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Die weiße Schlange (1819)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Brüder Grimm
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Titel: Die weiße Schlange
Untertitel:
aus: Kinder- und Haus-Märchen Band 1, Große Ausgabe.
S. 92-96
Herausgeber:
Auflage: 2. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1819
Verlag: G. Reimer
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
seit 1812: KHM 17
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Bearbeitungsstand
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Begriffsklärung Andere Ausgaben unter diesem Titel siehe unter: Die weiße Schlange.


[92]
17.

Die weiße Schlange.

Es war ein mächtiger und weiser König, der ließ sich jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, von einem seiner ersten Diener noch eine verdeckte Schüssel bringen, davon aß er ganz allein, deckte sie selbst wieder zu und kein Mensch wußte, was darunter lag. Nun trug sich zu, daß der Diener, als ihm der König einmal die Schüssel fortzutragen [93] gab, der Neugierde nicht widerstehen konnte, sie in seine Kammer mitnahm, wo er sie aufdeckte und eine weiße Schlange darin fand. Als er sie ansah, bekam er so große Lust, daß er sich nicht enthalten konnte, ein Sückchen davon abzuschneiden und zu essen. Kaum aber hatte er seine Zunge berührt, so hörte er deutlich, was die Sperlinge und andere Vögel vor dem Fenster zu einander sagten und merkte wohl, daß er die Thiersprache verstehe.

Es geschah aber, daß der Königin gerade an demselben Tag einer ihrer schönsten Ringe fort kam und der Verdacht auf diesen Diener fiel. Der König schalt ihn hart aus und drohte, wenn er den Dieb nicht bis Morgen zu nennen wiße, so solle er als der Thäter angesehen und gerichtet werden. Da erschrak der Diener gar sehr und wußte nicht, wie er sich helfen sollte. In seiner Unruhe ging er auf dem Hof hinab, da saßen die Enten an einem fließenden Wasser nebeneinander, ruhten sich und hielten ein vertrauliches Gespräch. Nun hörte er, wie eine sagte: „wie liegt mir’s so schwer im Magen! ich habe einen Ring, der unter der Königin Fenster lag, in der Hast mit geschluckt!“ Da faßte er die Ente beim Kragen, trug sie zum Koch und sprach: „schlacht doch diese fette zuerst ab!“ Der Koch schnitt ihr den Hals ab, und als er sie ausnahm, fand er den Ring der Königin im Magen liegen. Der Diener brachte ihn dem König, der sich gar sehr darüber freute, und weil er sein Unrecht gern wieder gut machen wollte, sprach er zu ihm: „fordere, was du willst und sage, was für eine Ehrenstelle du an meinem Hofe wünschest.“ [94] Aber er schlug alles aus und bat nur um ein Pferd und Geld zur Reise, weil er in die Welt ziehen wollte.

Nun ritt er fort und kam zu einem Teich, da hatten sich drei Fische im Rohr gefangen, die schnappten nach Wasser, und klagten, daß sie so elendig umkommen müßten. Weil er nun ihre Worte verstand und Mitleiden mit ihnen hatte, so stieg er ab und setzte sie wieder ins Wasser. Da riefen die Fische heraus: „wir wollen dirs gedenken und dirs vergelten!“ Er ritt weiter, nicht lang so hörte er einen Ameisenkönig zu seinen Füßen sprechen: „wenn der Mensch nur mit seinem großen Thier weg wäre, das zertritt mir so viele von meinen Leuten.“ Er blickte zur Erde und sah, daß sein Pferd in einen Ameisenhaufen getreten hatte, da lenkte er ab und der Ameisenkönig rief: „wir wollen dirs gedenken und dirs vergelten!“ Er ritt weiter und kam in einen Wald, da saßen zwei Raben-Eltern auf dem Nest, warfen ihre Jungen heraus und sprachen: „ihr seyd groß genug und könnt euch selbst ernähren, wir können euch nicht mehr satt machen.“ Da lagen die Jungen auf der Erde, schlugen mit ihren kleinen Fittichen und schrien: „wie sollen wir uns ernähren, wir können noch nicht fliegen, und etwas suchen, wir müssen Hungers sterben.“ Er stieg ab, zog den Degen und tödtete sein Pferd und warfs den jungen Raben vor, die kamen herbeigehüpft, sättigten sich und sprachen: „wir wollen dir’s gedenken und dir’s vergelten!“

Nun ging er zu Fuß weiter und als er lange Wege gegangen war, kam er in eine große Stadt. Da ritt einer herum und machte bekannt, wer Gemahl der jungen Königstochter werden [95] wolle, müße eins ausführen, das sie ihm aufgäbe; unternähme er’s aber und vollbrächte es nicht, so hätte er das Leben verloren.“ Es wollte sich aber niemand mehr melden, so viele hatten schon ihr Leben eingebüßt. Der Jüngling dachte, was hast du zu verlieren? du willst es wagen! trat vor den König und seine Tochter und meldete sich als Freier.

Da ward er hinausgeführt ans Meer, ein Ring hinabgeworfen und ihm aufgegeben, den Ring wieder herauszuholen. Auch wurde ihm gesagt, daß wenn er untertauche und käme ohne ihn in die Höhe, so würde er wieder ins Wasser gestürzt und müßte darin sterben. Darauf ward er allein gelassen und als er an dem Ufer stand und überlegte, was er wohl thun solle, um den Ring zu erlangen, sah er, wie die drei Fische, die er aus dem Rohr ins Wasser geworfen, daher geschwommen kamen; der mittelste hatte eine Muschel im Mund, die legte er an den Strand, dem Jüngling zu Füßen und als er sie öffnete, lag der Ring darin. Voll Freude brachte er ihn dem König und verlangte seine Tochter, diese aber, als sie hörte, daß er kein Königssohn wäre, wollte ihn nicht. Sie ging hinaus in den Garten, schüttete zehn Säcke voll Hirsen ins Gras und sprach: „die soll er auflesen, daß kein Körnchen fehlt und fertig seyn, Morgen eh die Sonne aufgeht.“ Nun hätte es der Jüngling nicht vollbracht, wo ihm nicht die treuen Thiere beigestanden hätten. Aber in der Nacht kam der Ameisenkönig mit seinen viel tausend Ameisen, die lasen in der Nacht allen Hirsen, trugen ihn in die Säcke und waren, eh die Morgensonne aufging, fertig, so daß kein Körnchen weggekommen [96] war. Als die Königstochter in den Garten kam und das sah, verwunderte sie sich und sprach: „ob er gleich auch dieses vollbracht hat und jung und schön ist, so will ich ihn doch nicht eher heirathen, als bis er mir einen Apfel vom Baum des Lebens bringt.“ Aber die aus dem Nest geworfenen Raben, die er gefüttert, waren groß geworden und hatten gehört, was die Königstochter verlangte. Da flogen sie fort und bald kam einer, trug den Apfel im Schnabel und ließ ihn dem Jüngling in die Hand fallen. Als er ihn der Königstochter brachte, nahm sie ihn mit Freuden und wurde seine Gemahlin und als der alte König starb, erhielt er die Krone.