Ein Hamburger als König der Mainotten

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Autor: August Wilhelm Ritter v. Zerboni di Sposetti
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Titel: Ein Hamburger als König der Mainotten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 506–508
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Vgl. Christian Heinrich Siegel, comdeg.eu/compendium/...
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Ein Hamburger als König der Mainotten.

Von Ritter v. Zerboni di Sposetti.

Es ist gewiß eine sehr erfreuliche Erscheinung, daß an den östlichen Gestaden des Mittelmeers, gerade an den in Barbarei versunkenen ehemaligen griechischen Culturstätten der alten Welt, jetzt der germanische Genius sich vorzugsweise thätig zeigt, das verkommene Leben wieder anzufachen und einen der rohesten und wildesten Stämme des heutigen Griechenlands in seine civilisatorischen Kreise hineinzuziehen.

Auf den Höhen des vom messenischen und lakonischen Golf umspülten Taygetosgebirges in Morea liegt der District Maina, dessen Bewohner in ganz Griechenland als Banditen, Räuber und Mörder verrufen und gefürchtet sind. Diese Mainotten sind ein Rest der echten altgriechischen Volksrace, und zwar ein Rest jenes merkwürdigen Spartanervolkes, das sich schon im Alterthum in seinem Sonderleben von den übrigen Hellenen abzweigte, bei allgemeinen, das ganze Land drohenden Gefahren aber stets in den Vordergrund trat, durch seine bewunderungswürdige Aufopferungsfähigkeit sich immer glänzend hervorthat und meist den entscheidenden Schlag führte, – ein Volk, das schon zu jener Zeit ein bis jetzt noch ungelöstes sociales Problem zu lösen versuchte und das bis nun seiner Aufgabe instinctmäßig treu geblieben ist. Weder die Herrschaft der Römer, noch die der Gothen, Slaven, Franken und Türken hatten es vermocht, den ursprünglichen Instincten dieser wilden Gebirgssöhne jene Energie zu benehmen, die dieses Volk seit seinem Auftauchen in der Geschichte vor mehr als dritthalb Jahrtausenden charakterisirte. In ihren Bergen und Schluchten verstanden sie es, ihre Unabhängigkeit zu wahren, und während das übrige Hellas den Einflüssen der es beständig überfluthenden fremden Elemente erlag und darin zu einem Mischvolke wurde, erhielten sie allein ihr althellenisches Blut rein von jeder fremden Zuthat und blieben ebenso bei ihrer althergebrachten Lebensweise, ihren ursprünglichen Sitten und Gebräuchen stehen, ohne von der Außenwelt irgend Etwas anzunehmen. Die alten Spartaner wiesen bekanntlich die in Hellas dazumal blühenden Künste und Wissenschaften mit beharrlicher Entschiedenheit von sich, sie fürchteten die damit verbundenen Gefahren der Verweichlichung. Das Hauptaugenmerk ihres Staates war auf die höchstmögliche Entfaltung physischer Kraft und des Heldenmuthes bei jedem Einzelnen gerichtet, und wir wissen, daß zur Erreichung dieses Zweckes die Gesetze der Sittlichkeit, der Menschlichkeit, ja die Gesetze der Natur eine gewisse Vergewaltigung erlitten. Das Eigenthum, die Familie, selbst die Kindes- und Elternliebe, sie hatten bei diesem sonderbaren Volke nur in Bezug auf den Staat einen Werth, und diese Beziehung war in Sparta von der allgemeingültigen sehr verschieden.

Bis auf unsere Zeiten sind sie in ihrer Eigenthümlichkeit verblieben und endlich in ihren unzugänglichen Bergen, in ihren von der übrigen Welt gleichsam abgeschlossenen Marken alles höheren Lebens und Verkehrs entbehrend, gänzlich verwildert und verroht. Nur bei allgemeinen, das gesammte Vaterland betreffenden Gefahren sind auch sie, den Traditionen ihrer Race getreu, immer zur Hand. In den Befreiungskämpfen gegen Franken und Türken standen sie alle wie ein Mann in den vordersten Reihen und schlugen immer die blutigsten und entscheidenden Schlachten. War dies aber einmal vorüber, dann schlossen sie sich wieder in ihre Berge ab, und selbst ihre – die jetzige königlich griechische Regierung vermag es nicht, sie in das organische Staatsleben hineinzuziehen.

Die Mainotten sind ein unbändig wildes, kriegerisches Volk, bei dem das Gesetz der Blutrache noch seine volle Geltung hat, und das unter sich, wie ehemals die schottischen Clans, in beständigen blutigen Fehden lebt. Die niederen Anhöhen der Maina sind alle mit viereckigen fünfzig Fuß hohen Thürmen gekrönt, die statt der Fenster Schießscharten haben, aus massivem Mauerwerk bestehen und deren erstes Stockwerk sich in so beträchtlicher Höhe von dem Erdboden befindet, daß es nur auf einer langen Leiter, die jedesmal herabgelassen und heraufgezogen wird, zugänglich ist. Hier hausen die Familien wie in den Zeiten des Faustrechtes, stets des feindlichen Ueberfalls gewärtig, beständig auf Abwehr bedacht. Oft geschieht es, daß, wenn die Männer auf irgend eine Unternehmung ausgezogen sind, diese Burgen von dem lauernden Feinde überfallen werden, wo dann die darin zurückgebliebenen Frauen den Angriff auszuhalten und zurückzuschlagen haben, was ihnen [507] auch, bis die Hülfe aus der Nachbarschaft anlangt, nicht selten gelingt. Bei Gelegenheit solcher Ueberfälle besteigt eine der Frauen die hohe Warte und ruft mit nur ihnen eigenthümlichen Lauten die ferne Hülfe auf. Es ist merkwürdig, daß dieser Hülferuf bei der wunderbaren Reinheit der Luft über eine halbe Meile weit vernommen wird, und jedesmal wird ihm auch sogleich Folge geleistet. Die Angreifenden suchen denn auch die Zeit, bis diese angelangt, bestens zu nützen und die Feste zu forciren, aber die Frauen sind auf derlei Kämpfe eingeübt und ihre Musketen verfehlen nur selten das Ziel. Die Energie, die sie bei solchen Kämpfen entwickeln, macht auch großentheils die Anschläge des Feindes zu Nichte.

Die Rivalität der verschiedenen untereinander sich befehdenden Stämme gestattet diesem Gebirgsvolke nicht, sich einem gemeinschaftlichen Oberhaupte unterzuordnen. Jeder Stamm folgt seinem Aeltesten, und die Genossen eines Stammes betrachten in der Regel jene eines anderen als Feinde, welche Sympathien und Antipathien meist von ihren Ahnen überkommene Erbschaften sind, und so ist denn von einem gemeinschaftlichen Zusammenwirken der Stämme keine Rede. Nur wenn die Regierung von Athen Steuern, Rekruten oder Frohnen zur Herstellung öffentlicher Communicationswege von ihnen verlangt, erst da stehen sie Alle wie ein Mann gegen die Verordnungen auf, und lange schon wagt sich kein Regierungsbote in ihre Berge. Bei solcher Lebensweise muß nothwendig unter ihnen die größte Armuth herrschen, das heißt sie sind über die primäre Einfachheit noch nicht hinaus, sie kennen die Bedürfnisse des Culturlebens nicht, es herrschen bei ihnen noch die ursprünglich homerischen, oder besser, spartanischen Zustände, Sitten und Gebräuche, und es scheint in dieser Beziehung ein aus jener Zeit auf uns unverfälscht gekommenes Cabinetsstück zu sein. Da das Land bei seiner Armuth und bei der Lebensweise seiner Bewohner lange nicht im Stande ist, dieselben zu ernähren, so finden zeitweise Auswanderungen statt, es verdingen sich in den Hafenorten Viele zu verschiedenen Arbeiten, Andere gehen wieder dem edlen Handwerk mit Muskete, Pistolen und Yatagan bewaffnet über die Landesmarken nach. In diesem kriegerischen Schmuck bestellen sie aber auch ihre Gärten und Felder, denn hier ist man nie vor einem feindlichen Ueberfalle sicher. –

Mitten unter diesem wilden Volke im mainottischen Gebirge hat unser deutscher Landsmann, der Bildhauer Siegel sich angesiedelt und besitzt dort seine berühmten Marmorbrüche. Es gelang ihm, einen weiten Gebirgsumkreis und eine der festen Familienburgen in seinen Besitz zu bringen und, während er sich in dieser letzteren nach Landessitte eingerichtet hat, im Gebirge an seinen Marmorbrüchen großartige Werkstätten einzurichten und in denselben Tausende von Eingeborenen zu beschäftigen.

Siegel war durch viele Jahre unter König Otto’s Regierung Professor der Bildhauerei an der Akademie zu Athen gewesen, wo er eine namhafte Schule errichtete, die jetzt von seinen Schülern im Gange erhalten wird. Auf seinen Ausflügen durch Morea kam er auch zu den Mainotten; er wollte sich persönlich überzeugen, ob dieses Volk in Bezug auf seine Aehnlichkeit mit der classischen Antike den hierüber allgemein in Umlauf gesetzten Gerüchten auch in der That entspreche, was für ihn als Künstler und noch dazu als Bildhauer von großem Interesse sein mußte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er in den Gebirgen der Maina sehr reichliche Lager der herrlichsten Marmorsorten, welche eine große Ausbeute versprachen. Der Hebung dieser Naturschätze stellten sich jedoch in den Eingeborenen selbst beinahe unüberwindliche Hindernisse entgegen. Die jetzigen Griechen sind ohne Ausnahme Alle geschworene Feinde jeder Neuerung; selbst die Allen so unentbehrlichen Communicationswege können nur mit großem Zwang hergestellt werden, und deren Bau schreitet nur äußerst langsam vorwärts. Wie sollte nun ein Fremder, und noch dazu ein aus Athen, aus den Regierungskreisen kommender Fremder, bei diesem ohnehin so mißtrauischen Völkchen eine Neuerung – eine Unternehmung in’s Leben rufen können? Hier konnte nichts weder mit Gewalt, noch mit Geld, noch mit irgend welchen künstlichen Mitteln erzielt werden, nur auf dem Wege eines gütlichen Einverständnisses war etwas durchzusetzen. Um sich unter den Mainotten niederlassen zu können, mußte man vor Allem erst selbst Mainotte werden. Jeder Andere hätte die verschiedenen Familienzwistigkeiten benützt, um sich mit Hülfe der einen Partei gegen die andere behaupten zu können. Siegel wies ein solches Auskunftsmittel als seiner unwürdig zurück. Nicht durch Intrigue, er wollte auf soliden Basen mit diesem Gebirgsvolke verkehren, er glaubte in dessen Eigenschaften Anhaltspunkte hiefür zu haben, von deren geschickter Benutzung dann freilich Alles abhing, und er täuschte sich nicht. Der griechische Volkscharakter im Allgemeinen hat einen gesunden festen Kern. Der Grieche ist sehr keusch, sehr mäßig und hängt mit exemplarischer Treue an Familien- und Verwandtschaftsbanden. Der Mainotte überdies hält viel auf seine rein hellenische Abstammung, und in der That, nirgends in ganz Griechenland, die Sphakioten auf Kreta vielleicht ausgenommen, hat sich der althellenische durch die Antike uns bekannte Typus in Gesichtszügen und in dem wunderbar schönen Ebenmaß der Körperformen, namentlich bei Frauen, welche von allen Reisenden als „antike Göttinnen in knechtischer Hülle“ bezeichnet werden, – so vollständig und so rein erhalten, wie bei diesem Gebirgsvolke. Diese Harmonie der äußeren Formen muß sich ja nothwendig auch im inneren Wesen auf irgend eine Weise reflectiren. Ist es doch allgemein bekannt, daß selbst der griechische Bandit sich durch einen gewissen Adel von allen anderen seines Gleichen wesentlich unterscheidet. In ihrem gehobenen Selbstbewußtsein halten sich eben die Mainotten auch von besserem, edlerem Stoffe als die übrige Menschheit im Allgemeinen, und es ist dieser Stolz zum großen Theile neben ihrer Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit, der sie in Absonderung von der Welt auf ihren Bergen hält. So erzählen sie zum Beispiel es gar gerne, daß aus ihrer Mitte die Bonaparte und die Medicäer ihren Ursprung nahmen. Beide Familien haben nämlich, wie dies seiner Zeit allgemein üblich war, nachdem sie nach Italien ausgewandert, ihre griechischen Familiennamen Kalomeros und Jatrakos in die Sprache ihres neuen Vaterlandes übersetzt.

Ein solcher Kern und in solcher Hülle mußte den Menschenfreund und namentlich den Künstler besonders interessiren; es mußte in ihm der Gedanke Platz greifen, daß eine geschickte Behandlung dieser Eigenschaften zur Entfaltung des der äußeren Form entsprechenden inneren Wesens führen müsse, auf diese Weise aber die Antike thatsächlich verlebendigt und verpersönlicht in die Wirklichkeit der Gegenwart, in das warme, thätige Leben wieder eingeführt werden könnte – was im Wege plastischer Kunst selbst bezüglich der äußeren Form noch nicht recht gelingen will. Es handelte sich darum, die thatsächlich lebendige Antike in’s Leben einzuführen. Siegel hat sich dieser großen Aufgabe unterfangen, er hat sich die Landessprache vollkommen eigen gemacht, hat sich in die Sitten und Eigenthümlichkeiten der Mainotten ganz hineingelebt, ist durch seinen persönlichen Verkehr mit den Familien ihnen auf verschiedenartige Weise nützlich geworden, ja, sie haben ihn mit der Zeit so lieb gewonnen, daß sie selbst bei ihren gegenseitigen Befehdungen sich sein Schiedsrichteramt gefallen lassen – ein Zutrauen, das in diesen Bergen ganz einzig und ohne Beispiel dasteht, und das sich Siegel nur durch sein kluges, humanes Eingehen auf die Verhältnisse der Familien erworben hat.

Auf diese Art gelang es ihm, den Thatendrang der kampflustigen Jugend in seine Werkstätte zu leiten, und die Verwerthung desselben stellte sich dieser Jugend sowohl wie deren Angehörigen so erfolgreich dar, daß man die Aufnahme dieser jungen Leute in diese Anstalten als eine Gunst zu betrachten und nachzusuchen begann. Aus diesen Brüchen, welche in reichlichen Lagern die schönsten und kostbarsten Marmorsorten liefern, versorgt Professor Siegel nicht nur ganz Griechenland, sondern auch alle bedeutenderen Orte in der Levante, von der ostafrikanischen Küste bis Constantinopel. Die gebrochenen Marmorblöcke werden an Ort und Stelle vorerst für ihre künftige Bestimmung nur roh zurecht gemacht, sodann an der für den weiteren Transport auf die Schiffe geeigneten Stelle in’s Reine gemeißelt, polirt und in der Folge auf eigens hierzu eingerichteten Maschinen auf die Schiffe geladen und verführt. Diese in großartigem Maßstabe betriebenen Arbeiten nehmen Tausende von Menschenhänden beständig in Anspruch. Auf diese Weise aber fließt das baare Geld und mit diesem auch der Wohlstand der Bevölkerung zu und gestaltet sich die Rivalität der Stämme zu einer Rivalität in der Arbeit, in welcher Einer dem Anderen es zuvorzuthun sucht, während sich gleichzeitig für Alle ein gemeinschaftlicher Lebensmittelpunkt herausbildet.

Dieser wohlthätige Einfluß wird von Allen empfunden, so daß Siegel sich der Liebe und des Vertrauens, ja einer [508] Art Verehrung im ganzen Lande erfreut. Sein täglicher Verkehr mit allen Parteien bringt ihn unausgesetzt mit Freund und Feind zusammen, die Alle in ihm den Mittler, den Wohlthäter, den Rathgeber, mit einem Worte, jenen Genius erkennen, der ihrem Leben erst den wahren Gehalt und Werth zu geben verstand. Da Alle mehr oder weniger, mittelbar oder unmittelbar an diesen Arbeiten betheiligt sind, so ist auch nicht Einer im ganzen Lande, der ihn nicht segnete, der nicht persönlich in Beziehung zu ihm stände. Die Arbeiten werden selbstverständlich durch Contracte auf längere Zeit geregelt. Die in den Ateliers beschäftigte Jugend ist an diese auf Jahre hin gebunden, und da hier der den Griechen angeborene Schönheitssinn unter Siegel’s Leitung sich entwickelt, die jungen Leute unter ihren Händen Werke der Kunst entstehen sehen, sich für diese immer mehr interessiren, und von ihren Angehörigen, deren Wohlstand hierbei wächst, darin bestärkt und hierzu angehalten werden, so beginnt auch mit der geregelten, nützlichen, ruhig verfließenden Arbeit sich ein neuer Geist im Lande zu offenbaren, die Rohheit der Sitten sich zu mildern, und in der That haben die Raubzüge, die Alles vernichtenden Familienfehden merklich nachgelassen und überall wird bereits eine rege Betriebsamkeit, überall werden organisch sich regelnde Zustände wahrgenommen.

Siegel hat sich bei diesem Volke bereits so unentbehrlich gemacht, daß ihm die unbändigsten Häuptlinge ohne Widerrede Folge leisten, sein Wort ihnen als Gesetz gilt, und selten nur kommt er in die Lage, und das höchstens durch Arbeitsentziehung – dort die empfindlichste Strafe – seinem Worte Nachdruck geben zu müssen. Dem Könige Otto persönlich befreundet, hat Siegel mit seinen Mainotten für ihn noch die letzten Kämpfe gekämpft; seine Krieger würden ihm unbedingt in einem Kreuzzuge nach Athen gefolgt sein, wenn er dies von ihnen gefordert hätte, – auch schickt die Regierung, wenn sie bei diesem Volke etwas durchsetzen will, ihre Boten nicht direct an dasselbe, sondern an Siegel mit dem Ansuchen, das Volk hierfür geneigt zu machen, denn mit Gewalt kann sie bei demselben nichts ausrichten. Siegel, der seine Leute und die Verhältnisse ganz genau kennt, die in Athen nämlich, wie die seiner Mainotten, braucht nicht erst mit diesen letzteren darüber zu unterhandeln. Er fertigt die Regierungsboten aus eigener Machtvollkommenheit ab, indem er zusagt oder abweist oder irgend welche Modificationen verlangt, und was er entschieden, die Regierung von Athen sowohl wie das Volk von Maina ergeben sich anstandslos darein.

Ein solches Vertrauen setzen selbst die Regierungsmänner in Athen in ihn. Sie kennen ihn Alle persönlich und er verkehrt mit ihnen bei seinen zeitweisen Ausflügen in die Residenz. Er ist thatsächlich König von Maina, wiewohl ihn Niemand in dieses Amt förmlich eingesetzt, weder das Volk als solchen ausgerufen, noch die Regierung officiell anerkannt hat – er ist es durch die Macht seines Geistes und seiner Persönlichkeit geworden. Die Regierung von Athen wollte diese seine Stellung durch einen officiellen Titel gleichsam legalisiren und wäre es nur deshalb, um nicht mit einem Volke durch die Vermittlung eines Privatmannes erst verkehren zu müssen; aber Siegel schlug alle dergleichen Auszeichnungen mit dem sehr richtigen Tact aus, daß jeder amtliche Charakter ihm bei seinem Volke nur Nachtheil bringen, das Vertrauen zu ihm untergraben würde. Siegel ist aber nicht nur in der Maina, er ist im ganzen Königreich der Griechen und zwar von den meisten persönlich gekannt, und von Allen geachtet, geehrt und hochgehalten, selbst die Banditen, von denen Griechenland bekanntlich wimmelt, hegen eine Art ehrfurchtsvoller Scheu vor ihm, und nie ist ihm, so oft er ihnen auch auf seinen Streifereien begegnet, etwas Leides von ihnen widerfahren. Er hat aber auch eine eigene Art und Weise, die Leute zu behandeln, seine geistige Ueberlegenheit auch ohne allen äußern Apparat ihnen gegenüber geltend zu machen.

Siegel ist von Geburt ein Hamburger, ist hoch und schlank gewachsen und über die sechszig Jahre hinaus, aber rüstig, lebendig und energisch, wie man selbst unter jungen Leuten nur Wenige findet. Ich machte seine Bekanntschaft vor zwei Jahren in Constantinopel, wohin er auf mehreren Schiffen die Marmorsäulen und andere Sculpturarbeiten für den neuen großherrlichen Palast brachte. Diese Siegel’schen Marmorarbeiten hätten in den ersten europäischen Kunstwerkstätten nicht schöner gemacht werden können. „Sie sind,“ sagte er mir, „alle das Werk meiner mainottischen Schüler,“ und er betonte mit einer ihm so wohl stehenden Zufriedenheit, daß darunter sich auch nicht ein einziges Stück von einer andern Hand gearbeitet befinde. Wer Mörder und Banditen zu fleißigen Künstlern umzugestalten, wer statt des thierischen Rachedurstes in ihre Seele das ideale Schöne zu setzen vermochte, der kann gewiß mit wohlverdienter Genugthuung auf dies sein großes Werk herniederschauen, denn er hat hier als Großmarschall der Menschheit ihr wahre und unvergängliche Siege erfochten und er hat sie erfochten auf unblutigen Wegen, ohne daß ganze Hekatomben Menschenleben ihm zum Opfer gefallen wären, und auch ohne Armeen, deren Erhaltung der Menschheit so theuer zu stehen kommt. Er allein, ein einziger Mann, ohne Waffen, ohne Geleite – er hat ein ganzes Land erobert, er hat es freilich im Interesse seiner Kunst, also beziehungsweise in seinem eigenen Interesse erobert, aber das ist ja das große Verdienst, der große Vortheil unseres Culturlebens, daß dieses Interesse das Interesse einer ganzen Bevölkerung, ja gleichzeitig jenes der ganzen Menschheit ist. Deshalb findet Alles dabei seine Rechnung, und giebt es weder Revolutionen, Verrath noch blutige Conflicte in diesem Lande, wo statt aller dieser menschenfeindlichen Dämonen jetzt der Genius der Kunst den Scepter seiner milden Herrschaft schwingt. Siegel regiert ein sonst unbändiges Volk ohne allen Regierungsapparat, ohne Soldaten, ohne Polizei, ohne Steuern, ja ohne Verwaltungspersonal, und doch giebt es keinen Potentaten, dem man pünktlicher und williger gehorchte, als diesem anspruchslosen einzelnen Manne, der nicht einmal Muße hat nachzusehen, ob seine Anordnungen auch vollzogen werden. Aber er braucht dies gar nicht, er ist gewiß, daß dies ganz pünktlich geschieht.

Eine solche Herrschaft ist gewiß das Nonplusultra politischer Weisheit. Hier hat sie sich wie zufällig durch kluge Benutzung der Umstände zur Blüthe entfaltet, weil sich hier Alles auch praktisch zusammenfand. Keine der vielen kirchlichen Missionen, die viele Jahrhunderte lang das Land des Ostens bearbeiteten, kann sich ähnlicher Erfolge rühmen, und woher kommt dies? – Siegel ist nicht nur Künstler, nicht nur Kaufmaun, sondern er ist, und dies vorzugsweise, ein Mensch. Er versteht es eben so gut mit den Menschen umzugehen, als er seine Kunst zu handhaben und zu verwerthen versteht. Er liebt die Menschen, er behandelt sie nicht als Handlanger, als Zahlen oder Werkzeuge, oder Mittel zur Erreichung von Zwecken, er liebt die Menschen um ihrer selbst willen, sie gelten ihm mehr als Orden, Aemter und Titel, mit einem Worte, ihm gilt das Wesen der Sache Alles und der äußere Schein gar nichts, und weil es ihm nur um das Wesen zu thun ist, hat sich ihm dieses auch erschlossen.

Wenn Siegel jetzt auch von dem Schauplatze seines Wirkens abberufen werden sollte, so hat er doch eine Macht gegründet, die nicht an seine Person gebunden ist und mit dieser lebt und fällt. Er hat in seinen Schülern sozusagen eine Dynastie gestiftet, in welcher sein Geist fortleben, fortwirken, die von ihm begonnene Organisation und Vermenschlichung vervollkommnen wird. –