Ein Hochverrathsproceß in Kanada

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Autor: Hans Blum
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Titel: Ein Hochverrathsproceß in Kanada
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49–50, S. 812–814, 826–827
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Leben von Louis Riel
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Ein Hochverrathsproceß in Kanada.

Seit den Tagen Karl’s II. von England gehörte die heutige kanadische Provinz Manitoba der englischen Hudsons-Bai-Gesellschaft eigenthümlich, die in dem weiten Gebiet ihr Handelsmonopol zur großen Bedrückung der Eingeborenen handhabte. Jeder Handel mit der Jagdbeute dieser Jägervölker, dem kostbaren Pelzwerk, jeder Kauf und Eintausch ihrer eigenen Bedürfnisse durfte nur mit den Beamten der Kompagnie geschlossen werden. Natürlich wurden die Armen dabei gründlich geprellt. Die Auflehnung gegen diese Satzungen, insbesondere der Handel über die Grenze, war ein Verbrechen. Da geschah es im Jahre 1849, daß ein Mestize, Namens Riel, sich gegen diese seltsame Strafrechtspflege zu Gunsten eines Stammesgenossen mit bewaffneter Hand auflehnte, diesen sammt seinem konfiscirten Pelzwerk befreite und von da ab die Freiheit des Handels der Mestizen mit den Vereinigten Staaten durchsetzte. Sein Name ist daher noch heute den französischen Mestizen Nordwest-Kanadas unvergessen; denn die Wellen der Zeit fluthen langsamer durch diese entlegenen Vorländer der Kultur, als durch die Mittelpunkte modernen Lebens.

Sein ältester Sohn Louis Riel, der im Jahre 1844 in Manitoba geboren wurde, sollte erfahren, daß ererbte Grundsätze zugleich der köstlichste und verantwortlichste Besitz einer Familie sind. Seine Erhebung gegen England und der gegen ihn geführte Hochverratsproceß beschäftigten noch vor Kurzem die öffentliche Meinung. Jetzt, da sich die Leidenschaften der Parteigänger abgekühlt haben, ist es möglich, auf Grund der Proceßakten ein objektives Urtheil über diese immerhin eigenartige Erscheinung zu fällen.

Die allgemeine Beliebtheit des Vaters regte von früh auf das hochfliegende Streben des Sohnes an und richtete zugleich die Augen bedeutender Männer auf seine Gaben. Der Bischof Alexander Taché gewann eine vornehme französische Kanadierin, die Mutter des heutigen Gouverneurs der Provinz Quebec, für seinen jungen Schützling. Aus den gemeinsamen Mitteln Beider ward die Erziehung und der Unterhalt Louis Riel’s auf dem Collége von Montreal bestritten. Hier traf den fleißigen und begabten Zögling im Alter von zwanzig Jahren, 1864, die Trauerbotschaft vom Tode des Vaters. Es galt nun, die Studien abzukürzen, um der Mutter und den sieben jüngeren Geschwistern beizustehen. 1866 war Louis Riel wieder bei den Seinen.

Im Jahre 1869 verkaufte die Hudsons-Bai-Gesellschaft ihr von Jahr zu Jahr weniger einträgliches Besitzthum an die Krone England für 300 000 Pfund Sterling. Die Einwohnerschaft des verkauften Landes hatte sich seit nahezu zwanzig Jahren einer fast schrankenlosen Freiheit erfreut; sie war nicht geschichtskundig genug, um zu wissen, daß auch die verhaßte Hudsons-Bai-Kompagnie ihren Handelsstaat allezeit unter britischer Oberhoheit geführt hatte. Vielmehr hielt das Naturvolk eben jetzt den Zeitpunkt seiner Lossagung von jeder Erdenmacht gekommen. Als der Gouverneur und Bevollmächtigte der kanadischen Regierung von dem erkauften Lande Besitz ergreifen wollte, geboten ihm an der Schwelle der neuen Provinz bewaffnete Mestizen eben so höflich wie bestimmt die Umkehr. Und er kehrte um. Louis Riel ward dagegen einstimmig zum Haupt der provisorischen Regierung Manitobas gewählt. Er zählte jetzt fünfundzwanzig Jahre.

Derselbe hohe katholische Geistliche, der Louis Riel hatte erziehen helfen, Bischof Taché, bot sich in diesem Augenblicke, da der Bürgerkrieg unvermeidlich schien, zum friedlichen Vermittler zwischen der Regierung zu Ottawa und dem bewaffneten Volke von Manitoba an. Die Krone Englands gewährte volle Amnestie, reiche und fruchtbare Landstrecken (240 Acker für den Kopf) an die Aufständischen und sechs Parlamentssitze im kanadischen Parlament an die Provinz. Darauf legten die Halbwilden ihre Waffen nieder; die provisorische Regierung ging aus einander; insbesondere Riel nahm den Pflug wieder zur Hand.

Mittels Urtheils des Gerichtshofs (der Queen’s Bench) von Winnipeg, datirt vom 15. Oktober 1872, soll jedoch Riel – aus welchem Grunde, wissen wir nicht – für „outlaw“ (vogelfrei) erklärt worden sein und will von nun an das Leben eines gehetzten Wildes geführt haben. Daß ein Urtheil dieser Art bestanden hat, beweist eine bedingte Amnestie gegen Riel und Lépine, der neben Riel im Aufstande von 1869 auf 1870 Anführer war, datirt vom 12. Februar 1875. Dieser Gnadenakt gewährte Beiden Verzeihung, wenn sie auf fünf Jahre Manitoba verließen. Beide Geächtete gingen darauf ein, gegen eine Geldentschädigung, die Bischof Taché vermittelte und auszahlte. Die Angaben über die Höhe derselben schwanken. Die amtliche Angabe ist, daß Riel allein 5000 Dollars (etwa 21 000 Mark) erhalten habe. Er selbst behauptet, auf ihn und Lépine seien nur je 400 Napoleons (etwa 6500 Mark) gefallen.

Riel lebte nun eine Zeit lang in der Provinz Quebec in Kanada. Nach einem längeren zwecklosen Wanderleben in den Vereinigten Staaten nimmt er 1879 in Montana eine Lehrerstelle an einer Gewerbeschule an und verweilt hier bis zum Juni 1884, allgemein geschätzt und geliebt und zurückgezogen von allem politischen Treiben. Er heirathet die Tochter eines französischen Mestizen aus der Gegend des Forts Elliot und wird Vater zweier Kinder.

Der Juni 1884 bringt die verhängnißvolle Wendung seines Lebens.

Während seiner langen Abwesenheit von seiner Heimath haben sich nämlich die Verhältnisse seiner Stammesgenossen wesentlich verschlechtert. Die Mestizen sind Halbwilde, fast so leichtlebig und unüberlegt wie Indianer. Gewissenlose Güterspekulanten sind nach 1870 zu Hunderten nach Manitoba geströmt und haben die armen Mestizen mit Gold geblendet und um einen Spottpreis ihr Land ihnen abgekauft. Nun wandern die Heimathlosen zu Tausenden nach dem damals kaum besiedelten Flußthal des Saskatchewan. Aber als es mit der kanadischen Pacificbahn Ernst wurde, strömten auch dorthin Hunderte findiger Einwanderer, mit förmlichen Besitztiteln der englischen Behörden versehen, und vertrieben auch dort die Mestizen vom kaum gegründeten Heim. Keine der zahlreichen, gegen diese Mißstände gerichteten Beschwerden, welche zu Gunsten der Mestizen von Landagenten und Parlamentsabgeordneten, vom Provinzialrath und vor Allem von hochgestellten Geistlichen ausgingen, fand bis zum Juni 1884 befriedigende Antwort.

Da machte sich im nämlichen Monat der Führer der Mestizen in Manitoba seit Riel’s Abwesenheit, Gabriel Dumont, ein leidenschaftlicher, zum Aeußersten entschlossener Mann, mit einigen Gesinnungsgenossen zu Louis Riel nach Montana auf, um diesen zurückzuholen. In glühenden Worten und mit düsterer Entschlossenheit schilderte Dumont die Nothlage der Stammesgenossen, die Nothwendigkeit der Führerschaft Riel’s. Alle guten und bösen Leidenschaften Riel’s verstand er aufzuregen. Nach einigem Zaudern folgte Riel dem, was er für Stimme der Pflicht hielt. Am 1. Juli war er mit seiner jungen Familie wieder in der Heimath und nahm hier die Gastfreundschaft seines Vetters Charles Nolin bis Ende Oktober an. Dann zog er mit den Seinen in ein eigenes Haus, das ihm der tapfere Gesinnungsgenosse Moses Ouelette geschenkt hatte.

Während dieser vier Monate ist seine ganze unablässige Thätigkeit nur auf die Erforschung des gegenwärtigen Zustandes seiner Heimath, der Lage seiner Volksgenossen und auf die gesetzliche Abstellung ihrer gegründeten Beschwerden gerichtet. Er hält eine große Zahl von Versammlungen überall ab, verfaßt, bespricht und versendet die Klagen und Bitten um Abhilfe. Durch zweimalige Sammlung sorgen die Freunde inzwischen für seinen und der Seinen Unterhalt. Er gewinnt die Ueberzeugung, daß jahrelange kräftige Agitation den Beschwerden der Stammesgenossen völlige Abhilfe verschaffen werde. Zwei wichtige Zugeständnisse, die Ertheilung verbriefter Besitztitel (Scrips) und eine neue Landvermessung, erreicht er schon durch seine unermüdliche Agitation. Er denkt nicht entfernt an gewaltsame Erhebung. Noch im Januar 1885 – zwei Monate vor seiner bewaffneten Empörung – bringt er bei einem festlichen Abendessen den Toast des treuen Unterthanen auf die Gesundheit „de notre Souveraine Dame la Reine Victoria“ aus. Alle seine Ansprachen vor Hunderten und Tausenden zielen nur auf „konstitutionelle Agitation“, auf unermüdliche Handhabung des Beschwerderechts.

Was führte nun Louis Riel aus so untadeliger, bewunderungswürdiger Haltung plötzlich zu bewaffneter Empörung? [813] Diese Frage ist eine der peinlichsten, die der Erzähler seines Schicksals zu beantworten hat.

Louis Riel hatte die Ueberzeugung gewonnen, daß sein friedliches und gesetzliches Wirken für sein Volk Jahre fortdauern müsse, um zum Ziele zu führen. Er hatte fünf Jahre lang aus eigener Arbeit für sich und die Seinen gesorgt. Hier in Manitoba ließ ihm die Sorge für sein Volk keine Zeit zu eigenem Erwerb. Die Freunde konnten ihm nach seiner Meinung den Unterhalt auf so lange Zeit nicht schaffen. Er glaubte aus der Behandlung, die ihm vor einem Jahrzehnt widerfahren war, gerechte Ansprüche an die kanadische Regierung zu haben. Er machte diese Ansprüche geltend, gewiß nicht bloß aus Eigensucht, sondern zugleich, um die Mittel für die Fortsetzung seiner Agitation für die Stammesgenossen zu gewinnen.

Dieses Streben erschien ihm so löblich, daß er auch unheilige Mittel dafür erlaubt hielt. Er war als frommer Katholik nach den Vereinigten Staaten gekommen. Er hatte dort die Grundgedanken des protestantischen Bekenntnisses in sich aufgenommen, dieselben sich vertraut gemacht. Und da er aus den früheren Vorgängen seiner Heimath wohl erkannt hatte, welchen unbedingten Einfluß die römische Geistlichkeit unter seinen Stammesgenossen übte und welche Achtung sie bei den englischen Machthabern genoß, wie ihre Vermittlung immer erfolgreich gewesen war, so beschloß er, diese mächtige Fürsprache auch seinen persönlichen Forderungen an die Regierung dienstbar zu machen. Er benutzte zu diesem Zwecke Alles, was er an Zweifeln an seinem ererbten Glauben aus den „Staaten“ heimgebracht hatte. Er gab sich selbst für einen tiefzerfressenen Zweifler aus, um als Preis für seine eigene Unterwerfung unter den alten Glauben die Befürwortung seiner persönlichen Ansprüche an die Regierung zu erlangen. Seine Berechnung trog nicht. Er unterwarf sich feierlich, und die geistlichen Vermittler redeten zu Gunsten seiner Ansprüche, wenn auch nicht für die 100 000 Dollars, die er ursprünglich forderte, doch für die 35 000, auf die er herabging, oder für etwas weniger. Die Regierung aber bewilligte keine dieser Forderungen, welche Riel in den letzten Monaten des Jahres 1884 und in den ersten von 1885 ausschließlich beschäftigten.

Und nun schlug Riel plötzlich los, griff plötzlich zur bewaffneten Empörung, möglicherweise mehr hingerissen, als selbst entscheidend; denn sein Freund Gabriel Dumont hatte schon Wochen vorher die Indianer des Grenzgebietes zum Betreten des Kriegspfades und zum Ausgraben der Streitaxt aufgereizt. Riel billigte nur alles Geschehene und noch zu Geschehende und deckte es verantwortlich mit seiner Führerschaft.

Auf das Genaueste und mit tiefster Berechnung dem Volke und Lande angepaßt waren Riel’s Kampfmittel und Kampfziele.

Zunächst galt es, den frommen gottesfürchtigen Sinn der Mestizen an sich zu fesseln. Dieselben waren gute Katholiken. Wenn die katholischen Geistlichen von der Empörung abmahnten, so folgten sie Riel keinesfalls. Riel gab sich daher von dem Zeitpunkte an, wo er die Waffen ergriffen hatte, für einen Propheten aus, in welchem der Geist Gottes wohne, der daher unendlich viel unmittelbarere Eingebungen und Offenbarungen Gottes habe, als die Geistlichkeit. Dieser in Riel wohnende Geist Gottes machte ihn selbstverständlich auch zum Werkzeug in Gottes Hand, folglich unbesiegbar. Um nun einige der Kräfte kund zu thun, welche Propheten immer gehabt haben, prophezeite Riel täglich vor versammeltem Kriegsvolk, was eintreten werde und was nicht, und zwar in so allgemeinen Ausdrücken, daß Manches eintraf. Außerdem führte er ein Buch, in welchem er die Offenbarungen Gottes, deren er theilhaftig wurde, mit Büffelblut niederschrieb. Beherbergte ihn ein Freund über Nacht, so vergalt er diese Liebe damit, daß er die ganze Nacht für die gemeinsame Sache ganz neue Gebete laut hersagte, so daß Jener nicht schlafen [814] konnte. Von dem revolutionären Rath verlangte er, förmlich und feierlich als Prophet anerkannt zu werden. Die besorgten Blicke nach Rom lenkte er durch die Versicherung auf sich selbst: Rom sei gefallen, der Papst für dieses Land sei bereits unterwegs. Würde er hier freie Hand gewinnen, so reise er selbst nach Paris und Italien, um den Papst absetzen und einen nach seinem Geschmack wählen zu lassen etc. Die armen gläubigen, ungebildeten Mestizen wurden durch diese Offenbarungen mit andächtiger Hingebung und blindem Vertrauen zu dem unbesiegbaren Propheten erfüllt. In Riel’s Prophetenrolle ruhten die Grundwurzel und der größte Zauber seiner Macht.

Dieser geheimnißvolle Einfluß ward verstärkt durch das glänzende Kampfziel, das er als Siegespreis vor Augen hielt, nämlich die Theilung des gesammten Landes in sieben Theile. Davon sollte ein Siebentel den Mestizen und Indianern zukommen, die andern Siebentel den Völkern, welche den Mestizen zu Hilfe ziehen würden. Gewiß nicht aus Unwissenheit nannte Riel als solche Völker: die Preußen (!), die Bayern (!), die Belgier, die Polen und – die Juden (!), sondern aus seiner Berechnung des Bildungszustandes seiner Landsleute. Wenn er gesagt hätte: die Vereinigten Staaten, die Irländer etc. rückten zur Hilfe heran, so hätte deren Ausbleiben die Mestizen stutzig gemacht – aber die Prussiens, die Bavarois, die Polen und die Juden, die brauchten längere Zeit, um sich zu sammeln und den Mestizen zu Hilfe zu eilen. So bald konnten diese nicht auf der Bildfläche erscheinen.

[826] Riel eröffnete den Feldzug nach einem Plan, der ganz den Verhältnissen und seinen geringen Streitkräften angepaßt war. Er versuchte, mit Schrecken und Gewalt zum Ziel zu gelangen. Er legte sich auf den Geiselfang, um den Feind durch die dann und wann ausgestoßene Drohung der Niedermetzelung der Geiseln zur Annahme seiner Bedingungen zu bewegen. Die größeren Unternehmungen dieser Art, die er plante, wie die Gefangennehmung der ganzen Besatzung der Forts Carlton, wohl gar die Gefangennehmung des englisch-kanadischen Heerführers, Generals Middleton, mißlangen ihm freilich.

Die von Dumont und Riel aufgebotenen Indianer vervollständigten den Schrecken, der Riel’s Truppen voranging. Wie eine flüchtige, aber verheerende Wolke jagten sie über die reichen Lande, raubend, plündernd, brennend, einmal auch, am 2. April am Froschsee (Frog-lake), grausam mordend unter wehrlosen Ansiedlern. Die Mestizen, die sich Riel anschlossen, verfuhren zwar etwas höflicher und glimpflicher in der persönlichen Behandlung der Bevölkerung, aber nicht minder gründlich in der Wegnahme alles ihnen Dienlichen, namentlich in der Ausleerung aller Magazine und Läger ihres Bereiches, in denen sich Waffen, Kriegsvorräthe, Nahrungsmittel, Decken etc. vorfanden. Sehr wohlhabende Leute sind dadurch vollständig verarmt. Gleich mit Beginn der Bewegung, am 18. März 1885 wurden auch die Telegraphendrähte durchschnitten, um eine Ansammlung feindlicher Streitkräfte zu verzögern. Die Indianer, mit ihrem scharfsinnigen und vortrefflichen Späher- und Vorpostendienst, verhüllten die Bewegungen der kleinen Heeresmacht Riel’s und hinderten jeden unerwarteten Angriff.

Die Verblüffung der gegnerischen Bevölkerung und der kanadischen Regierung war bei dem plötzlichen Ausbruch der Empörung fast eine vollständige. Deßhalb erfocht auch Riel anfangs, am 26. März am Entensee, gegen die wegen Mangels an Lebensmitteln ausgerückte Besatzung des Fort Carlton einen unbedeutenden Sieg und nahm am folgenden Tag das verlassene Fort ein. Er lagerte sich aber dann bis zum Mai ziemlich unthätig in Batoche und machte dem königlichen Oberbefehlshaber General Middleton erst den Uebergang über den Fluß an der Coulée des Tourond streitig, anfangs mit Erfolg.

Dagegen vermochte Riel’s ungeschulte Truppenmacht dem von Middleton gut geleiteten kleinen Heer der Kanadier nicht zu widerstehen. Nach dreitägigen heftigen Kämpfen wurde am 12. Mai Batoche, Riel’s Hauptquartier, erstürmt und den in bedrohlichster Lage befindlichen Geiseln die Freiheit wiedergegeben.

Riel war aus dem eroberten Ort in die Wälder geflohen. Seine Genossen retteten sich zum größten Theil über die Grenze der Vereinigten Staaten, namentlich Dumont. Ich glaube, Riel hätte sich gleichfalls retten können; einen Verräther hätte er unter dem treuen Volk nicht gefunden. Aber General Middleton hatte ihm nach der Einnahme von Batoche geschrieben: wenn Riel sich ergebe, werde er ihn schützen, bis die Regierung Riel’s Schicksal bestimme. Middleton’s Heerhaufe war inzwischen zur Verfolgung der letzten Streitkräfte Riel’s aufgebrochen. Riel wollte die Verfolgung und weiteres Blutvergießen vermeiden. So schrieb er am 15. Mai an Middleton, er wolle nach Batoche gehen, um sich dem Willen Gottes zu unterwerfen. Es war der edelste, aber verhängnißvollste Schritt seines Lebens. Wie er vorausgesehen und beabsichtigte, kehrte Middleton sofort um. Am nämlichen Tage wurde Riel gefangen in das englische Lager gebracht. Am Montag den 18. Mai wurde er, auf telegraphische [827] Weisung der kanadischen Regierung, unter starker Bedeckung zunächst zu Wasser, dann zu Lande der Stadt Regina zugeführt, wo er am 23. Mai anlangte. Er sollte das Gefängniß dieser Stadt nicht mehr verlassen.

Da das englische Strafproceßrecht die zeitraubende Voruntersuchung (in unserem Sinne des Wortes) nicht kennt, so konnte die Hauptverhandlung gegen Riel vor dem Schwurgericht zu Regina schon am 20. Juli beginnen. Die Geschworenenbank bestand nur aus sechs Geschworenen. Diese Abweichung von der uralten englischen Regel (der Zwölferzahl) beruht aber für Manitoba auf besonderem unangreifbaren Gesetz. Die deßhalb von der Vertheidigung Riel’s und der nordamerikanischen und irischen Presse erhobenen zum Theil recht leidenschaftlichen Vorwürfe sind daher unbegründet. Eben so wenig sind die Angriffe gegen die Unparteilichkeit des Richters Richardson und der Geschworenen irgendwie begründet. Vertheidigt wurde Riel von vier der besten Anwälte des Landes, die bis 700 Miles weit nach Regina gereist waren. Ihr Honorar war durch öffentliche Sammlungen aufgebracht. Die Verhandlung dauerte elf Tage.

Und dennoch erklärten am 1. August die Geschworenen Riel einstimmig der ihm beigemessenen Strafthaten schuldig, empfahlen ihn jedoch der Gnade der Königin, und Richardson verurtheilte ihn demgemäß pflichtschuldig zum Tode durch den Strang, vorbehältlich der königlichen Gnade.

Die Verurtheilung konnte nur geschehen, wenn die Geschworenen zugleich annahmen, Riel sei geistig gesund.

Die Frage des geistigen Zustandes Riel’s ist die interessanteste des ganzen Processes und hat während desselben und später die eingehendste Erörterung gefunden. In einer Unzahl englischer und französischer Strafprocesse wird ja von Seiten der Vertheidigung der Einwand der Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten erhoben, so daß man häufig geneigt sein mag, diesen Einwand nicht ernst zu nehmen. Aber hier stand es anders. Die Vertheidigung hatte von Quebec den Dr. Roy kommen lassen, um zu beweisen, daß Riel von 1876 bis zum 21. Januar 1878 19 Monate lang im Irrenhause zu Beauport gewesen war, wegen Größenwahns. Acht Tage lang mußte deßhalb die Verhandlung ausgesetzt werden, bis der Irrenarzt eintraf. Dr. Roy bestätigte diese Thatsache vollkommen und versicherte, Riel sei noch jetzt unzurechnungsfähig, er habe zur Zeit seiner Empörung Gutes und Böses nicht unterscheiden können.

So günstig stand dieser wichtigste Theil der Beweisaufnahme für Riel’s Vertheidigung, als Dr. Roy durch den schneidigen Staatsanwalt Osler ins Kreuzverhör genommen wurde – und als dieses geendet war, hatte der Doktor wohl bei Allen im Saale, jedenfalls bei den Geschworenen, jeden Glauben verloren. Dieses Kreuzverhör war die glänzendste Leistung des ganzen Processes. Mit unbarmherziger, planvollster Folgerichtigkeit trieb der Kronanwalt den Arzt fortwährend aus einer seiner vermeintlich sicheren und gedeckten Stellungen in eine neue thatsächlich eben so unhaltbare. Zuerst mußte Dr. Roy zugestehen, daß jährlich 800 bis 900 Irre in Beauport behandelt würden, darunter „leider nur“ 25 bis 30 Größenwahnsinnige im Jahr. Dr. Roy mußte einräumen, daß ohne besondere Hilfsmittel des Gedächtnisses oder des Falles die Erinnerung an Name und Krankheitsart des einzelnen Patienten nach Jahren nicht möglich sei. Zudem hatte der angebliche Riel in Beauport gar nicht Riel, sondern Larochelle geheißen. Gleichwohl hatte Dr. Roy, der doch schon vor Beginn des Processes wußte, daß er vernommen werden sollte, nach Regina gar keine – der angeblich reichlich vorhandenen – urkundlichen Beweise mitgenommen, um sein Gedächtniß zu unterstützen und um die Identität der Person des Angeklagten mit Larochelle zu beweisen, außer einer Strazze. „Da sehen Sie, von welchem Werthe schriftliche Beweise wären!“ muß er sich von Osler vorhalten lassen. Der Vertheidiger Fitzpatrick springt dem Arzt bei mit der Aufforderung, nur Französisch, mit Hilfe eines Dolmetschers, zu antworten. „Wenn der Zeuge sich hinter das Französische verstecken will, so kann er es thun!“ ruft Osler scharf.

Das war aber nur der Anfang von Dr. Roy’s fluchtartigem Rückzug. Denn nun nagelte ihn Osler an der Begriffsbestimmung fest, die Dr. Roy von der Geisteskrankheit „Größenwahn“ im Allgemeinen geben mußte. Dr. Roy meinte: „Die specielle fixe Idee des Kranken, der Wahn seiner Größe, sein Weltverbesserungsplan etc. sei unerschütterlich, und so weit diese Manie in Frage komme, vermöge der Kranke auch Gutes und Böses nicht zu unterscheiden.“

Da thut Osler die glänzende Frage: „Ob ein der Vernunft beraubter Mann, dessen fixe Idee unerschütterlich ist, sich dazu verstehen könne, diese Idee gegen Zahlung von 35 000 Dollars fallen zu lassen?“

Schließlich entläßt der Kronanwalt den Zeugen mit den schneidenden Worten: „Wenn Sie weder Englisch noch Französisch antworten können, werde ich viel besser thun, Sie gehen zu lassen – Sie können sich zurückziehen.“

Wir haben bei dieser Scene länger verweilt, weil sie jedenfalls die Hauptfrage des ganzen Processes entschied, die Geschworenen von der Geistesgesundheit Riel’s überzeugte. Die Vernehmung der übrigen Aerzte vervollständigte nur diese Ueberzeugung. Sie hielten Riel für geistig klar und zurechnungsfähig. Ebenso urtheilten die Officiere, welche Riel nach seiner Gefangennahme bewacht und begleitet hatten, der Gefängnißarzt und Wärter. Auch die Rede, welche Riel zum Schlusse der Verhandlung hielt, ehe die Geschworenen ihren Wahrspruch abgaben, muß bei den Geschworenen die Ueberzeugung von seiner geistigen Gesundheit bestärkt haben – nämlich wegen der sichtlichen Tendenz des Redners, unzusammenhängend und verwirrt zu sprechen und seltsame Gebete und Offenbarungen plötzlich in nüchterne Betrachtungen einzuflechten – mit einem Worte für verrückt zu gelten. Diesen Eindruck hatte aber Riel’s ganzes Handeln auf die Geschworenen bisher durchaus nicht gemacht.

Wie richtig die Geschworenen hierbei urtheilten, zeigte sich erst später. Die stärksten Beweise für Riel’s geistige Gesundheit brachten Riel und seine Freunde erst bei, als das Schuldig gesprochen war: er selbst, indem er in einer Rede unmittelbar nach Verkündung des Wahrspruchs eben so vernünftig, planvoll, scharfsinnig sprach, als kurz zuvor verwirrt – diesmal zu dem Zwecke, um seine Begnadigung wirklich zu erlangen, welcher die Geschworenen ihn anempfohlen hatten; seine Freunde, indem sie ein Schreiben bekannt machten, das Riel am 6. Mai – also in der größten Erregung des Kampfes, unmittelbar vor der Entscheidung um Batoche – an die Zeitung „Irish World“ gerichtet hatte. Und dieses Schreiben aus den Tagen der größten Erregung war zwar furchtbar bitter gegen England und alles englische Wesen, aber durchaus planvoll, klar, ja man kann sagen: mit durchtrieben scharfsinniger Berechnung abgefaßt. Wenn damals Louis Riel geistig gesund war, so war er es immer!

Auch die weisen, gründlichen und vorurtheilslosen Richter der zweiten Instanz (des Appellhofes von Winnipeg) haben dieses Urtheil über Riel’s Geisteszustand in eigenen ausführlichen Gutachten bestätigt.

Endlich wird der letzte denkbare Zweifel beseitigt durch Riel’s Verhalten in den letzten Tagen vor seinem Ende. Sein Testament vom 6. November ist eben so klar und einsichtsvoll – bis auf die Erkenntniß eigener Schuld, zu welcher er sich nie verstand und nie gelangt ist – als sein letzter Brief an seine Mutter, den er Nachts um 2 Uhr am 16. November 1885, sechs Stunden vor seiner Hinrichtung niederschrieb. Auch bis zu seinem letzten Augenblick war er ruhig, klar und gefaßt, und er starb muthig, wenn er auch noch auf dem Schaffot die Worte stammelte: „J’espère encore!“ – „Ich hoffe noch immer!“

Tausende hatten bis zu seinem Ende mit ihm gehofft, daß die Regierung ihm Gnade schenken werde. An Bittschriften, an Agitationen, an leidenschaftlichen Angriffen der Presse ist zu diesem Zwecke Alles aufgeboten worden; aber die kanadische Regierung blieb fest, und der geheime Londoner Kabinetsrath widerrieth der Königin die Gnade. Daß Riel kein Nationalheld, keines jener reinen selbstlosen Opfer der Hingebung an hohe Ideen war, deren Stirne für ewige Zeiten der goldene Schein des Märtyrers oder Apostels umfließt, ist klar. Daß er, unter dessen Befehl Hunderte ihr Leben geendet hatten und eine Provinz in Asche und Verwüstung sank, Maß für Maß und Leben für Leben den Tod verdiente, ist zweifellos; daß sein Proceß gerecht geführt und entschieden wurde, gleichfalls. Aber dennoch hätte höchste Weisheit ihm vielleicht trotz alledem ein milderes Schicksal und Ende gewähren können, als das nach dem Gesetz verdiente – freilich nicht immer ist höchste Weisheit auch höchste Klugheit, nicht immer ist sie angebracht! Hans Blum.