Ein Kaiser-Gefängniß
Ich kam von Frankreich; Metz und Straßburg lagen als letzte Stationen hinter mir. Nach sechs Wochen Fremde hat man es meist eilig, wieder daheim zu sein! Es erging mir auch in der That nicht anders wie Andern; aber, eilig oder nicht, ich wollte die Strecke zwischen Rhein und Spree nicht durchfliegen, ohne an der Fulda flüchtig Rast genommen und Wilhelmshöhe besucht zu haben. Natürlich nur um seines letzten Gastes, um Louis Napoleon’s willen. Ueberall, wohin ich gekommen war, war ich der Erinnerung an irgend eine Phase seines romanhaften, aventurenreichen Lebens begegnet; in Ham, in Straßburg, in St. Denis und Dieppe, vor Allem in Sedan hatten seine Thaten zu mir gesprochen; ich wollte nun auch die Stätte sehen, die das Facit war, das schließlich Gott und Geschichte aus dieser complicirten Lebensrechnung, aus diesem Chaos von Addition und Subtraction, gezogen hatten. Viele begnügen sich mit dem einfachen Regula de Tri-Ansatz: ein Teufel macht eine Hölle, wie viel Höllen macht Napoleon der Dritte? Aber dieser Regula de Tri-Ansatz ist mir doch zu einfach.
An einem schönen Maimorgen – das Pfingstfest dämmerte schon – fuhr ich denn also in Kassel ein, um daselbst einen Tages-Aufenthalt zu nehmen. Ich that es, wie schon Eingangs hervorgehoben, um „Wilhelmshöhe“ willen; aber wenn neun Zehntel meines Interesses somit auf dieses letztere fielen, so entfiel das letzte Zehntel doch gut und gern auf Kassel selbst, das ich noch nicht kannte. Es giebt Städte, die einem nun einmal, bis zu [719] äußersten Terminen hin, verschlossen bleiben, und zu diesen Städten (neben Braunschweig und Hannover) hatte durch zwanzig Jahre hin, wo ich fast jahraus jahrein an ihnen vorüberflog, auch Kassel gehört. Ich war also, indem ich Wilhelmshöhe besuchte, zugleich in der angenehmen Lage, eine alte Schuld gegen die weiland kurhessische Hauptstadt abtragen zu können.
Im Großen und Ganzen – alle Kasselaner mögen es mir verzeihen – hat mich ihre vielgerühmte Haupt- und Residenzstadt enttäuscht, was eine Bewunderung im Einzelnen, wie dieses kurze Capitel zur Genüge erweisen wird, nicht im Geringsten ausschließt. Ich werde meine Gegner, die mich nach diesem Ausspruch zunächst im Verdacht des Borussismus und der Berlinerei haben werden, am besten dadurch entwaffnen, daß ich ihnen erkläre: Kassel gehört unter die Potsdame der Weltgeschichte. Das Wesen dieser Potsdame – wobei ich Potsdam als alten überkommenen Begriff, nicht als etwas tatsächlich noch Vorhandenes fasse – das Wesen dieser Potsdame, sage ich, besteht in einer unheilvollen Verquickung oder auch Nichtverquickung von Absolutismus, Militarismus und Spießbürgerthum. Ein Zug von Unfreiheit, von Gemachtem und Geschraubtem, namentlich auch von künstlich Hinaufgeschraubtem, geht durch das Ganze und bedrückt jede Seele, die mehr das Bedürfniß hat, frei aufzuathmen, als Front zu machen. Front zu machen. Ja, dies ist das Eigentlichste! Ein gewisses Drängen herrscht in diesen der Zeit Louis des Vierzehnten entsprungenen oder nach ihr gemodelten Städten vor, in die erste Reihe zu kommen, gesehen, vielleicht gegrüßt zu werden, Hoch und Niedrig nehmen gleichmäßig daran Theil und bringen sich dadurch, während der Hochmuth wächst, mit um das Beste, was der Mensch hat: das Gefühl seiner selbst. Es kann keinen wärmeren Lobsprecher des richtig aufgefaßten „Ich dien’“ geben, als mich; es ist ein Charaktervorzug, gehorchen zu können, und ein Herzensvorzug, loyal zu sein, aber man muß zu dienen und zu gehorchen wissen in Freiheit. Man hat von den Berlinern gesagt, sie hätten alle „einen kleinen Alten Fritz im Leibe“ – beiläufig das Schmeichelhafteste, was je über sie gesagt worden ist –; so kann man von vielen Klein-Residenzlern sagen: sie tragen den Hofmarschall v. Kalb irgendwie oder irgendwo mit sich herum.
So viel über die Menschen. Aber es bleibt nicht bei diesen. Wie immer, so modelt sich auch hier die Schale nach dem Kern, der Geist schafft sich den entsprechenden Leib; die Wohnung, die Architektur der Stadt empfängt ihren Stempel nach dem, was darin zu Hause ist. Alles freie, individuelle Schaffen und Gestalten hört auf; die fürstliche Laune, der sich der Hofbaumeister bequemt, läßt überall Straßen für pensionirte Kammerdiener, im günstigsten Falle Schnörkelvillen für alte (oder auch für junge) Hofdamen entstehen, und so erwächst denn jenes steife, parademäßige, mitunter hypersplendide, meist aber kärglich abgeknapste Bauwesen, das langweilt, halb trübselig, halb komisch stimmt und die recht eigentliche Kehrseite bildet von den Giebelhäusern, den „Rolands“, den Gürzenichs, den Werften und Schiffen der freien Städte.
Es ist kein Zweifel, daß sich Kassel mehr und mehr in die Danzige und Lübecks hinein- und aus den Potsdams herauswachsen wird. Die Anfänge dazu sind unverkennbar gemacht. Je mehr dies geschieht, desto schöner wird die Stadt werden, für welche die Natur so viel gethan.
Wie viel sie gethan, dessen wird man am besten ansichtig vom Au-Thor und der Bellevuestraße aus, von deren terrassenförmiger Höhe man eine prächtig-schön zu Füßen gelegene Wiesen-Insel überblickt. An dieser Stelle concentrirt sich die Schönheit der Stadt. Den Blick drüben auf die abschließenden Berge richtend, hat man den Au-Park tief unten vor sich, den Friedrichs-Platz in gleicher Höhe mit dem Stadt-Plateau hinter sich. Park wie Platz haben einen Ueberfluß von Palästen, die herzuzählen bei ihrem auch architektonischen Reponirtsein nicht mehr verlohnen würde. Was hat die Welt davon, die Façade der Fürstin von Hanau, will sagen ihres Palastes noch fernerhin beschrieben zu sehen?
Habeat sibi!
Aber in eines dieser Schlösser, unten im Au-Park, in ein halb verschlossenes, überall angebröckeltes Rococo-Pavillon-Schloß, in dieses führ’ ich die Leser dennoch, unbekümmert darum, ob sie es kennen oder nicht, – in das vielberühmte Marmorbad, jene Schöpfung Peter Monnot’s (geboren 1658 zu Besançon, gestorben 1733 zu Rom), die architektonisch eine Null ist, aber ihrem Sculpturen-Inhalt nach zu dem Entzückendsten zählt, das man sehen kann. Von Allem, dem ich in Nord-Europa begegnet bin, geht nur das Kopenhagener „Thorwaldsen-Museum“ durch Fülle, Adel und Reinheit der Erscheinung darüber hinaus. An Grazie, Heiterkeit und technischer Vollendung muß es sich damit begnügen, diesem Marmorbade ebenbürtig zu sein. Je mehr ich davon ausgehen darf, daß ich über allgemein Bekanntes spreche, daß Bacchus und Bacchantin, Apoll und Minerva – der großen Reliefs zu geschweigen, die ganz nach Art historischer Bilder wirken – längst zu den Sinnen der Mehrzahl meiner Leser gesprochen haben, desto mehr kann ich mich darauf beschränken, hier ein Urtheil oder, wenn dies zu viel gesagt ist, ein Sentiment abzugeben.
Diese Dinge sind und bleiben allerersten Ranges. Es hilft nichts, von philiströs vorgefaßten Standpunkten, will sagen, von der eitlen Annahme aus, daß der jeweilig herrschende Geschmack der einzig richtige, der aufgeklärte, der keusche, der geläuterte sei, ich sage, es hilft nichts, von solchen vorgefaßten Standpunkten aus diese Dinge blos bedingungsweis, blos mit Vorbehalt oder wohl gar mit einem herablassenden „i, nun ja“ anerkennen zu wollen. Sie sind, wie sie da sind, ersten Ranges, und keine Cliquerei und Schulfuchserei wird sie um ihren vollen und ganzen Ruhm bringen können. Die Welt hat auch nach dieser Seite hin die Phrasen satt und läßt sich mit „Reinheit des Stils“, worunter zuletzt der Eine dies, der Andere das versteht, nicht länger gängeln. Je selbstständiger das künstlerische Empfinden wird, je mehr der Einzelne den Muth ausbildet, individuelle Ansprüche zu erheben und, unbekümmert um das Fühlen eines Zweiten oder Dritten, sein Fühlen, seine Hinneigungen, ja selbst seine Launen (denn auch die wurzeln in seinem Innersten) zu befragen, je mehr wir die infallible Dogmenwirthschaft auch in der Kunst los werden, desto höher werden diese Monnot’schen Arbeiten wieder steigen, denn es giebt berechtigte Tausende, die gerade dies sehen wollen und denen man seither mit der spießbürgerlichen Versicherung, „es sei nicht keusch genug“ oder „es widerspreche dem Marmor“, einfach einen Theil ihrer Freude verdorben hat.
Der Nachmittag blieb mir für Wilhelmshöhe. Ich benutzte die Eisenbahn, die hier eine Station hat, und stand bald nach drei Uhr in jener Avenue, die zu dem berühmten Kurfürstenschlosse hinaufführt. War je ein Ruhm verdient, so ist es dieser; es ist Alles ersten Ranges. Man versteht hier völlig den scherzhaften Ausspruch eines hohen Herrn, der, hier auf der Terrasse stehend, in gewohnter guter Laune seinem kurfürstlichen Vetter proponirte: „Gieb mir Wilhelmshöhe und ich baue Dir ein Serail am goldenen Horn.“ Er lehnte ab. Weder der, der diese Worte sprach, noch der, an den sie gerichtet waren, hatte eine Ahnung davon, daß ein Wechsel der Herrschaft und zwar ohne Aequivalent, so nah in der Zeiten Schooße lag.
Dieser Wechsel der Herrschaft hat sich vollzogen, aber – eine einzige kleine Stelle abgerechnet – ist nichts da, woran sich dieser Wechsel erkennen ließe. Diese einzige kleine Stelle ist das Portierhaus unter am Park. Hier, von der Mehrzahl kommenden und gehenden Besuches sicherlich übersehen, befindet sich, hart an der Ecke des Hauses, zwei Hand breit unter dem Dache, jene bekannte weiße Tafel, auf der es heißt: „Schloß Wilhelmshöhe, Landkreis Kassel, Regierungsbezirk Kassel, 1. Bataillon 1. hessischen Landwehr-Regiments Nr. 81“. Ach, wo diese Tafeln stehen, da ist Kattenthum und Welfenthum von den Tafeln der Geschichte gewischt, und wer in der Geschichte mehr sieht als einen Witz des Zufalls, dem steht es fest: sie sind getilgt auf Nimmerwiederkehr.
Ich stieg nun links die Biegung des Weges hinan, meldete mich in einem Parterrezimmer des Schlosses beim Castellan und sah alsbald eine hübsche junge Dame, groß, mit tiefdunklen Augen, erscheinen, die mir ihre Bereitwilligkeit erklärte, mich durch die „Napoleon-Zimmer“ des Schlosses zu führen. Ich bemerke dabei gleich hier, daß die vertrauensvolle Unbefangenheit, mit der die junge Dame mir ihre Führerdienste zur Verfügung stellte, noch dazu in Räumen, die doch weder durch die alten Kurfürsten, noch durch Jerome, noch durch Napoleon den Dritten zu einem Vestatempel gestempelt sein konnten, im ersten Moment etwas geradezu Beschämendes für mich hatte, bis ich später durch ein dann und [720] wann sich wiederholendes Klappern von Eimern und Stehleitern, das von den Corridoren bis in die Zimmer hereindrang, zu meiner Beruhigung die Wahrnehmung machte, daß das Gefühl unbedingter Sicherheit weniger aus meiner Erscheinung als aus dem Vorhandensein einer unsichtbaren, aber gewiß sehr energischen Hülfs-Truppe hergeleitet war.
Die Napoleon-Zimmer, so lange wir darunter lediglich die von dem Kaiser selbst bewohnten Räume verstehen, befanden sich im ersten Stock. Wir schritten diesem zu.
Der erste Stock besteht aus neun Frontzimmern und zwar aus einem Tanzsaal in der Mitte, an den sich nach jeder Seite hin vier Zimmer anlehnen. Der Tanzsaal war während des Napoleonsemesters vom September bis März begreiflicherweise etwas sehr Nebensächliches; es fehlte nicht blos an Stimmung zum Tanzen, sondern auch an Damen; außer der Prinzessin Murat und der Herzogin von Hamilton (die mir genannt wurden, ich lasse dahin gestellt sein, ob mit Recht) war der Hof des kaiserlichen Gefangenen damenlos. Es verblieben also dem Gefangenen in der von ihm eingenommenen Etage acht Zimmer, die er auch sämmtlich bewohnte, aber in zwei Abschnitten. Vom September bis December diente ihm die Links-Hälfte zum Aufenthalt; als aber der ungewöhnlich strenge Winter ein Erheizen dieser Links-Hälfte immer schwieriger machte, gab er sie auf und zog in die etwas wärmer gelegene Rechts-Hälfte hinüber. Eine Beschreibung dieser beiden Hälften wird glücklicherweise dadurch wieder vereinfacht, daß die Einrichtung beider so ziemlich dieselbe ist. Auf die Farbenabstufung der Zimmer in Tapeten und Möbeln verlohnt es sich nicht, hier näher einzugehen; alle Schlösser weisen Aehnliches auf.
Die Links- wie die Rechts-Hälfte bestand aus je einem Empfangs-, Wohn-, Schreib- und Schlafzimmer.
Nehmen wir die Links-Hälfte zuerst. Ihr Ruhm, weil sie später durch die Rechts-Hälfte, die dann bis zuletzt aushielt, abgelöst wurde, ist schon wieder verblaßt. Es ist nichts Gegenständliches da, das die Erinnerung festhielte. Selbst das mit Geschmack eingerichtete Schlafzimmer empfängt das beste Theil seines Interesses daraus, daß ein unmittelbar daran stoßendes, schon im Flügel des Schloßgebäudes gelegenes Hintercabinet der Kaiserin Eugenie bei ihrem nur eine Nacht andauernden Besuch in Wilhelmshöhe als Schlaf- und Toilettenzimmer diente. Sie schlief unter einer mit den hessischen Löwen gestickten Atlasdecke; was aber die schöne, unglückliche Frau (Einige, zu deren Gesinnungskraft ich mich nicht aufraffen kann, nennen sie nur das „spanische Weib“) noch viel verwundersamer als jene hessischen Löwen berühren mußte, das waren die Portraits Ludwig’s des Fünfzehnten und seiner Gemahlin zu Häupten und zu Füßen ihres Bettes. Louis der Fünfzehnte trug den Krönungsmantel mit den Lilien. Der Lilienmantel fiel, wie nun der Mantel mit den goldenen Bienen gefallen war.
Etwa Anfang oder Mitte December, wie schon erwähnt, zog Louis Napoleon in die Rechts-Hälfte hinüber. Er fand hier nicht nur mehr Wärme, er fand auch eine gesteigerte Eleganz. Die Wände, zum Theil wenigstens, sind Atlaswände. Im Wohnzimmer zeigt noch die Kamineinrichtung (in der ganzen Vollständigkeit englischen Comforts), daß hier vor Kurzem gewohnt wurde. Vom Wohnzimmer aus treten wir in das Arbeitszimmer ein. Seidengestickte Fauteuils stehen umher, am Schreibtisch ein Stuhl von purpurfarbenem Plüsch. Alles reich, elegant. Das unsere Aufmerksamkeit am meisten in Anspruch nehmende Möbel ist der Schreib- und Arbeitstisch des Kaisers. Er macht den Eindruck einer bequemen Fülle, zugleich einer gewissen Gemüthlichkeit, da Alles, was da ist, weder nach Zahl noch Werth der Gegenstände irgendwelche Uebertreibung übt. Leuchter und Schalen, Vasen und Flacons, Tintenfässer und Tintenwischer (diese in komischen Figuren) stehen umher; ein eingebrannter Fleck zeigt die Stelle, wohin er gewohnt war die brennende Cigarre zu legen; das Reizendste aber sind die Briefbeschwerer, insonderheit ein Amor, der den Bogen auf dem Rücken trägt und, beide Arme unterschlagend, jedem Herantretenden zu sagen scheint: ich habe meinen Dienst eingestellt. Wie Eugeniens Auge (Frauen sehen Alles) auf diesem Amor geruht haben mag? Gläubig oder zweifelvoll, gehoben oder bedrückt?!
Neben dem Arbeitszimmer das Schlafcabinet. Es ist viel reicher und prächtiger als das Schlafzimmer der linken Hälfte. Natürlich. Denn es war dies das Schlafzimmer der Fürstin von Hanau. In solchem Zimmer ist das Bett natürlich die Hauptsache. Auch hier eine Decke von weißem Atlas, aber statt mit langweiligen Wappenlöwen, mit Füllhörnern überstrickt, aus deren weiten Oeffnungen Alles, was Farbe und Duft hat, in einem Blüthenregen niederfällt. Eine Lyoneser Stickerei. Unter dieser Prachtschöpfung französischen Geschmacks schlief der französische Kaiser. Wenn er erwachte, fiel sein Auge nach links hin auf einen kronengeschmückten Ofenschirm, während zu seinen Füßen zwei alabasterne Bacchantinnen ihn grüßten. Was traf ihn tiefer?
Aus dem Bettzimmer in das Betzimmer. Es befand sich parterre neben dem, dem Tanzsaale des ersten Stockes entsprechenden Speisesaale. Die Einrichtung dieses Betzimmers war die einfachste von der Welt: ein großer auf goldenen Füßen ruhender Tisch, dessen Marmorplatte zu einem Altar hergerichtet zu werden pflegte.
Im Schlosse bleiben nur noch die Räume für die Ordonnanzen und Dienerschaften. Hier befinden sich die vielbesprochenen Erinnerungen an die Jerome-Zeit: große napoleonische Familienportraits, deren Schicksale von Anfang an so wundersam waren, daß ihrer an dieser Stelle gedacht sein mag. Es mochte im zweiten oder dritten Jahre seiner Regierung, also etwa 1809 oder 1810, sein, als Jerome den Plan faßte, Wilhelmshöhe mit einem napoleonischen Ahnen- und Familiensaale zu schmücken. Er befahl zunächst sein eignes Bild im Krönungsornat zu fertigen; daran sollten sich dann die Bildnisse seiner Brüder (voran der Kaiser), zuletzt auch die Bildnisse der vielgeliebten Reine Hortense und ihres „Lulu“, des spätern Louis Napoleon, reihen. Der Befehl erging natürlich nach Paris und die Paletten junger und alter Künstler erhielten zu thun. Aber alle Bemühungen reichten doch nicht so weit, daß nicht die Hast der Ereignisse die Hast des Schaffens überholt hätte, und als endlich in einer mächtigen Kiste König Jerome im Krönungsmantel eintraf, war der Krönungsmantel schon wieder von seiner Schulter gefallen. Wilhelmshöhe war wieder kurfürstlich geworden, und die Kisten, die unliebsame Erinnerungen weckten, wurden einfach in den Keller gestellt. Dort standen sie dreiundfünfzig Jahre. Erst 1866, als das kurfürstliche Hessen unter die Pickelhaube gekommen war, wurden die halbvergessenen Kisten neu entdeckt und ihre Bilderschätze an’s Licht gezogen. Es lag für die neue Herrschaft kein pressanter Grund vor, ihnen die Existenz, das Recht des Daseins nach so vielen Prüfungen noch länger vorzuenthalten, und so wurden denn verschiedene Zimmer des zweiten Stocks zu einer Art Erinnerungsgalerie an die Jerome-Zeit auserkoren. In diesen Zimmern befanden sich die napoleonischen Familienportraits noch, als der Kaiser am 4. September in Wilhelmshöhe eintraf. Seine Adjutanten erhielten ihre Wohnungen in speciell diesen Räumen angewiesen. Doch scheint es (wenn ich recht verstanden habe), daß eben diese Bilder noch während der Anwesenheit des Kaisers auf Wilhelmshöhe aus den betreffenden Zimmern entfernt und, nach kurzem Dasein in der Welt des Lichts, in ihre alte Kistenbehausung zurückbefördert worden sind.
So viel über die Kaiserzimmer auf Wilhelmshöhe; ich war bemüht, auch über das Leben, das der Kaiser in diesen Zimmern führte, das Eine oder das Andere in Erfahrung zu bringen. Ich hörte auch dies und das, aber es tröpfelte nur. Ich gebe dies Wenige.
Er war zu guter Stunde auf, hatte um Elf sein Dejeuner, um Fünf oder Sechs sein Diner. Sein Hofstaat, wenn man von einem solchen sprechen darf, bestand nur aus wenigen Personen, aus dem General Pajol, dem General Castelnau, dem Prinzen Murat etc. Wie aus dem inzwischen erschienenen Büchelchen des Prinzen Napoleon (gegen Trochu) bekannt geworden ist, erbot sich auch dieser, von Florenz aus, die Gefangenschaft auf Wilhelmshöhe mit dem „Haupte der Familie“ zu theilen. Der Kaiser lehnte dies Anerbieten aber dankend ab. Das Leben auf Wilhelmshöhe, wie es in einem engsten Cirkel sich bewegte (die Zeiten der „ersten, zweiten und dritten Serie“ waren vorüber), war auch zugleich ein sehr zurückgezogenes, sich absolut auf Schloß und Park beschränkendes. Der Kaiser ging, ritt, fuhr; – dies erhielt ihn körperlich frisch; an schlechtesten Tagen mußte die Billardtafel aushelfen. Im Uebrigen aß er, las und schrieb er; seine alten literarischen Gewohnheiten traten sofort wieder in den Vordergrund. Man darf füglich sagen, er hatte zu allen Zeilen etwas von einem vornehmen, eigene Wege gehenden, still-ehrgeizigen Publicisten und kehrte, wenn der Wandel der Geschicke es erheischte, jedesmal mit einer gewissen Vorliebe zu seinem eigentlichen „Rübenfeld“ [721] zurück. Es ist möglich, daß ich mich irre, aber ich habe diesen Eindruck. Ein gewisses „Müdesein der Macht“ scheint neben all seinen Machtbestrebungen wie ein Schatten herzugehen. Eine spätere Zeit wird Aufschluß über die Gesammtheit seiner politisch-literarischen Thätigkeit während der Tage auf Wilhelmshöhe, ganz besonders über seine Correspondenz innerhalb des genannten Zeitabschnittes geben; bis zu dieser Stunde ist nur Einzelnes davon in die Oeffentlichkeit gedrungen: Erstens ein Brief, datirt Wilhelmshöhe, 26. September, den er nach Abbruch der Verhandlungen zwischen Graf Bismarck und Jules Favre, mit der Mahnung, Versöhnlichkeit walten zu lassen, in das Preußische Hauptquartier schickte. Die Echtheit dieses Briefes ist nicht bestritten worden, sonst würde ich, seinem Inhalte nach, dieselbe bezweifeln. Zweitens eine Proclamation an das französische Volk, datirt Wilhelmshöhe, 4. Februar, worin er sich, bevor nicht eine neue Volksabstimmung stattgefunden, als den wahrhaften Repräsentanten der Nation proclamirt; endlich drittens eine über die preußische Wehrverfassung abgefaßte Brochüre (Wilhelmshöhe im Februar 1871) die den Titel führt: „Note sur l’organisation militaire de la confédération de l’Allemagne du Nord.“ Er tritt in dieser höchst interessanten Schrift ganz für die Preußische Wehrverfassung ein, von der er an einer Stelle die höchst beherzigenswerthen Worte sagt: „Die Armee in Preußen ist eine Schule, in der ein Jeder, der Reihe nach, das Kriegshandwerk lernt und in dem Gefühl der Pflicht erstarkt. Der junge Mann, der zu den Fahnen einberufen ist, lernt nicht nur exerciren, man lehrt ihn auch die Treue zum König, die Ergebenheit für das Vaterland. Eine Armee, die nicht aus Söldnern, sondern aus der Elite der Nation besteht und auf dem Princip der Autorität beruht, das mit den Rechten des Bürgers nicht im Widerspruch steht, eine solche Armee ist der Schutz für die Festigkeit eines Staates.“
Besuche trafen nicht eben zahlreich in Schloß Wilhelmshöhe ein; der immerhin erschwerte Verkehr, vielleicht auch der ausgesprochene Wunsch des Kaisers, der sich von der Mehrzahl dieser Besuche wenig versprechen mochte, hielten davon ab. Das einzige große Besuchsereigniß war das schon erwähnte Eintreffen der Kaiserin. Sie blieb nur vierundzwanzig Stunden. Was zu dieser Reise führte (die Capitulationsfrage von Metz war wohl die erste Veranlassung gewesen), ist noch nicht aufgeklärt.
Ein einziges Mal während einer Zeit von mehr als sechs Monaten verließ der Kaiser die unmittelbare Umgebung des Schlosses und fuhr nach Kassel, um einer Theatervorstellung beizuwohnen. Es war ersichtlich, daß er es aus Courtoisie gegen eine Bevölkerung that, innerhalb welcher er sechs Monate lang ein unfreiwilliger Gast gewesen war und deren verzeihliche Neugier er wenigstens einmal glaubte befriedigen zu müssen, – um so mehr als man sich, bei gelegentlichen Begegnungen in Wilhelmshöhe selbst, jederzeit rücksichtsvoll gegen ihn benommen hatte. Nur ein einziger Ausnahmefall ist festgestellt: ein siebenzehnjähriger Heißsporn hatte sich eingefunden, um als zurückgebliebener Oberquartaner, aber fortgeschrittener Patriot „Deutschland von seiner Geißel zu befreien“. Dieser Brave war aber kein Kasselaner, sondern natürlich ein Berliner.
Am 19. März, nach einer Gefangenschaft von beinahe genau sechs und einem halben Monat, verließ der Kaiser Wilhelmshöhe; bis zuletzt wurden ihm alle einem Souverain zukommenden Ehren erwiesen; zwei Compagnien Dreiundachtziger bildeten bei seiner Abreise Spalier, General Graf Monts begleitete den Kaiser bis zur belgischen Grenze.
Er hatte sich, nach der gewinnenden Art, die ihm eigen, auch hier, auf Wilhelmshöhe, manches Herz zu erobern, manche Theilnahme zu wecken gewußt; nur das Herz meiner schönen Führerin schlug ihm nicht entgegen. Davon ausgehend, daß die Gefühlswelt der jungen Dame schwerlich etwas Anderes sein werde, als das Echo der allgemeinen Haus- und Schloßstimme, hatten ihre Anschauungen einen gewissen Werth für mich. Freilich nur einen gewissen. Es war nämlich ersichtlich, daß man sich ,,mehr von ihm versprochen hatte“. Da lag es. Ein Ausgleich durch persönliche Liebenswürdigkeit, sobald dieser Punkt überhaupt erst mitklingt, ist fast immer unmöglich. Ja, man kann sagen, jede Liebenswürdigkeit, die prätendirt an Zahlungsstatt angenommen zu werden, hat ganz besondern Widerwillen zu überwinden.
Ich empfahl mich mit dem guten Gewissen, diese Form der Abneigung nicht herausgefordert zu haben, und schritt in Front des Schlosses auf einen freien Platz zu, der mir nochmals einen Ueberblick über das Ganze gestatten sollte. Im Hintergrunde ragte im grauen Gewölk die Löwenburg auf, im Vordergrunde leuchteten freundlich die weißen Wände des Hôtel Schombart. Ich schwankte einen Augenblick zwischen der Keule des Hercules dort oben und einer muthmaßlichen Rehkeule hier unten. Aber die Tage der Allerweltsseherei, vor Allem der Steigerei und Kletterei lagen zu lange hinter mir, als daß der Kampf anders als ein kurzer hätte sein können.
Anderthalb Stunden später schritt ich wieder auf Kassel zu, nur durchdrungen von dem einen Gefühl, daß es doch ein rechter Treffer für den Kaiser Napoleon gewesen sei, an einem so angenehmen Ort und so zu sagen Arm in Arm mit „Onkel Schombart“ sechs Monate lang durchs Leben pilgern zu können.