Ein Brief (Die Gartenlaube 1894)

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Autor: Amélie Godin
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Titel: Ein Brief
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, 25, S. 403–407, 422–424
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Brief.

Novelle von A. Godin.

Gott befohlen, Mister Armstrong, und werden Sie uns nicht ganz abtrünnig dort unten in Ihrem Südkarolina!“ sagte eine elegante sehr hübsche Dame, indem sie dem vor ihr stehenden Herrn des Hauses, dem amerikanischen Handelsherrn Gerhard Armstrong, noch einmal die Hand drückte. „Wir wollen Ihre Frau indessen nach Möglichkeit zerstreuen, sie soll auf der Insel eine gute Nachbarin an mir haben – wenn es ihr genehm ist!“

Ihr rascher Seitenblick begegnete halb zugedrückten Augen, die keine Antwort gaben. Die junge Hausfrau war, als der Besuch sich erhoben hatte, neben ihrem Sessel stehen geblieben und entgegnete erst nach merklichem Zögern mit wohlklingender, etwas nachlässiger Stimme in gutem, wenngleich etwas fremd betontem Englisch: „Wie sollten Sie Zeit finden, Frau Anny!“

„Ein Korb!“ Das Lachen der Dame klang nicht ganz frei.

„Meine Frau weiß vielleicht besser, daß die Gesellschaft eine ihrer Zierden auch nicht für eine Stunde entbehren kann, als Sie wissen, welcher unverbesserlichen Hausschnecke Sie Zerstreuung anbieten,“ fiel Armstrong ein, indem er der schönen Frau das Geleite gab. Diese neigte ihren Kopf etwas spöttisch zum Gruße, streifte gleichgültig die im Hintergrunde des Empfangzimmers stehende Gestalt eines jungen Mannes, dessen Verbeugung sie nur mit einer flüchtigen Bewegung berücksichtigte, und durchschritt in stolzer Haltung die große Halle, in welche die Räume des Erdgeschosses mündeten. Armstrong unterhielt sie mit vollendeter Artigkeit, während er sie über die von außen in das Haus führende Treppe und durch den Garten begleitete, vor dessen Pforte ihr Wagen hielt.

Die beiden im Zimmer Zurückgebliebenen hatten inzwischen auch Worte getauscht. Der junge Mann verließ seinen zurückgezogenen Standpunkt und nahm der Hausfrau gegenüber an dem kleinen Sofatische Platz, mit der Sicherheit eines Menschen, der sich zu Hause fühlt, ohne doch von dem Rechte zur Vertraulichkeit Gebrauch machen zu wollen. Er mochte das dreißigste Jahr noch nicht erreicht haben, die leichten Bewegungen seiner schlanken Gestalt waren ebenso jugendlich wie das feine Kolorit des lebenskräftigen Gesichtes, dessen Züge geistige Reife, nicht ohne Selbstbewußtsein, verrieten. Vielleicht spielte etwas von dieser Ueberlegenheit in dem Lächeln, womit er nun sagte: „Frau Anny scheint nicht in Gnaden bei Ihnen zu stehen, Frau Armstrong?“

Er sprach deutsch, und deutsch war auch die kurze Antwort, die er erhielt: „Nein!“

„Und weshalb nicht, wenn man fragen darf?“

Sie hob leicht die Schultern, griff nach einer Stickerei, die während des Besuches weggelegt worden war, und begann zu arbeiten, ohne das Gespräch fortzusetzen. Ihr Gegenüber folgte zerstreut den Bewegungen ihrer wohlgebildeten Hände. Die feinen geschickten Finger, die Grübchen der kinderhaft weichen Hand paßten gut zu Johanna Armstrongs Erscheinung, obgleich sie kaum eine schöne Frau genannt werden konnte. Ueber den keineswegs regelmäßigen Zügen lag ein Hauch von Unberührtheit, der merkwürdig anziehend war. Ihr dichtes kastanienbraunes Haar wuchs tief in die Stirn herab und stimmte hübsch zu den dunkelblauen ruhigen Augen. Alle Bewegungen ihrer etwas vollen Gestalt waren weich und langsam; nicht gerade Lässigkeit, doch leise Gebundenheit sprach sich darin aus.

Armstrong kehrte zurück, ehe das Schweigen der beiden wieder gebrochen war. Zugleich mit ihm erschien der Diener mit der Meldung, daß das Essen bereit stehe. Der Hausher bot seiner Frau den Arm und winkte dem Gaste freundschaftlich zu. Wenige Augenblicke später saß die kleine Gesellschaft in dem gediegen ausgestatteten Speisezimmer um den nach amerikanischem Brauch gedeckten, reich mit Silbergerät besetzten Tisch.

„Schade!“ war Armstrongs erstes Wort.

„Um die verlorene Stunde, meinst Du?“ entgegnete Johanna. „Wir hätten heut’ unsere Thüre schließen müssen. Nur der eine Abend noch! Und davon ein ganzes Stück an diese Frau verlieren – wie unlieb!“

„Du hast es merken lassen, Hanna – fast zu sehr!“ sagte ihr Mann mit seinem ruhigen Lächeln.

„Was ich nicht bedauere –“

„Ein Gast!“ warf Armstrong hin, doch ohne Tadel im Ton.

„Ein ungeladener! Welcher Gedanke, daß ich mich in Deiner Abwesenheit von ihr sollte bemuttern lassen – von einer geschiedenen Frau!“

„So streng?“ sagte der Tischgast mit lachendem Blick auf Johannas entrüstetes Gesicht. „Ist die Dame so schlimm? Ich sah sie heut’ zum erstenmal.“

„Nicht so schlimm,“ antwortete Armstrong statt seiner Frau. „Daß Sie ihr noch nicht begegneten, Mister Ruhdorf, erklärt sich nur durch Ihr eingezogenes Leben. Man trifft sie so ziemlich überall. Wenn ich sie mir auch nicht gerade zur nächsten Gesellschafterin meiner Frau wählen würde, liegt doch nichts vor, was sie zu loserem Verkehr ungeeignet machte. Sie ist nicht weniger und nicht mehr als eine Weltdame, deren Gedanken sich ausschließlich um Aeußerlichkeiten drehen. Daß sie von ihrem Manne geschieden ist, darf ihr kaum angerechnet werden, die beiden paßten durchaus nicht zusammen, warum also einander plagen bis zum Ende der Dinge, bei kinderloser Ehe? Wenn ein paar Menschen sich im Zusammenleben gegenseitig weder besser noch glücklicher machen, thun sie wohl daran, auseinander zu gehen.“

„Denkst Du so über die Ehe?“ rief Johanna, lebhaft errötend. „Das ist mir neu.“

„Finden Sie diese Ansicht Herrn Armstrongs etwa falsch?“ fragte Ernst Ruhdorf erstaunt.

Die Wangen der jungen Frau färbten sich noch tiefer. „Thun Sie das nicht, Herr Ruhdorf? Doch ich vergaß, Sie sind Junggeselle, da urteilt man über beschworene Treue, ohne sie zu kennen.“

„Nun, nun,“ meinte der Hausherr, „ein Bräutigam ist nur noch halb ein Junggeselle und dürfte über Ehebande doch schon ein wenig nachgedacht haben. Uebrigens wundert mich Dein Mißfallen, Hanna. Du kennst meine Ansichten doch zur Genüge, während der sechs Jahre unseres Beisammenseins ist das Thema nicht so selten zu Worte gekommen, und ich denke, wir stimmen überein. Sobald es Treue gilt, handelt es sich in jedem Verhältnis der Menschen zueinander um das Wichtigste, Unentbehrlichste, und die gewissenlose Frivolität, womit das allzuoft mißachtet wird, gehört entschieden zu dem, was ich als die Sünde wider den heiligen Geist verstehe.“

„Also!“ warf Johanna ein; „Du widersprichst Dir!“

„Kein Widerspruch! Im erwähnten Fall handelte es sich nach meinen Begriffen um keine wirkliche Ehe, ich nehme also nichts zurück. Muß ich aber sehen und hören, wie Mütter ihre kleinen Kinder verlassen, Frauen und Männer ihr Heim, ihre Pflichten hinwerfen unter dem Vorwand, daß ihre Gefühle den Gegenstand gewechselt haben, so möchte ich nicht nur am Menschenwert dieser Leute, sondern ebenso an ihrem gesunden Menschenverstand zweifeln. Was immer aufgebaut wird, fordert feste Grundlage, und gerade die Ehe, das Gebäude, auf dem das Leben der einzelnen nicht nur, sondern ebenso das Gedeihen des staatlichen Lebens beruht, soll auf der schwankendsten aller Grundlagen stehen, auf Gefühlen, auf augenblicklichen Bedürfnissen des Herzens oder gar der Sinne? Unsinn! Höre ich manche heutigen Vertreterinnen des ‚Frauenrechts‘ von diesem Standpunkt aus über Sittlichkeit und Unsittlichkeit der Ehen deklamieren, weiß ich nie, ob ich lachen oder weinen soll; diesen Frauen, welche Mannesrechte für sich vom Staate fordern, fällt es gar nicht ein, den großen Widerspruch zu begreifen, dem sie verfallen, wenn sie sich in demselben Atem für berechtigt erklären, ihre unmittelbarste Pflicht als Staatsbürgerinnen: die Hut der Familie, ohne weiteres fortzuwerfen, weil ihre Liebe für den einen Mann verflogen ist.“

Er hatte das alles mit starkem Nachdruck gesprochen, sein groß geschnittenes männliches Gesicht war belebt, ohne daß er in Eifer geriet. Nun, bei einer Bewegung seiner Frau, hielt er inne und sah sie mit den hellen festen Augen erwartend an. Johanna war offenbar im Begriff, etwas zu äußern, wechselte aber nur die Farbe und schwieg, mit unwillkürlichem Blick auf Ruhdorf, als hielte dessen Gegenwart sie ab, frei zu sprechen.

Vielleicht spürte dieser, daß die junge Frau seinetwegen nicht mit der Sprache berauswolle, dachte sich in die von ihr unterdrückten Einwendungen hinein oder fühlte sich selbst zum Widerspruche gereizt. Mit der vollen Lebhaftigkeit, die dann und wann das absichtliche Zurückhalten seines Naturells durchbrach, sagte er [404] nun: „Sie sprachen vorhin, als Gegensatz, von Ehen, die keine wirklichen seien. Lassen Sie aber eine wahre Ehe noch gelten, wenn die Liebe bewußt ein Ende hat? Mir scheint doch, Sie gehen in Ihrer Verurteilung zu weit, Herr Armstrong! Verdammen Sie denn jede Lösung eines vielleicht übereilt geschlossenen Bundes, wenn die Voraussetzung, unter der er geschlossen wurde, die Liebe zwischen Mann und Weib, nicht mehr zutrifft?“

„Ich verdamme überhaupt nichts und niemand – dafür hat jeder, der die Augen offen hält, mit vierzig Jahren schon viel zu viel Widersprechendes in sich selbst wie durch andere erfahren. Erinnern Sie sich übrigens meines Wortes, daß ich es für richtig halte, wenn Menschen auseinandergehen, die einander nicht mehr zu fördern vermögen. Das ist der entscheidende Punkt. Es mag schwer sein, sowohl im Fieber einer Leidenschaft als auch im Unmut augenblicklicher Mißverständnisse diesen Punkt fest im Auge zu behalten – ein rechter Mensch wird das aber vermögen. Was auch Mann und Frau eine Zeit lang trennen und die Wage niederziehen mag, wirkliche Lebensgemeinschaft wiegt am Ende doch schwerer, wenn ihre große befruchtende Macht von den Beteiligten je begriffen wurde, und wer seine Pflichten liebt, dem bringen sie Entschädigung für die größten Entbehrungen. Darin allein liegt das Entscheidende! In diesem Sinn stehe ich nicht an, zu sagen, daß ich eine Frau, deren Charakter mir die Bürgschaft dieser Erkenntnis giebt, sofort freigeben würde, sobald sie glaubte, ihre Lebensziele an der Seite eines anderen sicherer zu erreichen. Immer vorausgesetzt, daß keine Kinder da sind, denn in solchem Falle ist, nach meiner Ansicht, überhaupt kein Abkommen möglich; die Familie als solche hat unumstößliche Rechte, die nicht angetastet werden dürfen.“

„O!“ machte Johanna, und dann, die Augen etwas zudrückend: „Das ist also Dein Glaubensbekenntnis. Mit Vorbehalt der Gegenseitigkeit, natürlich –“

„Das will ich nicht behaupten. Als Mann wäre ich mir der stärkeren Verantwortlichkeit bewußt. Doch hat es wohl keine Gefahr.“

Er blickte Johanna liebreich an, erhob sein Glas und ließ es an das ihrige klingen. „Sprechen wir von wahrscheinlicheren Dingen: auf ein frohes Wiedersehen!“

„Auf frühes Wiedersehen!“ sagte sie bewegt. Müssen es denn wirklich Monate sein? Noch kommt mir das unglaublich vor.“

„Ist nicht zu ändern, Kind. Von Jahr zu Jahr habe ich den Besuch meiner Plantagen hinausgeschoben, das darf nicht länger versäumt werden und läßt sich nicht in wenigen Wochen abmachen. Ich hoffe, es soll Dir nicht allzu schwer fallen, den Sommer hinzubringen. Deine Schwester wird nächste Woche eintreffen, ich denke, die Rücksicht auf ihre Unterhaltung soll Dich bewegen, nicht gar so abgeschlossen zu leben. Mister Ruhdorf hat mir zugesagt, sich treulich nach Dir umzusehen, in jedem außergewöhnlichen Fall statt meiner einzutreten, also wird es Dir auch an Schutz und Rat nicht fehlen.“

Johanna blieb wortkarg, bis sie sich, nachdem der letzte Gang abgetragen war, zurückzog. Die Männer saßen noch ein Stündchen beim Glase Wein. Armstrong gab seinem Geschäftsführer die letzten Weisungen für längere Vertretung und schloß mit den Worten: „Wir arbeiten nun seit zwei Jahren miteinander, Mister Ruhdorf, und ich denke, wir haben uns genügend kennengelernt. Nach meiner Heimkehr beabsichtige ich, mein Geschäft zu erweitern, und habe dann eine selbständigere Stellung mit entsprechendem Gewinnanteil für Sie im Sinne. Dies vorläufig für den Fall, daß Sie die Gründung Ihrer eigenen Häuslichkeit an diese Aussicht knüpfen wollten.“

„Das steht noch in weitem Felde,“ sagte der junge Mann ablenkend, dankte seinem Chef mit voller Wärme und verabschiedete sich dann für heute. Am nächsten Morgen sollten sich beide vor Armstrongs Abreise nach Südkarolina noch im Comptoir sprechen.

Armstrong arbeitete noch eine Stunde oder zwei in seinem Zimmer und suchte dann seine Frau auf. Johanna hatte geweint. Was die meisten Frauen entstellt, kleidete sie; ihre vollen, etwas blassen Wangen waren leicht gerötet, gleich den Augenlidern, unter denen die feuchten Augen in vertiefter Färbung schimmerten. Als ihr Mann eintrat, legte sie, ohne sein Wort abzuwarten, beide Hände auf seine Schultern und bat mit ihrer wohlklingenden Stimme: „Nimm mich mit, Gerhard, noch ist es Zeit, ich rüste leicht über Nacht.“

„Es kann nicht sein, Hanna, Du weißt es. Nach den erhaltenen Nachrichten giebt es dort viel zu schlichten, das meine völlige Freiheit bedingt. Und davon abgesehen, setze ich Dich in keinem Falle den schädlichen Einflüssen des südlichen Klimas aus.“

Sie wußte, daß jedes weitere Wort vergeblich sei, wenn er sie mit diesem festen Blicke ansah. Als sich neue Tropfen von den dunkeln Wimpern lösten, strich er ihr leicht über den Scheitel. „Mach’ uns das Herz nicht schwer, Hanna! Die Frau eines amerikanischen Kaufmannes muß stets auf zeitweise Trennung gefaßt sein. Ich weiß Dich wohlgeborgen, also – Kopf in die Höhe!“

„Warum hast Du Mister Ruhdorf so ausdrücklich verpflichtet, sich um mich zu bekümmern?“ sagte Johanna nach kurzer Pause. „Das ist mir nicht angenehm.“

„Ich sah es Dir an, ohne recht zu begreifen, was Du gegen diesen doch selbstverständlichen Wunsch haben kannst. Dein Vorurteil ist mir überhaupt kaum erklärlich. Mister Ruhdorf ist nicht nur ein verlässiger, er ist ein durch und durch anständiger Mensch, dazu Dein Landsmann. Das sollte ihn Dir näher bringen. Statt dessen bist Du in seiner Gegenwart merkwürdig wortkarg. So häufig er auch bei uns aus- und eingeht, möchte ich doch sagen, daß er Dich noch gar nicht kennt, denn Du verstummst sofort, wenn er da ist. Woher diese Abneigung?“

„Keine Abneigung, Gerhard. Mister Ruhdorf würde mir im Gegenteil recht gut gefallen, wäre er nicht so – ich habe es nie aussprechen mögen, um nicht von Dir ausgelacht oder für empfindlich eitel gehalten zu werden, aber Du mußt doch selbst bemerkt haben, daß dieser Herr eine ziemlich geringe Meinung von meinem Verstande hat. Du schildertest ihn mir von Anfang an als einen besonders gescheiten, vielseitig gebildeten Mann, seine Unterhaltungen mit Dir bestätigen das auch; für wie unbedeutend er mich hält, geht aber aus seiner ganzen Art und Weise deutlich hervor. Das machte mich von vornherein scheu, Du weißt, ich habe Fremden gegenüber stets die angeborene Schüchternheit zu überwinden.“

Armstrong lachte. „Ursache und Wirkung! Weil Du jederzeit scheu warst und bliebst, ist er nun wieder der Meinung, Dir unangenehm zu sein, das verriet mir manches Wort. Nun, ich hoffe, Ihr werdet Euch dennoch vertragen, und bitte Dich, mach’ es dem Manne, der mein volles Vertrauen hat, nicht allzu schwer, seinen Auftrag auch hier im Hause zu erfüllen. Ein wenig Freundlichkeit – ich bürge dafür, Du wirst es nicht zu bereuen haben.“




Die erste Woche nach der Abreise ihres Mannes füllte sich für Johanna durch Uebersiedelung des Hausstandes nach dem an der Inselbucht gelegenen Landhaus, das alljährlich bezogen wurde, sobald der heute frostige, morgen schwüle Mai zu Ende ging und damit das dort so plötzliche Hereinbrechen der Sommerhitze vor der Thüre stand. Armstrongs geräumige Villa bot bei herrlicher Lage jede Bequemlichkeit. Sich dort wieder einzurichten, war dem vorwiegend häuslichen Sinne der jungen Frau um so erwünschter, als sie in den nächsten Tagen dem Eintreffen ihrer jüngeren Schwester entgegensah, die zugesagt hatte, ihr bis zu Armstrongs Rückkehr Gesellschaft zu leisten – eine erfreuliche Aussicht, denn von der Nähe einer Tante ihres Mannes, die, halb als Ehrendame, halb zum eigenen Behagen, mit ihr hierher übersiedelte, durfte sie sich wenig Anregung versprechen. Die alte Dame sprach und verstand nur Englisch und gehörte zur weltbekannten Sippe der komischen guten Tanten. Zur großen Enttäuschung Johannas traf statt der sehnlich erwarteten Schwester eine Absage ein; unvorhergesehene Hindernisse hielten sie noch für unbestimmte Zeit daheim zurück. Es galt, sich zu bescheiden. Johanna nahm ihre Zuflucht zu ihrem Flügel, zu Büchern, ließ sich aber, obgleich sie dann und wann einen Besuch empfing, ebenso wenig hier wie in der Stadt zu regerem geselligen Verkehr verlocken, wozu es nicht an Aufforderungen fehlte. Die nächste Nachbarin, Frau Anny, war trotz der früheren Ablehnung hierin am hartnäckigsten, sie hatte sich in den Kopf gesetzt, die Einsiedlerin „aufzumuntern“, deren „Grille“ ihrem eigenen Vergnügungsbedürfnis völlig unbegreiflich war. Doch zog auch diese sich bald geärgert von der „langweiligen Deutschen“ zurück. Es war kein Eigensinn, der Johanna ihren Entschluß so unbeirrt durchführen ließ. Sie hatte während der ersten Jahre ihrer Ehe die Erfahrung gemacht, in welches ruhelose Getriebe jede Frau unrettbar verfiel, die sich der unter den tonangebenden Familien der großen Handelsstadt üblichen Geselligkeit überließ, und wie wenig diese Jagd nach[405] Zerstreuungen, diese hohle Eleganz ihrem Sinne zusagte. Was sie seit ihrer Verheiratung in und außer dem Hause insgeheim vermißte, den Hauch geistig angeregten Lebens, der die Häuslichkeit ihrer Eltern durchweht hatte – das fand sie in diesem Kreise nicht. Armstrong ließ sie gewähren, als sie sich mehr und mehr zurückzog, und forderte von ihr nur die Berücksichtigung gewisser Ansprüche, die an jedes wohlhabende Haus gestellt werden und sich durch ein paar Gesellschaften jährlich abthun ließen.

Das Stillleben der Frauen, das sich in der Villa Woche um Woche in gleicher Folge abspann, wurde fast nur durch Ernst Ruhdorfs regelmäßiges Erscheinen unterbrochen. Seiner Zusage getreu, fuhr er so ziemlich jeden Tag, nachdem das Geschäft geschlossen war, nach der Insel, um zu hören, ob die Damen nichts vermißten oder ihm aufzutragen hatten, und wenn er auch nur kurz zu verweilen pflegte, gehörte sein Besuch doch bald gleichsam organisch in den Tag herein. Sonntags pflegte er draußen zu speisen und den Abend dort zuzubringen.

Johanna war in überraschend kürzer Zeit von ihrem Vorurteil gegen den jungen Mann zurückgekommen. Sie wußte nicht, ob etwa Armstrong mit dem Takte, der ihn auszeichnete, seinem Beauftragten einen Wink gegeben oder ob Ruhdorfs eigenes Taktgefühl ihm, nun er der Frau seines Chefs allein gegenüberstand, eine andere Tonart als die frühere nahelegte – so viel war gewiß, weder in seiner Miene, noch in seinen Worten zeigte sich mehr eine Spur dessen, was sie als Ueberhebung und Geringschätzung ihrer Fähigkeiten betrachtet hatte. Er gab sich einfach und liebenswürdig, immer bestrebt, der jungen Frau jede kleine Schwierigkeit aus dem Wege zu räumen, ihr von jeder Nachricht, die aus Südkarolina an das Geschäft gelangte, sofort Kunde zu bringen, für ihre Unterhaltung zu sorgen, soweit dies in seinem Bereiche lag. So wurde dieser Verkehr für Johanna nicht nur angenehm, sie fühlte sich sogar erfreulich angeregt; während die große Lücke der Abwesenheit ihres Mannes stets ihrem Bewußtsein gegenwärtig blieb, schloß sich unmerklich eine andere, kaum eingestandene, trotzdem entschieden vorhandene. Während der sonntäglichen Stunden hatte sich eine Gemeinsamkeit des Geschmackes, der persönlichen Liebhabereien zwischen ihr und Ernst Ruhdorf ergeben, die bisher nicht zu Worte gekommen war. Schon das ward ihr zur Lust, mit ihm in ihrer Muttersprache von allem reden zu können, was ihre Gedanken beschäftigte. Ihr Mann sprach und verstand Deutsch ebensogut, als sie selbst des Englischen mächtig war, doch liebte er nicht, im Hause eine andere Sprache als seine heimische zu gebrauchen, und, sonderbar, im Verkehr mit ihm, der ihr so nahestand, dem sie so herzlich zugethan war, hatte sie die Muttersprache selten vermißt, während ihr jetzt, wo selbstverständlich in Gegenwart der Tante zunächst nur englisch gesprochen wurde, zuweilen der rechte Ausdruck fehlte und sie es als das größte befreiende Vergnügen empfand, wenn sie zum Deutschen übergehen konnte. Sie wußte recht gut, das lag am Thema. Armstrongs Gespräche behandelten keineswegs Alltagsdinge, er besaß den weitesten Blick für das Allgemeine, für alles Menschliche und hob, was immer er berührte, in die klare Region seines bedeutenden Verstandes und gütigen Herzens. Die Gegenstände aber, die Johanna im Vaterhause vor allem beschäftigt hatten: Litteratur und ernste Musik, lagen dem vielbeschäftigten Manne ferner. Zum Lesen blieb ihm selten Zeit, in der Musik gab er dem Leichten, Heiteren den Vorzug.

Johanna hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, diese ihre Lieblingsneigungen allein zu pflegen, doch überwand sie niemals völlig das immer wiederkehrende Gefühl des Bedauerns, über ihre geliebten Bücher nicht nach Herzensbedürfnis mit dem Lebensgefährten sprechen, ihm nicht ihren Beethoven, ihren Bach vortragen zu dürfen. Versuchte sie das dann und wann, so traf sie zwar nie auf Ablehnung, fühlte aber, daß ihr nur aus Gefälligkeit standgehalten wurde. Das gestaltete sich nun Ruhdorf gegenüber ganz anders. Er war ein lebhafter Bücherfreund, weit belesener, weit sicherer in seinem Urteil als sie selbst; ihn vorlesen zu hören, wurde ihr zu ebenso großem Genuß, als es ihn sichtlich erfreute, ihrem Spiel zu lauschen. Die Anregung, die hieraus für Johanna erwuchs, machte sich allmählich in ihrem ganzen Wesen, sogar in ihrer Erscheinung fühlbar. Die etwas müden Bewegungen wurden lebhafter, ihr Schritt elastischer, schöne Heiterkeit beseelte ihre Züge vom Morgen bis zum Abend. Sie schrieb ihrem Mann erfreut, daß er in Beurteilung seines jungen Freundes wirklich recht und sie unrecht gehabt habe. Der Briefwechsel des Ehepaares wurde ihrerseits weit häufiger und regelmäßiger geführt als von seiten Armstrongs, der durch seine Geschäfte stark in Anspruch genommen war. Seine Mitteilungen führten aus, wie dringend nötig sein persönliches Eingreifen und daß es die höchste Zeit gewesen sei, seine Interessen an Ort und Stelle wahrzunehmen; voraussichtlich könne er vor dem Herbst nicht zurückkehren. Das betrübte Johanna, ohne sie doch zu bedrücken. Sie gedachte des Gatten frei und froh und lebte seiner Rückkehr in stiller Heiterkeit entgegen.

So ging der Sommer hin. Seine volle Höhe war bereits überschritten, doch lag noch glühende Hitze über Stadt und Landschaft Auf der hochüberdachten, mit Weinlaub umrankten Veranda der Villa Armstrong war es aber gut sein. Die köstliche salzige Luft des Meeres, dessen blaue Fläche sich ruhig weithin ausbreitete, regte alle Lebensgeister an, der Ausblick auf die zauberhaft schöne Bai, die heitere Küstenstrecke bot dem Auge herrliche Weide. Die tiefe Sonntagsstille, in der alles ruhte und feierte, wurde durch den Klang vorgelesener Verse nicht eigentlich gebrochen. Deren melodischer Rhythmus stimmte mit dem Eindruck, zu dem sich Himmel, Meer und Strand verbanden, so überein, als hätte die stumme Harmonie nur Ton gewonnen.

Johanna saß in ihren Schaukelstuhl zurückgelehnt, hielt nach ihrer Weise die Augen halb geschlossen und lauschte dem letzten Gesang von Heyses „Thekla“. Die Flügelthüren des großen Empfangzimmers, an das die Veranda sich unmittelbar schloß, waren weit geöffnet und ließen die behäbige Gestalt der Tante erkennen, die sich, auf dem Diwan ruhend, ein Schläfchen gönnte.

Die Sonne war im Untergehen, ihre letzten feurigen Strahlen färbten Himmel und Meer mit tiefem Purpur, der sich langsam zu dem zarten Rot dämpfte, wie es im Innern großer Seemuscheln blüht. Aus dem terrassenförmig angelegten Garten strömte köstlicher Blütenduft.

Ruhdorf schloß das Buch, nach dem Johanna die Hand ausstreckte. Ihre Finger strichen wie liebkosend über den Band hin. „Befriedigt also bis zum Schluß?“ fragte Ruhdorf lächelnd.

„Ganz erfüllt!“ sprach sie gedankenvoll. „Wie groß und wie zutraulich doch – man meint, die Welt müsse nur solche Wesen hervorbringen. O dies Werk giebt einen Maßstab für Menschenwert, unter den man das eigene Leben nie herabsinken lassen möchte.“ Sie schwieg; nach einer Pause fuhr sie plötzlich fort: „Erzählen Sie mir etwas von Ihrer Braut, Herr Ruhdorf! Ich wollte Sie schon manchmal darum bitten, getraute mich aber nicht, da Sie in diesem Punkte merkwürdig verschlossen sind. Aber Sie wissen, daß ich nicht aus Neugier frage. Gleicht sie Heyses Thekla? Gönnen Sie es mir doch, etwas von ihr zu erfahren!“

„Meine Braut?“ wiederholte Ernst betroffen „Ich bin nicht so glücklich, eine Braut zu besitzen.“

Johanna richtete sich schnell auf. „Mein Mann sagte mir doch – nein, ich irre nicht, er nannte Sie in meiner Gegenwart Bräutigam, und Sie haben nicht widersprochen.“

„Also muß gebeichtet werden,“ sagte der junge Mann lächelnd. „Das Wort trifft nur halb zu. Ich äußerte wohl einmal gegen Ihren Gatten, ich hätte Europa in der Hoffnung verlassen, hier rascher etwas zu erreichen, eine Grundlage für meinen späteren Hausstand zu gewinnen – das ist aber auch alles!“ Er hielt [406] inne, dann, in stillerem Tone: „Ja, ich habe daheim ein Mädchen liebgewonnen, das auch mir gut ist, dessen Hand zu erhalten ich aber keine Aussicht hatte. Sie weiß, daß ich ging, um neue Möglichkeiten zu schaffen; verlobt sind wir nicht, weder öffentlich, noch geheim. Meine Lage war und ist viel zu ungewiß, als daß ich hätte verantworten können, jemand zu binden. Ob die Zuneigung eines sehr jungen Mädchens jahrelang standhalten wird, ist um so unsicherer, als keinerlei Verbindung zwischen uns besteht und ihre Eltern ganz andere Pläne hegen. Sie sehen also, wie wenig Recht ich auf den Titel eines Bräutigams habe, und wenn ich damals nicht widersprach, so geschah es nur, um von dem Wort kein Aufheben zu machen.“ Wieder lächelte er; sein kühngeschnittenes Profil zeichnete sich klar von der golddurchfluteten Luft ab.

„Mehr soll ich also nicht erfahren?“

„Eine Thekla ist sie nicht,“ entgegnete er heiter.

„Sie besitzen eine Photographie?“

Ernst sah die junge Frau an. Ihr angenehmes Gesicht war leicht gerötet, die tiefen Augen blickten ihm erwartungsvoll entgegen. Er nahm seine Brieftasche hervor und gab ihr ein in deren Seitenfach verwahrtes Bild. Johanna blieb minutenlang in Betrachtung des entzückenden Köpfchens versenkt. „Welche Lebenspracht!“ rief sie dann. „Ich wünsche Ihnen Glück, Herr Ruhdorf.“

„Zu früh,“ sagte er gedämpft. Seine dunkeln Augen hafteten mit langem Blick auf ihrem noch immer zu dem Bildchen vorgeneigten Gesicht. Als sie ihm die Photographie zurückgegeben hatte, stand er schnell auf und verabschiedete sich.

Johanna nahm ihren Sitz wieder ein. Lässig ruhten ihre Hände auf dem Schoße. Woran sie dachte, worüber sie träumte, hätte sie später nicht zu sagen gewußt. Als die Stimme der Tante sie aus diesem seelischen Halbschlummer weckte, war der letzte Tagesschein bereits verglommen. Wie von ferne her drang die verdrießliche Klage der alten Dame an ihr Ohr; diese beschwerte sich, daß Herr Ruhdorf fortgegangen sei, ohne sich bei ihr zu verabschieden, viel zu früh, da sie darauf gerechnet habe, noch eine Partie Schach mit ihm zu spielen. Johanna strich ihre Haare zurück und erklärte sich zum Partner der Tante bereit. Doch zögerte sie noch minutenlang, ehe sie sich erhob. Ihre Augen hingen wie gebannt an der graublauen Fläche des Meeres, auf dessen leicht bewegten Wogenkämmen schon das silberne Licht des Mondes glänzte. Zahllose Leuchtkäfer durchschwirrten die Büsche des Gartens, tauchten auf wie geisterhafte Funken, schwanden wieder, um andere Stellen zu durchblitzen. Funkelnde geheimnisvolle Schönheit überall, ein Flüstern, Klagen, ein kaum vernehmliches Schwirren – die Stimmen der Nacht zwischen dem Laub, auf den Wogen.

„Bitte, komm!“ rief die Tante so ärgerlich, als ihre Gutmütigkeit es erlaubte. Johanna erhob sich und wendete den Kopf. Das Empfangzimmer war hell erleuchtet. Die junge Frau ließ, wie ermüdet, beide Arme schlaff an sich niedersinken, that einige Schritte der Thüre zu, kehrte wieder um, nahm den auf dem Verandatisch liegenden Band von Heyse und ging dann ganz langsam in das erhellte Gemach, wo sie schweigend vor dem Schachtischchen Platz nahm, an dem die sehnlich harrende Spielerin bereits saß.




Schon brausten die ersten Herbstwinde über das Meer und noch war Armstrong nicht zurückgekehrt. Doch war sein Aufbruch von Charleston für die nächste Zeit angekündigt. Johanna hatte ihren Aufenthalt in der wohlgeschützten Villa über die gewohnte Zeit hinaus ausgedehnt; sie wünschte, erst kurz vor Heimkehr ihres Mannes an das Stadthaus überzusiedeln, gegen den Rat des zuweilen vorsprechenden Hausarztes, der sie nervös und ihr Aussehen nicht befriedigend fand. Doch versicherte sie stets, ganz wohl zu sein.

Das Leben der beiden Frauen hatte sich noch einförmiger gestaltet, seit auch Ernst Ruhdorf ein seltener Gast geworden war. Viel Arbeit, die noch vor Rückkehr des Chefs zu erledigen sei, mußte dafür als Grund gelten. Ruhdorf kam fast nur dann hinaus, wenn er eine an ihn gelangte Mitteilung Armstrongs zu berichten hatte. Dies war heute, am ersten Sonntag des Oktober, der Fall. Weisungen für das Geschäft, mit Beischluß eines Briefes an Johanna, dessen Inhalt Armstrongs Ankunft bis Mitte Oktober hinausschob, waren am Vorabend eingetroffen. Johanna wurde verstimmt und wortkarg, nachdem sie das gelesen. Als die Tante Ruhdorf aufforderte, doch heute endlich wieder zu Tische hier zu bleiben, widersprach sie nicht, fügte aber kein eigenes Wort der Zurede bei, und noch stand der junge Mann unschlüssig, ob er bleiben oder gehen solle, als Besuch gemeldet wurde.

Frau Anny kam, um sich zu verabschieden, als eine der letzten, die dem Sommeraufenthalt Lebewohl sagten. Graziös, in geschmackvoller Herbsttoilette, von feinem Duft umgeben, glitt sie herein, ihr pikantes Gesicht war ganz Lächeln und Liebenswürdigkeit, und gleich nach der ersten Begrüßung lud sie sich für den Mittag zu Gast, um, wie sie lachend äußerte, dem Staub des Aufbruchs im eigenen Hause zu entrinnen. Johanna nahm sich zusammen, ihr entging nicht, daß die Augen der Dame vor Uebermut blitzten, sie wußte genau, daß der vorgebrachte Grund dieses Ueberfalles völlig aus der Luft gegriffen sei, konnte sich jedoch nicht vorstellen, welche Laune dies Weltkind veranlaßt haben mochte, heute in das stille Haus einzudringen, das sie seit Monaten nicht mehr betreten hatte. Eines Dritten Anwesenheit war Johanna nun sehr erwünscht, sie warf ein Wort hin, das Ruhdorf als Tischgast bezeichnete, und gab sich Mühe, ihre Unlust über die Sache unter artigen Formen zu verstecken. Frau Anny machte ihr das nicht schwer, plauderte in ihrer gewandten, leicht spöttelnden Weise über tausend Dinge und begann mit Ernst Ruhdorf, der bei früheren Begegnungen im Stadthause von ihr hochmütig oder gleichgültig übersehen worden war, ganz unverhohlen zu kokettieren. Er ging schlagfertig und geistreich auf ihre Plänkeleien ein, zum sichtlichen Ergötzen der Tante, die froh war, eine Unterbrechung des Alltags zu erleben. So vergingen ein paar Stunden ganz angeregt, niemand schien zu bemerken, wie schweigsam die Hausfrau geworden war.

Als Frau Anny sich nach dem auf der Veranda eingenommenen Kaffee verabschiedete, ließ sie einen ihrer ausdrucksvollen Blicke zu dem jungen Mann hinüberfliegen und lud ihn ein, sie in der Stadt zu besuchen. Johanna gab der Dame, wie sie bei jedem Gast pflegte, das Geleite durch den Garten. Auf der zweiten Terrasse angelangt, die nach dem Alleeweg hinabführte, blieb sie stehen und wünschte der schönen Frau gute Heimfahrt.

„Und Sie?“ fragte diese. „Mir scheint, Sie wollen als letzte Insulanerin allen Stürmen trotzen. Je nun, unter so gutem Schutz, wie ich Sie heute traf, läßt sich schon etwas wagen. Seit ich mir Ihren Ritter, der auf dem Wege hierher so oft an meinem Landhaus vorbeikam, etwas näher angesehen habe, begreife ich vollkommen Ihre Vorliebe für Einsamkeit zu – Dreien.“

Das wurde, mit anmutiger Handbewegung nach der Villa zu, leicht hingeworfen, ein bohrender, sehr beredter Blick, der dem flüchtigen Wort eine ganz andere Bedeutung gab, trieb aber Johanna das Blut bis in die Schläfen.

„Sie, Frau Anny, begreifen vielleicht manches, worauf ich mich nicht verstehe,“ erwiderte sie kalt, verbeugte sich sehr förmlich und blickte mit weitgeöffneten Augen der Dame nach, die lachend die Schultern hob und bald aus ihrem Gesichtskreis verschwand.

Johanna war es zu Mut, als hätte ein Schlag sie in das Gesicht getroffen. Mechanisch wendete sie sich und ging dem Hause zu. Bei der ersten Terrasse angelangt, ließ sie sich plötzlich wie kraftlos auf einen der Sitze fallen, die ein großer Essigbaum beschattete, schlug beide Hände vor das brennende Gesicht und schluchzte unaufhaltsam. Wie lange sie so fassungslos gesessen, wußte sie nicht, als sie mit einem Male ihre Hände ergriffen und sanft niedergezogen fühlte. Ernst Ruhdorfs Augen leuchteten sie an, er zog die zuckenden Hände heftig gegen seine Brust und sagte leis und fest: „Jetzt, Johanna, wissen auch Sie, daß wir uns lieben.“

„Nein, nein!“ wollte sie rufen, eine berauschende, nie gekannte Wonne erstickte aber das Wort in ihrer Kehle. Dieser flammende Blick tauchte tief, so tief in ihre Augen, ihre Seele – ohne Atem fast lauschte sie der Stimme, die leise Worte sprach, vor denen alles verschwand, was je zuvor in ihr gelebt hatte.

„Sie wissen es, Johanna – Sie wußten es längst! Was hat es geholfen, daß ich Sie mied? Nur immer mächtiger wuchs die Ueberzeugung, daß wir zueinander gehören. Sie müssen doch auch bei jedem Wiedersehen gefühlt haben, wie das wuchs und wuchs – und jetzt, Johanna, haben Sie sich das eingestanden. Und das ist gut! Denn, frei heraus, ich kam heute mit dem Entschluß, zu sprechen, dem elenden Zustande, der uns zu Grunde richtet, ein Ende zu machen –“

„Sie wollen fort?“ stammelte Johanna.

[407] „Nein – wenigstens nicht so, wie Sie denken!“ Er hatte sich auf den Sitz neben sie geworfen, umschloß von neuem ihre Hände, die er hielt, als habe er sein Eigentum ergriffen, das er nie wieder fahren lassen wollte. „Du sollst mir gehören!“ sagte er fest.

Johanna warf sich zurück: „Sie sind wahnsinnig!“

„Ich bin sehr bei Sinnen,“ sagte Ernst mit plötzlicher Ruhe. „Was ich denke und will, ist nicht von heute. Wir beide sind nicht von dem Schlage, Lug und Trug zu üben, doch vertraue ich, daß wir auch nicht zu feige sind, das Erreichbare zu wollen, sobald wir wissen, daß es ums Leben geht. Mir, Johanna, geht es ums Leben!“ Wieder drängten sich die Worte stürmisch aus hochatmender Brust. „Ich habe alles, was nicht Du bist, hinter mir gelassen, ich will nicht auf Dich verzichten, und Du kannst das ebensowenig, denn auch Du bist aus den Fugen, kein Gestern kann uns mehr gelten. Entsinne Dich des letzten Gesprächs vor Deines – vor seiner Abreise. Entsinne Dich des Nachdruckes, mit dem er versicherte, daß er die Frau, die ihre Freiheit von ihm forderte, niemals halten würde. Und nun sage mir, bei allem, was Dir heilig ist, glaubst Du, daß er aus wirklicher Ueberzeugung so sprach?“

Johanna erblaßte. „Ich glaube es – er sprach so nicht zum erstenmal.“

„Ich glaub’ es auch! Und damit ist unser aller Zukunft entschieden. Dieser Mann verdient Offenheit; gegen ihn, der groß denkt, klein zu handeln, wäre Verbrechen an uns, an ihm. Du antwortest nicht, Johanna? Aber liebst Du denn nicht? Könntest Du mit ihm so weiter leben, magst Du nun verschweigen oder gestehen? Sieh’ mir in die Augen und wage zu sagen, daß Du es kannst!“ Er ließ sie los, sprang auf, umfaßte plötzlich ihr weiches Gesicht mit beiden Händen und preßte seine Lippen heiß und fest auf die ihren, nur einen Augenblick.

„Jetzt bist Du mein!“ rief er, „und jetzt gelobe ich Dir, Dich nicht wiederzusehen, ehe sein Wort Dich frei macht. Ehrlich müssen wir bleiben. Auch täuschen will ich Dich nicht, Johanna: die Zukunft, der Du mit mir entgegen gehst, hat keinen so prächtigen Rahmen wie Deine Gegenwart.“

„Was läge daran!“

„Du willigst ein!“ jubelte er auf, und dann, sehr bestimmt: „So laß uns handeln! Ich schreibe ihm noch heute nacht und spreche von Mann zu Mann, wie ich es verantworten kann. Die Entscheidung liegt in seiner Hand. Soweit ich ihn kenne, ist entschieden, sobald er unser Bekenntnis gelesen hat. Du wirst gleichfalls sprechen, Johanna – zugleich muß er uns hören, wir können ihm seine schwere Stunde nicht ersparen, er wird sie, fern von uns, eher überwinden, behält Zeit, zu beschließen. Unser Vertrauen mildert den Schlag –“

„Vertrauen!“ wiederholte Johanna und sah ihn an.

Ruhdorfs Stirn verdunkelte sich. „Wir dürfen die Augen vor ihm aufschlagen,“ sagte er fast heftig, „es ist ein großer Schmerz, eine Schmach ist es nicht. Mut, Johanna! Es gilt Stehen oder Fallen, lassen können wir uns nicht mehr.“ Er ging schnellen Schrittes auf dem Kieswege hin und her und sagte dann, immer noch mit verfinstertem Ausdruck: „Ich sende morgen früh jemand, Deinen Brief abzuholen, um ihn dem meinigen beizuschließen.“

„Nein, nein! Nicht Sie – von meiner Hand! – sonst geschieht ihm noch weher.“

Ernst blickte sie eine Sekunde verständnislos an, der Zug von Unzufriedenheit in seinem Gesicht verschärfte sich. „Wie Sie wollen, Johanna. Nur muß ich darauf bestehen, daß unser Wort zugleich an ihn gelangt. Legen Sie Wert darauf, die Adresse selbst zu schreiben, gut, so erhalten Sie meinen Brief zum Beischluß.“

Johanna sah furchtsam zu ihm auf und stimmte nur mit einer Kopfbewegung bei. Etwas Hilfloses, Ergreifendes drückte sich in ihrer Haltung, ihrer Miene aus. Ruhdorf machte eine rasche Bewegung, als wollte er sie an sich ziehen, ließ die Arme jedoch wieder sinken und sagte in gedämpfter Leidenschaftlichkeit: „Ich bin in Deiner Gewalt!“

Dann eilte er abwärts, der Straße zu. –

[422] Johanna war seit Stunden in ihrem Schlafzimmer, ohne sich auszukleiden, ohne das ruhelose Auf- und Niedergehen zu unterbrechen, das sonst so gar nicht in ihrer Art lag. Ihre Stirn glühte, ihre Pulse hämmerten, sie fühlte sich keines klaren Gedankens fähig. Nur zwei Sätze schwirrten, einander unablässig ablösend, durch ihr Gehirn, quälten und marterten sie. Eine Erinnerung, ein Wort Goethes stand ihr plötzlich unbegreiflich im Sinn: „Denn so ist die Liebe beschaffen, daß sie nur allein Rechte zu haben glaubt,“ und dann ein anderes Wort: „Ich bin in Deiner Gewalt.“ Dies letzte aber nicht als Echo der Stimme, die sie heute so weit fortgerissen hatte, nein, es war ihr eigenes Herz, das fortwährend schrie: ich bin in Deiner Gewalt! Sie war es, sie selbst, die in fremder Gewalt stand. Wie ein Stein kam sie sich vor, den ein entschlossener Fuß unwiderstehlich ins Rollen gebracht hatte – wohin? Sie preßte ihre kalten Hände gegen die pochenden Schläfen, hielt mit einem Male den Schritt an und blieb vor Armstrongs Brustbild stehen, das im vollen Schein der Hängelampe wie lebend aus dem Rahmen blickte. Ja, das war er – seine breite Stirne mit dem schlicht darüber liegenden dunkelblonden Haar, die ruhigen grauen Augen, der feste Mund, dessen Güte voll zum Ausdruck kam, sobald er sprach, und sich in den Winkeln dieses entschlossenen Mundes schon verriet.

Man sagt, in der Stunde des Scheidens ziehe am inneren Blick eines Sterbenden der Inhalt seines ganzen Lebens vorüber. Aehnliches vielleicht glitt jetzt durch die hochgespannte Seele der jungen Frau – Bild um Bild: die erste Begegnung in ihres Vaters Hause in Boston, Armstrongs Wiederkommen, seine Werbung, die sie völlig überrascht, doch ebenso erfreut hatte, das Ja, das ihr freies Herz willig gab, dann der Einzug in sein Haus, dessen Wohlstand ihre Erwartungen weit übertraf. All das stand deutlich vor ihrem Erinnern, deutlicher als die darauf folgenden Jahre. Glückliche Jahre? Gewiß, wenn Seelenfriede, wenn ein edelgesinnter Gefährte, wenn schöne Freiheit ein Weib glücklich zu machen vermögen. Hatte sie an seiner Seite je etwas vermißt? O, doch! Sie hatte entbehrt als eine Natur, der es nicht gewährt ist, sich voll auszuleben, die immer spürt, daß etwas in ihr brach liegt, das niemand begehrt. Ob Armstrong, der sein Weib innig und treu liebte, der so weit zu blicken verstand, diese Lücke je wahrgenommen hatte, wußte sie nicht einmal. Gut und liebreich war er allezeit gewesen, voll Fürsorge und Aufmerksamkeit für jeden ihrer Wünsche, und so herzlich vertrauend. Und sein Lohn dafür sollte sein, daß sie nun von ihm ging, ihn treulos allein ließ? Widersinnig, völlig unmöglich kam ihr das in diesem Augenblick vor. Sie sollte ihm schreiben – ja, was? Wie das alles gekommen sei – wie war es nur über sie gekommen? Ihre Gedanken irrten zurück bis zum Tage, da Gerhard schied. Wie still war es damals in ihr, wie fern stand sie dem andern noch, der sie nun aus sicherem Hafen auf stürmendes Meer drängte! Ganz tiefsinnig stand sie da, sann der Zeit, den Tagen und Monaten nach, und als sie sich so grübelnd daran verlor, stand plötzlich ein zwingendes Bild zwischen ihr und der Vergangenheit, die vor ihr zerrann. Sie fühlte ihre Hände von starken Händen gefangen, sie fühlte den heißen, besitzergreifenden Kuß auf ihren Lippen. Wonniger Schauer durchrieselte sie: „Ich bin in Deiner Gewalt!“ Auf die Lehne eines Sessels gestützt, schloß sie die Augen – dies Feuer in ihr mußte flammen – es ersticken, war Tod.

Johanna blieb eine kurze Weile regungslos, trat dann entschlossenen Schrittes in das anstoßende Zimmer und zündete Licht an. Ohne Hast, mit sicherer Hand rückte sie eine auf dem Schreibtisch liegende Mappe zurecht und begann zu schreiben. Bogen um Bogen füllte sich mit der Beichte all ihrer Gedanken, Worte und Werke. Sie verschwieg keine Regung und klagte sich doch nicht an – sie schrieb, als löse in der That eine unbezwingliche Macht, gleich der des Todes, sie vom gestrigen Leben. Sie schrieb im Vollgefühl des Schmerzes um ihn, den sie verlassen wollte, von dem sie mit gleicher Trauer Abschied genommen hätte, wäre ihr letzter Augenblick wirklich da gewesen, im Gefühl, daß doch kein Sträuben etwas ändern könne, daß sie ebenso willenlos aus diesem Leben scheiden müsse, wie man willenlos in das Leben tritt.

Ohne die Blätter zu überlesen, schloß Johanna sie ein. Es schlug zwei Uhr morgens – der Tag, an dem dieser Brief seinen verhängnisvollen Weg antreten sollte, war bereits angebrochen. Einen Augenblick durchzuckte sie der erlösende Gedanke, daß sie ja nur zu wollen brauche, um noch in dieser Nacht aller Seelennot für ewig zu entrinnen, sie brauchte ja nur zu gehen, dorthin, wo es still ist und kühl. Lockend, versuchend trat die Vorstellung ihr nahe, ganz nahe. Doch nein, das war ein feiger Gedanke, das durfte nicht sein!




Wenige Tage nach Absendung des schicksalschweren Briefes erkrankte die Tante und verlangte dringend nach ihrer eigenen Wohnung. Der gerufene Arzt stellte ein Fieber fest, über dessen weitere Entwicklung sich zur Zeit noch nichts sagen lasse, und riet zu sofortiger Uebersiedlung. Unter diesen Umständen blieb Johanna nichts übrig, als gleichfalls in ihr Stadthaus zurückzukehren. Noch auf der Insel zu bleiben, wäre jetzt ebenso auffallend als lieblos gewesen. Doch fügte sie sich diesem Zwang äußerst ungern. In der Stadt ließ sich die Abrede, bis zum Eintreffen von ihres Mannes Antwort jede Begegnung mit Ruhdorf zu vermeiden, kaum durchführen. Das Comptoir befand sich im Hause selbst.

Mit schwerem Herzen fuhr die junge Frau, nachdem sie die Kranke in deren Wohnung untergebracht und versorgt hatte, nach dem eigenen, in einer stillen Seitenstraße gelegenen Hause. Dieses glich in keiner Weise den stolzen Palästen vieler Kaufherren der großen Handelsstadt, mehr im Stil eines altenglischen Landhauses erbaut, lag es etwas zurück von der Straße in einem schattigen Garten. Die mit Purpurblättern umrankten Säulen des Portals sahen, in der vollen Beleuchtung der Oktobersonne, gleichsam festlich aus; ihr farbiger Schimmer that Johanna wehe, so wenig ihre Augen und Gedanken auf Aeußerliches gerichtet waren.

In der Halle trat ihr Ruhdorf nebst einigen Bediensteten begrüßend entgegen; sie erwiderte, indem sie sich sehr zusammennahm, gelassen seinen Gruß, vermied aber seinen Blick. Den größten Teil der folgenden Tage brachte Johanna im Hause der Tante zu, deren Zustand sich indessen rasch besserte. Am vierten Tag, als die junge Frau gegen Mittag abgespannt in ihrem Zimmer saß, ließ Ruhdorf sich melden und folgte dem Diener fast auf dem Fuße. Auf den ersten Blick sah Johanna Briefschaften in seiner Hand. Sie fuhr zusammen, jeder Blutstropfen wich aus ihrem Gesicht. Da war die Entscheidung – rascher fast, als sie gehofft, gefürchtet. Ihre Füße wankten, unbewußt setzte sie sich und sah mit seltsamem Ausdruck nach Ruhdorf hin, der ihr in diesem Augenblick ganz fremd vorkam.

„Nicht, was Sie denken,“ sagte er und trat dicht neben sie. „Das Heutige meldet im Gegenteil früheren Aufbruch von Charleston, um eine Geschäftsreise anzuschließen. Der Brief ist kurz vor dem Aufbruch geschrieben, mehr als wahrscheinlich also, daß der unsrige Herrn Armstrong dort nicht mehr traf.“

Johanna sah ihn erschrocken an.

„Es handelt sich nur um kurze Verzögerung – selbstverständlich wird alles Einlaufende nachgeschickt.“

Der Ton dieser Worte klang beruhigend, doch verriet Ruhdorfs Miene, daß quälende Aufregung auch in ihm wühle. Erst jetzt blickten beide einander voll an, und beide gewahrten, wie sehr die Woche, die seit ihrer letzten Unterredung in der Villa verlaufen war, an ihnen gezehrt hatte.

Plötzlicher Schreck überfiel Ernst. „Johanna!“ rief er heftig, „bereust Du schon?“

Sie schüttelte den Kopf, ihr bleiches Gesicht färbte sich unter seinem Blick. „Nein,“ sagte sie nach einer Pause, entzog ihm aber fast ungestüm die Hand, die seine Lippen streiften.

In diesem Augenblick wurde es draußen in der Halle laut von Stimmen und Tritten. Johanna fuhr in die Höhe. Die Thür des Empfangzimmers öffnete sich, Armstrongs Gestalt erschien auf der Schwelle. Sein offenes Gesicht leuchtete in schöner Freude. Mit zwei Schritten war er neben seiner Frau, schloß sie in die Arme und sagte aus voller Brust: „Daheim!“

Johanna wußte nicht, wie ihr geschah. Fast leblos hing sie in den Armen des Mannes, der schon im nächsten Augenblick [423] bestürzt rief: „Du bist nicht wohl?“ Indem er sie stützte, strich er mit der Rechten leise über ihren Scheitel.

„Es ist nichts –“ stammelte Johanna.

„Zu überraschen taugt nicht, wie ich merke,“ meinte Armstrong lächelnd. „Doch wußte ich bis heute nicht, daß Frau Hanna Nerven hat. – Guten Tag, Herr Ruhdorf!“ Er folgte dem jungen Mann, den er durch ein Kopfnicken schon begrüßt hatte, zur Schwelle, wohin dieser sich zurückzog, und schüttelte kräftig dessen schlaffe Hand. „Wir sprechen uns heute noch, ich habe Ihnen viel zu sagen, mein veränderter Kurs geht Sie ganz besonders an.“

Indem Ruhdorfs Finger schon auf dem Thürgriff lagen, kreuzten seine Augen die Johannas. „Er weiß nichts! Was nun?“ stand darin zu lesen.

Armstrong drang in seine Frau mit Fragen über ihre Gesundheit. Sein liebreicher Blick erkannte rasch, daß anderes als augenblickliche Erregung diese tiefen Linien um Mund und Augen gegraben haben mußte. Sie lenkte ab, sprach von der Krankheit der Tante, stellte hundert abgerissene Fragen an ihn, ihre Wimpern flogen, die Farbe ihrer Wangen ging und kam, sie beunruhigte Armstrong sehr. Daß der Fieberzustand der von ihr Gepflegten auf sie selbst übergegangen sei, schien ihm außer Zweifel.

Etwa nach einer Stunde begab er sich in das Comptoir, berief Ruhdorf in sein Arbeitszimmer und ließ sich alles Geschäftliche von Belang vortragen. „Und nun zu Persönlichem,“ schloß er mit freundlicher Ruhe, „Sie entsinnen sich unseres Gespräches am Abend vor meiner Abreise?“

Ernst behielt kaum die unumgängliche Fassung. War der Brief dennoch in Armstrongs Händen? Aber dann vermochte dieser Uebermenschliches, um in solchem Ton darüber zu sprechen!

„Ich äußerte die Absicht, Ihnen nach meiner Rückkehr größere Selbständigkeit und entsprechenden Gewinnanteil zu sichern,“ fuhr er fort. „Bestimmteres wäre damals verfrüht gewesen, ich wünschte, die Verhältnisse persönlich zu prüfen und einzuleiten. Das ist geschehen; ich komme von B., wo ich eine Filiale zu gründen und deren Leitung Ihnen zu übertragen beabsichtige. Die Bedingungen werden Sie, wie ich hoffe, zufriedenstellen. Einverstanden, Herr Ruhdorf? Ich freue mich, Ihnen, der das Wohl meines Hauses stets und in jüngster Zeit mit besonderem Eifer wahrgenommen hat, zu beweisen, daß mir Ihr Wohl gleichfalls nahe liegt.“

Rnhdorf war sehr betreten. Es fehlte ihm nicht an dem Selbstgefühl, daß er für seinen Chef eine tüchtige Stütze sei, in diesem Sinne kam ihm jede Berücksichtigung zu. Die Herzlichkeit aber, mit der Armstrong seine Mitteilung vorbrachte, dessen sicheres Zutrauen benahmen ihm den Atem. Sein erster Gedanke war volle sofortige Aussprache. Indessen – durfte er Johanna vorgreifen, sie in die Lage versetzen, gleichsam als bereits Ueberführte ihre schwere Beichte abzulegen? Er war ihr schuldig, zu schweigen, bis er von ihr benachrichtigt war.

Beklommen dankte er seinem Chef für die gute Gesinnung, fügte dann nach kurzem Zögern bei, daß auch er Mitteilungen zu machen habe, über die er sich bald näher äußern würde, durch die sich aber die geäußerten Absichten verschieben dürften, da persönliche Angelegenheiten ihn nötigten, sich in nächster Zeit Urlaub für eine Reise nach Deutschland zu erbitten.

Armstrong, der die unverkennbare Befangenheit des jungen Mannes auf diese Aeußerung zurückführte, entgegnete, daß sich im gegebenen Falle Privates und Geschäftliches ganz wohl vereinigen ließe, da er ohnehin beabsichtige, ihn in der besprochenen Angelegenheit nach Deutschland und Frankreich zu senden, und der Plan erst nach seiner Rückkehr wirklich in Kraft treten solle. „Rüsten Sie also immerhin zu baldigem Aufbruch. Morgen ist Ruhetag, Montag sprechen wir weiter.“




Armstrongs Besorgnis wegen des üblen Aussehens seiner Frau veranlaßte ihn, trotz ihrer Abwehr, noch denselben Abend nach dem Arzt zu senden, dessen Verordnung sich auf das Gebot völliger Ruhe beschränkte. Am folgenden Morgen erschien sie zur gewohnten Zeit, um den Thee zu bereiten. Ihr Mann begrüßte sie mit der beruhigten Versicherung, daß sie heute, wenn auch noch bleich und angegriffen, doch wieder sich selbst gleichsehe. Es war Sonntag, das Geschäft geschlossen. Er freute sich der sicheren Stille des eigenen Hauses. „Dieser Tag soll uns ein Fest sein!“ sagte er froh zu Johanna. „Wie oft habe ich mich nach solcher Ruhe gesehnt in der langen unerquicklichen Zeit. Heute wollen wir jede Stunde zusammen verleben, vor Besuchen die Thüre schließen, alles, was stört, soll draußen bleiben.“

Sie erhob ihre Augen. Ganz seltsam kam es ihr vor, daß sie ihn anzusehen vermochte, als läge kein Abgrund zwischen ihm und ihr. Ein Fest! Das freilich klang schrill in ihr Bewußtsein. Eins war ihr aber unumstößlich klar: Ruhe sollte der Ahnungslose genießen diesen einen letzten Tag. Morgen mußte gesprochen werden, heute wollte sie ihm und sich gönnen, noch einmal in Frieden beisammen zu sein. Ja, in Frieden! Denn – ihr selbst unbegreiflich – ihr war wohl in seiner Nähe, in diesem vertrauten Zusammensein. Mit jeder Stunde des still vorrückenden Tages fühlte sie sich mehr und mehr von dem alten Gefühl der Geborgenheit überschattet wie unter Zweigen eines Baumes nach sengender Glut. Er ging mit ihr um, wie man es mit Kranken oder Leidenden pflegt, schonend, in liebreich heiterer Art. Sie verstand sehr wohl, daß er sie wirklich für körperlich leidend hielt, daß auch nicht einer seiner Gedanken die Wahrheit erriet, und doch war ihr, als läge ihre Seele ihm offen und er habe bereits verziehen. Ein traumhafter Zustand, der ihr namenlos wohl that nach aller Qual der vorausgegangenen Tage. Viel Gemeinsames wurde besprochen, was Haus und Dienerschaft, Hilfsbedürftige und Zugehörige betraf, er fragte nach allem, machte Vorschläge, plante Einrichtungen, die recht nach Johannas Sinne waren. Seine schöne Menschenfreundlichkeit durchleuchtete alles, sprach auch aus den Berichten über die im Süden verlebte Zeit, die nicht selten Strenge geboten hatte. Photographien, Aufzeichnungen, die er mitgebracht, interessierten Johanna durch die Erläuterungen, die er daran knüpfte. So ging der Tag hin, ein echter Sonntag, still und doch bewegt. Bald nach dem spät eingenommenen Mittagsmahl bat Armstrong seine Frau, nun zur Ruhe zu gehen, Johanna zögerte. Ihr war, als müsse diesem Tage noch eine, eine Stunde abgewonnen werden, schon war in ihr das Bewußtsein wach, daß es ihr letzter friedlicher Tag sei auf lange, lange hinaus, vielleicht bis zum Ende. Doch fügte sie sich und ging in ihr Schlafzimmer.

Das erste, was ihr dort in die Augen fiel, war ein auf dem Seitentischchen liegendes Paket.

„Bücher,“ sagte ihr Mädchen, „Herr Ruhdorf hat sie geschickt, weil die Herrschaft ungestört bleiben wollte, habe ich das Päckchen hierher gelegt.“

Johanna fühlte, wie ihr kalt wurde. Sie entließ die Dienerin und barg ihr Gesicht zwischen den Händen. Wie ein Gespenst stieg vor ihr auf, was war. Erst nach langer Zeit entschloß sie sich, das Siegel, das die Schnur des Päckchens hielt, zu lösen. Das Erwartete lag zwischen zwei Büchern, nur wenige Zeilen. „Ich vertraue, daß Sie diesen Zustand beenden. Kein zweites Zusammentreffen könnte ich bestehen.“

Sie nickte vor sich hin. Ja, morgen mußte das geschehen. Mechanisch kleidete sie sich aus und legte sich zur Ruhe, ohne doch Ruhe zu finden. Mit weit offenen Augen blickte sie in das Dämmer, das im matten Schein der dicht verhangenen Nachtlampe dem Umriß der Gegenstände um sie her etwas Schwankendes gab. Von Zeit wußte sie nichts, also auch nicht die Stunde, in der sie Armstrongs vorsichtigen Schritt vernahm, als er sein Schlafzimmer betrat, dieses war von dem ihrigen durch das Kabinett getrennt, in dem sie vor acht Tagen an ihn geschrieben hatte. Sie erschrak, denn sie vernahm, daß er herüberkam. Mit festgeschlossenen Augen hielt sie den Atem an, durch die Lider glaubte sie zu spüren, daß er vor ihrem Lager stand und sie betrachtete, gleich darauf entfernte sein leiser Schritt sich wieder. Fester als je stand ihr fest, daß morgen gesprochen werden müsse.

Im Tagesgrauen schlief Johanna endlich ein und erwachte erst, als es bereits völlig hell war. Sie kleidete sich, gegen ihre Gewohnheit, für das Frühstück mit fliegender Hast vollständig an wie für einen Ausgang. Als sie das Eßzimmer betrat, saß Armstrong bereits am Theetische.

„Gestiefelt und gespornt?“ scherzte er. „Was hast Du vor?“

„Nichts!“ Sie legte ihm mit bebender Hand Zucker in die Schale.

„Das ist mir lieb, denn ich wollte Dir vorschlagen, gleich nach dem Frühstück mit mir nach der Insel zu fahren. Nach dem, was Du sagtest, sind bauliche Veränderungen an der Villa erforderlich, ich möchte nachsehen und vielleicht noch arbeiten lassen, ehe Frost eintritt. Ist es Dir recht?“

„Gewiß – fahren wir!“ sagte sie zerstreut, sie dachte daran, [424] daß nun Zeit genug vor ihr läge, daß sie dort alles sagen könnte. Da wurden, wie üblich, die eben eingelaufenen Morgenzeitungen und Privatbriefe hereingebracht. Armstrong stand auf, sie durchzusehen. „O, noch ein Brief von Dir, Hanna,“ sagte er lächelnd. „Und welch ein Aktenstück! Davon hast Du mir ja gar nichts gesagt.“

Johanna sah den Brief in seiner Hand. In der nächsten Sekunde, wie durch übernatürliche Kraft emporgeschnellt, flog sie auf, umschlang ihren Mann mit beiden Armen und rief in erschütterndem Ton: „Ich bin Dein Weib!“

„Was ist Dir?“ sagte er bestürzt.

Ihre Arme glitten nieder. „Gieb mir den Brief,“ sagte sie kaum hörbar. „Wir lesen ihn zusammen – später.“

„Hanna!“

„Habe Geduld mit mir, habe Vertrauen, gieb mir den Brief!“

Er sah sie schweigend an und legte den Brief in ihre Hand. „Ich vertraue Dir,“ sagte er nach einer Weile. „In allem, immer.“

Johanna neigte sich, schwere Tropfen fielen auf seine Hand, die ihre Lippen streiften, ehe er es wehren konnte. Stumm verließ sie das Zimmer.




Ernst Ruhdorfs Augen hatten sich in der verwichenen Nacht ebensowenig geschlossen als die Johannas. Die Botschaft, der er den Sonntag über in steigender Unruhe entgegenharrte, war ausgeblieben. Auch Montag früh brachte die erste Post keine Antwort auf seinen gestrigen Brief. Schon war die Stunde nahe, zu der er sich im Comptoir einzufinden hatte, und nichts – nichts! Der Gedanke, Armstrong ein zweites Mal gegenüberzustehen, abermals das quälende Schweigen bewahren zu müssen, war ihm unerträglich. Sie wußte doch, daß solches Zusammentreffen heute unausweichlich war, daß jetzt alles von ihr abhing. Hatte sie gesprochen? Würde er das dort erfahren? Seine Lage erschien ihm peinvoller noch als die ihrige, die Reihe von Zufällen, die eine Aufklärung Armstrongs vor dessen Heimkehr verhindert hatte, dünkte ihm ausgesuchte Grausamkeit des Geschickes. Er hatte seither jedes Schuldbewußtsein nachdrücklich von sich gewiesen. War er etwa ein frivoler Verführer, der keck und leichtfertig den Hausfrieden brach? Wider sein Wissen und Wollen war diese Leidenschaft groß gewachsen. Armstrong war ein freidenkender Mann, oft hatte er ihn von der Unfreiheit des menschlichen Willens voll Nachdruck sprechen hören. Hatten doch seine eigenen Worte seine Frau im voraus entsündigt, ihr Freiheit zugesagt für den Fall eines zwingenden Konflikts. Durften also sie beide nicht die Augen aufschlagen? Und doch verdunkelten sich die seinigen, so oft er seit der Wiederbegegnung Armstrongs dachte. Im voraus wappnete er sich dem Worte gegenüber, das ihn vielleicht zur Rechenschaft ziehen würde, und fühlte doch einen noch weit stärkeren Druck bei der Vorstellung, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Johanna brachte ihm große Opfer – aber brachte er ihr keine? Wenn sie Haus und Gatten für ihn opferte, so hatte er um sie die holde Jugendliebe fahren lassen, die Zukunftsträume, denen zulieb er aus der Heimat gegangen war. Auch dort wurden heiße Thränen geweint.

Er warf das Haar aus der Stirn zurück und machte sich auf den Weg. Die Sache mußte zu Ende gebracht werden. Als er etwas verspätet im Bureau eintraf, bestellte ihm der Buchhalter im Auftrage des Chefs, dieser sei mit seiner Frau soeben nach der Insel gefahren und würde vor Schluß des Geschäfts schwerlich zurück sein. Ruhdorf setzte sich an sein Pult und arbeitete, was ihm nur mit der größten Anstrengung möglich war. Als er mittags das Comptoir verließ, trat ihm in der Halle Johannas Mädchen entgegen und übergab ihm einen Brief. Obgleich während des letzten Halbjahres durch dasselbe Mädchen manche harmlose Botschaft an ihn gelangt war, sah er ihr forschend in das Gesicht. Sie war völlig unbefangen.

„Wie befindet sich Frau Armstrong?“ fragte er.

„Nicht sehr gut!“ war die bedauernde Antwort. „Die gnädige Frau sieht übel aus, sie hat sich bei der Frau Tante wohl zuviel zugemutet oder gar etwas geholt. Die Fahrt wird ihr aber gut thun, heut’ ist’s ja so warm wie im Sommer.“

Ernst eilte seiner Wohnung zu. Der Brief, der ihm sagen würde, ob schon gesprochen sei, ob es vielleicht in diesem Augenblicke geschah, brannte auf seiner Brust. Kaum in das Zimmer getreten, verschloß er die Thüre, warf sich auf den nächsten Sitz, löste das Siegel und las:

„Verzeihen Sie mir, Ernst, ich sage Ihnen Lebewohl. Vielleicht werden Sie mich darum hassen, geringschätzen sogar. Das muß ich tragen bis zur Stunde, wo Sie einst durch sich selbst erfahren, was mich zwingt. Nicht Feigheit ist’s, nicht ein schwankendes Gemüt, das sich hin und her treiben läßt von jedem letzten Eindruck. Was mich heute bezwingt, liegt weit, weit zurück. Und doch hat ein Tag, ein einziger genügt, mich des schuldvollen Irrtums zu überführen. Wir schöpften den Glauben an die Berechtigung unseres Thuns aus einem Worte Armstrongs – er hat damals noch ein anderes Wort gesprochen, über das wir weghörten, das ich erst seit gestern voll begriffen habe, von dem ich ganz durchdrungen bin: lange Lebensgemeinschaft muß stärker in die Wagschale fallen als Aufwallungen des Gefühls. Ich wollte nicht hören, als dieses Wort mir wieder und wieder einfiel, ich wollte nur hören, was mich von dannen zog, und kam heute zu ihm mit dem Entschluß, ihm das zu sagen. Statt dessen – Gott weiß, wie mir geschah! Vor der einfachen Empfindung, daß tausend Fasern Mann und Weib aneinander binden, wich alles. Ich weiß nun, daß ich nimmer von ihm gehen kann, wenn auch aller Glanz dahin ist aus den Tagen, wenn auch der Riß in mir nie vernarben wird. Vergeben Sie mir alle Bitterkeit, die jetzt in Ihnen gährt, um der Schmerzen willen, von denen nichts mich lossprechen kann. Ich habe kein Glück mehr, das ich Ihnen zu geben vermöchte. Unser Brief ist in meinen Händen.

Leben Sie wohl! Johanna.“ 




Der große Dampfer, dessen Lauf nach Hamburg ging, hatte das letzte Zeichen gegeben, die Wolken seines Rauches stiegen hoch in die klarblaue Luft. Auf dem Quai des Hafens drängte sich die bunteste Menge in dem Gewühl, das jede Ankunft oder Abfahrt dieser Riesenschiffe zu begleiten pflegt.

„Leben Sie wohl, Herr Ruhdorf, und auf Wiedersehen!“ sagte Armstrong zu dem Scheidenden, der die Landungsbrücke schon betreten hatte. „Lassen Sie von sich hören und nehmen Sie sich Zeit, nicht nur soviel davon erforderlich, sondern soviel Ihnen erwünscht ist. Nichts drängt. Wir wünschen für Sie jeden Erfolg, jedes günstige Gedeihen, meine Frau wie ich, davon seien Sie überzeugt. Meine Frau bedauert gewiß sehr, sich nicht persönlich von Ihnen verabschiedet zu haben, ihre Gesundheit ist aber wirklich augenblicklich recht angegriffen, und ich selbst bestand darauf, daß sie die Verordnung vollständiger Ruhe nicht durchbreche, so lange das Wetter ein Verweilen in der Villa noch ermöglicht.“

Ruhdorfs Auge haftete auf dem ruhigen Gesicht des Sprechenden so eindringend, als müsse er Verborgenes in diesen Zügen enträtseln. Armstrong hatte, wie ihm zuweilen eigen war, während er sprach, in das Weite geschaut. Jetzt begegnete sein Blick dem des jungen Mannes voll und fest.

Ein Leidenszug, der sich um Ernsts Mund geprägt hatte, verschwand nicht unter dem bitteren Lächeln, womit er nun erwiderte: „Gutes Wetter also für Bleibende und Fahrende! Empfehlen Sie mich Ihrer Frau mit den besten Wünschen für ihr Ergehen!“ Dann, indem er die ihm gebotene Hand mit festem Druck ergriff und wieder losließ. „Leben Sie wohl, Herr Armstrong, und – haben Sie Dank!“

Armstrong stand noch mit verschränkten Armen auf dem alten Platz, als das stolze Fahrzeug schon die Wogen brausend teilte. Ein Schiff trägt den Scheidenden gleichsam in das Unabsehbare. Ist es dem Gesichtskreis entschwunden, so weckt das grenzenlose Meer, mit der ewig wogenden, ewig wechselnden Fläche, ein ganz anderes Abschiedsgefühl, als wenn ein Geleitsmann vom Bahnhofe nach Hause kehrt. Ernsten Blickes sah Armstrong den Dampfer kleiner und kleiner werden, bis er nur als goldener Punkt ferne auf den Wellen tanzte. Der gepreßte Ton der letzten Worte Ruhdorfs klang noch im Ohr des Mannes, das war das Dankeswort eines, der die ganze Summe des Erlebten zusammenfaßt, eines Scheidenden, der nicht wiederzukehren gedenkt. Ein Seufzer hob seine Brust. Was er geahnt, war ihm in diesem letzten Augenblick zur Gewißheit geworden.

So stand er minutenlang und sann, dann hob sein Haupt sich frei und sicher. Welche hohe Woge auch über sein Haus hingegangen sein mochte, sie hatte nichts verschlungen, was sein war, nichts, was den unvergeßbaren Naturlaut zu übertönen vermochte: „Ich bin Dein Weib!“