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Die heilige Quelle des Ganges

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CCXXVII. Die Gleichen in Thüringen Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band (1838) von Joseph Meyer
CCXXVIII. Die heilige Quelle des Ganges
CCXXIX. Die Cathedrale in Sevilla
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DIE GANGES-QUELLE
in Indien

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CCXXVIII. Die heilige Quelle des Ganges.




Ein Augur mag lachen, wenn er einen Augur sieht; aber die gläubige Menge muß die Orakelsprüche des Vogelflugs und der Eingeweide heiliger Opferthiere mit andächtigem Vertrauen empfangen.


„So ist’s, so wird es seyn, so ist’s von je gewesen:
In Rom, zu Schöppenstedt, im Lande der Chinesen.“

Das Volk fährt übel dabei; und doch ist’s ein mißlich Ding mit dem Reformiren. Wer alte Vorurtheile wegzuräumen, alten Mißbrauch abzustellen sucht, ist sicher, sich den Haß Derer zuzuziehen, welche von Vorurtheil und Mißbrauch Vortheil ziehen; aber sehr ungewiß, sich die Liebe Derer zu gewinnen, welchen er nützt. Die Menschen sind fast Alles, was sie sind, durch Gewohnheit. Die Macht derselben widersteht jeder andern, wird von keiner besiegt, bleibt aber gemeinlich Siegerin gegen alle. Vergeblich apellirt der Reformator an Vernunft, Religion, Moral und Gewissen. Er vergißt, daß Vernunft, Moral, Gewissen und Religion des Haufens selbst nichts anders sind, als – eine Gewohnheit! Ohne dieses Gängelband, an welchem man die Völker zu gehen gelehrt hat, stolpern sie anfänglich, straucheln sie, und thun sich wehe; kein Wunder, wenn sie dem Reformator thun, wie die Kinder der Mutter, welche nach derselben schlagen, wenn sie ihnen das Gängelband abnimmt.


Schon zwei Jahrhunderte hatten die Britten einen politischen und Handelsverkehr mit Indien unterhalten, und ihre Macht hatte sich allmählich bis zur unmittelbaren Herrschaft über 100 Millionen, ihr Einfluß auf die entferntesten Theile des ganzen Orients ausgedehnt. Die Ersetzung einer asiatischen durch eine europäische, einer mohamedanischen durch eine christliche Regierung hätte, in dem gewöhnlichen Gang der Dinge, den überwundenen Völkern schon längst die Vortheile einer höhern Cultur bringen müssen, wären nicht die Bemühungen der Eroberer, welche eine kleinliche Krämerpolitik inspirirte, zu jener Zeit geflissentlich darauf gerichtet gewesen, Alles im alten Zustande zu lassen und jeden Gedanken an eine Aenderung der bestehenden Ordnung auszuschließen. Zu diesem Endzwecke wurde der Verkehr zwischen Europäern und Eingebornen auf die möglichst engen Gränzen beschränkt. [114] Kein Europäer durfte sich im Lande niederlassen. Götzendienst und Aberglaube wurden von der Londoner Regierung nicht nur geschützt, sondern sogar befördert, und christliche Religionslehrer wurden strenger noch, als andere Klassen, am Aufenthalte in Indien gehindert. Dieses verwerfliche Regierungssystem einer Handvoll Kaufleute hat gedauert von dem Beginn der Eroberung Indiens an bis zur Umwandlung der Regierung selbst, bei Gelegenheit der Erneuerung des Freibriefs der ostindischen Compagnie im Jahre 1813.

Der Gang der menschlichen Angelegenheiten steht niemals stille, und wenn Nationen nicht vorwärts schreiten, so müssen sie zurückgehen. Ausgeschlossen auf der einen Seite von allen gewohnten Bestrebungen nach Ruhm, Ehre, Macht und Rang, auf der andern von allen Vortheilen der Civilisation, brachte für die anglo-indischen Völker jene Periode der englischen Herrschaft nur Erniedrigung und Verschlechterung.

Endlich aber gewann der Geist der Humanität über den des Kasten- und Krämer-Egoismus im brittischen Parlament das Uebergewicht, und Reformen und Verbesserungen in dem gesellschaftlichen Zustande des unermeßlichen Weltreichs wurden die Tagesordnung. Auch für Indien ging der neue Stern auf. Der vortreffliche Hastings erhielt als Generalgouverneur die Mission, das große Werk der Reform in Indien zu beginnen. Jener Staatsmann begann mit einer Neugestaltung der Erziehung der Eingebornen. Unter seiner Verwaltung wurden 14,000 Schulen gegründet, Gymnasien und Universitäten errichtet, der Zwang der Presse ward gelüftet, den Eingebornen die Pfade zur Auszeichnung und Ehre geöffnet, und den Fortschritten in Indien ein allgemeiner und mächtiger Anstoß gegeben. Man lud die Europäer zur Ansiedelung ein, und diese trugen ihre Erfahrungen, ihre Bildung, ihre Kenntnisse in Industrie und Handel mitten unter die Eingebornen des Landes. Je zahlreicher jene wurden, je häufiger wurde Beider Verkehr, je mehr gewannen die Eingebornen Geschmack an europäischen Begriffen, Wissen, Sitten und Genüssen.

Während auf solche Art Beispiel und Umgang in den höhern Kreisen der indischen Bevölkerung eine Umwälzung hervorbrachten, wurde eine gleich große am entgegengesetzten Pol der Gesellschaft durch die christlichen Missionairs vorbereitet. Von ihnen wurden überall christliche Schulen gegründet, die Bücher des Christenglaubens in alle Idiome Indiens übertragen und zu vielen hundert tausend Exemplaren unter das Volk gebracht. Die Missionaire fingen an, Zeitungen in den Volkssprachen herauszugeben. Hastings selbst stellte sich an die Spitze einer „Indischen Schulbücher-Gesellschaft,“ und die Schleusen des Unterrichts im europäischen Wissen öffneten sich jeglicher Kaste. Die weibliche Hälfte der indischen Menschheit war bisher von allem Unterrichte ausgeschlossen gewesen. Hastings gründete Mädchenschulen in allen Städten Indiens; abermals ein unermeßlicher Impuls zur fortschreitenden Civilisation.

Die Priesterkaste, die Brahminen, seit Jahrtausenden gewohnt, über ein unwissendes und unterwürfiges Volk eine Herrschaft zu üben, absoluter als jene der römischen Kirchenfürsten in den finstersten Zeiten gewesen, sahen in jener Umwälzung [115] ihren Untergang voraus. Sie erschöpften ihren Einfluß bei den Massen, die humanen Zwecke der Regierung zu verdächtigen und zu verunglimpfen, und schürten das Feuer der Zwietracht aller Orten, das häufig in offene Empörung ausbrach. Aber diese Reaktionen haben das Werk der Civilisation in Indien nicht gehindert. Unter der Verwaltung Lord Bentinck’s wurde der indischen Presse faktische Freiheit gestattet. Sein Nachfolger machte diese Freiheit gesetzlich und legte dadurch im Namen des brittischen Gouvernements vor der Welt die Erklärung ab, daß sie das öffentliche Urtheil über ihre Bestrebungen nicht mehr zu fürchten brauche.

Es gibt für die Regierung eines eroberten Landes keine ehrendere Erklärung, als eine solche. Schlechtes Regiment und schlechte Justiz, das begreift Jeder, können mit der Oeffentlichkeit eben so wenig bestehen, als Finsterniß mit dem Lichte. Mit ihr ist’s um alle Gemächlichkeit, Unfähigkeit und Schlechtigkeit der Regierenden auf die Dauer unausweichlich geschehen; denn die Publizität stellt die Aufsehenden unter Aufsicht, sie gibt dem Richtenden einen Richter, und kein Heiliger, der sich in der dunkeln Nische des Kabinets, oder der Kirche, verehren läßt, wird am hellen Tage der Publizität ein Heiliger bleiben, wenn er ein verächtlicher Sünder war.

Wodurch gelangte Europa aus dem Zustande verhältnißmäßiger Rohheit zu seiner jetzigen Bildung? Durch die Presse allein. Genußreicher Gedanke, daß dieser Hebel, mächtig selbst in Fesseln, frei aber mit Allmacht begabt, nun auch in Indien angesetzt ist, um Despotie und Aberglauben von ihren urältesten Thronen zu stürzen!

Die Zeit kann nicht fern seyn, wo der Reisende die Quellen des Jumna und Ganges besuchen, und den ewigen Gott in jenen grandiosen Naturscenen bewundern wird, ohne von heuchlerischen Brahminen angebettelt und von dem Anblick der Pilgerschaaren niedergebeugt zu werden, welche vom Aberglauben und Betrug aus den fernsten Gegenden Indiens mit Gefahr des Lebens hergetrieben werden, damit sie der Priester-Habsucht den Tribut entrichten. Schon werden ja die Züge der Betrogenen kleiner mit jedem Jahre, und der heiligen Faullenzer, die sie ernähren, immer weniger.

Die Quelle des Ganges, 13,000 Fuß über der Meeresfläche, wie sie von den Brahminen angenommen wird, rauscht, als ein mächtiger Bergstrom unter einem Gletscher hervor, der in ein tiefes Felsenbecken des Himalayah aus den Regionen des ewigen Schnees sich herabzieht. Rundum ist die Gegend eine menschenleere Wüste. Lebensgefährliche Stege über Abgründe, oder steile Bergwände hinan, hat der wißbegierige Reisende und der Andächtige zu wandern, welcher letztere mit jedem Schritte, den er am heiligen Strome thut, einen Anspruch mehr auf die ewigen Freuden des Himmels zu erlangen wähnt. Bei der vermeintlichen Quelle (denn die eigentliche ist über dem Gletscher in noch höhern Regionen!) steht eine kleine Pagode, in welcher die Priester den Pilgern ihren Segen verkaufen. Sie selbst wohnen in Felsenhöhlen, deren das zerklüftete Gestein eine Menge hat, und die Pilgerschaaren haben auch kein anderes Obdach. Viele, die nicht selbst wallfahrten mögen, schicken Diener, um das heilige Wasser in Gefäßen zu holen, welche die Brahminen, gegen Bezahlung, mit ihrem Siegel beglaubigen. – Ehedem [116] wurde der Ort jährlich von 15–20,000 Pilgern besucht, und Unglücksfälle, durch die Gefahren des Wegs, geschahen jährlich zu Hunderten. Seitdem die Engländer den Himalayah so häufig, wie die Berner Alpen, durchstreifen, sind auch die Pfade hieher sicherer und bequemer hergestellt worden; aber die Frequenz dieses berühmten Wallfahrtsortes hat sich gegen sonst um Neunzehntel vermindert, obschon die Brahminen fortfahren, seinen Besuch als das Gott wohlgefälligste Werk zu preisen.