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Ein Aufsatz von Heinrich von Kleist

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Adolf von Wilbrandt
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Titel: Ein Aufsatz von Heinrich von Kleist
Untertitel:
aus: Nord und Süd, Bd. 4, 1878, S. 1–2
Herausgeber: Paul Lindau
Auflage:
Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Georg Stilke
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: pdf bei Commons
Kurzbeschreibung: Offener Brief an den Herausgeber Paul Lindau zum posthumen Erstdruck von Heinrich von Kleists einflussreich gewordenem Essay Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.
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Ein Aufsatz von Heinrich von Kleist.
An den Herausgeber von „Nord und Süd“.


Herzlichen Dank, lieber Freund, für die Kleistische Abhandlung! Du fragst mich, als „den gelehrten Verfasser der Monographie über Heinrich von Kleist“, ob mir dieser Aufsatz bekannt war. Nein; ich kannte ihn nicht. Ich wußte nicht, daß er existirte. Glücklicher Zufall, der Dich nach Dessau zu Herrn Karl Meinert führte; der Dich in diesem glücklichen Besitzer einer der schönsten Autographensammlungen (wie Du ihn beneiden wirst!) auch einen begeisterten Kleist-Verehrer und so bereitwilligen Spender seines Schatzes finden ließ! Denn dieser Aufsatz von Kleist ist gewiß ein Schatz. Wie schön ist er, lieber Freund! Was für ein Blick in die geheime Werkstatt des Gedankens! Was für ein wunderbarer, eigenster Genuß, diesen klaren Aufbau klarster Ideen in diesem festen, cyklopischen Gefüge Kleistischer Prosa langsam, wie eine Mauer, aufsteigen zu sehen. Als ich den Aufsatz las, und wieder las, hab’ ich von neuem empfunden, was ich so oft empfand: daß, wenn man sich einmal in diesen Satzbau vertieft hat, er als der kräftigste, vornehmste, natürlichste, als der einzig richtige, kurz, zuletzt als der vollkommenste unter allen möglichen erscheint. Scheinbar eigensinnig, persönlich, und doch so sachlich wie die Antike: so durchaus antik … Es überkommt mich eine Rührung, sag’ ich Dir, wenn ich wieder sehe, wie dieser Geist an sich gehämmert und gemeißelt hat, in tiefer innerer Noth mit sich allein; gehämmert und gemeißelt, um all die Vollkommenheit, deren er irgend fähig war, sich Schritt für Schritt zu erkämpfen; und wie wenig Dank und lohn, wie wenig Freude ihm ward – –

Doch wem sag’ ich das … Jetzt wird er bekannt. Jetzt – sechzig, siebzig Jahre nach seinem Tod — wird er allmählich bekannt! — Als er diesen Aufsatz schrieb, war er ungefähr 29 Jahre alt und noch fast so unbekannt, wie man sein kann; freilich auch noch nicht lange von dem Sturz genesen, der seinem allzu titanischen Aufstreben ein tragisches Ende gemacht, ihn in körperlicher und geistiger Zerrüttung am Boden hingestreckt hatte. Denn nach den Andeutungen, die der erste Theil des Aufsatzes über seine geschäftlichen Thätigkeiten und über sein Zusammensein mit der Schwester macht, ist kaum zu bezweifeln, daß er ihn in Königsberg schrieb: in der Zeit (1805—6), wo er, durch jenen Sturz willenlos geworden und sich den Wünschen seiner Schwester Ulrike unterordnend, in den verlassenen Staatsdienst zurückgekehrt, als Diätar bei der Domainenkammer in Königsberg arbeitete; wie Apollo im Tagelohn, und sich selbst entfremdet: denn er hatte, wie es scheint, Ulriken sogar gelobt, auf seinen mörderischen Dichterberuf zu verzichten. Ulrike besuchte ihn in Königsberg; wann, kann ich nicht sagen. Erst als sie ihn verlassen hatte — so scheint es — kehrte er, anfangs in tiefer Heimlichkeit, zu seiner Kunst zurück. Nicht mehr himmelstürmend, wie damals: nach Stil- und Denk-Uebungen, wie dieser Aufsatz hier, warf er sich auf die Novelle, fuhr als Uebersetzer und Vearbeiter (Molières Amphitryon) fort, griff dann sein in Bern concipirtes Lustspiel vom zerbrochenen Krug wieder auf, — um endlich am Schluß der Königsberger Zeit sich wieder am großen Stil, an der Tragödie seiner eigenen Seele — ich meine die „Penthesilea“ — zu versuchen.

An Rühle von Lilienstern (R. v. L.) ist dieser Aufsatz gerichtet, wie Du schon selber bemerkt hast. Rühle von Lilienstern war in jener Zeit sein Vertrautester; an ihn schrieb Kleist die wunderbaren Briefe aus Königsberg, über den politischen Weltlauf, über Diesseits und Jenseits, ihm schickte er seine neu entstehenden Arbeiten zu, und Rühle übernahm es, sie zu verwerthen. Damals entwickelte sich, in Briefen und Dichtungen, jenes Besonderste, Eigenste der Kleistischen Prosa, das so befremdend bezaubert; jene räthselhafte Harmonie von Härte und Wohlgefühl, von Kunst und Natur, von Willkür und Nothwendigkeit, die vielleicht zuerst in diesem Aufsatz ihren Triumph verkündet.

Ich gönne Dir die Freude, ihn an’s Licht zu bringen … Daß ich nur noch sage (doch vermuthlich wußtest Du es früher, als ich): die „Donnerkeil“-Rede Mirabeaus, die Kleist so originell vor uns entstehen läßt, hat Mirabeau nicht in dieser Form gesprochen: eine zufällige Verhandlung in der französischen Deputirtenkammer, am 10. März 1833, hat darüber ausgeklärt. Danach hätte Mirabeau dem Herrn von Dreux-Brézé, dem Ceremonienmeister des Königs, nur diese Worte zugerufen: „Wir sind durch den Willen der Nation versammelt, wir werden nur der Gewalt weichen!“ — Da keiner der damals noch lebenden Zeugen dieser Berichtigung widersprochen hat, darf sie wol für authentisch gelten; — und so hätte denn Kleist dieses Beispiel für seinen Satz von der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nicht ganz glücklich gewählt … Was thut’s! Er hat doch Recht. Es gibt keinen wahreren Satz. Und Keiner wird ihn genialer, treffender, wahrhafter entwickeln.

Leb wohl! — —

Dein
Adolf Wilbrandt.