Zum Inhalt springen

Die neue Justiz-Aera

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Friedrich Helbig
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die neue Justiz-Aera
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 616–618
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[616]
Die neue Justiz-Aera.[1]
Zur Orientirung über die am 1. October in’s Leben tretende Neugestaltung des deutschen Gerichtswesens.


Während sich in die Führung der deutschen Nation augenblicklich diejenigen Parteien theilen, die sich bisher dem Reiche und seiner Entfaltung entgegenstellten, steigt aus dem Schooße desselben wiederum eine seiner bedeutsamsten Schöpfungen, eine Institution, die sich bis in die entlegensten Winkel unseres Vaterlandes fühlbar machen wird; die Einheit deutscher Rechtspflege und deutschen Rechtsverfahrens, die große deutsche Justizorganisation. Ein Rückblick auf die Geschichte und das Wesen dieser tief eingreifenden Umgestaltung und die allgemeinen Grundsätze, welche bei dem am 1. October d. J. in Kraft tretenden Justizverfahren Geltung haben werden, dürfte daher nicht blos aufrichtend für die augenblicklich herabgedrückte Stimmung, sondern auch wichtig für das praktische Leben sein.

Unter den Forderungen, welche das in unserm Jahrhundert wieder mächtig erstarkte Nationalbewußtsein des deutschen Volkes mit gebieterischer Mahnung an die Leiter seiner Geschicke stellte, stand immer voran der Anspruch auf ein gleiches und einheitliches Recht und zugleich auf eine Heraushebung desselben aus den schweren Banden drückender Formen und dem lichtscheuen Verschluß der Gerichtsstuben. Es war nicht so leicht, dieser Forderung Gewähr zu verschaffen, denn das nationale deutsche Recht, dessen Wiege nicht zwischen Schranken und Schragen, sondern auf freier Wahlstatt stand, war durch das aus Wälschland herübergekommene römisch-canonische Recht in seiner eigenen Lebensentwickelung gehemmt und unterbrochen worden. Der starre Formalismus des letzteren hatte es immermehr dem Volksbewußtsein entfremdet und in die Arme des gelehrten Richters geführt. Die wachsende Zerstückelung des Reichs zerriß seine Einheit und stellte neben die gemeine die jene überbietende particulare Satzung. Der Gang der Rechtsverfolgung wurde ein immer langsamerer und schwerfälligerer, und mit der wachsenden politischen Selbstständigkeit des Volks erhob sich dessen Ruf nach Sprengung der erstarrenden Fesseln, nach Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens nur immer mächtiger. Seltsamer Weise hatte gerade die Botmäßigkeit, unter welcher das linksrheinische deutsche Gebiet längere Zeit gestanden hatte, demselben das nach diesen Grundsätzen geregelte französische Verfahren gebracht, die größte Segnung aus der Hinterlassenschaft des großen Völkertyrannen.

Als in den achtundvierziger Jahren alle Volkswünsche auf den offenen Markt gebracht wurden, stand das auf Reform der Rechtspflege gerichtete Verlangen in erster Reihe. Durch die zunächst erreichte Einführung der Schwurgerichte war der Bann gebrochen, der Weg zum Ziele angetreten. Die Gesetzgebung der einzelnen Länder war nicht müßig. Besonders bahnbrechend ging Hannover vor. Mit frischem keckem Griffe warf es das alte System über den Haufen und schuf in seiner im Jahre 1852 veröffentlichten Civilproceßordnung die fast in allen Zügen getreue Mutter des am 1. October dieses Jahres in Kraft tretenden neuen Verfahrens. Im Jahre 1862 setzte dann auch der weiland deutsche Bundestag, jedoch unter Ausschluß Preußens, das damals schon seine eigenen Wege zu gehen anfing, in Hannover eine Commission zur Ausarbeitung einer Allgemeinen deutschen Proceßordnung nieder.

Da kam das Jahr 1866 und die Aufrichtung des Norddeutschen [617] Bundes. Seine gesetzgeberischen Organe nahmen die große nationale Arbeit sofort auf, und die erste ausgetragene Frucht, welche sie zeitigte, war die Herstellung eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs. Es war die leichtere Arbeit, denn auf diesem Gebiete war die nationale Entwickelung weniger von wälschen Einflüssen durchbrochen worden, es war aber auch die drängendere, denn da, wo es „an Hals und Hand ging“, um in der Sprache des altdeutschen Rechts zu reden, war die territoriale Verschiedenheit der Gesetze eine empfindlichere, als in den Fragen um Mein und Dein. So vollzog sich schon am 25. Mai 1870 die Geburt des Norddeutschen Strafgesetzbuchs, und die im nächsten Jahre zu dem Bunde hinzutretenden süddeutschen Staaten nahmen den norddeutschen Täufling ohne Weiteres an Kindesstatt an. Daneben war aber auch in Ausführung des Artikels 4 der Norddeutschen Bundesacte eine Commission zur Förderung der weiteren gesetzgeberischen Arbeiten auf dem Gebiete des Rechts zusammengetreten, zunächst zur Ausarbeitung eines Entwurfs zu einer deutschen Civil- und Strafproceßordnung. Schon war der neue norddeutsche Entwurf fertig und harrte der Sanction durch die gesetzgebenden Organe, als die großen Ereignisse des Jahres 1870 dazwischen traten und eine Erneuerung und Erweiterung der Commissionsarbeiten nöthig werden ließen. Nachdem die Vorlagen das Medium des Bundesraths und einer Reichstagscommission durchschritten, kamen sie in der Schlußsitzung des Reichstags am 21. December 1876, nicht ohne schwere Geburtswehen, hauptsächlich durch das Verhalten der nationalliberalen Partei zur Annahme. Auch kann nicht geleugnet werden, daß die starke Arbeitskraft des Justizministers Dr. Leonhardt sich erhebliche Verdienste um das Zustandekommen des Gesetzes erworben hat.

An diese Gesetze schloß sich dann im Jahre 1878 die Rechtsanwaltsordnung an, sowie die gesetzliche Fixirung der Gerichtskosten, der Gebühren für die Zeugen und Sachverständigen, die Gerichtsvollzieher und die Rechtsanwälte. Alle diese Gesetze treten zum 1. October 1879 im ganzen deutschen Reiche in Kraft. Von diesem Tage datirt somit ein ganz neuer geschichtlicher Abschnitt, eine neue Aera der deutschen Justiz. Die volle Krönung des Werkes wird indeß erst mit der Fertigstellung eines deutschen Civilgesetzbuches eintreten, mit dessen Ausarbeitung eine vom Reichstage ernannte Commission beschäftigt ist. Vor Jahren schon ist durch die Codification des Handels- und, noch vorher, des Wechselrechts hier eine wichtige Etappe geschaffen worden.

Die allgemeinen Grundsätze, welche durch das neue Verfahren hindurchgehn, sind, in Umrissen gezeichnet, folgende.

Gewissermaßen oberster Grundsatz, und als solcher auch in dem Gerichtsverfassungsgesetze vorangestellt, ist die völlige Unabhängigkeitsstellung der Gerichte. „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt.“ Auch der letzte Schein einer Cabinetsjustiz ist verflogen; alle Ausnahmegerichte sind ausdrücklich für unstatthaft erklärt. Die Loslösung der Rechtspflege von der Verwaltung ist, wo ja noch das Gegentheil bestand, nunmehr vollendete Thatsache.

Das Verfahren – im Strafrecht, Civilrecht und Concurse – ist innerhalb der Marken des deutschen Reiches jetzt ein völlig gleiches. Die richterliche Gewalt eines jeden deutschen Gerichtes erstreckt sich gleichmäßig über das ganze Reich, auf Jeden, der sich in den deutschen Grenzen aufhält. Der Betroffene hat einer an ihn ergangenen Weisung zu folgen, auch wenn das bestimmende Gericht nicht speciell dem Einzelstaate zugehört, in dem er sich befindet. Ebenso sind auch die Urtheile jedes deutschen Gerichts ohne Weiteres im ganzen deutschen Reiche vollstreckbar.

Jeder bei einem deutschen Gerichte zugelassene Anwalt ist befugt, vor jedem deutschen Gerichte als Vertheidiger und als Beistand einer Partei aufzutreten; nur die eigentliche Vertretung ist bei den vor den Landgerichten und den höhern Instanzen verhandelten Processen, welche dem Anwaltszwange unterliegen, an die besondere Zulassung zur Praxis vor dem Gericht des Processes geknüpft. Dagegen kann in den vor den Amtsgerichten abgewickelten Processen (Parteiprocessen), welche hauptsächlich Sachen behandeln, deren Werth die Summe von dreihundert Mark nicht übersteigt, jede proceßfähige Person vor jedem deutschen Amtsgerichte ihre Sache selbst führen oder mit deren Führung eine dritte Person, sei’s ein Rechtsanwalt oder eine andere rechtlich selbstständige Person, beauftragen.

Von großem Werthe, namentlich für die Geschäftswelt, ist die allgemeine Einführung des Mahnverfahrens. Bekanntlich findet der größte Procentsatz aller bei Gericht eingehenden Klagen seine Veranlassung in einer bloßen Zahlungsunlust des verklagten Schuldners und endet deshalb mit der ausdrücklichen oder stillschweigenden Unterwerfung des Schuldners unter das Gesuch des Klägers. Zu diesem Zweck genügt jetzt an Stelle der ein mündliches Verhör nöthig machenden Klage ein einfaches an das Amtsgericht des Wohnortes des Schuldners gerichtetes Gesuch um Erlaß eines Zahlungsgebots. Dieses Gebot enthält die Aufforderung an den Schuldner, binnen zwei Wochen den Gläubiger, bei Vermeidung sofortiger Zwangsvollstreckung, zu befriedigen oder beim Gericht Widerspruch zu erheben. Das Gebot kann sich auf die größten Summen erstecken.

Auch das Verhältniß zwischen Richter und Parteien ist ein freieres, selbstständiges, sozusagen reineres geworden. Der Bann des Bureaukratismus, in welchem die deutsche Beamtenwelt lange gefangen lag, ist hier durchbrochen. Die Parteien sind mündig geworden. Sie werden nicht mehr am Drahtseile amtlicher Bevormundung in der Form von an sie erlassenen Verfügungen geführt. Die Initiative ihrer Handlungen ist ihnen zurückgegeben. Frei und unbefangen erscheinen sie vor dem Stuhl des Richters in einem von diesem notirten Termine, zu dem sie sich gegenseitig selbst vorgeladen haben. Ebenso frei und unbefangen tritt ihnen der Richter gegenüber. Nicht erst vorbereitet durch ein mühsames Studium der Acten, nicht verwirrt durch die Spitzfindigkeiten, Unklarheiten und allerhand logischen Reserven eines vorhergehenden Schriftenwechsels der Parteien, läßt er die Anträge, Entgegnungen, Beschwerden und Vertheidigungen unmittelbar vor seinen Sinnen sich entwickeln. Losgelöst von der Last des technischen Dienstes, der sich in die Hände der Gerichtsschreiber gelegt findet, kann er seine Kraft allein dem Rechtfinden und Rechtsprechen widmen. Auch die Formel beherrscht ihn nicht mehr. Wie oft ist der deutsche Richter gezwungen gewesen, ihr seine bessere Ueberzeugung zu opfern! Er kann sich in unmittelbarem Verkehr mit den Parteien die Klarheit in der Sache verschaffen, welche die Parteischrift mitunter wohl geflissentlich verdeckte.

„Die Schrift,“ sagt ein neuerer juristischer Schriftsteller mit Recht, „hat zwar den Vortheil der schriftlichen Dauer, aber auch den Nachtheil des schwierigen Verständnisses und der Verdrehungen.“ Die bekannte sprüchwörtliche Redensart von der Geduld des Papieres verdankt ihren Ursprung dem volksthümlichen Mißtrauen gegen das Schreiberhandwerk.

Auch einer Schriftbarmachung der mündlichen Verhandlungen durch das gerichtliche Protokoll, soweit es sich dabei nicht um bestimmte Anträge oder den Proceß selbst aufhebende oder verändernde Erklärungen handelt, steht in strenger Verfolgung des Grundsatzes der Mündlichkeit das Verfahren entgegen. Die alte Actenherrlichkeit, von welcher der Humor des Liedes spricht, ist somit begraben. Hinter ihrem Sarge schreitet in grollender Trauer der in den Acten ergraute Beamte, der so oft bekannte, daß er ohne Acten nicht leben könne, und der an ihrem wahrhaft grausamen Wahrspruche. „Quod non est in actis, non est in mundo“ („Was nicht in den Acten steht, existirt in der Welt [des Juristen] nicht“), mit unentwegter Treue Zeit seines Lebens festhielt. Er vergißt, daß nach diesem Grundsatze der Sieg, den eine Partei erfocht, oft nur ein Sieg der Acten über die Wahrheit, der Form über den materiellen Inhalt war.

Erst im Eingangstexte des Urtheils, und allein da, wird der Thatbestand, das fachliche Verhältniß zwischen den Streitenden, festgestellt und kann dort Berichtigung finden.

Die seither bereits im Strafverfahren eingeführte Oeffentlichkeit der Verhandlung bildet eine weitere Schutzwehr gegen die schlimmen Geister des Verdrehens und Verdeutelns, der Verschleppung und Verklaubung. Sie wird ein Wecker für das Ehrgefühl, ein Mahner zur Klarheit und Bündigkeit.

Auch im Gange des Verfahrens selbst ist an die Stelle der vorgeschriebenen Form, von welcher oft kein Jota breit abgewichen werden konnte ohne die drohendsten Folgen für den Gewinn oder Verlust des Processes, eine freiere Bewegung getreten. Sonst bewegte sich das processuale Verfahren innerhalb festgezogener Schranken von einem Stadium zum anderen langsam und gemessen fort; es duldete keinen Grenzübergriff und warf hinter jeder verlassenen Station einen Wall auf, der den Rückschritt dahin, die Nachholung des darin Vergessenen oder Versäumten [618] unbarmherzig wehrte und dadurch die Parteien nöthigte, Thatsachen, welche oft erst in zweiter oder dritter Linie, nach Beseitigung verschiedener Voraussetzungen, wirksam waren, schon im Anfangsstadium vorzubringen, falls sie nicht für sie unwiederbringlich sollten verloren gehen. Heute hat das neue Verfahren mit dieser juristischen Technik (der sogenannten Eventualmaxime) fast vollständig gebrochen und sich dafür auf den Boden praktischer Zweckmäßigkeit gestellt. Es gestattet den Parteien Einwendungen und Vertheidigungen, sowie neue Beweismittel auch noch in einem späteren Stadium des Processes, ja selbst nach bereits verkündetem Urtheile, noch in der Berufungsinstanz vor- oder nachzubringen. Nur wehrt es in der letzteren einer Verbesserung und Veränderung der Klage, da diese den Grundstein des ganzen Processes bildet. Um indeß damit nicht eine böswillige Verschleppung des Processes zu begünstigen, erlaubt das Gesetz dem Gerichte, die durch die verspätete Vorbringung entstandenen Kosten der Partei aufzulegen, wenn sie nicht gehindert war, die Thatsache früher vorzubringen.

Ebenso kann der Richter den ihm vorgetragenen Proceßstoff in einer ihm angemessen scheinenden Weise sichten und aus einander trennen und z. B. über einen Theil der klägerischen Ansprüche, der bereits zum Urtheile reif oder durch Anerkenntniß oder überhaupt gar nicht mehr bestritten ist, besonders entscheiden.

Auch die alte Zerlegung des Verfahrens in zwei abgesonderte Hälften, von denen die erste der gegenseitigen schriftlichen Auseinandersetzung gewidmet war, gleichsam den Proceßstoff zusammentrug, während die andere mit dem Beweise desselben sich beschäftigte und zu diesem Behufe den ganzen Stoff, soweit er strittig war, zum zweiten Mal zu Papier brachte, hat das neue Verfahren glücklich vermieden und mit ihr auch die Ertheilung eines besonderen, der Berufung zugängigen Beweisbescheids überflüssig gemacht.

Was unsere Rechtspflege beim proceßführenden Publicum besonders in Mißcredit zu bringen geeignet war, der Wechsel der Entscheidungen in den verschiedenen Instanzen, wurde gleichfalls durch das schriftliche Verfahren und das Festhalten an der oben geschilderten Eventualmaxime vielfach begünstigt. Auch das ist anders geworden. Die Grundsätze der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit sind auch für das Verfahren der Berufungsinstanz festgehalten. Dasselbe erscheint nicht mehr als ein blos kritisches, nachprüfendes, sondern als eine Erneuerung des Processes vor andern Richtern.

So bekundet sich in dem neuen Proceßverfahren überall das sichtliche Bestreben, dem wirklichen, tatsächlichen Recht zu Ungunsten des blos formalen zum Siege zu verhelfen.

Die Vollstreckung der Hülfe, mindestens soweit sie eine reale ist, weist die neue Gesetzgebung besonderen Organen zu, dem für die meisten deutschen Gebiete neuen Institute der Gerichtsvollzieher. Auch hierin zeigt sich das Bestreben, die richterliche Stellung rein und frei zu halten; diese Schlußhandlung der processualen Thätigkeit des Richters entbehrte, wenn sie auch in ihrer letzten Consequenz nicht dem Richter selbst anheim fiel, bisher in der Meinung des Volkes doch nicht ganz des Gehässigen. Ebenso wurde die Vollstreckung der Strafen von den richterlichen auf die Behörden der Staatsanwaltschaft übertragen.

Im Strafverfahren findet sich ein großer humanistischer Gedanke besonders in der Bestimmung vertreten, daß der Angeschuldigte in jeder Lage des Verfahrens, also auch schon im Stadium der Voruntersuchung, sich eines Vertheidigers bedienen kann, mit welchem er sowohl mündlich wie schriftlich verkehren darf, daß ihm seiner ebenso wenig die Theilnahme an einem Augenscheine (Besichtigung des Schauplatzes der That) wie an der Vernehmung der Zeugen, und zwar auch der nicht in der Hauptverhandlung erscheinenden, versagt ist.

Im Concursverfahren ist dem Gesammtwillen der Gläubigerschaft eine größere selbstständige Mitwirkung eingeräumt, als dies seither im gemeinen und sächsischen Concursprocesse der Fall war, wo die Gläubigerschaft immer nur durch den gerichtlich bestallten Concursvertreter zum Worte kam.

Die Heranziehung von Laien zur richterlichen Thätigkeit wurde namentlich Seitens der Fachmänner vielfach bekämpft. Sie hat deshalb keine durchgehende grundsätzliche Berücksichtigung gefunden. Man will hier erst die Erfahrung reden lassen. Die Mitwirkung der Laien bei den Schwurgerichten, als ein getrennt vom fachmännischen Richterstande für sich selbstständig die Schuldfrage erörternder Körper, ist beibehalten. Daneben ist in den Schöffengerichten, die sich aus zwei Laien (Schöffen) und einem Amtsrichter als Vorsitzendem zusammensetzen, eine Vermischung des juristischen und Laienelements eingetreten, wogegen bei den Landgerichten die dahin gehörenden Strafsachen von fünf juristisch gebildeten Richtern abgeurtheilt werden.

Da, wo bei den Landgerichten besondere Handelskammern abgezweigt werden, bilden sich dieselben aus einem Mitgliede des Landgerichts und zwei dem Kaufmannsstande angehörenden, im Bezirke wohnenden Handelsrichtern, welche gemeinsam über Handels- und Wechselsachen urtheilen, sofern die klagende Partei den Proceß dort geführt haben will.

Auch zur Bildung eines von zwei Streittheilen gewünschten Schiedsgerichtes behufs gütlicher Austragung ihres Streites können Laien ausersehen werden. Außerdem bleibt es der particularen Gesetzgebung überlassen, in jedem Orte einen Laien als Schiedsmann, Friedensrichter u. dergl. m. zur Vermittelung von Differenzen, namentlich Beleidigungen, anzustellen.

Ob die neuen Gesetze den auf sie gestellten Hoffnungen entsprechen, ist zuletzt nur eine Frage der Zukunft. Das alte Erbtheil der Unvollkommenheit und des Irrthums, das allen Kundgebungen des Menschengeistes anhängt, wird auch ihnen nicht erspart geblieben sein. Zu einer gedeihlichen Wirkung ist aber das Eine nöthig, daß den Vorlagen volles unbefangenes Vertrauen entgegengebracht wird, sowohl auf Seiten der Gebenden wie der Empfangenden, der Richter wie des Publicums.

Zur Befestigung dieses Vertrauens und als Schlußstein unserer Skizze wollen wir an die bedeutsamen Worte erinnern, mit welchen unser Kaiser die Verabschiedung der Gesetze am 23. December 1876 begleitete: „Durch die stattgehabte Verabschiedung der Justizgesetze,“ sagte er, „ist die Sicherheit gegeben, daß in naher Zukunft die Rechtspflege in ganz Deutschland nach gleichen Normen gehandhabt, daß von allen deutschen Gerichten nach denselben Vorschriften verfahren werden wird. Wir sind dadurch dem Ziele der nationalen Rechtseinheit wesentlich näher gerückt. Die gemeinsame Rechtsentwickelung aber wird in der Nation das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit stärken und der politischen Einheit Deutschlands einen innern Halt geben, wie ihn keine frühere Periode unserer Geschichte aufweist.“

Fr. Helbig.
  1. Von dem Verfasser obigen Artikels ist vor einiger Zeit eine lediglich für Laien bestimmte systematische Darstellung des Wissenswerthesten aus den neuen Justizgesetzen nebst einem Anhange, enthaltend Formulare für die gebräuchlichsten Anträge und Schriftstücke, unter dem Titel: „Deutsches Laienrechtsbuch“ (Erfurt, A. Stenger, Preis 1 Mark) erschienen, auf welche Veröffentlichung wir hiermit besonders aufmerksam machen.
    D. Red.