und Zeichnungen von den Ingenieuren des Etablissements in Angriff genommen, wenige Tage darauf schon die erste Partie Eisen dafür gewalzt, und am 20. April 1882 ging die erste Sendung des fertigen Materials von Phönixville nach der Baustelle ab. Am 10. Mai wurde die Aufstellung des Eisenwerkes auf den mittlerweile vollendeten Steinpfeilern begonnen und am 1. September war der Viaduct fertig für den Eisenbahnbetrieb, also in kaum mehr als 3½ Monaten seit Beginn der Aufsteilung und in 8½ Monaten seit Beginn der Bureau-Arbeiten.
Bemerkenswerth ist noch, daß zur Aufstellung durchaus kein Gerüste, nicht einmal eine Leiter benutzt worden ist, denn da die Thürme etagenweise aufgestellt wurden, so dienten die unteren Etagen als Gerüste für die darauf liegenden Etagen. Die Constructionstheile wurden durch einfache Hebe-Apparate, aus Masten bestehend, die an die Säulen der bereits vollendeten Etagen angeschraubt
[197][198] wurden und an ihren Spitzen Flaschenzüge trugen, aufgezogen und von den Monteurs eingesetzt und festgeschraubt. Als Motoren zum Betriebe dieser Hebe-Apparate dienten vier Dampfmaschinen, die an verschiedenen Stellen des Thales aufgestellt waren und mit dem Vorrücken der Arbeit ihren Standpunkt veränderten. Zum Montiren der schweren Gitterträger auf den Thürmen diente ein Riesenkrahn, der oben auf der Fahrbahn befestigt war und mit der Arbeit von Thurm zu Thurm vorwärts geschoben wurde.
Die Arbeiter kletterten theils an den Säulen, wobei ihnen die Nietenköpfe der Flanschen zum Aufsetzen des Fußes trefflich zu statten kamen, theils an den stets paarweise angeordneten Diagonalstangen der Verstrebungen auf und ab, worin sie bald eine staunenswerthe, beinahe „affenähnliche“ Geschicklichkeit an den Tag legten.
Einen urkomischen Anblick gewährte die Scene, die sich stets Mittags und Abends beim Arbeitsschlusse abspielte. Sobald das Signal der Dampfpfeife ertönte, sah man die Arbeiter, deren Zahl beiläufig zuweilen ein Hundert überstieg, massenweise an den Diagonalstangen der im Bau begriffenen Thürme immer im Zickzack von Etage zu Etage herabgleiten, wobei sie die neunzig Meter in weniger als einer Minute zurücklegten. Hinauf ging es freilich nicht so schnell, doch genügten in der Regel nur vier bis fünf Minuten dazu.
Um schließlich noch einen interessanten Vergleich zwischen Stein- und Eisenconstruction anzustellen, verweisen wir auf den, im obenerwähntem Artikel in Nr. 40 der „Gartenlaube“, in Wort und Bild angeführten Göltzschthal-Viaduct auf der Sächsisch-Bayerischen Staatsbahn, der gewiß Vielen unserer Leser bekannt ist. Derselbe ist 579 Meter lang und 87 Meter hoch über der Thalsohle; der Kinzua-Viaduct ist 40 Meter länger und 5 Meter höher. Der Bau des ersteren, der aus Granit und Ziegel ausgeführt ist, hat circa 6 Jahre, der des letzteren einschließlich aller Bureau-Arbeiten nur 8½ Monate in Anspruch genommen. Die Kosten des ersteren betragen 7 Millionen Mark, die des letzteren kaum ein Sechstel dieser Summe, nämlich 275000 Dollars.
Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß der Göltzschthal-Viaduct zweigleisig, der Kinzua-Viaduct hingegen nur eingleisig gebaut ist; doch würde ein zweites Gleis die Kosten des letzteren kaum um die Hälfte erhöht haben, was immer nur erst ein Viertel der erstgenannten Summe ausmachen würde. Fern sei es jedoch von uns, durch diesen Vergleich den Charakter des großartigen sächsischen Bauwerks schmälern zu wollen, das stets zu den bedeutendsten Leistungen des Ingenieurwesens gehören wird. Es lag uns nur daran, die Vortheile des Eisens zu betonen und darzuthun, was sich durch seine Anwendung zu solchen Zwecken erreichen läßt. Zum Bau eines steinernen Viaductes hätte sich die Eriebahn nie entschließen können, einmal wegen der enormen Kosten, noch mehr aber des Zeit raubenden Baues wegen. Die Anwendung des Eisens als Constructionsmaterial löste die Frage in jeder Beziehung in der günstigsten Weise.
Fürwahr, dies ist das Zeitalter des Eisens, und Steinbauten werden vielleicht bald nur noch zu den Dingen der Vergangenheit gehören, zumal in dem Lande, das dem kühnen Unternehmungsgeiste ein so weites Feld bietet, in der mit Riesenschritten fortschreitenden „Neuen Welt“.
- ↑ In einer Länge von 625 Meter überschreitet der Viaduct das Thal, getragen von 20 Gruppen eiserner Säulen, die man Pfeiler oder Thürme nennt und deren Mittel 30,32 Meter von einander abstehen. Jeder dieser Thürme besteht aus 4 Säulen, die in der Längenrichtung 11,73 Meter und in der Breite, zwischen den Säulenköpfen gemessen, 3,05 Meter von einander entfernt sind, während sie seitlich nach unten im Verhältniß 1:3 divergiren, sodaß die höchsten oder Centralthürme eine Grundfläche von 11,73 Meter Länge und 31,4 Meter Breite haben. Die Thürme sind in Etagen von circa 10 Meter Höhe eingetheilt und durch entsprechende Verstrebung nach allen Richtungen hin gegen Zerknicken oder seitliche Ausbiegung vollkommen gesichert. Oben auf den Säulenköpfen ruhen die Gitterträger, welche die directe Unterlage für die Querschwellen unter den Eisenbahnschienen bilden.