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Ein Besuch in einer Heilanstalt für Geistesschwache (Idioten)

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Textdaten
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Autor: G. R.
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Titel: Ein Besuch in einer Heilanstalt für Geistesschwache (Idioten)
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 600–602
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Besuch in einer Heilanstalt für Geistesschwache (Idioten).

Es war an einem schönen Frühlingstage voll Frische, blauen Himmels und Sonnenschein, als ich nach zwei Jahren wieder in jener prächtigen Lindenallee, welche aus Berlin vom Schönhäuser Thore nach Pankow führt, vor dem zierlichen eisernen Gitter stand, hinter dem der Spaziergänger, der den Park und das Schloß von Schönhausen besuchen will, seit einigen Jahren mitten in einem sorgsam gepflegten Garten ein Idiotenhaus erblickt. Aber wie war das hier anders geworden seit den zwei Jahren, daß ich nicht hier war! Das Haus war gewachsen, in die Länge und Breite, und hatte einen ganz neuen Rock bekommen von mattgelber Farbe mit grünen Fensterstreifen und architektonischem Zierrath, der ihm ganz vortrefflich stand. Und links, da stand ein zierliches Schweizerhaus mit Balcons und Gallerien und weit vorspringendem Dach mit allerlei Schnitzwerk, und auf dem Thürmchen desselben drehte sich lustig eine Wetterfahne im Morgenwinde, unter der vier lange eiserne Arme mit großen eisernen Buchstaben die vier Himmelsgegenden bezeichneten. In einem Gehege neben dem Schweizerhause sprangen Hirsche und Rehe. Wird denn hier jetzt Hochwild gehegt, wie in den Parks reicher und vornehmer Leute? Ich zog mit einem kräftigen Ruck die Klingel. Laut und hell klang der Ton durch die ländliche Stille, welche auf Flur und Garten lag, auf dessen zierlich eingefaßten Beeten die ersten Frühlingsblumen sproßten und mit ihren bunten Köpfchen neugierig aus der schwarzen Erde zum blauen Himmel aufblickten. Bald erschien hinter einer der großen Spiegelscheiben ein bekanntes Gesicht und blickte in den Garten, es war das herzliche und wohlwollende Gesicht des Directors der Anstalt, der schon nach einigen Minuten vor mir stand, das Thor öffnete und mir mit einem herzlichen Willkommen die Hand drückte. „Wie lange habe ich Sie nicht gesehen!“ rief er, „wo sind Sie überall gewesen in diesen zwei Jahren! In Italien – bei Garibaldi! erzählen Sie!“

„Sachte, sachte, Director,“ unterbrach ich ihn, „später werde ich Ihnen von Garibaldi erzählen, so viel Sie wollen, aber sagen Sie mir, wie das zusammenhängt: Hier ist Alles verjüngt und verschönert. Und gebaut haben Sie, Schweizerhäuser mit Gallerien und Balcons!“

„Es enthält die Korbmacher- und Tischlerwerkstätten für meine Zöglinge; Sie erinnern sich, vor zwei Jahren waren diese Werkstätten weit von hier, in einem jener neuen Häuser.“

„Ich weiß, ja, ich weiß; aber wirklich, ich habe mich nicht geirrt, da sind ja Hirsche und Rehe in jenem Gehege. Sie scheinen eine Menagerie anlegen zu wollen!“

„Sie wissen ja, wenn Sie das nicht Alles bei Garibaldi oder auf den nordfriesischen Inseln vergessen haben, daß die geistige Entwicklung der Idioten nur durch Cultur der Sinne möglich ist; deshalb habe ich eine Menge Hausthiere angeschafft, Tauben, Hühner, kalekutische Hähne, Hunde, auch eine Hirschkuh und ein Reh. Alle diese Aeußerlichkeiten sind in der geistigen Entwicklung der Unglücklichen von Bedeutung.“

„Und auch den Hügel hier hinten im Garten haben Sie umgewandelt. Das ist ein hübsches Rondeau geworden, mit einem schönen Dach, wie ein kolossaler chinesischer Sonnenschirm!“

„Ja, diese Verwendung des Raumes erschien mir so praktischer. Hier auf dem Hügel unter dem chinesischen Sonnenschirm wird nun im Freien gespeist, auch der Unterricht wird hier in der schönen Jahreszeit ertheilt. So können die Kinder während des ganzen Tages im Freien bleiben.“

Da trat ein Mann aus dem Hause und schritt auf uns zu. Er schien hoch in den fünfziger Jahren zu sein, eine kräftige Gestalt, mit verlebtem Gesicht von mattgelber Farbe und kurz geschnittenem blonden Haar; in seinen großen blauen Augen zuckte zuweilen ein Blick, der dem Beobachter über seinen Gemüthszustand keinen Zweifel lassen konnte. Er trat zu uns heran.

„Wer ist der Mann?“ flüsterte ich dem Director zu, „wohl auch einer von Ihren Pensionären?“

„Ah, ich werde die Herren vorstellen,“ erwiderte der Director, „der Herr Baron von X. aus Russisch Polen, erst seit einigen Monaten hier. Er glaubt, daß seine Familie ihn verkauft hat, um ihn auf die Festung zu bringen und ihn seiner Güter zu berauben. Er hat sich bei der letzten Revolution in Polen betheiligt –“

„Nein, ich habe mich gar nicht betheiligt, das sagt man mir nur nach, ich bin ein treuer Unterthan meines Kaisers,“ unterbrach der Mann den Director in einem etwas gereizten Tone, „aber dennoch bin ich ein großer Verbrecher, und ich bin nicht würdig, in der Gesellschaft von guten Menschen zu sein.“

Wir waren die Stufen hinangestiegen, welche auf den kleinen Hügel hinaufführten, und setzten uns auf die Bank unter den großen hölzernen Sonnenschirm. Der Baron zögerte uns zu folgen. „Setzen Sie sich doch zu uns, Herr Baron,“ rief der Director, „kommen Sie her. Rauchen wir eine Cigarre zusammen!“

Der Baron sah uns zweifelnd an. Wieder zuckte das irrsinnige Lächeln in seinen Augen. „Nein,“ rief er, „ich bin ein schwerer Verbrecher und bin nicht würdig, neben guten Menschen zu sitzen.“

„Aber so kommen Sie doch,“ rief ich, „in meiner Gesellschaft brauchen Sie sich nicht zu geniren; ich bin auch ein Verbrecher, habe auch Revolution gemacht und habe schon mehrere Jahre auf der Festung gesessen in Casematten mit dicken Mauern und hinter Gitterfenstern, also kommen Sie und setzen Sie sich!“

Da blickte der Baron mich mißtrauisch an. „Ich habe es ja schon gesagt,“ erwiderte er, „ich bin kein Verbrecher, wie Sie, ich bin auch kein Republikaner, ich war immer ein treuer Unterthan meines Kaisers.“ Dann wandte er sich ab und ging nach dem Hühnerhofe.

„Lassen Sie ihn gehen, Sie haben es jetzt mit ihm verdorben. Von der Revolution darf man mit ihm nicht sprechen,“ sagte der Director und zündete sich eine Cigarre an; „an die letzte polnische Revolution knüpfen sich alle seine fixen Ideen. Sie wissen, mein Haus dient auch als Asyl, wo ich ausnahmsweise auch einen Irrsinnigen aufnehme, der ruhig ist. Ich habe deshalb dort oben im zweiten Stock auch drei Fenster mit dünnen eisernen Traillen versehen lassen. Hr. v. X. ist aus Warschau gebürtig und besitzt große Güter in Polen. Während der Revolution im verflossenen Jahre brachte einer seiner Schwiegersöhne einen sehr compromittirten polnischen Edelmann, der von der russischen Polizei verfolgt wurde, glücklich mit seinem Gespann über die preußische Grenze. Der Mann wurde denuncirt und zu zwei Jahren Festung verurtheilt, und die russische Regierung ließ zur Strafe eine Summe von hunderttausend Rubel auf seine Besitzungen eintragen. Die Sache afficirte Hrn. v. X., den Sie hier sehen, so, daß sich bei ihm Spuren des Irrsinns zeigten. Uebrigens hat er sehr stark gelebt, Sie sehen es ihm auch an, so daß die Krankheit, wie hier die Aerzte meinen, auch wohl schon in seinem Körper war und die Gemüthserschütterung nur der Anlaß zu derselben war. Seine Heilung ist sehr zweifelhaft. Im Allgemeinen ist er sehr ruhig, nur dann und wann widersetzt er sich. Er hat einen eigenen Diener zu seiner besondern Aufsicht und Aufwartung. Seine Behandlung wird mir dadurch sehr erleichtert, daß er sich einbildet, ich wisse Alles, was er thue, und könne Alles machen, was ich wolle, nötigenfalls Regen und Sonnenschein, Frühling und Winter.“

„Wie viel Idioten haben Sie denn jetzt in Ihrer Anstalt?“

„Gegenwärtig? Es sind 36 im Hause. In den drei Jahren, daß die Anstalt besteht, hatte ich 50 Zöglinge?“

„Was sind denn die muthmaßlichen Gründe der Idiotie bei den jetzt anwesenden Zöglingen?“

„Sie wissen, ich pflege die Krankheitsgeschichten, soweit sie zu erforschen sind, die Elternverhältnisse und die Entwicklung der Zöglinge vor der Aufnahme in die Anstalt mit möglichster Genauigkeit in meinem Anstaltsjournal zu verzeichnen. Sie können sich die Bücher oben in meinem Zimmer nachher ansehen. Bei Einem hatte die Mutter während der Schwangerschaft eine längere Seereise gemacht, während der sie in hohem Grade seekrank war. Ein Anderer hat lange Zeit am Bandwurm gelitten. In einem Falle werden als Ursache die vielerlei Krankheiten angegeben, die er in der frühesten Kindheit zu überstehen hatte und die seine Entwicklung hemmten, bei einem Andern soll der Mangel an Nahrung bei der Amme schuld sein. Einer wurde ganz gesund geboren, erkrankte im zweiten Lebensjahre am versteckten Scharlach und bekam nach der Genesung ein Nervenfieber, das einen noch andauernden nervösen Kopfschmerz hinterlassen hat. Bei Einem ist als muthmaßlicher Grund der Idiotie die seit Generationen herrschende Sitte der Verheirathung unter den nächsten Verwandten angegeben. Die [601] Familie besitzt große Güter, und um diese zusammenzuhalten, finden nur Verheirathungen unter den nächsten Verwandten statt. Es prägen sich hier fast bei allen Familiengliedern bestimmte Krankheiten aus. So z. B. haben Alle ohne Ausnahme schwache Augen, zwei Brüder sind ganz blind, zwei befinden sich zur Zeit im Irrenhause, und der Eine ist hier in der Anstalt. Es ist vorgekommen, daß in dieser Familie bei zwei Generationen die Krankheitssymptome gänzlich fehlten, bei der dritten traten sie desto stärker auf.“

Wir standen auf und stiegen den Hügel hinab. Aus dem Hause schob eine ältliche Frau einen offenen Korbwagen in den Garten, mitten in den warmen Sonnenschein hinein. In dem Wagen saß ein erwachsener junger Mensch, in eine warme, wollene Decke gehüllt, auf dem Kopfe eine blaue Mütze mit glänzend schwarzem Schirm und einem breiten, rothen Streif. Auf dem übrigens regelmäßig gebildeten Gesicht lag ein stupider, halb thierischer Ausdruck; wie der warme Sonnenschein ihn berührte, blökte er einige Male, wie ein Schaf blökt.

Wir traten an den Wagen hinan. Er grinste uns mit einem thierischen Lachen an. Er schien uns doch zu bemerken. Die Wartefrau stand neben ihm. Sie wollte ihm die blaue, rothberänderte Mütze zurechtsetzen. Auf einmal erhob er ein lautes Geschrei und verzerrte das Gesicht, als wenn er heftig in Zorn geriethe. Der ganze Anblick war höchst widerlich.

„Aber er scheint doch Empfindung zu haben, Director,“ rief ich, „interessirt ihn die Mütze?“

„Ja, die Mütze gefällt ihm, auch zeigt er Spuren von Zuneigung für seine Wartefrau. Aber damit ist sein Geistesvermögen auch zu Ende.“

Ich machte eine Bewegung mit der Hand, als wenn ich die Wartefrau schlagen wollte. Und wieder verzerrte sich das Gesicht des Unglücklichen in heftigster Weise, und wieder stieß er das thierische Geheul aus, nur noch in stärkerer und heftigerer Weise.

„Aber warum bewegt er denn die Hände nicht bei seinen Zornausbrüchen?“

„Arme, Füße und Hände sind äußerst schwach. Die Fälle, wo mit der Idiotie große Schwäche in den Händen, Armen und Füßen verbunden ist, sind sehr zahlreich. Er muß gefüttert werden, wie ein Kind, kann nicht gehen und nicht stehen; um ihn in eine andere Lage zu bringen oder um ihn aufzurichten, muß er in die Höhe gehoben werden. Er hört sehr schwer, sieht aber ziemlich gut, wie Sie bemerken; was ihm zu essen und zu trinken gegeben wird, scheint ihm ganz gleichgültig zu sein.“

Da stieß der Kranke von Neuem das thierische Geheul aus. Es klang jetzt wie das Blöken einer Kuh. Der Anblick war äußerst widerlich. „Director,“ sagte ich, „lag nicht eine Humanität in dem spartanischen Gesetze, verkrüppelte und lebensunfähige Kinder in den Eurotas zu stürzen?“

„Kommen Sie, gehen wir in das Haus und hören Sie sich den Unterricht an, vielleicht werden Sie dann anderer Meinung. Sie sollen Idioten sehen, welche Violine spielen, welche lesen und schreiben, welche recht hübsche Korbmacher- und Tischlerarbeiten anfertigen. Vielleicht finden Sie das spartanische Gesetz dann doch nicht so human!“

Wir traten in ein Zimmer zu ebener Erde. Eine große Landkarte von Europa hing an der Wand, gegenüber stand eine schwarze Holztafel auf einem Gestell, auf dem sie hinauf und hinab geschoben werden konnte. Ein großer Tisch stand in der Mitte des Zimmers. Um den Tisch saßen und standen ein halbes Dutzend Kinder, im Alter von ungefähr sechs bis zwölf Jahren, alle höchst ordentlich und sauber gekleidet. Im Zimmer war das hübsche, junge Mädchen, welches ich am Fenster gesehen hatte. Sie beaufsichtigte die Kinder so lange, wie der Director abwesend war. Er hatte gerade Sprachunterricht gegeben, in dem ich ihn durch meinen Besuch unterbrochen hatte. Als wir in die Thür traten, standen einige von den Kindern auf, kamen uns entgegen und begrüßten uns mit der allen Idioten eigenen Vertraulichkeit. Ein blonder Knabe in dem Alter von ungefähr neun Jahren war sehr unbändig. Er tobte im Zimmer umher, schrie, ohne daß irgend ein Laut verständlich war, und warf sich dann wieder zur Abwechselung zur Erde. Der Knabe war erst seit einigen Wochen in der Anstalt. Die erste Zeit’ seines Aufenthalts war dazu verwendet worden, ihn über die unterste Stufe des thierischen Daseins, auf der er stand, als er gebracht wurde, hinweg zu bringen. Er war höchst unsauber und aß Alles, was ihm vorkam, ohne Maß und Auswahl, Erde, Blätter, Schmutz und Steine.

„Aus diesem rein thierischen Dasein habe ich ihn nun herausgebracht,“ sagte der Director, „er ißt und trinkt jetzt in menschlicher Weise, und sehen Sie ihn einmal an, wie ordentlich und reinlich der Junge aussieht. Noch leidet er an der Eigenschaft, an der die meisten Idioten leiden; er ist entsetzlich träge. Er hat einen ordentlichen Widerwillen gegen jede Bewegung und Thätigkeit. Da, hebe einmal die Mütze auf.“

Als der Knabe die Mütze auf der Erde liegen sah und den Befehl erhielt, sie aufzuheben, erhob er ein wahrhaft widerwärtiges Geschrei. Der Ausdruck von Widerwillen und Trägheit vermischte sich in diesen thierischen Tönen. Erst nach wiederholtem strengem Befehl hob er mit dem größten Widerwillen und unter fortwährendem Geschrei die Mütze auf. Das Experiment, einen Stuhl auf eine andere Stelle zu setzen, ging in ganz ähnlicher Weise vor sich.

„Nicht war, es geht passabel?“ sagte der Director. „Als er kam, warf er sich nieder, wo er stand. Sie sehen, er thut das noch zeitweis. Er hatte nicht den Muth, sich zu setzen; er lag auf der Erde, bis er fortgetragen wurde. Der Knabe ist jetzt auf dem besten Wege. Warten Sie, ich wollte gerade, als Sie kamen, mit ihm die erste Sprachübung vornehmen. Ich kann das gleich thun. Das Kind soll das „A“ aussprechen lernen.“

Dann setzte er sich auf einen Stuhl an den Tisch, und den Knaben vor sich auf den Tisch selbst. Nun sprach er ihm das „A“ vor, so deutlich, so prägnant wie möglich, und befahl ihm, den Buchstaben nachzusprechen. Bei jedem Aussprechen des Buchstaben machte er die Mundstellung so prägnant, wie es anging. Zehn Versuche schlugen fehl. Endlich sprach der Knabe den Buchstaben nach, und wiederholte ihn dann wohl zehnmal.

Wir gingen nun in ein nach der Vorderseite des Hauses belegenes Zimmer. Es war groß, luftig und hoch. Es wehte darin eine reine und frische Luft. Auf vier Bänken saßen einige zwanzig Kinder, im Alter von sechs bis vierzehn Jahren, alle höchst reinlich und sauber gekleidet. Auf allen Gesichtern war ihr geistiger Zustand in mehr oder weniger deutlichen Zügen zu lesen. Einer der Lehrer der Anstalt war gerade mit dem Unterricht beschäftigt. Die Kinder waren mit wenigen Ausnahmen dieselben, welche ich vor zwei Jahren hier gesehen hatte. Da saß das dicke, häßliche Mädchen, welches damals unaufhörlich weinte, ihr gegenüber ein hübscher, blonder Knabe von vierzehn Jahren, welcher, wenn man ihn nach seinem Namen fragte, nie den Baronstitel vor demselben zu nennen vergaß. Seine adlige Abkunft war die einzige Erinnerung, welche er aus seinen frühern Verhältnissen mit in das Idiotenhaus gebracht hatte. Das dicke, häßliche Mädchen weinte nicht mehr, es war ganz manierlich geworden, gab mir die Hand und antwortete auf jede Frage, welche der Director an sie richtete, mit Verständniß und in deutlicher Aussprache. Baron Fritz war während der zwei Jahre in der Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten weit fortgeschritten. Er legte mir sein Schreibebuch vor. Er hatte nicht allein eine leserliche, sondern sogar eine hübsche Handschrift erworben. Ich dictirte ihm einen kurzen Satz. Er schrieb ihn ohne Fehler in reinlicher und schöner Form nieder. Dann las er mir einige Sätze vor. Er las in der That richtig und ohne Anstoß. Die meisten von den Kindern hatten Lesen und Schreiben erlernt. Ich ließ mir sämmtliche Schreibebücher vorlegen. Keine Handschrift war so deutlich und so zierlich, wie die des Baron Fritz, aber jede war leserlich und reinlich. Der Director veranstaltete ein kleines Examen. Eines nach dem Andern sprachen die Kinder ein Gebet, ein Gedicht oder eine Reihenfolge zusammenhängender Sätze. Mit mehreren wurde eine kleine Unterhaltung über einen leicht faßlichen Gegenstand geführt. Meistenteils war der Ideengang logisch; sehr selten erfolgte eine verkehrte oder nicht in den Zusammenhang passende Antwort. Noch nicht zwei Jahre waren verflossen, als ich in derselben Stube dem ersten Anschauungsunterricht beiwohnte, wo den Kindern, um ihre Sinne zu cultiviren, Bilder mit bunten Farben, welche Menschen, Thiere und Häuser vorstellten, vorgelegt wurden, wo sie häufig, wenn ihnen das Bild einer Katze vorgelegt wurde, auf die Frage: Was ist das? – „ein Vogel“ oder „der Prediger“ antworteten. Und jetzt, nach zwei Jahren, hatten sie Schreiben und Lesen gelernt, und der größte Theil von ihnen verstand die an sie gerichteten Worte und antwortete in eingehender und verständiger Weise, wenn auch zwischen Frage und Antwort zuweilen eine Minute des Nachdenkens erforderlich war. Und vor drei Jahren! Da standen sie fast alle auf der untersten Stufe [602] der rein thierischen Existenz, auf der ich vor einer Viertelstunde den tobenden und trägen Knaben in der Spielclasse gesehen hatte, den der Director das „A“ sprechen lehrte. Es schien mir oft momentan unbegreiflich, das; der kleine „Baron Fritz“ vor drei Jahren noch Steine und Erde gegessen und sich unter thierischen Lauten auf der Erde gewälzt halte.

Es war zwölf Uhr. Der Schulunterricht war zu Ende. Die Kinder liefen sämmtlich nach dem hinter dem Hause befindlichen Garten. Wir traten noch für einige Minuten in die Werkstätten, welche zu ebener Erde in dem hübschen Schweizerhause lagen. Es war eine Korbmacher- und eine Tischlerwerkstätte. In jeder waren mehrere Knaben in dem Alter von vierzehn bis sechszehn Jahren unter der Aufsicht von zwei Meistern beschäftigt. In der Tischlerwerkstätte wurde die letzte Hand an eine recht gut gearbeitete Gartenbank gelegt, ein Gartentisch stand bereits fertig da. In der Korbmacherwerkstätte war ein äußerst zierlicher Kinderwagen fertig geworden. Kein Meister hätte sich seiner zu schämen brauchen. Mehrere von den hier arbeitenden Zöglingen sollten nächstens die Anstalt verlassen, um als Gesellen bei einem Meister einzutreten und sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Der Garten bot, als wir nach dem Hause zurückkehrten, einen sehr lebendigen Anblick. Alle Kinder spielten und tummelten sich in demselben umher. Einige der größern machten Uebungen an einem Klettergerüst und an einem Barren. Die Uebungen zeugten von Kraft und Geschicklichkeit der Glieder. Auf der kleinen Treppe, welche nach dem Rondeau hinaufführte, stand ein junger Mensch von einigen zwanzig Jahren, vor sich ein Notenpult, eine Violine in der Hand. Seine Gesichtszüge hatten einen unverkennbar thierischen Ausdruck; er gehörte zu den häßlichsten Zöglingen der Anstalt. Seine Stellung war gebückt. Neben ihm stand der Musiklehrer der Anstalt. Er spielte mit ziemlicher Fertigkeit nach dem Notenblatt einen Walzer, und ein Dutzend Kinder tanzten fröhlich vor ihm herum nach dem Takte der Musik. Selten griff er falsch, der Bogenstrich war ziemlich rein. Ich sah erstaunt das Schauspiel an. „O, er kann noch andere Sachen spielen, lassen Sie ihn Etwas aus einer Oper vortragen,“ rief der Director, und nun wurde dem armen Idioten ein anderes Notenblatt hingelegt, und er spielte mit nicht zu leugnender Fertigkeit einige leichtere Piècen ans dem Don Juan.

Eine Klingel ertönte. Es war der Ruf zum Mittagessen, und nach einigen Minuten saßen sämmtliche Zöglinge in den beiden Zimmern, wo ich sie erst hatte unterrichten sehen, an weiß gedeckten Tischen, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Die Frau des Directors, welche der ganzen ökonomischen und häuslichen Einrichtung der Anstalt mit ungemeiner Sorgfalt und Ausdauer vorsteht, und das hübsche junge Mädchen präsidirten bei Tisch. Alle Kinder saßen, die Servietten vorgesteckt, ruhig an ihren Plätzen, aßen allein und selbstständig und schienen ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Teller gerichtet zu haben, auf denen eine kräftig zubereitete Fleischbrühe umhergegeben wurde. Zwei Kinder sprachen an beiden Tischen nacheinander das Tischgebet, alle anderen falteten die Hände. Warm und hell blickte die Mittagssonne durch die hohen Fenster in den Saal. Wer hier eintrat, ohne zu wissen, wo er sich befand, konnte unmöglich auf den Gedanken kommen, daß fast alle diese armen Kinder noch vor kaum drei Jahren auf der tiefsten Stufe körperlicher und geistiger Entwickelung gestanden hatten.

Ich glaube meine Schilderung des Idiotenhauses nicht besser schließen zu können, als mit den Worten eines edlen Menschenfreundes, des Pastors Disselhof, Predigers an der Diakonissenanstalt zu Kaiserswerth am Rhein, in seinem Aufruf für arme Idioten. „Jedes Uebel,“ sagt er, „woran die Menschheit leidet, ist Gegenstand der Forschung geworden, und man hat Mittel und Wege gesunden, um es zu heilen und zu verbessern. Die Krankheiten des Auges, des Ohres, der Zunge, des Fußes haben ihre eigenen Heilmethoden; der Verstümmelte, der Kranke, der Wahnsinnige haben ihre Zufluchtsstätten; nur die unterste und schlimmste Classe – die Blödsinnigen – wurden bisher übersehen eben weil man nicht an die Möglichkeit dachte, etwas für sie zu thun. Doch dies Vorurtheil ist nun glücklich widerlegt, die Versuche der jüngsten Tage sind mit Erfolg gekrönt, um die Idioten der geistigen Verdumpfung zu entziehen, und es ist eine hohe Pflicht für jeden Menschenfreund, kräftige Hand an’s Werk zu legen.“ [1]

Möge auch meine Schilderung des Idiotenhauses bei Berlin in dem gelesensten Blatte der Erde, in der „Gartenlaube“, dazu beitragen, das Interesse für die unglücklichen Idioten rege zu machen und zu einem thatkräftigen Handeln anzufeuern!

G. R.



  1. Wir werden nächstens schon einen mehr pädagogisch eingehenden Artikel über diesen Gegenstand aus der Feder des Herrn Doctor Herz bringen, der bekanntlich im Buschbade bei Meißen in Gemeinschaft mir seiner geistreichen, auch als Erziehungsschriftstellerin bekannten Gattin eine Anstalt für Blödsinnige leitet, die bereits mehrere Male in der Presse große Anerkennung fand.
    D. Red.