Die neapolitanischen Gefängnisse

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Autor: Carl Binz
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Titel: Die neapolitanischen Gefängnisse
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 652–655
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die neapolitanischen Gefängnisse.
Von Carl Binz in Neapel.

Nicht mit Unrecht hat man die Behauptung aufgestellt, daß öffentliche Wohlthätigkeitspflege und Criminaljustiz die besten Gradmesser seien für die Höhe, worauf sich die Freiheit und Humanität irgend eines staatlichen Zustandes befänden. Je edler und großartiger ein Staat für seine Kranken und Verlassenen sorgt, um so mehr beweist er, daß sein innerstes Wesen durchdrungen ist von seinem eigentlichen Zwecke, dem Geiste der Liebe und Fürsorge für alle seine Mitglieder – je milder und menschlicher er in seiner Schattensphäre, der Strafe des Verbrechens, wirkt, um so klarer ist es ihm geworden, daß seinen Strafmethoden nicht mehr das Princip der thierischen Rache, sondern das der sittlichen Besserung und nothwendigen Gegenwehr zu Grunde liegt.

Legen wir jenen Maßstab an Neapel und seine Verwaltung an, wie wir sie vor den Ereignissen dieses Sommers lange und vielfach zu beobachten Gelegenheit hatten, so treffen wir auch hier wieder auf dieselben traurigen Resultate, wie wir sie überall finden, wo die Dynastien vor allem Andern daran dachten, ein starres System offener oder halbconstitutioneller Alleinherrschaft rücksichtslos durchzuführen, nur um den süßen Besitz von Thron und Großvaterstuhl durch kein Wünschen und Wollen seitens der getreuen Völker gestört und verbittert zu sehen. Die Wohlthätigkeitsanstalten Neapels befanden sich beim Sturze des früheren Systems genau auf der nämlichen Stufe, wie der ganze Staat. Auf demselben Punkte der Ausbildung und Entwickelung zurückgeblieben, wohin ihre Stifter sie mit vollen und freigebigen Händen gestellt hatten, waren auch sie der allgemeinen Stagnation anheimgefallen, und ihre Einrichtungen stachen von denen anderer Länder ebenso ab, wie umgekehrt der heitere Himmel Italiens von der grauen und nebeligen Atmosphäre des Nordens. Auch an ihnen nagte die Corruption und die Unterschlagung wie ein ewig fressendes Geschwür, und ihre Beamten verwalteten um kein Haar besser, als eben in allen Zweigen der Staatswirthschaft verwaltet wurde.

Trauriger noch und erschreckender ist das Bild, das wir von der Criminaljustiz des Königreiches beider Sicilien zu entwerfen haben. Man hat bei Gelegenheit der Eroberung Siciliens durch Garibaldi viel über die früher unter den Bourbonen dort angewandten Folterinstrumente gesprochen und geschrieben. Hoffen wir zur Ehre unsers Jahrhunderts, daß das Meiste davon übertrieben sei. Wir wissen es nicht. Neapel selbst hat uns nichts der Art aufgewiesen. Nur in einem Falle scheint es uns nach höchst glaubwürdigen Ohrenzeugen, welche das Jammergeschrei des Unglücklichen aus seinem Gefängnisse während der Nacht vor seiner Hinrichtung vernahmen, als ob auch selbst die Justiz der Hauptstadt nicht freigeblieben sei von dem Schandflecke der Tortur behufs der Erpressung passender Geständnisse. Es war dies bei Gelegenheit des Processes gegen den Calabresen Milano, der vor einigen Jahren den König Ferdinand aus politischer Privatrache zu tödten suchte. Man wollte ihn zwingen, seine Mitschuldigen zu nennen – bekanntlich wittert das böse Gewissen der Despoten deren ja immer und allenthalben – er leugnete standhaft jede [653] Mitwissenschaft irgend eines Andern, und bei dieser Gelegenheit war es, wo uns ein ganz in der Nähe des Gefängnisses wohnender Deutscher versicherte, daß nach den Schmerzenstönen, die der am andern Tage mit einem so außerordentlichen Muthe in den Tod gegangene Unglückliche in der Nacht vorher ausgestoßen, er an der Anwendung von Folterwerkzeugen durchaus nicht zweifeln könne.

Aber leider haben wir, um die neapolitanische Justiz und ihre Vertreter und Herren zu richten, weder Daumenschrauben noch Stirnbänder nöthig. Die Enthüllungen, welche uns die Tage nach dem 25. Juni brachten, beweisen zur Genüge, wie scheußlich und elend es damit unter der Dynastie bestellt war, um deren Untergang heute so viele fromme und legitime Seelen selbst im lieben Deutschland noch weinen und wehklagen. Als sich in jenen Tagen die zahlreichen Gefängnisse Neapels öffneten, um „politischen Verbrechern“ aus allen Ständen und von jedem Alter Licht und Lebensluft wiederzugeben, zog man aus einem derselben ein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes menschliches Wesen hervor. Mit lang und unordentlich herabfallendem Bart- und Haupthaar, von Ungeziefer und Lumpen bedeckt, stumpf und gleichgültig gegen das, was mit ihm vorging, so fand man ihn, ein würdiges Zeugniß, das die Justiz und Polizei Neapels sich in Lebensgröße ausgestellt zum Beweis dafür, daß sie reif war zur Ernte. Man wußte nicht, wie er hieß, wer er sei und weshalb man ihn hierhin gebracht. Er selbst verweigerte für einstweilen jede Auskunft. In den Polizeiacten fand sich nur, daß er von den römischen Behörden nach Neapel geschickt worden war, weil man ihn in Rom nicht sicher genug glaubte. Man zog ihn an’s Tageslicht, mitleidige Menschen pflegten und kleideten ihn, und spätere Aufklärungen ergaben, daß er ein Genosse und Freund Mazzini’s war und als solcher von den Herrschern der Halbinsel unschädlich gemacht werden mußte. Da keine directen Beweise gegen ihn vorzuliegen schienen, so hatte man es am einfachsten gefunden, ihn in einen probaten Kerker Neapels zu werfen und dort bis auf Weiteres verfaulen zu lassen.

Ein Gefängniß der Polizeipräfectur in Neapel.
Nach der Natur gezeichnet von C. Grob.

Am 10. Juli erließ der liberale Minister Romano eine Bekanntmachung, worin die Abschaffung aller jener Kerkerlöcher angezeigt wurde. Es war nun wohl schon das zehnte Mal, daß diese sogenannten criminali oder segreti abgeschafft und demolirt werden sollten. Schon ein Decret vom 8. April spricht davon, „in Erwägung, daß die Gefängnisse nicht zur Qual, sondern nur zur Haft der Gefangenen dienen sollen.“ Ferdinand II. erließ 1848 eine ähnliche Verfügung, nachdem er schon bei seiner Thronbesteigung durch Rescript vom 11. Juni 1831 befohlen hatte, daß diese „Gräber der Lebendigen, diese Todeshöhlen“, wie gli annali civili del regno di Napoli sie bezeichnen, für immer zugemauert werden sollten. Wie so manches Andere, was die Zeit und ihr Fortschritt so dringend erheischte, so unterblieb auch die Ausführung jener von einem bessern Geiste dictirten Verordnungen, oder wenn man wirklich in dem einen Criminal-Gebäude das alte Uebel hob, so entstand an seiner Stelle dasselbe Uebel in vermehrter und verbesserter Form an einem andern Orte. Die Mittel und Wege, womit die Regierung Neapels und Siciliens ihren Unterthanen die einzig richtigen Begriffe von Staatsrecht und Unterthanenpflicht beizubringen suchte, waren des ganzen Systems würdig, und heute, wo jenes System gestürzt ist und trotz Bomben und Bajonneten in elenden Trümmern der Geschichte zu Füßen liegt, die seine wüsten Züge bereits in ihr unvergängliches Buch eingetragen, heute sehen wir jene Gefängnisse geöffnet vor uns, um Zeugniß abzulegen für das oft und viel angetastete Recht der Selbsthülfe. Dieses Recht steht weder in den Büchern der Sibylle, noch in den Institutionen des Justinian, noch in den Satzungen der Concilien begründet und niedergeschrieben – aber seine ehernen Schriftzüge leuchten uns allenthalben dort entgegen, wo die Nationen von dem Despotismus gelitten haben und noch leiden, und nirgends haben wir sie deutlicher gesehen, als in den politischen Gefängnissen Neapels.

Es macht einen eigenthümlichen Eindruck auf Sinne und Gemüth, wenn man unter diesem schönen, blauen Himmel mit seiner weichen, durchsichtigen Luft auf einmal eintritt in den Hof der Polizeipräfectur von Neapel und in die unmittelbar daran stoßenden Gemächer. Unheimlich, schmutzig und stinkend wie all’ diese Räume sind, so ist auch unheimlich, trüb und erschreckend der Eindruck, den sie auf das Gemüth des Besuchers ausüben. Nur der Eindruck der Gefährlichkeit ist verschwunden mit den Ajossa’s und Campagna’s, die dort herrschten und von dort aus hausten, und wir betreten heute jene Räume, ohne uns fürchten zu müssen, daß auch unser Name bereits dort in den Büchern der allmächtigen Hermandad verzeichnet sei und daß auch uns vielleicht recht bald eines jener Gemächer berge, deren schwere Eisengitter so finster zu uns herüberlugen. Diese Gitter umgeben rundum den Hof, worin sich Polizeisoldaten, Beamte aller Grade, Lazzaroni und Galantuomini von jeder Sorte bunt durcheinander bewegen. Man macht uns ehrerbietig Platz, denn der forestiere (Fremde) gilt in Neapel immer noch sehr viel, und einer der Schließer wendet sich mit devoter Dienstmiene an den uns begleitenden jungen Regierungsbeamten und fragt nach seinem Begehr. Bei der kurz hingeworfenen Bemerkung „i criminali“ überfliegt ein bedeutsames Lächeln sein Gesicht. Er scheint sich darüber zu freuen, Jemanden dorthin führen zu können, wo auch er – so erzählt er wenigstens – als Märtyrer einer trüben Zeit gelitten. Er zündet eine alte Oellampe an, ergreift von der Wand ein mächtiges Bund Schlüssel, es knarrt die erste eiserne Thüre – und wir folgen ihm.

Zuerst in einen langen, luftigen Corridor eintretend, war ich [654] höchst erstaunt, mich auf einmal zwischen einer Menge Menschen jeden Alters und Geschlechts zu sehen. Theilweise umherstehend, theilweise auf einer langen an der Wand hingezogenen Pritsche liegend, geriethen sie alle mit einander in unruhige Bewegung, als sie den unerwarteten Besuch erblickten. Unser Begleiter wurde sofort von ihnen in seiner Eigenschaft als Neapolitaner und Beamter der neuen Regierung wiedererkannt, sie umringten ihn, faßten seine Hände, seine Rockzipfel, und wo sie seiner irgend habhaft werden konnten, und begannen mit aller Lebhaftigkeit des Südländers ihre Bitten, Klagen und Wünsche herzujammern, gleich als ob der am meisten erhört würde, der am meisten und am kläglichsten sich gebehrdete. Es kostete einige Mühe, uns durch diesen wüsten Menschenknäuel durchzuwinden. Wir gelangten an das Ende des Corridors, wo eine andere Thüre geöffnet wurde, die uns bald von jenem unbehaglichen Ungestüm erlöste und es mir möglich machte, unsern Begleiter nach Ursprung und Wesen dieser seltsamen, wie die Heringe groß und klein, männlich und weiblich auf einander gepackten, Gefangenen zu fragen.

„Das sind die Unterbeamten der alten Polizei und ihre Familien, die wir hier untergebracht haben, hinter Schloß und Riegel, um sie vor der wilden Wuth und Rache der Bevölkerung zu schützen,“ antwortete unser Neapolitaner. „Leider haben wir nicht früh genug zu dieser Gewaltmaßregel gegriffen, und so hat man denn schon eine gute Anzahl davon getödtet oder doch zu tödten versucht.“ Eine erbauliche Einleitung zu dem, was nun weiterkam! Der Schließer bat uns, Acht zu haben, leuchtete mit seiner trüben Lampe auf einige schmutzige, schlüpfrige Stufen, öffnete eine dritte Thüre, trat sich bückend in dieselbe ein und hieß uns ihm folgen. Ein feuchter, stinkender Modergeruch quoll uns entgegen. Wir thaten noch zwei Schritte und befanden uns mitten in einem niedrigen, dreieckigen Gemache. Seine Wände waren ziemlich frisch mit Kalk beworfen, an vielen Stellen jedoch zerbröckelt und mit allerlei Namen und Jahreszahlen neuern Datums beschrieben, der Boden mit schlechten Steinplatten gepflastert, die ganz und gar das Ansehen hatten, als ob Mancher darauf herumgewandelt sei, und in der einen Ecke befand sich eine bettartige Erhöhung von schlichten Mauersteinen, deren steinernes Kopfkissen und glatt abgerutschte Oberfläche ebenso deutlich ihre Bestimmung, wie ihre unzweifelhafte Anwendung erkennen ließ. Ein Gefäß von Thonerde, dessen Form und Ansehen seinen Zweck zu deutlich verrieth, stand neben dem Lager. Ich kehrte mich nach allen Richtungen um, hoffend in einem der dunkeln Winkel des dreieckigen Raumes irgend ein anderes Möbel zu finden, da ich mir doch nicht von vornherein vorstellen konnte, daß man einem Menschen in seiner politischen Rache so alle Bequemlichkeiten des Lebens entzogen habe, die wir doch den schlechtesten unserer Hausthiere gönnen und verschaffen – aber es war vergeblich. Die nackten, feuchten Wände, der schmutzige, aufgerissene Fußboden, das harte, steinerne Bett mit steinernem Kissen, der mephitische Stinkapparat, das war die Ausstattung dieser politischen Besserungshöhle, dieses neapolitanischen „Zuchthauses“, nicht für Raubmörder – denn diese haben es dort viel besser – sondern für gebildete Menschen, die sich ganz einfach berechtigt glaubten, über diese oder jene Staatsangelegenheit anderer Meinung als ihr Landesvater zu sein. Von Licht in diesem Raume war natürlich so gut wie gar keine Rede. Das wenige, was aus dem finstern Winkel vor dem Gemache hineinfallen konnte, mußte sich durch ein kleines, in der Thüre angebrachtes Gitterfenster hindurchwinden, und auch das konnte man noch durch einen angebrachten Schalter vollends verschließen. Um mir nichts von der Wahrheit des Eindruckes zu ersparen, den der Aufenthalt an diesem scheußlichen Ort auf die Sinne und das Gemüth des darin Eingeschlossenen ausüben mußte, bat ich meine Begleiter, mich für einige Augenblicke darin allein zu lassen. Man that es. Ich hörte die schwere Thüre in ihren rostigen Angeln knarren, der Schalter an der Thüre wurde vorgeschoben, ich setzte mich auf das „Bett“ und genoß nun in re für eine halbe Minute einen kleinen Theil dessen, was so Mancher vor mir Tage und Wochen lang und vielleicht noch länger genossen, um bei seiner Befreiung einen Haß mit sich zu bringen aus jenen Räumen, der ebenso finster und unerträglich war, wie deren Atmosphäre.

Einige Schritte weiter, und wir befanden uns an einer zweiten Thüre. Wir betraten ein zweites Gemach, ganz ähnlich dem eben verlassenen, nur hatte es kein „Bett“, sondern statt dessen einen steinernen Stuhl. Ich fragte unsern neapolitanischen Freund, wo denn hier der Gefangene geschlafen habe. Er deutete, als ob sich das von selbst verstanden, mit dem Finger auf die schmierigen Platten, die den Fußboden bildeten, und fügte hinzu, es sei gerade hier gewesen, wo im vergangenen Winter die Ratten einem jungen Manne, während er todmüde auf dem Boden ausgestreckt geschlafen, die Zehen angefressen. Er nannte seinen Namen, den ich jedoch, da er mir fremd war, wieder vergessen. Wir sahen nun noch zwei andere Gefängnisse, die in demselben Gebäude lagen. Sie waren nicht so schlimm, wie die eben beschriebenen, aber vollständig schlimm genug, um auch ihre Zerstörung wünschen zu lassen. Doppelt und dreifach athmete ich auf, als ich wieder an die Luft trat und über mir den blauen Himmel sah, der so unendlich liebenswürdig in den schmutzigen Hofraum hinabschaute. Unser Führer fragte mich, ob wir auch noch die Gefängnisse von San Francesco zu sehen wünschten, er stehe zur Verfügung. Ich bedeutete ihm dankend, daß ich genug gesehen.

Wie oft und auf wie lange diese Gefängnisse der Polizeipräfectur von Neapel als Aufenthaltsort für einzelne Individuen dienten, konnte ich nicht mit Sicherheit in Erfahrung bringen. In den Tagen, an denen ich sie besuchte, waren die politischen Leidenschaften ganz Süditaliens dermaßen aufgeregt, daß es eine reine Unmöglichkeit war, von einem Italiener etwas Sicheres und Unparteiisches über solche Dinge zu erfahren, und andere Zeugen hatte ich nicht. Aber genug, daß ich die Kerker sah und betrat, daß sie genau so waren, wie ich sie eben beschrieben, daß sie ganz und gar den Charakter bewohnter Gemächer an sich trugen, und daß überhaupt nicht anzunehmen ist, sie seien ohne Grund gebaut worden und ohne Grund noch vorhanden gewesen. Vergleiche ich Alles mit einander, was ich für und gegen darüber gehört habe, so scheint es mir am wahrscheinlichsten, daß sie hauptsächlich zu Untersuchungsgefängnissen für politische Gefangene dienten, die man gern dort festhielt, wenn es irgend galt, ein Geständniß zu erpressen. [1]

Im Uebrigen kann man der bisherigen neapolitanischen Criminaljustiz durchaus nicht viel Böses nachsagen, denn gegen ihre Räuber und Mörder schien sie uns eine gewisse Zärtlichkeit zu [655] besitzen. Wenn man durch die Straßen von Neapel schlendert, so begegnen einem sehr oft ganze Gruppen von gelb oder roth gekleideten Menschen, die von einigen Soldaten escortirt werden. Die Erscheinung ist zu auffallend, als daß der Fremde nicht stehen bleiben sollte, um zu fragen, wer das sei, und da erzählt man ihm denn, daß es die Criminalsträflinge sind, und daß die Gelben sich gegen das Eigenthum, die Rothen sich gegen die Person versündigt haben. Ihr äußeres Auftreten läßt es wenig vermuthen. Nur die Kette, welche von den Rothen an dem einen Beine und um die Lenden befestigt getragen wird, berechtigt zu dieser Annahme. Sonst gehen diese Menschen mit einer solchen Gemüthsruhe durch die dichtbelebten Straßen einher, plaudern hier und da mit den sie bewachenden Soldaten, halten dort an einem Cigarrenladen still, um sich eine Cigarre für den Weg anzuzünden, daß man eher glauben sollte, sie wären von einer Ehren-, als von einer Aufsichtswache begleitet. Und wer einmal die Verbrecher am Leben ihrer Mitbürger in der schönen Bucht von Bajä in den dort am Wege liegenden Steinbrüchen oder in den Räumen des Arsenals von Neapel hat arbeiten sehen, der muß unbedingt der Ueberzeugung werden, daß hier nur ein etwas gemäßigtes dolce far niente ist, was wir bei uns mit „Zuchthausstrafe“ und „schwerem Kerker“ bezeichnen. Aber freilich, jene rothen und gelben Gauner und Raubmörder sind ja keine Demokraten und Hochverräther und wie die sonstigen Polizeiausdrücke für „politische Verbrecher“ alle heißen mögen. Die Kerker der Präfectur gehörten nur diesen an. Und auch sonst überall im Königreiche beider Sicilien konnte man es gewahren, daß für die Verbrecher aller Art besser gesorgt war, als für sie. Beinahe alle Gefängnißhäuser liegen an der offenen Straße. Den ganzen Tag hocken ihre Bewohner an den vergitterten Fenstern, unterhalten sich mit den Vorübergehenden und betteln sie mit einem „un povero prigioniere, Signor“ an, während die „Schlechtgesinnten“ in Forts und Casematten untergebracht waren, wo kein menschliches Antlitz ihnen begegnete, mit Ausnahme dessen ihres Kerkermeisters. Von Zeit zu Zeit erließ man dann eine sogenannte Amnestie, um der Bevölkerung und Europa Sand in die Augen zu streuen. Europa ließ sich zuweilen täuschen und schien wenigstens da und dort an eine bessere Zukunft des süditalienischen Volkes glauben zu wollen, aber Neapel selbst glaubte es nie, denn man wußte es ja zu genau, obgleich man es nicht sagen durfte: – jene Amnestie existirte nur auf dem Papier, und die darin Einbegriffenen blieben nach wie vor im Kerker oder in der Verbannung. Erst als das Grollen des Aetna den Bourbonen zeigte, daß sie auf einem gefährlichen Boden ständen, erst als Garibaldi am Pfingstsonntagmorgen in feurigen Zungen zu ihnen geredet, erst da öffneten sich alle Thore und öffneten sich alle Kerker, einstweilen in Palermo und bald darauf auch in Neapel. Das absolute Königthum fiel, und mit ihm die Consequenzen seiner Staatslehre. Garibaldi war stärker als sie.

Es ist traurig, noch in unserm Jahrhundert und in Europa solchen Zuständen zu begegnen, von denen man gern annehmen möchte, daß sie nicht der Geschichte, sondern nur der Gefängnißromantik angehörten, und mancher unserer Leser und Leserinnen wird einen tiefen Seufzer in das Land jenseits der Alpen schicken, aus zartem Mitleid für die Menschen, die dort noch zu dulden haben, und aus Wohlbehagen über das süße Bewußtsein, an den freien Ufern des Rheins oder der Elbe zu wohnen und geschützt zu sein vor solchen und ähnlichen Dingen, „soweit die deutsche Zunge klingt“. Schöner Traum des vaterländischen Gemüthes, der du dich so warm und wonnig über die schwarze Wirklichkeit gelagert, möchtest du bald zur Wirklichkeit werden! Deine Schwingen werden getragen von dem Hauche der Freiheit, der belebend aus Süditalien gen Norden zieht. Aber gebt Acht, daß ihr nicht immer träumt, und daß ihr nicht immer für fremdes Weh weint und für fremdes Glück jubelt, während ihr die Wunde vergeßt, die ihr am eigenen Leibe tragt. Neapel hatte seine geheimen Kerker, und Rom hat sie noch, und auch Venedig dürfte nicht viel besser damit daran sein, – aber auch bei uns, in dem Lande der Denker und Reformatoren, herrscht ja noch das Princip der politischen Rache, existirt noch das Zuchthaus und der „schwere Kerker mit Eisen“ für den „politischen Verbrecher“, oder wartet noch die Geist und Körper vergiftende pennsylvanische Zelle dessen, der sich das Recht herausnimmt, anderer Meinung als seine landesväterliche Regierung zu sein. Unsere Gefangenen aus den Jahren 1848 und 1849 erzählen ja davon, und könnten die Gräber sprechen, sie würden uns manches Seitenstück liefern zu den „neapolitanischen Gefängnissen“.



  1. Ueber die Gefängnisse des Fort San-Elmo läßt sich die Times schreiben: „Einer der interessantesten Gegenstände ist uns jetzt das leicht gewonnene Castell San-Elmo. Die ganze Bevölkerung Neapels, die Männer wie die Frauen, wallfahrtet rastlos zu dem Schreine ihrer patriotischen Märtyrer. Ich ging gestern mit einigen Freunden hin. Wir gingen zuerst durch die Marmorkirche und das Kloster des heiligen Martin, wo unsere rothen Garibaldihemden den Mönchen wenig Gutes zu bedeuten schienen. Sie schauten uns an, da wir vorüberschritten, ohne ein Auge von uns zu lassen; sie selbst in weißen Kutten, groß, stattlich, regungslos, daß man sie für Statuen hätte halten mögen; gute Kartäuser, die in einem Marmorparadiese Buße thun, durch ihr Gelübde zu ewigem Schweigen gebunden und mit äußerlich so ruhiger Miene, als es möglich war unter der unverkennbaren Angst um die sichtbaren und verborgenen Schätze, die sie seit undenklichen Zeiten hier aufgehäuft. Von den Marmorzellen der Mönche nach den einsamen Kerkern der Opfer von San-Elmo ist der Uebergang nur kurz, aber der Contrast ist schrecklich. Die steinernen Stufen führen über sechs Geschosse hinab, und auf jedem der Geschosse war Raum für etwa zehn der Unglücklichen. Einige sehr elende Zellen hatten Fenster; da aber der Blick von dem Hügel über das lieblichste Panorama von Land und See ein zu großer Trost für den einsamen Gefangenen gewesen wäre, so war das Fenster mit dicken Holzgittern verrammelt, nicht um die Flucht zu verhindern, denn nur ein Vogel hätte dies von solcher Höhe versuchen können, sondern um dem Armen die Aussicht auf die heimathlichen Auen zu rauben. Auf dem niedrigsten Geschoß ist kein Fenster. Durch eine kleine Oeffnung in der Thür ward des Morgens dem Gefangenen etwas Brod und Wasser gereicht, die Oeffnung schloß sich wieder, und Nacht war es wieder um ihn vierundzwanzig Stunden lang. Ich will Ihnen von den Scheußlichkeiten, die ich gesehen, nicht weiter reden, ich möchte nur noch eben die Schießscharten erwähnen, die so eingerichtet waren, daß die Schildwachen die Gefangenen in ihren Zellen, auch in ihren Betten erschießen konnten. Wie da die Hinrichtungen von Schweizern und sicilischen Meuterern im Großen betrieben wurden, ohne daß eine Seele eine Ahnung davon hatte; was alles die Henker, die noch gestern im Solde des Königs gearbeitet, uns heute für unerhörte Scheußlichkeiten, die hier verübt worden, eifrig mitgetheilt, werden Sie allmählich aus den Flugschriften ersehen, deren Gegenstand San-Elmo, wie weiland die Bastille, gewiß werden wird. Ja, die guten Neapolitaner brennen vor Ungeduld, von San Elmo keinen Stein auf dem andern zu lassen. Sie erwarten nur das Wort des Dictators. Es dürfte jedoch ein schweres Stück Arbeit sein. Ich schritt auf den obern Zinnen umher und sah, wie die ungeduldigen Bürger die Kanonenungethüme zurückstießen, deren Schlünde auf die gedrängtesten Stadttheile gerichtet waren. Welche Festung und welcher Schutz für die Stadt! Sie scheint ein interessantes Symbol der ganzen Land- und Seemacht der Bourbonen, weniger als nutzlos gegen den fremden Feind, ausschließlich und gänzlich nach innen gerichtet.“
    D. Red.