Ein überschätzter Feind

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Textdaten
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Autor: Johannes Brümmer
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Titel: Ein überschätzter Feind
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 522–525
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch: Ein neuer Feind In: Die Gartenlaube, Heft 6, 1873
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Ein überschätzter Feind.

Das Neue wird gewöhnlich in seinen Eigenschaften überschätzt. Von der Cholera glaubte man in der Zeit, als sie zuerst in Europa auftrat, daß sie den größten Theil der Menschheit dahinraffen und eine Entvölkerung zur Folge haben würde. Die Kartoffelkrankheit, welche durch den Pilz Peronospora infestans veranlaßt wird, sollte den Anbau der Kartoffelpflanze für die Zukunft unmöglich oder doch mindestens unrentabel machen. Aber weder die Gerüchte über die Cholera, noch die über den Kartoffelpilz haben sich als wahr bestätigt. Derartige Beispiele ließen sich noch viele anführen. Seit dem vorigen Monate nun ist es der Kartoffelkäfer, auch Coloradokäfer (Chrysomela [Doryphora] decimlineata) genannt, welcher in seinem Thun und Treiben überschätzt und gewissermaßen beleidigt worden ist. Ueberall, wohin man hört, wird er als ein Wesen beschrieben, das den Kartoffelbau gänzlich unsicher mache, in allen Zeitungen und Dorfanzeigern finden sich Notizen über seine große Gefährlichkeit für die Landwirthschaft. Kurzum, der Kartoffelkäfer wird als geschworener Feind der Kartoffelpflanze hingestellt. Wie viel Wahres und Falsches an dieser Ansicht über den Kartoffelkäfer ist, das zu untersuchen, haben wir zum Gegenstand der nachfolgenden Darstellung gewählt. Zunächst möge ein kurzer Ueberblick über die Geschichte des Kerfs folgen.

Die ersten Nachrichten von dem Kartoffelkäfer stammen aus dem Jahre 1825. Man fand ihn damals in der Gegend des Felsengebirges (Rocky Mountains) in Nord-Amerika auf einer wildwachsenden Pflanze, welche, wie die Kartoffelpflanze, zu der Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae) gehört. In der Zeit, als man sich in dieser Gegend ansiedelte und den Kartoffelbau hier einführte, verließ der Käfer seine frühere Nährpflanze und bevorzugte nunmehr die Kartoffelblätter. Diese Vergrößerung der Nahrungsquelle hatte natürlich seine stärkere Vermehrung zur Folge, und es wurde das Insect laut amerikanischen Berichten zur allgemeinen Landplage, indem es sich nach allen Himmelsrichtungen verbreitete. Die ersten Klagen über die Schädlichkeit dieses Kerfes gingen vom Staate Nebraska aus (1859). Zwei Jahre darauf überschritt er den Fluß Missouri und schädigte die Kartoffelfelder von Iowa. Von hier wanderte er über den Fluß Mississippi (1866) und vernichtete die Kartoffelculturen in Wisconsin, Illinois und Kentucky. Einige Jahre später (1870) schwärmte er, theilweise durch Nahrungsmangel dazu getrieben, über den mächtigen Michigansee und verbreitete sich rasch in Indiana, Michigan und Ohio. Im nächsten Jahre bemerkte man ihn schon in Canada, Pennsylvanien und New-York, wenn auch nicht in so großen Schaaren, wie er in den anderen Staaten aufgetreten war. Der Kartoffelkäfer lebt in cultivirten Gegenden zwar vorzugsweise auf der Kartoffelpflanze, deren Blätter ihm und seinen Larven zur Nahrung dienen. Doch frißt er auch noch an einigen anderen Pflanzen. So hat man ihn und seine Larven noch auf verwandten [523] Nachtschattengewächsen gefunden, von denen besonders der schwarze Nachtschatten (Solanum nigrum) zu erwähnen ist, ferner auf Disteln (Carduus paluster und lanceolatus), Gänsefußarten (Chenopodium hybridum und album), Knöterich (Polygonum hydropiper) und auf Ackersenf (Sinapis arvensis).

Der Käfer gehört zur Familie der Blattkäfer (Chrysomelina) und hat als solcher viergliedrige Füße. Er erreicht die Länge von elf bis vierzehn Millimeter und die Breite von sieben Millimeter. Die kurzen Fühler, welche in der Nähe der Augen eingelenkt sind, endigen mit einer fünfgliedrigen schwarzen Keule. Sehr charakteristisch sind die zehn schwarzen Längsstreifen (daher die Bezeichnung decimlineata, sowie die schwarze Naht auf den hellgelben Flügeldecken. Die rothgelbe Stirn zeigt einen herzförmigen schwarzen Fleck. Am rothgelben Halschild finden sich außer dem schwarzen Vorder- und Hinterrand noch elf schwarze Punkte. Der Körper ist halbkreisförmig gewölbt, von rothgelber Grundfarbe, unbehaart und wenig glänzend. Die Bauchseite zeigt viele schwarze Punkte. – Die birnförmigen Larven sind in ganz jugendlichem Zustande dunkelroth, mit dem Alter nehmen sie eine hellrothe oder rothgelbe Farbe an. Die Larven werden durchschnittlich elf bis zwölf Millimeter lang und bis sechs Millimeter breit. Als die hauptsächlichsten Kennzeichen sind zu nennen: schwarzer Kopf, schwarzer Hinterrand des ersten Leibesringes, schwarze Beine und zwei Längsreihen rundlicher, warzenartiger Erhöhungen von schwärzlicher Färbung an den Seiten des Körpers. Die Larve ist ebenso wenig wie der Käfer dem Verwechseln mit anderen deutschen Insecten ausgesetzt. Wer den Käfer einmal gesehen hat, der wird ihn nie verkennen.

Einem Freunde, welcher vor einigen Jahren Gelegenheit hatte, den Kartoffelkäfer in Michigan und Ohio zu beobachten, verdanke ich über ihn folgende mündliche Mittheilungen. Der Kartoffelkäfer kommt Ende April, Anfangs Mai, und je nach Umständen auch erst Mitte Mai aus der Erde zum Vorscheine, gewöhnlich in der Zeit, in welcher seine Lieblingsnahrung, die Kartoffelpflanze, die ersten Blätter getrieben hat. In den nächsten warmen Tagen findet die Begattung statt. Bald darauf legt das Weibchen seine Eier,[1] welche von orangegelber Farbe sind, in rundlichen Klumpen von zehn bis fünfzehn Stück an die Unterseite der Kartoffelblätter. Nach Verlauf von sechs bis neun Tagen schlüpfen die Larven aus den Eiern heraus und sind, nachdem sie sechszehn bis zwanzig Tage von den Kartoffelblättern gefressen haben, zur Verpuppung reif. Die Verpuppung findet in der Erde statt. Nach weiteren zehn bis vierzehn Tagen kriechen die Käfer aus, begatten sich schon in den nächsten Tagen und legen Eier; so können in einem günstigen Sommer drei Generationen erzeugt werden.

Die letzte Generation verbirgt sich gegen die Winterkälte in der Erde und fällt in den sogenannten Winterschlaf, welcher bis zu den ersten warmen Frühlingstagen dauert. Die Larven, sowie der Käfer fressen das Parenchym der Kartoffelblätter von innen, nicht vom Rande her beginnend, und lassen gewöhnlich die größeren Rippen unberührt, sodaß ein mittelmäßig präparirtes Blattskelet übrig bleibt. Der Käfer fliegt selten.[2] Auf seinen Wanderungen läßt er sich am liebsten vom Wasser in die neue Heimath tragen. So sah mein Freund z. B. unzählige Mengen nach der etwa vier bis fünf deutsche Meilen von dem Ufer des Eriesees gelegenen Insel North Baff Island schwimmen. Der Käfer schwimmt wohl weniger, als daß er sich den Wellen anvertraut. Als Vertilgungsmittel wurden in Anwendung gebracht das Sammeln und das Abschütteln der Käfer und Larven. Die durch das Abschütteln auf die Erde gefallenen Thiere sollten durch die warme Erde so abgeschwächt werden, daß sie nicht mehr im Stande wären, den Kartoffelberg hinan zu klimmen. Beide Methoden waren aber ohne wesentlichen Erfolg.

Seitdem der Kartoffelkäfer auch die Küsten des atlantischen Oceans zu seinem Wohnsitz aufgesucht, hat man in Europa eine gewisse Furcht vor seiner Einschleppung durch den Schiffsverkehr, und deshalb sind seit jener Zeit die verschiedensten Maßregeln seitens der Regierungen gegen ihn getroffen worden. Es dürfen z. B. keine Kartoffeln aus Amerika nach Deutschland eingeführt werden, alle von Amerika kommenden, irgendwie auf Käfer, Larven und Eier verdächtigen Sachen werden genau untersucht, Küchenabfälle müssen vor der Landung der Schiffe in den deutschen Häfen vernichtet werden. Diese Bestimmungen genügten, um den Kartoffelfeind von Deutschland fern zu halten. Wenn dann und wann Gerüchte über das Vorkommen des Kartoffelkäfers in Deutschland durch die Zeitungen liefen, so waren dieselben doch keineswegs beglaubigt. Daß aber der Käfer trotz aller dieser Vorsichtsmaßregeln dennoch vor Kurzem nach Deutschland eingeschleppt wurde, kann uns nicht wundern, wenn wir bedenken, auf wie verschiedene Art und Weise ein solcher Kerf sich verbreiten kann. Er ist im Juni dieses Jahres in Mülheim bei Köln auf Kartoffelpflanzen gefunden worden. Um seine Verbreitung in Deutschland zu verhüten, wurde sofort vom preußischen landwirthschaftlichen Ministerium der bekannte Fachmann Professor Dr. Gerstäcker beauftragt, die nöthigen Maßregeln zur Vertilgung des Kerfs in Mülheim zu treffen. Laut den neuesten Berichten soll seine Vernichtung ausgezeichnet gelungen sein.

Verfasser ist aber durchaus nicht der Meinung, daß der Kartoffelkäfer ein so gefährlicher Gast ist, als er verschrieen wird. Die Nachrichten aus Amerika sind größtentheils als übertrieben anzusehen, außerdem scheinen die Bedingungen für die Entwickelung des Insects dort günstiger zu sein, als in Deutschland. Einige Beispiele als Beleg für letztere Vermuthung finden sich am Ende dieses Aufsatzes. Daß Jahre kommen können, welche die Vermehrung des Kerfs außerordentlich begünstigen, und er dann, wenn er in ungeheuren Schaaren auftritt, den Kartoffelfeldern schädlich wird, muß allerdings zugegeben werden, doch dürfte zu bezweifeln sein, daß er alljährlich oder etwa ein Jahr um das andere Jahr, oder alle drei bis vier Jahre solche Verwüstungen anrichten würde, daß die Einschleppung des Käfers nach Deutschland gleichbedeutend ware mit dem gänzlichen Ruin der deutschen Kartoffelcultur,[3] auf welcher in vielen Gegenden theils die Landwirthschaft, theils und hauptsächlich die Ernährung eines großen Theils der Bevölkerung beruht. Daß dem nicht so sein dürfte, mögen die folgenden Zeilen zeigen.

Die Vermehrung des Käfers kann, wie wir vorhin gesehen, eine ungeheure sein. Jedoch haben solche Berechnungen, wie sie in verschiedenen Zeitschriften ausgestellt worden sind, um die Gefährlichkeit des Insects so recht in den schwärzesten Farben darzustellen, durchaus keinen praktischen Werth. So findet sich in einem Artikel, welcher durch das königlich preußische Ministerium für die landwirthschaftlichen Angelegenheiten bekannt gemacht worden ist, folgende Berechnung: „Haben im Mai auch nur hundert Weibchen auf ein Kartoffelfeld ihre Eier abgesetzt, so würde ihre Nachkommenschaft bereits in diesem Monat sich auf 70,000 bis 120,000 Stück belaufen,[4] von denen unter günstigen Umständen im Juni und Juli eine Anzahl von 24 bis 72 Millionen entstehen könnte, was dann für die dritte in den August fallende Entwickelung schon ganz unzählbare Massen von Thieren ergeben würde.“

Die Wirklichkeit bleibt aber himmelweit von dieser theoretischen Zahlenspielerei entfernt. Wurde die bloße Möglichkeit der Vermehrung in der Natur zur Wirklichkeit, so bestünde in gar nicht langer Zeit das ganze organische Reich der Erde vorwiegend aus Kartoffelkäfern. Es sei uns erlaubt, hier einige interessante Beispiele über die theoretische Möglichkeit der Vermehrung einiger anderer Thiere anzuknüpfen. Nach Réaumür’s Berechnung kann sich die Nachkommenschaft eines einzigen Blattlausweibchens im Laufe eines Sommers auf nahe an sechstausend Millionen steigern. Wenn von den mehreren Millionen Eiern, welche [524] ein Stör im Laufe eines Jahres producirt, sich auch nur eine Million zu weiblichen entwickelte, so würde doch nicht einmal die zweite Generation als ganz kleine Fische Platz neben einander auf der Erdoberfläche haben; die vierte Generation würde so viel Caviar liefern, als das Volumen der Erde ausmacht. Die graue Fleischfliege erzeugt in kurzer Zeit gegen zweitausend Maden, welche bei reichlicher Nahrung in vierundzwanzig Stunden zweihundertfach an Gewicht zunehmen und in fünf Tagen ausgewachsen sind, daher man mit Linné sagen kann, daß schon wenige Individuen ebenso schnell, wie ein Löwe, ein Pferd auffressen können.

Ein Beispiel dieser Art möge noch folgen. Eine Kiefern-Blattwespe, welche jährlich einmal hundert Eier legt, kann, wenn die Hälfte der Eier Weibchen liefert und keins davon zu Grunde ging, schon in zehn Jahren eine Nachkommenschaft von 200,000 Billionen Afterraupen haben, welche in einem Jahre alle Kiefernwaldungen Deutschlands zerstören könnten. Glücklicher Weise aber verwirklichen diese Möglichkeiten sich in der Natur nie. Es kann das eine oder das andere Thier durch besonders günstige Umstände auf kurze Zeit einmal das Uebergewicht erreichen, aber sofort wird es durch die verschiedensten Gegenkräfte der Natur wieder beseitigt. Der Vermehrung der Organismen sind Grenzen verschiedener Art gesetzt. Selten wird die Grenze der nothwendigen Nahrungsmittel erreicht. Die Vermehrung findet schon weit vor derselben durch andere Vertilgungsfactoren, z. B. Witterung und Feinde, eine Grenze, welche nur in den seltensten Fällen überschritten werden kann. Außerdem kommt noch der Umstand in Betracht, daß viele Keime überhaupt nicht entwickelungsfähig sind.

Jaeger beobachtete z. B. mehrere tausend Forellen in ihrer Entwickelung und kam zu folgendem Resultat: „Es war schon ein beträchtlicher Unterschied in den Eiern wahrzunehmen. Einige waren schön orangeroth, andere blaßgelb, andere grünlich. Die orangerothen lieferten die kräftigsten Fische, die grünlichen minder gute, und die blaßgelben waren häufig taub. Ein Theil dieser Eier konnte gar nicht befruchtet werden und starb schon vor der Befruchtung ab; ein anderer Theil starb, nachdem die Dotterfurchung durchlaufen war. Dann trat eine große Sterblichkeit ein, als in dem Ei die Augen des jungen Thieres zu sehen waren. Endlich entwickelten sich noch viele Monstra, die sehr bald zu Grunde gehen mußten.“

Es ist nun ferner ein Naturgesetz, daß mit der starken Vermehrung eines Thieres eine rasche Vermehrung seiner natürlichen Feinde Hand in Hand geht. Die Vermehrung der Organismen wächst, wie die Unterhaltsmittel wachsen, abgesehen von den anderen Verfolgungsfactoren. Wir wollen nur daran erinnern, daß nach Jahrgängen, in welchen die Kohlraupen in ungeheuerer Anzahl auftraten und großen Schaden verursacht hatten, sie oft wie verschwunden waren. Gewöhnlich ist man dann bald mit der Erklärung fertig, daß das Wetter dem Ungeziefer nicht günstig war.

Wir bezweifeln gewiß nicht, daß die Witterung oftmals sehr unter den Insecten aufräumt. Wir lernten ja vorhin die Witterung als einen Vertilgungsfactor kennen. Nasses und kaltes Wetter tödtet z. B. alle Kohlraupen im jüngern Alter. In sehr vielen Fällen liegt aber die Ursache darin, daß sich mit den Kohlraupen auch deren Feinde stark vermehrt haben, welche nun den Vernichtungskrieg beginnen. Als Beleg dafür diene folgende Beobachtung: In den Jahren 1875 und 1876 war der Kohlweißling (Pieris brassicae) in den Elbmarschen Hannovers so häufig, daß die Hausfrauen, trotz allen Fleißes, den für den Mittagstisch so angenehmen Kohlkopf nicht vor seinen Raupen schützen konnten. In diesem Jahre sind sie nun plötzlich verschwunden. Gewiß wird Manchem im vorigen Herbste aufgefallen sein, daß die fast erwachsenen Raupen krank und schlaff auf den Kohlblättern saßen. Schlitzte man einer solchen kranken Raupe, welche man vorher in Spiritus getödtet hatte, mit einem spitzen Messer die Bauchwand auf, so fand man im Innern viele Schmarotzer, die den Käsemaden ähneln. Diese Schmarotzer sind die Larven von Schlupfwespen; sie bedingen stets den Tod der Raupe. In Amerika machte man die Beobachtung, daß in drei bis vier Jahren der Schaden der Hessenfliege (Cecidomyia destructor) wuchs, dann aber plötzlich nachließ, weil ihre Feinde sie bewältigt hatten. Jeder, der sich gern mit der belebten Natur beschäftigt, hat häufig genug Gelegenheit zu beobachten, daß nach dem dritten Jahre, in welchem die Vermehrung der Kerfe die höchste Stufe erreicht hatte, ein so plötzliches Verschwinden derselben eintritt, daß es im vierten Jahre kaum gelingt, an den Orten auch nur einen einzigen zu finden, wo man das Jahr vorher bei jedem Schritte auf sie trat. Wir selbst, „die Herren der Erde“, stehen den kleinen Insecten kraftlos gegenüber, wir sind nicht im Stande, es im Kampfe mit jenen Hauptfeinden unserer Culturpflanzen aufzunehmen. Die Natur selbst aber besitzt Mittel mancherlei Art, Insectenschäden vorzubeugen und abzuhelfen, wie wir gesehen haben.

Aus diesen kurzen Bemerkungen ergiebt sich deutlich genug, wie weit solche Möglichkeitsberechnungen von der Wirklichkeit entfernt bleiben. Tausendfache Gefahren bedrohen das Individuum, welche mit der Entwickelung desselben beginnen und erst mit dem Tode aufhören. Wir können unsere Meinung nur wiederholen: daß die Ueberführung des Kartoffelkäfers nach Deutschland keineswegs gleichbedeutend ist mit Vernichtung des deutschen Kartoffelbaues, und daß das Furchtgeschrei, das durch die Zeitungen lief, mehr oder weniger als unberechtigt anzusehen ist. Wir können mit Sicherheit annehmen, daß der Kartoffelkäfer ebenso wenig die Grenzen der Vermehrung überschreiten kann, als irgend ein anderes Insect, ferner daß er der Landwirthschaft nicht mehr Schaden zufügen wird, als mancher andere Kerf. Der Kartoffelkäfer ist ebenso den Naturgesetzen unterworfen wie jedes andere Lebewesen.

Es können Jahre eintreten, in denen er der Kartoffelcultur sehr nachtheilig wird, aber er wird ebenso wenig den Kartoffelbau aufheben, wie etwa die Erdflöhe (Haltica) den Rapsbau, die Hessenfliege (Cecidomyia destructor) den Weizenbau, der Schildkäfer (Cassida nebulosa) die Rübencultur etc. Ueberhaupt werden so große Insecten wie der Kartoffelkäfer, zumal wenn sie wie dieser frei auf Blättern leben und nicht verborgen in der Pflanze oder in der Erde, fast nie sehr gefährlich: sie sind den Feinden und der Witterung stets ausgesetzt. Am gefährlichsten sind im Allgemeinen die kleinen versteckt lebenden Insecten, z. B. die Borkenkäfer (Bostrychus). Die amerikanischen Berichte über die Gefährlichkeit des Käfers sind wohl als etwas übertrieben anzunehmen. Ferner ist es ja auch nicht unmöglich, daß dort die Bedingungen zur Vermehrung günstiger sind: besseres Klima, weniger Insectenfresser etc. So soll nach Berichten auch die schon oben erwähnte Hessenfliege in Amerika Verwüstungen angerichtet haben, wie sie in Deutschland von diesem Thiere bis jetzt nicht bekannt geworden sind. Die Weizenmücke (Cecidomyia tritici), welche dann und wann in Deutschland am Weizen etwas Schaden gemacht hat, soll in den Jahren 1828 bis 1831 in Nordamerika den Weizenbau fast untergraben haben. Dieses Insect brachte allein dem Staate Maine einen Schaden von einer Million Dollar, und im Staate Ohio wurde die Frage aufgeworfen, ob gegenüber den Verwüstungen dieses Insectes der Weizenbau nicht lieber ganz aufzugeben sei.

Wir erblicken in dem Kartoffelkäfer gewiß keinen willkommenen Gast, aber auch keinen so gefährlichen Feind, als welcher er im Allgemeinen geschildert wird. Wie sollte denn ein einziger Kerf eine Culturpflanze so ganz und gar vernichten können? Die deutsche Kartoffelpflanze steht ja in dieser Beziehung bis jetzt so glücklich da, wie fast keine andere Culturpflanze. Sie hat fast keinen nennenswerthen thierischen Feind. Ganz unbedeutenden Schaden verursachen mitunter die Tausendfüße (Iulus), Drahtwürmer (Larven von Elater segetis und obscurus), Engerlinge (Larven von Melolontha vulgaris) und einige andere Insecten.

Wie ganz anders steht es in dieser Beziehung mit unseren anderen landwirthschaftlichen Culturpflanzen! Betrachten wir einmal den Raps. Zwanzig und mehr Feinde bedrohen ihn. Die Wurzel des Raps wird benagt von einer Rüsselkäferlarve (Ceuthorhynchus sulcicollis) und von der Made der Kohlfliege (Anthomyia brassicae), – der Stengel hat von der Larve des Rapserdflohs (Psylliodes chrysocephala) und von der Larve des Rapsmauszahnrüßlers (Baridius chloris) zu leiden, – die Blüthen sind namentlich dem Fraß des Rapsglanzkäfers (Meligethes aeneaus) und seinen Larven ausgesetzt, – die Rapsschoten werden oftmals sehr zugerichtet von den Larven der Kohlgallmücke (Cecidomyia brassicae) und der Raupe des Rübsaatpfeifers (Botys margaritalis), – die Blätter werden [525] skeletirt: von verschiedenen Erdflöhen (Haltica), von der Afterraupe der Rapsblattwespe (Althalia spinarum), von Weißlingsraupen (Pieris brassicae, rapae, napi), von Erdraupen (Agrotis exclamationis, segetum), von Blattlausen (Aphis brassicae). Es sind dies die gefährlichsten Rapsfeinde. Alle diese gefährlichen Feinde im Verein mit den minder gefährlichen sind bis jetzt nicht im Stande gewesen, den Rapsbau fraglich zu machen, wie viel weniger wird der Kartoffelkäfer allein den Kartoffelbau in Frage stellen können! Bei alledem erkennen wir die Bemühungen seitens der Regierung, um den Käfer von unserem Vaterlande fern zu halten, sehr an. Er ist gewiß kein erfreulicher und willkommener Gast, ob es aber möglich ist, ihn von Deutschland fern zu halten, scheint uns sehr problematisch; es giebt zu viel verschiedene Wege zur Einschleppung. Dafür aber den Kartoffelbauern und Kartoffelessern zum Trost, daß sie nach unserer festen Ueberzeugung, auch wenn der überschätzte Feind zu uns kommen sollte, nach wie vor Kartoffeln bauen und essen werden.

Leipzig, den 9. Juli.

Dr. J. Brümmer.

  1. Wie viel Eier der Käfer absetzt, ist noch nicht genau ermittelt, aber so viel mag gewiß sein, daß die Zahlen vierhundert, siebenhundert und zwölfhundert, wie man sie hier und dort angegeben findet, weit übertrieben sind. So fruchtbar sind die Thiere aus der Ordnung der Käfer im Allgemeinen nicht. Durchschnittlich legt ein Käfer wohl selten mehr als fünfzig Eier. Der Maikäfer (Melolontha vulgaris) legt z. B. nur zwölf bis dreißig Eier, der Erlenblattkäfer (Agelastica alni) fünfundzwanzig bis vierzig Eier, der Pappelblattkäfer (Chrysomela populi) fünfunddreißig bis fünfundvierzig Eier.
  2. Nach anderer Beobachtung fliegt der Käfer auf seinen Wanderungen, wie es ja bei allen anderen vollkommenen Insecten der Fall ist. Es ist leicht möglich, daß in dem von meinem Freunde beobachteten Falle der Käfer auf seinem Ausfluge durch Sturm in’s Wasser geschleudert worden war.
  3. Diese Ansicht hat in letzterer Zeit vielfach die Runde durch die Zeitschriften gemacht.
  4. Nach diesen Zahlen legt ein Käfer 700 bis 1200 Eier, was aus früher schon erwähnten Umständen aber nicht der Fall sein dürfte. Die Zahl 700 ist auch in den neuesten Berichten über den Kartoffelkäfer festgehalten worden.