Ein Berliner Arbeitsmarkt
[68] Ein Berliner Arbeitsmarkt. (Zu dem Bilde S. 65.) Es ist ein trüber, regnerischer Winterabend, von jenen häßlichen Abenden einer, wo der unablässig niedertriefende Regen sofort wieder als Nebel aufzusteigen scheint. Die Straßen liegen verödet und die rotgelben Flammen der Gaslaternen können gemächlich, fast ungestört ihr verzerrtes Bild im Spiegel des Asphalts betrachten; denn wir wandern durch einen Bezirk, der zwar dem brausenden Leben der Großstadt, ihrem unablässigen, farbigen Getümmel nahe genug liegt, sich aber doch immer noch eine gewisse Abgeschiedenheit bewahrt hat. Plötzlich erweckt starkes Menschengedränge unsere Aufmerksamkeit; die Helmspitzen einiger Schutzleute und seltsam viel Weiß schimmert aus der tiefen, traurigen Finsternis, auf die die Gaslaternen erst recht deutlich hinzuweisen scheinen. Der Menschenschwarm wächst noch beständig, in jeder Hand sehen wir Blätter bedruckten Papiers; aus dem Thor eines stattlichen, von elektrischen Sonnen bestrahlten Gebäudes strömen die Massen heraus und sammeln sich dann um das nächste trübselige Licht, um zu lesen … Wir sind im Hauptquartier des schrecklichsten, finstersten großstädtischen Elends. Hier wird in früher Abendstunde alltäglich der „Arbeitsmarkt des Berliner Lokalanzeigers“ gratis ausgegeben, und in Unmenge finden sich die Stellungsuchenden ein, die von dieser Gelegenheit, Arbeitsnachweis zu erhalten, Gebrauch machen.
Lange bevor noch die Verteilung des Anzeigers beginnt, sammelt sich die Schar auf der Straße; neben blassen, bejahrten Männern, Frauen aus dem Arbeiterstande, die „mitverdienen“ müssen, neben jungen Burschen, die zum Glück noch nicht allen Humor verloren haben und ihn nur etwas derb äußern, finden sich schwächliche, blutjunge Dingerchen, die gestern eingesegnet worden zu sein scheinen, und jüngere noch. Wie viel Verzweiflung, wie viel Gram und Not mögen auf diesem engen Raum zusammengedrängt sein! Erscheinen die Setzerjungen mit den noch feuchten Zeitungsblättern auf dem Hofe, so wird die Menge hineingelassen; es beginnt ein Schieben und Drängen, aber die Beamten sorgen dafür, daß den Zuerstgekommenen möglichst auch zuerst ihr Recht wird und die ganz Kleinen, ganz Verlassenen nicht allzu roh beiseite gestoßen werden. Wer ein Blatt erwischt hat, eilt mit dem kostbaren Schatze so rasch davon wie er vermag, seinen Inhalt zu verschlingen und dann im Sturm die „Vakanz“ zu erobern, ehe noch ein Zweiter, Dritter, Vierter ihm die lockende Stelle fortschnappt … Kampf ums Dasein! … Nicht ohne tiefste innere Regung kann man ein Zeuge dieses Ringens nach Arbeit sein; und bei solchem Anblick wird man sich voll bewußt, wie wichtig alle, in der jüngsten Zeit gottlob immer zahlreicher werdenden gemeinnützigen „Stellen für den Arbeitsnachweis“ in unsern Großstädten sind, wie sehr sie Förderung und Unterstützung verdienen!