Ein Besuch auf Spitzbergen

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Autor: E. Vely
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Titel: Ein Besuch auf Spitzbergen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 573–574
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Besuch auf Spitzbergen.
Von E. Vely.

Die großartige Schönheit des Sörfjord hatten wir kennen gelernt, die Riviera des Nordens, das liebliche Molde, die Majestät des Romsdals bei Naes, die Krönungsstadt Trondhjem; an dem thranduftenden Hammerfest war unser schwimmender Palast, die „Auguste Viktoria“, vorübergezogen, und das finsterdräuende Nordkap hatten wir bestiegen. Nun ging’s Spitzbergen zu. So hoch, hoch hinauf –

Der Eisfjord.

„über die Landkarte hinaus“, sagten einige, hinter denen der Geographieunterricht schon dreißig und vierzig Jahre lag. Das Interesse an Spitzbergen ist ja allerneuesten Datums, und wer diesem Eiland, das Nansen und Andere zum Gesprächsstoff der ganzen Welt gemacht haben, zueilt, der kann sich eigentlich als auf der Höhe der Situation befindlich ansehen. Dieses Gefühl trug denn auch die Mehrzahl der Reisenden, welche die „Auguste Viktoria“ von der Hamburg-Amerika-Linie an Bord hatte, stolz in der Brust. Aber es wurde allgemach ein wenig gedämpft und eingedämmt, denn wir bekamen unruhigen Seegang und nicht alle stolzen Menschlein waren seefest. Das Wetter wurde „dick“, wie’s nautisch heißt, wenn wir Landratten es als stark neblig bezeichnen. Das Nebelhorn schrillte unausgesetzt. War’s einmal etwas aufgeklärter, so war das Auftauchen

Die Adventbai.

von Walfischen und schwimmenden und stehenden Eisbergen das einzig Interessante. Ein norwegisches Postschiff irrte schon drei Tage im Nebel herum und fragte bei uns an, wohin es seinen Kurs zu nehmen habe. Es hatte das gleiche Ziel wie wir: Die Adventbai.

„Kommen wir überhaupt hin?“ ging es besorgt von Mund zu Munde. „Wenn die Zeit vorüber ist, welche programmäßig für Spitzbergen gestellt ist, werden wir’s aufgeben müssen!“ Und es gab sogar solche, die Vorschläge machen wollten, daß man umkehre. Die stöhnenden Rufe des Nebelhorns, langsames Fahren, Stoppen, blieben bedenkliche Symptome. Da erschien am 10. Juli nachmittags ein Anschlag vom Kapitän; „Das Schiff liegt dicht an der Küste von Spitzbergen vor Anker, so wie das Wetter aufklart, wird die Reise fortgesetzt.“ Und nun kam neuer Mut auch über die Unlustigsten, Frierenden, Durchnäßten – wir hatten nur noch einen Grad Wärme. Und gegen die Zeit hin, wo es daheim dem Abend zugeht, schwand der Nebel – und Spitzbergen lag vor uns – hohe, schroffe Felsen, Felder ewigen Schnees, Gletscher, grünblau schimmernd, aus Höhen von 2000 m Metern dicht ans Wasser hinabreichend, das riesige Höhlen hineingeleckt hat und jene schwimmenden Eisberge losreißt, deren einige uns begegnet waren. Welch ein mächtiger unvergeßlicher Eindruck! Man achtete nicht des schneidenden Windes, man stand stumm und ergriffen Seite an Seite an der Bordwand und sah hinüber auf diese gigantische Welt, dies blaugrüne Wasser, diese blendenden Schnee- und Eismassen, diese leblose starre Natur. Kein Wesen schien auf den Felsen zu atmen; ab und zu huschte nur eine Möwe oder irgend ein anderer Wasservogel über die glatte Fläche. Der Eisfjord, in den wir einbogen, bot ein stets wechselndes Bild, die Gebirgsformen erinnerten bald an die Dolomiten Tirols, bald an die Felsgiganten von Wallis – nur erschien alles hier noch großartiger, gewaltiger. Gegen elf Uhr nachts tauchte eine grün und rötlich schimmernde Landzunge, von hohen, spitzkantigen Bergen im Hintergrund begrenzt, vor uns auf. Elf Uhr nachts – Tageshelle, Sonnenlicht, man hätte ebensogut die Empfindung haben können, man fahre in der Mittagsstunde – wir waren im Lande der Mitternachtssonne! Schon unter 66½° nördl. Breite geht die Sonne einen Tag nicht unter, und je höher man nach dem Nordpol kommt, desto länger bleibt sie im Hochsommer am Himmel stehen; unter 70° nördl. Breite leuchtet sie ununterbrochen 65 Tage lang, und unter 80° nördl. Breite dauert der längste Sommertag 134 Tage, den Tag selbstverständlich zu 24 Stunden gerechnet. Zwischen dem 76 und 81° liegt Spitzbergen. Wir fuhren dicht am Ufer entlang, denn so riesig tief ist das Wasser in diesen Fjorden, daß unser großes Schiff der Küste stets ganz nahe sein konnte. Welch ein Kontrast: unser großes schwimmendes Prachthotel mit dem erdenkbarsten Luxus der Neuzeit und der bunten Bemannung, die sich aus allen Nationalitäten, aus den verschiedensten Geschäftskreisen zusammensetzte, und diese [574] gletscherumpanzerte Inselgruppe, die noch herrenlos ist, um deren Besitz sich die Menschheit noch nicht gestritten hat, obgleich ihr Flächeninhalt nicht weniger als 1350 Quadratmeilen beträgt!

Ganz deutlich kam nun auf der Landspitze, welcher wir uns näherten, ein braunes Holzhaus in Sicht, Zelte hart am Strande, ein paar Kreuze auf dem Hügel, allerlei Boote und Menschen, die nach uns ausspähten. Dann rasselte unser Anker nieder, und die Barkassen, welche uns ans Land zu bringen bestimmt waren, legten sich an die Schiffstreppe. Es war genau 12 Uhr nachts – bei Tageshelle – als wir den Fuß auf Spitzbergen setzten. Die Luft war in der geschützten Bai ungemein milde, fast schmeichelnd. Nachdem man die seltsame Empfindung, hier im äußersten Norden Europas zu stehen, einigermaßen bewältigt hatte, begann man sich umzuschauen. Das nächste, auf was der Blick fiel, waren Zelte von Rentier- und Robbenjägern, die hart am Ufer aufgespannt waren. Einige der Männer, wettergebräunte Gestalten, standen umher, auf die Ankömmlinge mit jener Ruhe und jener gewissen Stumpfheit blickend, denen wir bei den Bewohnern des Nordens vielfach begegnet sind. Nicht einmal hat man auf der ganzen Fahrt ein Hurra, einen Laut der Verwunderung vernommen, wenn unsere „Auguste Viktoria“ in einen noch so weitab vom Weltverkehr gelegenen Hafen einfuhr. Die Bevölkerung nimmt hier jede Thatsache so ergeben hin wie der Türke sein Kismet. Mit dem ersten der Rentierjäger, den ich anredete, hatte ich aber Glück. Es war Bernd Bentsen, einer der Matrosen von Nansens „Fram“ – er war noch vor einer Woche bei Andrée gewesen.

Das Touristenhaus.

Das Touristenhaus, das sogar ein Postlokal besitzt, ist behaglich eingerichtet, hat einen großen Saal mit anheimelndem Kamin und dreißig Betten, die in kabinenartigen Räumen angebracht sind. Norwegische und englische Touristen, Bergsteiger und Jäger bilden die Mehrzahl der Besucher. Auch zwei wissenschaftliche Expeditionen befanden sich am Lande, in einem der Zelte lebte ein schwedischer Botaniker, Ekestan, mit seiner Mutter und noch einem Begleiter. Die mutige Frau, etwa Mitte der vierziger Jahre, besorgte die Wirtschaft, hinter dem Zelte stand ihr kleiner Herd, bei windigem Wetter muß der Spiritusapparat, der auf einem Ballen Fließpapier im Zelt aufgestellt wird, seine Dienste thun. Zur Lagerstatt dienten Eisbärenfelle, die bei unserm Besuch zusammengerollt dalagen. Einige Koffer standen auch im Freien, das Mein und Dein verwechselt man hier oben auf dem polizeilosen herrenlosen Gebiete einstweilen noch nicht. Die zweite wissenschaftliche Expedition leitet ein Engländer, Sir Martin Conway. Er ist Kartograph, sein Gefährte ist der Alpinist Garwood. Auf der nächsten Landspitze, dem Kap Thordsen, hauste der berühmte Geograph Professor Nordenskiöld – er überwinterte dort mit vierzig Personen. Die „Spitzbergen Gazette“, die nördlichste Zeitung der Welt, giebt hier ein Oberlehrer aus Tromsö, Herr Christensen heraus. Sie können denken, welch einen willkommenen Stoff die Ankunft unsrer „Auguste Viktoria“ für einen sensationslustigen Feuilletonisten gab. Eine Menge unsrer Fahrgäste nahm aber auch schleunigst ein Abonnement auf die Gazette, welche als Wochenblatt mit deutschem, norwegischem und englischem Texte erscheint. Bis zum frühen Morgen wimmelte es von Südländern auf dem Hügelland der Adventbai, Bergfexe stiegen schleunigst so hoch hinauf, als sie kommen konnten. Jäger gingen Rentieren und Robben nach – von Beute hat man freilich nichts vernommen im Touristenhaus wurde durchgezecht und mit Glück, denn die trinkbaren Mannen erlebten etwas Besonderes: Kapitän Sverdrup, der berühmte Kapitän von Nansens „Fram“, der jetzt einen Postdampfer zwischen Tromsö und Spitzbergen führt, langte in vorgeschrittener Nachtstunde an. Man feierte ihn, bis er wieder an Bord ging – geredet hat er nicht viel, aber jedem, der ihn darum ersuchte, bereitwillig sein Autograph gegeben.

Noch etwas ganz besonders Ergreifendes gab es an der Adventbai zu sehen – zwei stille Gräber, die ein paar Holzkreuze schmücken, und unweit davon eine Hütte. Fünf Fuß tief in die Erde ist sie gegraben, das ragende Sparrenwerk war mit Blech und Holz, welches noch umherlag, bedeckt gewesen, Nägel, Handwerkszeug, erfrorene Kartoffeln, zerrissene Kleidungsstücke zeugten von dem Dasein armer Verschlagener. Der Mann, dessen Name dort oben auf dem einen Kreuz steht, Andreas Holm, war Besitzer und Führer des Robbenjäger-Schiffes „Elida“ und hat hier mit seinen drei Gefährten im Winter 1896 gehaust. Sie konnten nach geschehener Jagdarbeit wegen Vereisung der Bai nicht weiter gelangen und mußten wohl oder übel hier zu überwintern versuchen. So schleppten sie, was sie vermochten, von Bord in die Erdhütte, entsetzlichem Elend trotzend. Einer der Gefährten, welcher hatte versuchen wollen, über das Eis zu Nordenskiöld zu gelangen, geriet zwischen die Schollen und fand seinen Tod durch Ertrinken. Andreas Holm aber erlag dem Skorbut. Die Ueberlebenden bargen seine Leiche zwischen Faßbrettern, bis die Erde so weit zu lockern war, daß sie ihm ein Grab höhlen konnten. Als die Erlösung für die armen Robbenfischer schlug, waren auch sie dem Tode nahe. Der Gegensatz von heute, das schöne große Schiff hier am grünen Strande der Adventbai und jenes kleine zertrümmerte Wrack und das stille Grab mit dem schmucklosen Kreuz, wie ist er mir wehmütig zum Bewußtsein gekommen, als ich neben den einsamen Gräbern saß! Der andre Hügel deckt einen Fischer, der 1878 seinen Tod durch Ertrinken fand.

Wenige Ruhestunden an Bord unsres Schiffes; dann ging es wieder hinüber. Aufs neue wurden Bergbesteigungen unternommen. Die Flora Spitzbergens an der Adventbai hat einen völlig alpinen Charakter, man findet Anemonen, Ranunkeln, den roten Steinbrech, das Hexenhaar des Brockens, das hier oben Polarseide heißt, Moose, Flechten, Weiden. Jagd wird gemacht auf Wasservögel, Walfische, Walrosse, Eisbären, Seetiere, Blaufüchse, Seehunde. Zur Erinnerung an den Besuch, welchen unsre „Auguste Viktoria“ auf Spitzbergen gemacht, wurde eine Tafel mit ihrem Namen und dem Datum errichtet. Dann ließ sich die ganze Gesellschaft, um den Kommandanten des Schiffes, Herrn Kapitän Kaempff gruppiert, photographieren. Denn wir hatten einen Photographen an Bord, Herrn Berges aus Hamburg, der auch die Aufnahmen von Spitzbergen machte, die zu den hier beigegebenen Illustrationen gedient haben.

Am Abend des 11. Juli lichteten wir die Anker – der volle Sonnenschein lag über der Küste, blendend schimmerte es von den Höhen; schwarzdräuend waren die Schatten, blaugrün das stille, tiefe Gewässer – unsre deutsche Nationalhymne erklang und die norwegische: „Ja wi elsker dette landet“. Wenn wir nun auch wohl kaum Spitzbergen so lieben können, wie es das Lied sagt, eine liebe Erinnerung wird es uns allen bleiben, mit der gewaltigen Größe und Schroffheit seiner Natur und der schauervollen Stille seiner weltentlegenen Einsamkeit. – Nachdem die Hamburg-Amerika-Linie in ihre Nordlandfahrten, die 1894 begannen, auch das „modern“ gewordene Spitzbergen aufgenommen hat, werden allsommerlich zwei Reisen dahin gemacht. Die erste begann diesen Sommer mit der „Auguste Viktoria“ am 1. Juli von Hamburg aus; am 8. waren wir am Nordkap, am 10. in Spitzbergen; am 22. Juli gegen 12 Uhr mittags fuhren wir stolz mit unserem jubelnd begrüßten Schiffe in Hamburg wieder ein. Die zweite Nordland-Spitzbergenfahrt war für Anfang August mit genau demselben Programm geplant.

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Mitternachtssonne.
Nach dem Gemälde von J. Eysséric. (Vergl. S. 573.)