Die zwei Todfeinde des menschlichen Auges
[623] Die zwei Todfeinde des menschlichen Auges. „Aber Herr Doctor, soll es denn wirklich wahr sein und mein armes Kind sein Lebelang blind bleiben müssen? O ich Unglückliche! Wer hätte das geahnt!“ – Wie oft hört der mehr beschäftigte Augenarzt diesen Schmerzensschrei einer Mutter, die wegen ihres acht- oder vierzehntägigen Kindes nach langem Zögern endlich ärztlichen Rath nachsucht, nachdem Hebammen, Muhmen, Tanten und andere verständige Frauen und wer sonst noch Lust hatte, der Reihe nach, und zwar Jeder ein besonderes Mittelchen angegeben, welche die Mutter auch alle getreulich angewendet hat! Nun kommt die geängstigte Mutter, da alle die guten Mittelchen nicht anschlagen wollen, zum Arzt. Aber die Zeit, in der noch wirksame Hülfe gebracht werden konnte, ist meist verstrichen, das Augenübel bereits so weit vorgeschritten, daß eine Rettung des Auges nicht mehr zu hoffen, oder das Auge überhaupt schon ausgelaufen. Darum merkt es euch, ihr jungen Mütter: es tritt häufig in den ersten Lebenstagen des Kindes – gewöhnlich am dritten oder vierten Tage beginnend – eine Entzündung des Auges ein, gegen welche, soll sie nicht gefahrdrohend werden, sofort energisch vorgegangen werden muß.
Der Sitz der Krankheit ist zunächst die Augenbindehaut, und sie kündigt sich durch Röthung und Schwellung der Augenlider an. Diese Schwellung ist nur bei den niedersten Graden weniger beträchtlich, in der Regel wird sie sehr bedeutend. Die Lider erscheinen dabei hart und gespannt, oberflächlich glänzend, heiß und überaus empfindlich gegen Berührung. Namentlich das obere Lid ist stark geschwollen, so daß es das untere überragt und oft ganz verdeckt. Nach kurzer Zeit wird Eiter in großer Menge abgesondert, der sich fortwährend aus dem Bindehautsack entleert und über die Wangen herabrinnt. Bei Eröffnung der Lider stürzt eine größere Menge auf einmal hervor.
Treten diese Krankheitserscheinungen auf, so wendet Euch sofort an einen verständigen Arzt, denn noch sind edlere Theile des Auges nicht mit ergriffen und der Arzt kann sichere Heilung versprechen. Bis zu seinem Erscheinen schütze man das Auge vor zu grellem Licht, sorge für reine Luft, für stete Reinhaltung des Körpers des Kindes, sowie der Hände der Pflegerinnen, suche mit einem weichen, lauwarm angefeuchteten Schwamme den Eiter aus dem Bindehautsack des Auges von Stunde zu Stunde vorsichtig zu entfernen und lasse sich durch das Schreien des Kindes davon nicht abhalten. Man bedenke, die Vernachlässigung dieser Krankheit liefert das Hauptcontingent aller Blinden.
Noch rapider, aber glücklicher Weise nicht so häufig auftretend zerstört das Sehvermögen eine andere Krankheitsform, wenn sie nicht sofort zur ärztlichen Behandlung gelangt – die sogenannte gichtische Augenentzündung oder der grüne Staar. Noch vor Kurzem führte sie unrettbar zur Blindheit; daß jetzt Tausenden von Patienten das Augenlicht erhalten bleibt, ist das unsterbliche Verdienst Gräfe’s. Und doch gehen auch jetzt noch alljährlich aus Unachtsamkeit so viele Augen dieser Wohlthat verlustig! Es trifft dies namentlich Patienten vom Lande und von kleinen Städten, die sich vom althergebrachten Vorurtheile, „mit dem Auge dürfe man nichts anfangen,“ noch nicht lossagen können und zum Arzte erst kommen, wenn alle Hoffnung vorbei ist.
Dennoch sind die Erscheinungen des grünen Staares so charakteristische, daß sie auch dem Laien verständlich sein müssen. Meist in einer schlaflosen Nacht werden die Patienten von heftigen Schmerzen im Kopfe und an der Schläfegegend des befallenen Auges ergriffen. Das Auge erscheint geröthet, die Pupille erweitert, starr. In kurzer Zeit ist das Sehvermögen entweder erloschen oder doch so bedeutend herabgesetzt, daß nur noch größere Gegenstände wahrgenommen werden können.
Zwar hellt sich in einzelnen Fällen das Sehvermögen nach einigen Stunden wieder auf, aber bald darauf erneuern sich die Schmerzen in Kopf, Schläfen und Stirn, das Sehvermögen nimmt wieder ab, und wird jetzt nicht noch rechtzeitig ärztliche Hülfe nachgesucht, so tritt unheilbare Blindheit ein – oft schon nach vierundzwanzig Stunden.
Es ist dies die acute Form des grünen Staares; es giebt aber noch eine chronische, in der das Auge erst nach Monaten oder Jahren zerstört wird. Bei dieser treten die Anfälle periodisch auf, und nach jedem derselben wird das Sehvermögen geschwächt. Die Pupille wird gleich anfangs weiter und reagirt sehr träge auf Lichtreiz; später erscheint auffällige Erweiterung und Starrheit, welche einen eigenthümlichen graugrünlichen (meergrünen) Reflex des Augengrundes bedingt, woher auch der Name „grüne Staar“ kommt. Bei gewöhnlichem Tageslicht lagert sich ein mehr oder weniger dichter Nebel über das Gesichtsfeld und Abends – ein sehr beachtenswerthes Symptom – erscheint die Kerzenflamme von einem Lichtscheine umgeben, der oft in Regenbogenfarben spielt und zwar so, daß an der äußeren Seite das Grünblau, an der inneren das Roth vorherrscht. – Nach und nach nimmt das Sehvermögen immer mehr ab, bis endlich völlige, unrettbare Erblindung eintritt.
Darum achte man auf obige Erscheinungen und suche rechtzeitig Hülfe, denn je länger man wartet, desto ungünstiger ist der dann noch zu hoffende Erfolg. Später sind Thränen und Gebete vergeblich: Eure geistige Blindheit hat auch die körperliche herbeigeführt.