Ein König im Reiche der Zahlen

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Autor: Carus Sterne
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Titel: Ein König im Reiche der Zahlen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 278-280
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Carl Friedrich Gauß
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Ein König im Reiche der Zahlen.
Zum hundertjährigen Geburtstage von Karl Friedrich Gauß.

In lichter Höhe am Ruhmeshimmel der deutschen Forscher und Denker, da wo die Namen Kopernikus und Kepler, Leibniz und Kant in Sternenschrift glänzen, steht neben dem seines Freundes Alexander von Humboldt auch der Name Karl Friedrich Gauß. Er glänzt darum nicht weniger hell, weil seine deutschen Landsleute, den Eigenthümer für einen Franzosen haltend, ihn zuweilen „Gooß“ aussprechen, oder weil die große Encyklopädie von Ersch und Gruber und, wenn ich nicht irre, auch die Regensburger „Walhalla“ seiner ganz vergessen haben. Es läßt sich ja fast durch Rechnung erweisen und ist völlig in den Zahlen begründet, daß der große Mann, der so viele unbekannte Größen in bekannte verwandelte, der großen Mehrzahl selber eine „unbekannte Größe“ bleiben mußte. Gerade der Fürst derjenigen Wissenschaft, die sich für die Fürstin aller Wissenschaften halten darf, also der primus omnium unter den Gelehrten, der im Rechnen selbst einem Archimedes und Newton „über“ war, muß dem Schicksale verfallen, incognito zur Unsterblichkeit zu reisen, wenn wir Andern uns nicht die Bewunderung der Wenigen, die seinem Geistesfluge und seinen Rechnungen folgen können, zum Beispiel nehmen.

Das unscheinbare Erkerhäuschen, in welchem Gauß am letzten April 1777 geboren wurde, ist noch heute, mit einer kleinen Gedenktafel geschmückt, auf dem Wendengraben in Braunschweig zu finden. Wie es in der Regel bei großen Männern der Fall zu sein pflegt, hat seine Mutter Dorothea, geborene Benze, in viel höherem Grade als der Vater, der den Titel eines Wasserkunstmeisters führte, den Schatz seiner Liebe gehütet und die Pflege seiner Anlagen geleitet, und sie hat das seltene Glück gehabt, später von der Göttinger Sternwarte aus den Ruhm ihres Lieblings – wie man hier ohne Uebertreibung sagen darf – bis zu den Sternen steigen zu sehen, ehe sie in ihrem siebenundneunzigsten Jahre (1839) die kurz vorher erblindeten Augen schloß.

Vielleicht war die Mutter dem Sohne auch geistig näher verwandt, als der Vater. Da der Zahlensinn zu denjenigen Geistesfähigkeiten zu gehören scheint, die am meisten eine angeborene Anlage voraussetzen, so ist es eine wohl aufzuwerfende Frage, von welcher Seite her Gauß dieses feine Geistesorgan, dessen wunderbar zarte Windungen später sogar die Anatomen bewundert haben, geerbt haben möge. Wir erfahren in dieser Beziehung, daß auch seiner Mutter Bruder, ein schlichter Webermeister, überaus scharfsinnig gewesen ist, sodaß sich der geistesrege Knabe früh an den „klugen Oheim“ schloß, den er noch in späten Jahren ein „geborenes Genie“ zu nennen pflegte. Aber diese Bezeichnung galt in noch viel höherm Grade von ihm selbst, wie er im Scherze mit den Worten zuzugeben pflegte, daß er früher rechnen als sprechen gelernt habe. Von einem angeborenen Zahlensinne gab er in der That bereits als ganz kleines Kind Beweise. Eines Sonnabends, als sein Vater den Maurergesellen ihren Wochenlohn mit Einschluß der nach Feierabend zur Arbeit verwandten Extrastunden laut vorgerechnet und eben an’s Auszahlen gehen will, ruft der noch nicht dreijährige Fritz mit seiner feinen Stimme aus dem ärmlichen Bettchen. „Vater, die Rechnung ist falsch; es macht so und so viel.“ Trotz der Winzigkeit des Einspruch-Erhebers wird die Rechnung wiederholt, und man findet mit allgemeinem Erstaunen, daß dem kleinen Rechenmeister ein Fehler aufgefallen war, den die Erwachsenen übersehen hatten.

Professor Sartorius von Waltershausen, der seinem Freundschaftsverhältniß zu Gauß in einer 1856 erschienenen Gedächtnißschrift ein schönes Denkmal gesetzt hat, berichtet aus des Gefeierten Munde noch ein andres Beispiel der aus einwohnender Anlage hervorgesproßten Zahlenmächtigkeit des Knaben. Kaum in die obere, sogenannte Rechenclasse der Katharinen-Volksschule seiner Vaterstadt vorgerückt, setzte er sich bei dem Rechenlehrer Büttner alsbald in Respect. Es war in der Rechenstunde üblich, daß der Schüler, welcher zuerst sein Exempel beendigt hatte, seine Schiefertafel auf einen großen Tisch legen mußte, auf diese der zweite die seinige und so fort. In einer der ersten Stunden gab der Lehrer die Summation einer arithmetischen Reihe als Aufgabe, aber kaum war dieselbe ausgesprochen, als Gauß, ohne von der nach damaliger Unterrichtsmethode unablässig nachhelfenden „Karbatsche“ des Lehrers geschreckt zu werden, seine Tafel mit den gleichsam verächtlichen Worten. „Ligget se!“ (da liegt sie!) auf den Tisch warf. Während die andern Schüler emsig weiter rechnen, multipliciren und addiren, geht der sich seiner Würde bewußte Lehrer auf und ab, von Zeit zu Zeit einen halb mitleidigen, halb sarkastischen Blick auf den kleinsten seiner Schüler werfend, der längst seine Aufgabe beendigt hatte. Dieser saß dagegen ruhig da, schon damals eben so sehr von dem festen unerschütterlichen Bewußtsein durchdrungen, welches ihn bis zum Ende seiner Tage bei jeder vollendeten Leistung erfüllte, daß seine Aufgabe richtig gelöst sei und daß das Endergebniß kein anderes sein könne. Schließlich wurden die Tafeln umgekehrt; diejenige von Gauß mit einer einzigen Zahl, und zwar der richtigen Endsumme, lag obenauf, während viele der übrigen unrichtig waren und mit der Karbatsche rectificirt werden mußten. Der Lehrer war einsichtsvoll genug, bald zu erklären, daß Gauß in seiner Schule nichts mehr lernen könne.

Inzwischen war demselben wesentliche Förderung zu Theil geworden durch die freudschaftliche Unterstützung eines in dieser Schule mit untergeordneten Pflichten betraueten jungen Hülfslehrers Namens Bartels, der sich für mathematische Studien interessirte, brauchbare Lehrbücher anschaffte und, seinerseits angeregt durch den Eifer des damals zehnjährigen Knaben, gemeinschaftlich mit demselben den Weg zur höheren Mathematik fand, der ihn selbst später auf einen Lehrstuhl der Universität Dorpat geführt hat, so daß sich die dem jüngeren Genossen erwiesene Unterstützung unmittelbar belohnte. Bartels, dem Gauß stets eine dankbare Freundschaft bewahrte, hat sich auch das weitere Verdienst erworben, mehrere hochgestellte Personen in Braunschweig, wie dem geheimen Etatsrath von Zimmermann und den Geheimrath von Feronce auf die ungewöhnlichen Gaben seines jungen Freundes aufmerksam gemacht zu haben, mit deren Unterstützung dann nicht nur für weitere Fortbildung gesorgt, sondern auch der Widerwille des Vaters gegen eine gelehrte Laufbahn überwunden wurde. Als elfjähriger Knabe kam Gauß (1788) auf das Katharinen-Gymnasium, bemächtigte sich hier mit so unglaublicher Schnelligkeit der alten Sprachen, daß er die Bewunderung aller Lehrer und Schüler erregte und nach zwei Jahren die Prima erreichte. Um diese Zeit wurde durch die obenerwähnten Gönner die Aufmerksamkeit des Herzog Karl Wilhelm Ferdinand auf den vielversprechenden jungen Mann gelenkt. Er wurde 1791 bei Hofe vorgestellt und gewann sofort die Gunst des edlen Fürsten, die ihm derselbe bis zu seinem unglücklichen Ende bewahrt hat. Wir sehen, wie uneigennützige Freundschaft und Theilnahme dem [279] jungen Manne auf allen seinen Wegen entgegenkam, und diese göttliche Gabe, nicht nur den Verstand, sondern auch die Herzen der Menschen für sich zu gewinnen, ist ihm allezeit treu geblieben; sie erläutert deutlicher, als es viele Worte zu thun vermöchten, die anspruchslose Liebenswürdigkeit seines Wesens.

Daß Gauß nicht in die Classe der durch Eitelkeit und künstliche Dressur erzogenen „Wunderkinder“ gehöre, die nur zu bald in den Reihen der Alltäglichkeit zu verschwinden pflegen, bewies er bereits während seiner Göttinger Universitätszeit, indem er, damals noch nicht einmal entschieden, ob er nicht vielmehr die alten Sprachen zu seinem Fachstudium wählen sollte, als achtzehnjähriger Student (1795) seine Methode der kleinsten Quadrate und andere Rechnungsfortschritte entdeckte, von denen eine neue Epoche der Zahlentheorie datirt. Ein zwanzigjähriger Jüngling, schrieb er die grundlegenden, seinem Herzoge gewidmeten arithmetischen Untersuchungen (Disquisitiones arithmeticae), deren Drucklegung sich bis 1801 verzögerte, die aber dann auch sofort die Blicke der gesammten rechnenden Welt auf den Autor zogen und ihm die Ernennung zum Mitgliede der Petersburger Akademie als Vorläuferin unzähliger ähnlicher Ehrenbezeigungen eintrugen. Ein damals am Himmel neuentdecktes Gestirn trug übrigens nicht wenig dazu bei, das auf Erden aufgegangene der Welt bekannt zu machen.

Das neunzehnte Jahrhundert war gar würdig eröffnet worden; der italienische Astronom P. Piazzi hatte an seinem ersten Tage in Palermo einen kleinen Stern mit lebhafter Eigenbewegung entdeckt, den er für einen Planeten halten mußte und Ceres Ferdinandea nannte. Diese Entdeckung des ersten der jetzt zu einem großen Schwarm angewachsenen kleinen Planeten oder Planetoiden machte darum ein verdientes Aufsehen, weil den Astronomen die große Kluft zwischen Mars und Jupiter in unserm Planetensysteme immer ein Räthsel gewesen war, sodaß schon Kepler mit Bestimmtheit vorhergesagt hatte, es gehöre ein noch unbekannter Planet dazwischen. Die Astronomen Titius und Bode hatten diese auszufüllende Lücke sogar durch ein besonderes Gesetz der Planeten-Anordnung nachweisen zu können geglaubt.

Aber o Jammer! Piazzi hatte die langersehnte und endlich gefundene Lückenbüßerin Ceres nach wenigen Ortsbestimmungen wieder aus den Augen verloren, und alle Astronomen Europas bemühten sich fast ein ganzes Jahr lang vergeblich, der Verlorenen wieder auf die Spur zu kommen. Die Gegner der „Naturordnung“ jubelten, und Hegel, der Philosoph, eröffnete seine Ruhmeslaufbahn mit einer lateinischen Abhandlung, in welcher er unzweifelhaft bewies, daß der Raum zwischen Mars und Jupiter „aus philosophischen Gründen“ nothwendig leer sein müsse. Die Spannung der gelehrten und ungelehrten Welt war somit mächtig erregt. Bei der Dürftigkeit der von Piazzi gemachten Bestimmungen konnte nur ein großer Rechner die Astronomen aus der Klemme ziehen, und diesen Retter fanden sie in Gauß. Obwohl derselbe nicht das Mindeste auf jenes „schöne Gesetz“ hielt, vielmehr auf den ersten Blick erkannte, daß ja gleich das erste Glied der Reihe falsch sei und nicht 4 + 0, sondern 4 - 1½ = 5½ (Entfernung des Mercur) hätte heißen müssen, berechnete er die Bahn der Verlorenen, und trotz der Dürftigkeit der Beobachtungen mit einer solchen Genauigkeit, daß Olbers am Jahrestage der Entdeckung die Ceres genau an dem von Gauß berechneten Orte auffand, ihr übrigens wenige Monate darauf eine Gesellschafterin (Pallas) in dem „philosophisch leeren Raum“ Hegel’s ausfindig machte.

Damals neigten sich alle Astronomen der Welt vor dem vorher kaum bekannten Namen Gauß, und es leiteten sich unmittelbar darauf die auf tiefer Achtung gegründeten Freundschaftsbündnisse ein, die ihn mit Laplace, Zach, Olbers, Bessel und allen berühmten Astronomen der Zeit verbanden. Aber gleichzeitig begannen mit den großen Erfolgen des Fünfundzwanzigjährigen auch die Bemühungen der Petersburger Akademie, ihn seinem Vaterlande zu entführen. Die entgegengesetzten Bemühungen von Olbers und die Dankbarkeit, die er seinem Fürsten schuldete, hielten ihn ab, diesen glänzenden Anerbietungen zu folgen. Erst nachdem das unglückliche Geschick Deutschlands jene Bande tiefempfundener gegenseitiger Achtung und Verehrung zerrissen hatte, Herzog Ferdinand bei Jena die Todeswunde empfangen und auf der Flucht gestorben war, folgte Gauß einem inzwischen an ihn ergangenen Rufe als Director der neuzuerbauenden Sternwarte nach Göttingen.

Es waren traurige Verhältnisse, unter denen er sein Amt antrat. Dem Verluste des Herzogs, der ihm bisher über alle kleinlichen Sorgen des Lebens hinweggeholfen hatte, folgte der seines Vaters, und zwei Jahre später der einer heißgeliebten Gattin, mit welcher er sich 1805 vermählt hatte. Dazu allerlei äußeres Mißgeschick! Noch hatte er keinen Pfennig Gehalt aus seiner neuen Stellung bezogen, als Napoleon die Stadt der Wissenschaft mit einer ungeheuren Kriegscontribution belegte, für welche auf den Neuangekommenen gleichsam zur Begrüßung ein Beitrag von zweitausend Franken entfiel. Die Freunde, welche wußten, daß Gauß unbemittelt war, baten, für ihn zahlen zu dürfen; Olbers sandte die Summe aus Bremen; Laplace zeigte ihm an, daß er dieselbe in Paris bereits für ihn eingezahlt habe, Gauß aber wies alle diese Anerbietungen zurück; er wollte seinen Antheil an Deutschlands Unglück selbst tragen, erhielt übrigens bald darauf den Betrag anonym aus Frankfurt am Main zugesendet, ein Geschenk des Fürsten Primas, wie er später erfuhr.

Gauß suchte sich über das persönliche und allgemeine Unglück durch Arbeit hinwegzuhelfen, und schrieb in den ersten Jahren seines Göttinger Aufenthaltes sein für die rechnende Astronomie bahnbrechendes Werk über die Theorie der in sogenannten Kegelschnitten (d. h. kreisförmigen, elliptischen, parabolischen und hyperbolischen Bahnen) um die Sonne kreisenden Weltkörper, nach der sich dieselben, wie er bei der Ceres gezeigt, ungleich einfacher berechnen ließen, als bisher. In besonderem Maße galt dies für die Berechnung der Kometenbahnen, die früher sehr viel Sorge machte, und dem Beispiele des poetisch gearteten Kepler folgend, welcher seinen großen Vorgänger Tycho de Brahe wie einen Feldherrn geschildert hatte, der den Kriegsplaneten Mars erst nach langen Belagerungen und Nachtwachen gefangen genommen habe, durfte Gauß in seiner Vorrede von den Kometen sagen, daß sie sich, obwohl mehrmals bereits für besiegt gehalten, immer wieder als Rebellen erwiesen hätten, bis ihnen nunmehr feste Zügel angelegt worden seien, sodaß auch sie fromm der Rechnung folgen würden. Um die Vortheile seiner Methode an einem augenfälligen Beispiele zu zeigen, pflegte er zu erzählen, wie der berühmte deutsche Mathematiker Euler blind geworden sei in Folge der drei volle Tage angestrengtester Arbeit erfordernden Berechnung einer Kometenbahn nach einer von demselben bereits sehr vereinfachten Methode, während Gauß die nämliche Aufgabe nach seiner Theorie, indem er die Uhr vor sich auf den Tisch legte, in einer einzigen Stunde löste.

Nach einer großen Reihe mathematischer und astronomischer Untersuchungen, die mehr in das Gebiet der reinen Wissenschaft fielen, bot sich dem großen Rechner in den zwanziger Jahren Gelegenheit, sein Genie auf einem mehr praktischen und recht eigentlich irdischen Gebiete zu erproben, nämlich bei der großen vom Grafen von Münster in’s Werk gesetzten hannoverschen Gradmessung. Hierbei kommt es besonders darauf an, sehr weit von einander gelegene Punkte genau zu beobachten, um die Meßinstrumente haarscharf darauf einzustellen. Während man diese Arbeiten früher des Nachts unter Anwendung heller Lampen als Richtpunkte vornehmen mußte und dieselben trotzdem nur in geringen Entfernungen sehen konnte, erdachte Gauß ein höchst einfaches Instrument, das Heliotrop, um am Tage von einem hohen Fernsichtspunkte aus vermittelst zweier, mit einem Fernrohr verbundenen Spiegelchen einen Sonnenstrahl nach der entferntesten noch am Horizonte sichtbaren Bergkuppe hinzusenden, von wo aus derselbe wie ein strahlender Stern erblickt wird. Noch heute geht den Geometern, die sofort alle älteren Instrumente in die Rumpelkammer warfen, bei dem Aufblitzen dieses Sternes jedesmal wieder das Herz auf, sobald sie sich den großen mit diesem einfachen Werkzeuge erzielten Fortschritt der Erdmeßkunst vergegenwärtigen. Es wurde beispielsweise mit demselben das ungeheure Dreieck zwischen Brocken, Inselsberg und dem Hohenhagen (unweit Göttingen) so genau gemessen, daß die Winkelsumme nur um zweizehntel Secunde von den vorschriftsmäßigen zwei Rechten abwich.

Nachdem Gauß so nach einander auf den Gebieten der Mathematik, Astronomie und Feldmeßkunst bahnbrechend gewirkt hatte, sollte er ähnliche Dienste auch der Physik erzeigen. Wir müssen jedoch hier ein wenig zurückgreifen. Seit zwanzig Jahren hatten [280] die beiden Humboldts, erst Wilhelm, dann Alexander, daran gearbeitet, Gauß für Berlin zu gewinnen. Allein dieser hatte seit seiner Wiederverheirathung (1810) eine so beglückende Häuslichkeit, durch die erwähnten Arbeiten einen so erfolgreichen Wirkungskreis in Göttingen gefunden, daß er sich nicht entschließen konnte, dem ehrenvollen und vortheilhaften Rufe zu folgen. Aber der angeregte nähere Verkehr mit Alexander von Humboldt trug in anderer Richtung Früchte. Gemeinschaftlich schufen sie eine neue, wie aus der Erde hervorgestampfte Wissenschaft, die Wissenschaft von den Gesetzen des Erdmagnetismus. Gelegentlich eines Besuches bei Humboldt im Herbste 1828 hatte Gauß Wilhelm Weber kennen gelernt, in demselben eine ihm nahe verwandte Natur erkannt und dessen Berufung nach Göttingen (1831) durchgesetzt, um mit demselben eine gemeinsame Thätigkeit zu beginnen, die nur der Tod lösen konnte.

Im Jahre 1833 wurde im Vereine mit Humboldt der „Magnetische Verein“ begründet, die erste Organisation einer gemeinschaftlichen Arbeit zahlreicher, über die Länder zerstreuter Forscher an derselben Aufgabe, aus der später die meteorologischen Institute hervorgegangen sind. Wie Gauß den Geometern das Heliotrop gegeben, so bot er den Physikern jetzt ein bewunderungswürdiges Meßinstrument dar, das später von ihm selbst und von Weber noch verbesserte Magnetometer, ein Instrument, welches die kleinsten Schwankungen im Erdmagnetismus, bei elektrischen Strömungen etc. sicht- und meßbar macht und den Physikern so wichtig geworden ist, wie die Elle dem Kaufmann. Es wird in der Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen unvergessen bleiben, daß von dem magnetischen Häuschen bei Göttingen Gauß und Weber 1833 die Drähte des ersten wirklich benutzten elektromagnetischen Telegraphen zogen, zuerst bis zur Sternwarte, später bis zum physikalischen Cabinet, auf eine Strecke von nahezu Meilenlänge, um einander ihre Beobachtungen blitzschnell mittheilen zu können. So diente der erste elektrische Telegraph, der diesen Namen verdiente – denn Anläufe dazu waren schon hundert Jahre früher genommen worden – rein wissenschaftlichen Zwecken, und führt es denen, die das vergessen könnten, zu Gemüthe, wie die Wissenschaft gewohnt ist, die oft sehr kärglichen Mittel, die man ihr gewährt, mit ungeheuren Zinsen zurückzuzahlen. Nicht ohne Interesse mag es dabei sein, zu erwähnen, daß der transatlantische Telegraph nach langen anderweitigen Versuchen beinahe genau zu der Form der Zeichengebung zurückgekehrt ist, welche Gauß und Weber dem ersten Telegraphen gegeben hatten.

Gauß und Weber blieben die Dioskuren der mathematischen Physik, in enger Arbeit verbunden, auch nachdem der Letztere in Folge der bekannten Erklärung gegen den hannöverschen Verfassungsbruch (1837) seines Lehramtes entsetzt worden und später (1843) für einige Zeit nach Leipzig gegangen, um 1849 an die Stätte der gemeinsamen Wirksamkeit zurückzukehren. Gauß hatte keine unmittelbare Veranlassung, sich an jenem Proteste zu betheiligen, da er, in den Zeiten der Fremdherrschaft angestellt, niemals auf irgend eine Verfassung vereidigt worden war, was ihn übrigens bekanntlich nicht abgehalten hat, dem Vaterlande ebenso treu zu dienen. Das echt deutsche Verhältniß der beiden Forscher konnte, wie gesagt, nur der Tod lösen, ihre Namen aber bleiben über denselben hinaus so unlöslich verschlungen, wie diejenigen von Luther und Melanchthon, Goethe und Schiller.

Gauß starb am 23. Februar 1855; Wilhelm Weber, der Letzte der Göttinger Sieben, entzückt die Gemeinde der Denker und Forscher durch immer neue Einblicke in das Innerste der Natur, und hat im vergangenen Jahre mit vollkommenster Geistesfrische sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum feiern können. Freundschaft erwerben und Freundschaft erhalten, war, wie wir schon eingangs hervorhoben, eine hervorragende Gabe von Gauß, und diese Tugend, die ja alle übrigen im Keime gleichsam einschließt, muß an ihm besonders hervorgehoben werden, als Erinnerung, daß bei dem großen Rechner doch nicht Alles Berechnung war, und daß neben dem durchdringenden Verstande das Gemüth keineswegs zu kurz gekommen war. Mit Liebe umfaßte er die ganze Menschheit und wandte seine wahrhaftig nicht unfruchtbare oder trockene Zahlenwissenschaft mit eindringlicher Hingebung auch den rein menschlichen Verhältnissen, der Nationalökonomie, dem Versicherungswesen, der Mortalitätsstatistik und den Staatsfinanzen zu. Sein Entwurf für die Göttinger Universitäts-Wittwencasse wird als das Muster derjenigen aller ähnlichen humanitären Institute gerühmt.

Gauß war, wenn auch wahrscheinlich nicht streng kirchengläubig, so doch tief religiös, streng gegen sich selbst und milde gegen Andere, aller Eitelkeit fremd und in seinen Bedürfnissen bis zur Uebertreibung schlicht und einfach. „Ein kleines Studirzimmer, ein mit weißer Oelfarbe gestrichenes Stehpult, ein schmales Sopha und ein Lehnstuhl nach seinem siebenzigsten Jahre, ein einziges, trübe brennendes Licht, eine unheizbare Schlafkammer, einfache Lebensmittel, ein Schlafrock und ein Sammetkäppchen,“ das waren, wie Sartorius von Waltershausen erzählt, selbst in der Zeit seines ruhmvollen Alters alle seine Bedürfnisse. Er war immer der bescheidene Bürgerssohn vom Wendengraben in Braunschweig geblieben.

Dort hat sich nunmehr unter dem Präsidium des Geheimerath Dr. Trieps und dem Vorsitze des Oberbürgermeisters Dr. Caspari ein Comité gebildet, um dem großen Forscher in seiner Geburtsstadt ein Standbild zu errichten, dessen Grundstein an seinem hundertjährigen Geburtstage, dem 30. April, gelegt werden soll und für welches die Beisteuer aller seiner Verehrer in Anspruch genommen wird.[1] Wenn es auch einleuchtend ist, daß er sich in seinen Arbeiten ein schöneres Denkmal gestiftet hat, als ihm die Nachwelt je errichten kann, so wird doch selten die Pflicht eines äußerlichen Gedenkzeichens, die wir ja immer nur uns zur Ehre erfüllen, mahnender vor Augen treten, als gerade Gauß gegenüber, dessen unsterbliche Verdienste der Mehrzahl nicht unmittelbar bekannt und erkennbar sind. Man könnte glauben, daß die Deutschen ihre größten Geister nicht zu schätzen wissen, wenn sie auf diesen Geistesheros nicht so stolz blicken wollten, wie sie es mit gutem Gewissen dürfen.

Carus Sterne.

  1. Beiträge für das Standbild werden von der Braunschweiger Bank entgegengenommen.