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Ein Culturbild aus der indogermanischen Urzeit

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Textdaten
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Autor: August Schleicher
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Titel: Ein Culturbild aus der indogermanischen Urzeit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 475–476
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[475]

Ein Culturbild aus der indogermanischen Urzeit.

Von August Schleicher in Jena.

Wenn die Geologen Landschaftsbilder zeichnen aus der ungezählte Jahrtausende hinter uns liegenden Jugendzeit unseres Erdballes und die Astronomen noch viele Millionen von Jahren weiter zurückgreifen und die Entstehung unseres Sonnensystemes anschaulich zu machen versuchen, so mag es auch dem Sprachforscher vergönnt sein, mit den Mitteln, die ihm seine Wissenschaft an die Hand giebt, eine Skizze zu entwerfen von dem Culturzustande eines Volkes, das vor vielleicht fünf Jahrtausenden in Centralasien seinen Sitz hatte. Dies Volk hat aber für uns ein besonderes Interesse, da wir selbst seine Nachkommen sind und demnach in jenem Volke unsere eigenen Vorfahren kennen lernen. Wir werden sehen, daß wir uns dieser unserer Ahnen keineswegs zu schämen brauchen.

Welche Mittel stehen uns aber zu Gebote, um von Zuständen eine Anschauung zu erhalten, über die keine geschichtliche Aufzeichnung etwas berichtet und von denen nicht einmal aufgefundene Reste ein wenn auch fragmentarisches Zeugniß ablegen? Diese Mittel sind auch hier, wie in den Naturwissenschaften, die sichere, streng wissenschaftliche Beobachtung und der auf sie gebaute richtige Schluß. Es ist ein bekanntes unbestrittenes Ergebniß der Sprachwissenschaft, derjenigen Wissenschaft, welche, wie vielleicht keine andere, eine deutsche, in Deutschland entstandene und vorzugsweise von Deutschen ausgebildete ist, daß die sämmtlichen Völker indogermanischen Stammes von einem Urvolke abstammen, wie die Sprachen, die sie reden und redeten, sich sämmtlich als Nachkommen einer Ursprache ergeben, der indogermanischen Ursprache.

Aus ihren Töchtern, den ältesten in schwesterlichem Verwandtschaftsverhältnisse stehenden Sprachen der Inder, Perser, Griechen, Italer, Kelten, Slaven, Litauer, Deutschen, läßt sich nach den bekannten Gesetzen des Sprachlebens die gemeinsame Mutter, der alle jene Schwestern entstammen, erschließen. Wie sich von einem Strome, dessen unterer Lauf nur bekannt ist, mit Bestimmtheit behaupten läßt, daß er auch einen oberen Lauf und eine Quelle haben müsse, wie wir uns von einem Thiere, das wir nur in einem älteren Exemplare vor uns sehen, das Jugendalter und sogar den Zustand vor der Geburt vorstellen können, in ähnlicher Weise können wir das Leben der indogermanischen Sprachen, von dem uns nur die letzten Jahrtausende zugänglich sind, mit den Mitteln der Wissenschaft hinauf in die graue Vorzeit und bis zu seinen Anfängen [476] erschließen. Das Vorliegende ergiebt sich als ein Gewordenes und trägt von der Art und Weise, wie es geworden ist, deutlich zeugende Spuren an sich.

Die vielen Worte und Wortformen, welche allen oder mehreren indogermanischen Sprachen gemeinsam sind und die sich mit Sicherheit als nicht entlehnt ergeben, müssen von der gemeinsamen Mutter ererbt sein, sie müssen von der indogermanischen Ursprache herstammen. Unser deutsches ist, litauisch esti, slavisch jesti, lateinisch est, griechisch esti, altpersisch (der Keilschriften) astij, zend açti, altindisch (sanskrit) asti beweist z. B. unwiderleglich, daß auch die gemeinsame Ursprache ein asti (dies ist nach den Gesetzen des Sprachlebens die älteste Form) gehabt haben müsse, welches, nach den verschiedenen Bildungsgesetzen der Tochtersprachen, hier ganz oder fast unverändert bleiben, dort zu esti, est, ist werden mußte. Sammeln wir nun die derartigen Worte und führen wir sie auf ihre ursprüngliche Lautform zurück (allerdings keine leichte, aber doch eine lösbare Aufgabe), so geben sie uns in ihrer Gesammtheit ein ziemlich genaues Bild der indogermanischen Ursprache, wie sie beschaffen gewesen sein muß, ehe sie in die verschiedenen Sprachen auseinander ging, die zusammen den indogermanischen Sprachstamm bilden.

Nun haben aber die Worte auch eine Bedeutung. Sammeln wir die Bedeutungen der gemeinsamen, aus der Ursprache herstammenden Worte, so erhalten wir eine Uebersicht der Begriffe, Vorstellungen und Anschauungen, die dem indogermanischen Urvolke eigen waren, und folglich ein Bild seines Culturzustandes und seiner geistigen Beschaffenheit. Freilich mag das so erschlossene Bild in Vielem mangelhaft sein, weil manches Urwort im Laufe der Zeit ganz verloren gegangen oder nur in einer einzigen Sprache erhalten sein kann; gehen wir aber behutsam und vorsichtig zu Werke, so werden wir wenigstens dem Urvolke nichts zuschreiben, was es nicht wirklich besaß. Unser Culturbild wird also wohl unter der Wirklichkeit bleiben, es wird ihm mancher Zug fehlen, keinesfalls aber werden wir das Urvolk zu hoch stellen.

Wir können natürlich für das im Folgenden Dargelegte nicht die Zeugnisse beibringen, wie wir es oben beispielsweise mit dem Worte asti thaten, sondern müssen uns begnügen, an jenem einen Beispiele die Methode gezeigt zu haben, und stellen demnach nur die Ergebnisse zusammen.

Für den sittlichen und gesellschaftlichen Zustand des Urindogermanen spricht vor Allem höchst vortheilhaft der Umstand, daß seine Familie nach ihren Verwandtschaftsgraden wohlgeordnet war. Der Vater, patars (wir geben alle Worte in der Form des Nominativs) d. h. „Beschützer, Herr“ genannt, und die Mutter, mâtars „die Schaffende“, finden wir im Kreise ihrer Familie, der Söhne, sunus „der Geborene“, Töchter, dughtars (unsicherer Bedeutung; im Folgenden lassen wir bei unklarer Abstammung die Grundbedeutung einfach hinweg), Enkel, naptars, Schwiegersöhne, gantars „Zeuger“, und Schwiegertöchter, snusâ. Der Bruder hieß bhrâtars „Erhalter“, die Schwester svatars die Wittwe vidhavâ, der Schwiegervater svakuras, der Schwager daivars. Die genaue Bezeichnung, besonders der Affinität, macht es mehr als nur wahrscheinlich, daß der Urindogermane in Monogamie lebte; denn bei Vielweiberei verschwimmt die Familie mehr oder minder und hat keine so hohe Bedeutung, daß die Bezeichnung entfernter Verwandtschaftsgrade unter den ältesten Theilen des Wortschatzes vermuthet werden könnte. Auch sprechen die späteren Zustände der Indogermanen für die Ursprünglichkeit der Monogamie bei unserem Volke und somit für das hohe Alterthum eines echten und wahren Familienlebens, ohne welches sich auch die große geschichtliche Bedeutsamkeit unseres Stammes kaum erklären ließe.

Die Familien wohnten in festen Wohnsitzen, damas „Haus“, vaikas „Niederlassung, Wohnsitz“. Schwerlich hätten Nomadenhorden für Haus und Wohnsitz so frühe schon Worte gebildet. Der Hauptbesitz des Urindogermanen bestand in Vieh, pakus. Dieses Wort bedeutete auch so viel als „Besitz, Vermögen“. Merkwürdiger Weise sah es im Viehstande der indogermanischen Urzeit nicht anders aus, als heut zu Tage; denn das indogermanische Urvolk besaß bereits unsere sämmtlichen wichtigeren Hausthiere. Vor Allem das Rind, gaus Kuh, vaksans Ochse, das bei den ältesten indogermanischen Völkern eine überaus bedeutsame Stelle einnimmt und dessen Milch man bereits benutzte, da das Wort für melken, Wurzel marg, der Ursprache bereits zuzuschreiben ist; ferner das Pferd, akvas „Läufer“, das Schaf avis, dessen Wolle, varnâ „Bedeckende“, wahrscheinlich den Hauptstoff für die Bekleidung lieferte, das Schwein sus, die Ziege, deren Namensform sich jedoch nicht genau ermitteln läßt, und den Wächter der Heerden und des Hauses, den Hund kvans.

Obschon sich Bienenzucht nicht nachweisen läßt, so steht doch fest, daß der Honig, madhu, und ein daraus bereitetes berauschendes Getränk gleiches Namens, der Meth, genossen ward. Der Meth muß nothwendiger Weise gegohren haben, um berauschen zu können; der Gährungsproceß war in seinen Wirkungen demnach bereits bekannt, und die Anfänge der Brauerei und des Gebrauches alkoholhaltiger Getränke liegen demnach weit vor aller Geschichte (im engeren Sinne). Neben den nützlichen Thieren fehlten jedoch die kleinen Quälgeister des Hauses, Mäuse, Fliegen und Flöhe, nicht.

Wir wenden uns vom Hause zum Felde, agras „Acker“. Getreide, javas, war bekannt, die Art läßt sich schwerlich bestimmen, doch scheint der Name für Gerste bereits in der indogermanischen Ursprache vorhanden gewesen zu sein. Die Thätigkeit des Pflügens bezeichnete die Wurzel ar, die des Mahlens die Wurzel mar. Höchst wahrscheinlich ward also das Getreide zu Brod verbacken, da für das bloße Rösten das Mahlen der Körner unzweckmäßig ist. Oefen waren vorhanden, sie waren aus Stein gebaut und wurden mit demselben Worte akmans, das Stein bedeutet (oder doch mit einer unwesentlichen Veränderung desselben), benannt. Backen und Kochen, Wurzel kak (z. B. (kakati er bäckt, kocht), war ebenfalls bereits im Brauche. Das Feuer hieß agnis. Es konnte demnach eine urindogermanische Mahlzeit recht wohl aus gebratenem und gekochtem Fleische nebst Brod, Milch, Honig und einem Trunke Meth bestehen.

So auffallend bei einem binnenländischen Volke die Schifffahrt sein mag, so steht nichtsdestoweniger fest, daß unser Urvolk Ruderschiffe – naus Schiff, artram, oder etwa ratram, Ruder – kannte. Da ihm auch das Meer, mari, keine unbekannte Erscheinung war, so müssen wir wohl annehmen, daß die urindogermanische Bevölkerung westlich sich bis an die Ufer eines Meeres erstreckt hat, von dem der heutige Aralsee und das kaspische Meer die Reste sind.

Metall, ajas, war bereits vorhanden; es läßt sich jedoch nicht beweisen, daß dies Metall Eisen gewesen sei. Die Steinwaffen und Steingeräthe, die man in Europa findet, können also nicht von den Indogermanen (z. B. den Kelten, Deutschen) herrühren; denn lange bevor diese einwanderten, war ihnen bereits das Metall bekannt, und es ist nicht wohl denkbar, daß ein Volk im Laufe der Zeit sich des Metallgebrauches wieder entäußert habe. Jene Steingeräthe sind also einer älteren Völkerschicht zuzuschreiben, die vor der Einwanderung der Indogermanen unsere heutigen Sitze inne hatte.

Das Vorhandensein staatlicher Einrichtungen ist nicht erweislich. Die Religion unserer Urahnen war ein Naturcultus, vor Allem Cultus des Lichtes; dies ergiebt sich aus den Mythologien der verschiedenen indogermanischen Völker. Die Gottheit nannte man daivas „Leuchtender“; der höchste Gott war ohne Zweifel djaus, Genit. daivas „der Leuchtende, der Himmel“.

Man sieht, es war ein hochstehendes Volk, aus dem die in der bisherigen Geschichte der Menschheit bedeutendsten Nationen später hervorgingen. Wer diese hohe Culturstufe auffallend findet, der möge bedenken, daß nach den neueren Ergebnissen der Naturwissenschaft der Mensch bereits seit vielen Jahrtausenden die Erde bewohnt und also ein vor etwa fünf Jahrtausenden existirendes Volk vielleicht bereits mehr als doppelt so viele Jahrtausende durchlebt hatte. Auch die Sprachwissenschaft giebt die Vermuthung an die Hand, daß eine Sprache von so hoher Vollkommenheit, wie die indogermanische Ursprache, einen Zeitraum von mindestens zehn Jahrtausenden als für ihre allmähliche Entwickelung erforderlich voraussetzen läßt. Das Stück des Lebens der Menschheit, das in die eigentlich historische Zeit fällt, ist sicherlich kurz gegen die ungezählte Reihe von Jahrtausenden, während welcher der Mensch lebte und sich entwickelte, bevor die Schrift erfunden ward und bevor man auf den Gedanken kam, das Geschehene aufzuschreiben.