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Ein Kirchhofsgeheimniß

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Textdaten
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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Ein Kirchhofsgeheimniß
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–44, S. 565–568, 581–585, 597–601, 609–613, 621–623
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[565]
Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


„Es gibt gute, es gibt schlechte Gesetze. Nicht jedes Gesetz setzt das Recht fest. Wie wenige! Aber das schlechteste Gesetz kann unschädlich werden in den Händen eines verständigen, gerechten, humanen Beamten. Und das beste Gesetz ist nichts werth in den Händen eines schlechten Beamten. Und wie gute und schlechte Gesetze, so hat es auch zu allen Zeiten gute und schlechte Beamte gegeben.

Ueberheben wir uns nicht über die Zeit vor uns. Sagen wir nicht, wenn uns so manchmal nur die Gebrechen früherer Rechtspflege vorgehalten werden, sagen wir nicht pharisäisch hochmüthig: das kann jetzt nicht mehr vorkommen!“

So schrieb mir vor wenigen Tagen ein sehr alter Criminalist aus Deutschland, indem er mir die nachfolgende Geschichte ausdrücklich zum Zwecke ihrer Veröffentlichung mittheilte. Die Zeit seiner Geschichte liegt fünfzig bis sechzig Jahre hinter uns. Das, was er erzählt, ist wahr und belehrend auch für die jetzigen Zeiten.

Er erzählt:

Ich war ein junger Amtsauditor.

Amtsauditoren, Referendarien, Aspiranten, Praktikanten – die Unzahl junger Männer, die in Deutschland nach vollendeten Universitätsstudien bei den Behörden ihres Vaterlandes arbeiten, um sich als tüchtige Mitglieder der Büreaukratie auszubilden, hat viele Namen, wie – die lieben Kinder.

Sie sind auch liebe Kinder. Dem Rathe, der ihnen seine Arbeiten übertragen kann; dem Staate, der ihnen für ihre Arbeiten nichts zahlt; den jungen Mädchenherzen, die darnach seufzen, Frau Amtmännin, Frau Räthin, gar Frau Präsidentin, selbst Frau Ministerin zu werden. Amtmann, Rath, Präsident, Minister – der Auditor, der Referendarius, und wie sie weiter heißen, sie sind das Holz, aus dem Alles geschnitten werden muß. Sie sind auch glücklich, wie die lieben Kinder. Sie müssen zwar manchmal recht herzhaft schwitzen unter der Last ihrer Arbeiten, und sie erhalten nie auch nur einen rothen Pfennig dafür. Ja, man hat Beispiele, daß, wenn sie einmal, um sich zu erholen, Urlaub nehmen wollen, sie auf ihre Kosten einen Stellvertreter bestellen. Aber sie sind in der lustigen, kräftigen, goldenen Zeit der Jugend und die Welt ihres Staates steht ihnen offen. Es gibt im Lande kein Amt, bei dem sie nicht Amtmann werden, keine Rathsstelle, die sie nicht einmal einnehmen, keinen Präsidentenposten, auf den sie nicht künftig erhoben werden können. Man muß nur Muth und Vertrauen haben.

Ich arbeitete bei dem Amte meiner Heimath. Meine Heimath lag in einem Winkel des Landes. Auf diesen Winkel war meine künftige Carriere nicht beschränkt, denn auch mir stand das ganze Land offen. Es war gleichsam meine Domaine. Ich mußte meine künftige Domaine kennen lernen.

Als die nächsten Ernteferien kamen, trat ich eine Fußreise durch das Land an. So ganz absonderlich groß war damals, außer Oesterreich, kein deutsches Land, und in Oesterreich war ich nicht.

In den Ernteferien arbeitet der Landmann doppelt, und daher feiert der Richter.

„Kommst Du auch nach Z., mein Sohn?“ fragte mich meine Mutter.

Wie meine Heimath an dem einen, so lag Z. an dem andern, entgegengesetzten Ende des Landes.

Aber das ganze Land wollte ich kennen lernen.

„Gewiß,“ antwortete ich meiner Mutter.

„So erkundige Dich doch nach einer Jugendfreundin von mir, Nettchen Thalmann; sie ist von hier gebürtig, und später nach Z. gekommen.“

„Seit wann, Mutter?“

„Es können einige zwanzig Jahre sein.“

„Verheirathet oder unverheirathet?“

„Verheirathet.“

„Und wie hieß ihr Mann?“

„Den Namen habe ich vergessen. Aber der Mann war ein Mechanikus, ein Genie. Du wirst sie schon finden. Erkundige Dich, wie es ihr geht, und grüße sie von mir.“

Ich mußte lächeln. Mir fiel etwas Aehnliches bei.

Als ich vier Jahre vorher zur Universität abgegangen war, hatte mein Vater zu mir gesagt:

„Mein Sohn, vergiß ja nicht, den Professor B. zu besuchen und ihn und die ganze Familie von mir zu grüßen. Ich hatte als Student freundliche Aufnahme im Hause. Grüße besonders seine älteste Tochter, die schöne Auguste. Nimm Dich aber vor ihr in Acht, sie ist eben so gefallsüchtig wie schön. Sie wollte auch mich – Nun, ich hoffe, Du wirst nicht weniger verständig und besonnen sein, wie Dein Vater.“

Ich mußte es feierlich versprechen.

Ich kam zur Universität und in das Haus des Professors B.

Himmel, wie sah die „schöne Auguste“ aus, die vor fünfundzwanzig Jahren ihre Netze nach meinem Vater ausgeworfen hatte, vor der ich mich „in Acht nehmen“ sollte. Fünfundzwanzig Jahre vermögen über die Schönheit eines Mädchens doch etwas mehr, als mein Vater gedacht hatte. Freilich nicht immer über die Gefallsucht. Die [566] „schöne Auguste“ mit ihren grauen Runzeln und entsetzlichen Zahnlücken kokettirte zwar nicht mehr mit jungen Studenten, aber desto mehr mit dem lieben Gott.

Das fiel mir wieder ein bei der Bitte meiner Mutter, und ich mußte lächeln. Aber ich versprach ihr Alles, und reiste ab.

Ich kam nach Z. Es war im Monat August, als ich hinkam. Der Tag war sehr heiß gewesen und ich hatte ihn deshalb meist ausruhend zugebracht, in Dorf, in Wald, unter den dichten Haselnußhecken der Wiesen am Wege. Gegen Abend erst, als es kühler wurde, fing ich an, eigentlich zu marschiren.

Ich wollte den Tag noch bis Z. Nach den Erkundigungen, die ich einzog, konnte ich hingelangen, aber erst zwischen zehn und elf Uhr in der Nacht, und auch das nur, wenn ich tüchtig darauf los marschirte.

Ich marschirte desto langsamer, behaglicher. Was lag mir daran, wenn ich auch erst um Mitternacht ankam! Ich war desto länger in der schönen, frischen Nachtluft, in dem klaren Scheine des Vollmondes, der so malerisch über Flur und Wiese, über Wald und Berg, über Dörfer und Landhäuser sich ausbreitete. Und das Wirthshaus des Städtchens öffnete sich mir auch nach Mitternacht.

Ich wanderte mit voller Lust einsam durch die schöne Nacht auf breiter, bequemer Landstraße dahin. Aber als es zehn Uhr vorbei war, erhielt ich ungebetene Gesellschaft. Zwar zuerst nur in weiter Ferne und auch hoch genug über mir; allein sie kamen doch immer näher, und zuletzt drohten sie mir gar sehr frech. Dunkle Wolken zogen von allen Seiten am Himmel herauf, sie schienen Regen, ein Gewitter bringen zu wollen. Vorläufig freilich brachten sie noch nichts, sie drohten nur. Doch eins brachten sie, indem sie nahmen; sie nahmen das schöne klare Licht des Mondes weit und breit der Erde völlig fort, und hüllten Alles um mich her in dunkle, schwarze Nacht ein.

Ich setzte meinen Weg ruhig, nur mit etwas schnelleren Schritten fort. Vom Regen durchnäßt, vom Gewittersturm gejagt zu werden, ist eben kein großes Vergnügen, wenigstens nicht immer und nicht für Jedermann. Die Landstraße blieb breit und bequem; ich konnte mich nicht verirren, und ging ihr immer nach.

Es konnte bald Mitternacht sein. Ich sah links von der Straße einige Lichter. Ueber den Lichtern grenzten an dem dunklen Nachthimmel sich noch dunklere Umrisse von Gebäuden ab. Das mußte Z. sein. Die Zeit traf zu, in der ich die Stadt erreichen sollte. Auch die Lage. Ein Bauer hatte mir unterwegs gesagt, nahe vor dem Wege biege sich die Landstraße nach rechts, um dann, wieder links sich krümmend, in das Thor zu führen; ich brauche aber diesen Krümmungen nicht zu folgen; ein Fußweg führe links von der Straße in gerader Richtung nach dem Thore hin. Ihn solle ich einschlagen; ich könne nicht fehlen, er führe an dem alten Kloster vorbei, das man schon von Weitem sehe.

Von Weitem sah ich nun bei der großen Dunkelheit gar nichts, aber einen schmalen Fußweg, der links von der Straße abbog, entdeckte ich. Er ging nach jenen Lichtern hin. Ich schlug ihn ein; aber nach wenigen Minuten hatte ich ihn auf einmal verloren. Ich hatte nicht auf ihn geachtet, sondern nach den Lichtern gesucht, die mir ebenfalls so auf einmal und so sonderbar abhanden gekommen waren. Ueber dem Suchen nach ihnen entkam mir auch der Weg. Ich wollte umkehren, um ihn so wiederzufinden, da aber hatte ich in der Finsterniß Richtung und Alles verloren. Ich befand mich nur auf einem unebenen Boden zwischen wild durcheinander stehenden Stauden und Sträuchern. Und der Boden war so sonderbar uneben, Berg und Thal, Thal und Berg; wohin ich meinen Fuß setzte, stolperte ich. Und die Sträucher waren fast nur Dornen; wohin mein Körper sich wandte, waren meine Kleider festgepackt, wohin ich mit den Händen fühlte, wurden sie mir zerrissen.

Wo war ich denn?

Ich ging rechts und links, ich ging vorwärts und zurück, und konnte aus dem Labyrinthe von Thal und Berg, von Strauch und Dornen nicht heraus.

Auf einmal rissen über mir zwei Wolken auseinander, der Mond stand hell und klar zwischen ihnen, und beschien mich und den Ort, an dem ich mich befand. Zugleich wurde kaum dreißig Schritte von mir ein Ton laut, und zeigte es auch meinem Ohre an, wo ich war. Ich war mitten auf einem alten Kirchhofe, mitten zwischen alten, verfallenen, verwüsteten Gräbern. Dreißig Schritte von mir schlug auf einem Kirchthurme die Uhr zwölf.

Ah! Um Mitternacht allein, fremd, so auf einmal auf einem einsamen Kirchhofe, zwischen verfallenen, verwüsteten Gräbern!

Ich mußte doch unwillkürlich hinter mich blicken, ob nicht ein Grab sich geöffnet habe, und ein Gerippe hinter mir stehe, und drohend auf mich zuschreite. Aber es standen nur Dornen hinter mir, und wenn ich nicht zu ihnen kam, so kamen sie nicht zu mir. Und auch ein alter Schädel, in den mein Fuß sogar hineingetreten war, blieb ruhig liegen, und that mir nichts.

Ich wußte, wo ich war. Ich hatte den rechten Weg getroffen, den der Bauer mir angezeigt hatte, ich hatte ihn nur später wieder verloren und war, anstatt an dem Kirchhofe entlang zu gehen, mitten auf den Kirchhof gegangen. Ich war indeß vor dem Thore von Z., neben dem Kloster, an dem der rechte Weg vorbeiführte. Ich brauchte nur auf das Kloster zuzuschreiten, um den Weg wieder zu finden.

Der Thurm mit einem hohen Kirchendache stand dicht vor mir; gleich daneben dehnten einige andere hohe und lange Dächer sich aus. Es waren das Alles unzweifelhaft Klosterkirche und Klostergebäude. Sie lagen in dem hellen Mondscheine vor mir. Ich ging darauf zu; vorsichtig zwischen den Dornen und Gräbern und Schädeln und Knochen von allerlei Gestalten.

Allein schon nach wenigen Schritten stand ich auf einmal wieder in völliger Dunkelheit. Die Wolken hatten sich eigensinnig wieder zusammengefügt; kein Mondstrahl schien mehr zu mir hernieder, kein anderer Lichtstrahl schien zu mir herüber. Doch die Umrisse des Kirchthurms, auf dem es Mitternacht geschlagen hatte, konnte ich noch am Himmel erkennen. Zu ihm wollte ich mich hinarbeiten, über die Gräber, durch die Dornen. Ich begann die Arbeit; es war keine leichte in der tiefen Dunkelheit. Ich stolperte voran, ich riß mich los.

Plötzlich hörte ich ein sonderbares Stöhnen. Es kam unten aus der Erde, kaum dreißig Schritt von mir, fast unter mir. Es war leise, schwach, aber ich vernahm es deutlich. Die Haare standen mir fast zu Berge.

Was war das? Woher kam es? War es wirklich unter der Erde, oder kam es von der Oberfläche des Bodens?

Es hielt an, ich hörte es immer deutlich, an derselben Stelle, in denselben Tönen. Und es war nicht über, es war unter der Erde, nur wenige Schritte von mir. Sollte sich doch noch ein Grab neben mir öffnen? Sollte ein lebendes Wesen oder der Tod mir entgegentreten? Dem einsamen, fremden Wanderer, in der tiefdunklen Mitternachtsstunde?

Ich sah um mich, ob ich denn in der That einsam und allein sei, ob ich nicht ein Licht oder irgend ein anderes Zeichen der Nähe von Menschen entdecken könne? Die weitläufigen Klostergebäude, die so nahe vor mir lagen, mußten doch bewohnt sein. Die Thurmuhr hätte doch nicht Mitternacht schlagen können, wenn nicht ein lebendes menschliches Wesen sie aufgezogen hätte. Ich sah nichts. Kein einziges Licht aus allen den weitläufigen Gebäuden schimmerte mir entgegen.

Das Stöhnen in der Erde hielt an. Auf einmal hörte es auf, aber ein Klagen, ein Jammern trat an seine Stelle. Es drang ebenfalls nur schwach zu mir herauf.

Aber es war entsetzlich anzuhören. Ich wollte fortstürzen und konnte es nicht. Das ist eben das Bannen des geheimnißvollen Entsetzlichen, daß es uns ewig forttreibt und ewig festhält. Aber konnte ich auch unthätig, feige, blos dastehen und horchen? Ich wollte mich kund geben, wollte meine Hülfe anbieten, wenn hier überhaupt Hülfe geleistet werden konnte; da vernahm ich plötzlich einen andern, zwar unbestimmten Ton, aber es kam mir vor, als wenn eine Thür in alten Angeln knarre. Da unten in der Erde? Daher kam auch dieser Ton.

Jetzt hörte ich auch von dem Klagen und Jammern nichts mehr. Ich lauschte eine lange Zeit mit Anstrengung, vernahm aber keinen Ton, keinen Laut mehr.

Was hatte sich denn da in der alten Erde, unter den wüsten Gräbern zugetragen?

Es blieb still. Aber wie es still blieb, konnte ich mich nicht entfernen, ohne vorher einen Versuch gemacht zu haben, ob ich nichts entdecken könne. Warum hatte ich jetzt den Muth, da Alles still und vorbei war? – Vorbei? – Ich klopfte mit meinem Reisestocke auf die Erde. „Heda, heda!“ rief ich.

Ich bekam keine Antwort; es blieb still, wie vorher, unter mir, um mich. Ich wiederholte Klopfen und Rufen.

[567] „Heda, wer ist hier? Kann ich hier Jemandem helfen?“

Ich trat rasch ein paar Schritte vor. In demselben Momente bewegte sich Etwas in meiner Nähe. Ein Gebüsch rauschte, als wenn Jemand hindurchdringen wolle; es war kaum zehn Schritte von mir.

„Wer da?“ rief ich in die Finsterniß hinein.

Ich erhielt keine Antwort; um desto lauter aber wurde das Rauschen.

Ich hatte mich völlig wieder gefaßt und eilte jetzt der Stelle zu, wo ich das Geräusch gehört. Ich stolperte aber dabei über ein paar Gräber. Auf einmal flog Etwas an mir vorüber. Es war wie der Schatten eines langen, hageren Menschen. Er flog mit leichten geflügelten Schritten dahin. Als ich mich nach ihm umsah, gewahrte ich nichts mehr; auch mein Ohr vernahm keinen Laut weiter.

Was war denn das wieder? Hatte ich einen Todtenschatten erblickt? War ein Lebender in meiner Nähe gewesen? Was hatte er in der Mitternacht auf dem alten Kirchhofe gemacht? Warum hatte er sich verborgen gehalten, bis ich rief? Warum war er bei meinem Rufe davongeeilt? War er einem Grabe entstiegen? Rührte gar von ihm jenes unterirdische Klagen und Jammern her?

Ich hatte auf alle meine Fragen keine Antwort. Ich stand sinnend und wieder horchend; aber diesmal nicht lange, da kam es mir vor, als hörte ich Schritte. Sie kamen mir zur Seite, rechts, etwa funfzehn bis zwanzig Schritte von mir, Sie kamen näher. Das Alles dem Gehöre nach; denn die Wolken hatten sich dunkler zusammengezogen und ich sah nichts. Es war mir doch unheimlich. Ich faßte meinen Reisestock schlagfertig; es war ein tüchtiger, bewährter Ziegenhainer. Aber was ich beinahe in dem nämlichen Augenblicke sah, dagegen half der beste Ziegenhainer nichts. Zwei glühend rothe Punkte leuchteten auf einmal vor mir, starrten mich an, unbeweglich, gleich zwei dunkel glühenden Kohlen. Ein Schauder überlief mich. Dann wollte ich dreinschlagen. Da schoß, unmittelbar über den beiden unheimlichen, unbeweglichen, leuchtenden Punkten, eine ganze helle Feuermasse auf mich los. Ich stand geblendet.

Ich hatte nur eins erkannt in der Helle des Feuers, daß ich mich dicht neben einer hohen, alten Mauer befand. Das war die Mauer des Klosters, an dem ich vorbeikommen mußte.

Hatte mich im Augenblick vorher ein Schauder überlaufen, jetzt ergriff mich Entsetzen. Alle Geschichten, die ich jemals von lebendig und auf Lebenszeit eingemauerten Mönchen und besonders Nonnen gehört und gelesen hatte, fielen mir wieder ein. Waren das Stöhnen und Klagen, das ich vernommen hatte, Schmerzenstöne einer eingemauerten Nonne aus ihrem fürchterlichen unterirdischen Grabe? Oder hatte – da sie mir mehr einer männlichen Stimme anzugehören schienen, worin ich mich allerdings täuschen konnte – hatte ein unglücklicher, vielleicht wegen seiner freien Ansichten eingemauerter Mönch sie ausgerufen?

Ich wußte nur, daß ich an einem Kloster vorbeikommen mußte; ob es ein Mannes- oder Frauenkloster sei, davon war mir nichts bekannt.

Aber ich wußte auch nicht, ob es noch als Kloster bestand oder ob es nicht schon längst aufgehoben war. Das Letztere war sogar das Wahrscheinlichere, da schon seit hundert Jahren Klöster in unserem Lande aufgehoben waren. Hatte ich dann nicht den klagenden, jammernden Geist eines oder einer vor Hunderten von Jahren, vielleicht schon im grauen Mittelalter, eingemauerten Unglücklichen vernommen, verdammt zum Stöhnen und Wehklagen bis zur Stunde seiner Erlösung, des letzten Gerichts?

Mein Auge erholte sich von der plötzlichen Einwirkung der blendenden Lichtmasse. Ich unterschied.

Ein langer, baumstarker Mann stand vor mir, in der einen Hand eine Blendlaterne haltend, die er plötzlich geöffnet hatte, in der andern einen ungeheueren Knotenstock. Vor ihm stand mit dunkelglühenden Augen ein riesiger Hund.

Der Mann war schon alt, er hatte graue Haare; aber er stand kräftig da, in seinem langen, weiten Kamisol und seiner alten Pelzmütze auf dem Kopfe. Sein verwittertes Gesicht war finster, ingrimmig, drohend.

„Was macht Er hier?“ rief er mir drohend zu.

Aber es war kein Bild aus dem Mittelalter. Im Mittelalter hatte man den Begriff, den reinen, geläuterten Begriff der Obrigkeit noch nicht erfunden, und der Mann sah so durch und durch obrigkeitlich aus, hatte so vollständig das Aussehen eines Handlangers der Obrigkeit.

Die Entdeckung machte mich sicher, ruhig. War ich doch selbst ein Stück der Obrigkeit.

„Guter Freund,“ sagte ich, „bin ich auf dem rechten Wege nach Z.?“

Aber da wurde sein Gesicht finsterer, drohender. Er musterte mich von unten bis oben.

„Hat Er vorhin gerufen?“ rief er.

„Ich habe hier gerufen.“

„Folge Er mir.“

„Wohin?“

„Das wird Er sehen.“

„Hört, guter Freund –“

„Ich bin Sein guter Freund nicht,“

„Zum Teufel, Freund, Landsmann, Mann, ich will nach Z. Ich hatte mich hierher verirrt. Wollt Ihr mich wieder in die Stadt bringen oder nicht?“

Er besann sich einen Augenblick.

„Folge Er mir,“ wiederholte er dann.

„Ihr wollt mich also in die Stadt führen?“

„Ja.“

Er setzte sich in Bewegung. Sein großer Hund war immer einen Schritt vor ihm, nicht mehr und nicht minder. Das Thier schien wunderbar dressirt zu sein.

Ich folgte ihm. Er führte mich an der alten, hohen Mauer entlang, die ich vorhin gesehen hatte.

„Wo sind wir hier?“ fragte ich ihn im Gehen.

„Braucht Er das zu wissen?“

Seine Stimme, wie seine Worte waren immer kurz, grob. Ich überzeugte mich mehr und mehr, daß ich es mit einer obrigkeitlichen Person zu thun hatte, zu der ich mithin in einem berufsverwandtschaftlichen Rapport stand. Seine Grobheit machte mich um so sicherer, beinahe kecker,

„Ihr hattet also vorhin meinen Ruf gehört?“

„Ja, und wenn Er sich noch einmal untersteht, mitten in nachtschlafender Zeit so zu schreien, so wird man anders mit Ihm verfahren.“

„Wo wart Ihr denn, als Ihr mich hörtet?“

„Bekümmere Er sich um Seine Sachen.“

„Wißt Ihr, warum ich rief?“

„Es geht mich nichts an.“

„Ich hatte so sonderbare Töne gehört.“

„Auf einem Kirchhofe, in der Nacht, hört jeder Narr etwas Sonderbares.“

„Was ich hörte, konnten auch verständige Menschen hören, zum Beispiel Ihr selbst.“

Auf einmal drehte er sich nach mir um, leuchtete mir hell in das Gesicht und sah mich dabei so unheimlich forschend und überlegend an, daß ich wahrhaftig meinen konnte, er gehe mit sich zu Rathe, nicht, ob er mir den Garaus machen solle, sondern nur noch, ob er dies sofort und in welcher Weise ausführen werde.

Auch sein großer Hund richtete sich wieder höher auf, schüttelte sich und rollte seine glühenden Augen.

Ich erschrak doch unwillkürlich. Ich wußte nicht, wo ich war, und in dem obrigkeitlichen Aussehen des Mannes konnte ich mich irren. Aber er wandte sich still wieder von mir, ging noch einige Schritte weiter, blieb dann stehen und sagte:

„Hier, marschire Er!“

Mit den kurzen Worten schob er die Blende seiner Laterne vor, ich stand in voller Finsterniß und er und sein Hund waren meinen Augen entschwunden. Auch meinem Ohre. Plötzlich, wie sie auf dem Kirchhofe vor mir gestanden hatten, sah und hörte ich nichts mehr von ihnen. Waren sie vorhin aus der Erde emporgeschossen? Hatte die Erde sie jetzt wieder verschlungen? Hatte ich lebendige, körperliche Wesen oder Gespenster gesehen? Hatte ich gar nur geträumt?

Ich schaute und horchte noch eine Weile, doch ich sah und hörte nichts mehr. Aber in weiterer Entfernung, einige hundert Schritte vor mir, entdeckte ich bald einige Lichter und als ich darauf zuschreiten wollte, sah ich, daß ich mich zur Seite einer breiten Straße befand.

Hinter mir erhoben sich hohe, lange, mehrfach gezackte Dächer; darüber ein dicker Thurm. Das war wohl das Kloster, an dem [568] ich vorbeigekommen, auf dessen Kirchhofe ich ein seltsames, noch nicht entwickeltes Abenteuer bestanden hatte. Ich folgte der Straße. Sie führte mich den Lichtern entgegen und bald war ich an den ersten Häusern der Stadt Z. Es war ein offenes Landstädtchen. Ich klopfte an eins der Häuser und fragte nach dem besten Gasthofe der Stadt. Ein dienstfertiger Bursche führte mich bereitwillig dahin.

Meine Neugierde, Näheres über mein Abenteuer zu erfahren, war groß genug; ich mußte ihre Befriedigung auf morgen verschieben. In dem Wirthshause war nur noch ein schläfriges Dienstmädchen wach; von ihr hätte ich schwerlich befriedigende Auskunft erhalten können.

Am andern Morgen war mir doch zuerst der Auftrag meiner Mutter heilig, mich in Z. nach ihrer Jugendfreundin zu erkundigen. Allein welche Anhaltepunkte sollte ich dafür auffinden? Wer konnte mir Auskunft geben über eine Frau, die als Mädchen Nettchen Thalmann geheißen hatte, aus A. gebürtig, vor vielleicht dreißig Jahren an einen Mechanikus unbekannten Namens verheirathet und dann hierher gekommen war?

„Wohnt hier im Orte ein Mechanikus?“ fragte ich den Wirth.

„O, mein Herr, unsere Stadt hat sogar zwei, und beide sind sehr berühmt. Der Eine ist besonders stark in Bruchbändern und der Andere –“

„Ihre Namen, Herr Wirth?“

„Müller heißt der Eine und Schulze der Andere.“

„Verheirathet?“

„Der Eine noch nicht.“

„Aber der Andere?“

„Nicht mehr; er ist Wittwer.“

„Sie wissen wohl nicht, was für eine Geborene seine Frau war?“

„O ja. Sie ist erst im vorigen Jahre gestorben und hieß Therese Schrader.“

„Hat nicht früher noch ein Mechanikus hier gewohnt?“

„Es ist möglich, aber ich erinnere mich nicht. Ich selbst wohne erst seit zwölf Jahren hier.“

„Ist Ihnen der Name Nettchen Thalmann nicht bekannt?“

„Nein.“

Das war also nichts. Ich hatte meine Pflicht gegen meine Mutter erfüllt und konnte nun zur Befriedigung meiner eigenen Neugierde übergehen.

„Ist hier ein Kloster im Orte, Herr Wirth?“

„O ja, mein Herr, aber ein aufgehobenes.“

„Ah! War es ein Mönchs- oder Nonnenkloster?“

„Ein Nonnenkloster.“

„Und ist schon lange aufgehoben?“

„Ich habe gehört, schon vor hundert Jahren.“

Eine lebendige, lebendig eingemauerte Nonne hatte ich also unter der Erde an der Klostermauer nicht gehört.

„Teufel!“ rief ich.

„Fällt Ihnen das auf, mein Herr?“ fragte der Wirth.

„Nicht im Geringsten. – Welche Bestimmung hat das Kloster gegenwärtig?“

„Das Amt ist darin.“

„Das Amt?“ rief ich noch verwunderter.

„Gewiß, mein Herr,“ erwiderte belehrend der Gastwirth, „das Justiz- und Rentamt, denn die moderne französische Revolutionscultur ist noch nicht bis zu uns gedrungen und bei uns zu Lande sind Justiz und Verwaltung glücklicher Weise noch nicht getrennt.“

Ich bedurfte der Belehrung nicht; ich mußte nur Auskunft über mein Abenteuer haben und fragte deshalb weiter:

„Wohnen auch die Beamten des Amtes in dem Kloster?“

„Sie haben ihre Amtswohnungen darin.“

„Alle?“

„Mit Ausnahme einiger Schreiber.“

„Sind Ihnen die Beamten bekannt?“

„Gewiß.“

„Kennen Sie einen alten Mann unter ihnen, groß, stark, fast ein Riese und von finsterem Aussehen?“

„Ja, ja.“

„Er trägt ein langes, weites, graues Kamisol, eine Pelzmütze –“

„Richtig, richtig!“

„Führt einen riesengroßen Hund bei sich?“

„Der Hund sieht braun aus.“

„Sie kennen ihn also genau?“

„O ja, es ist der Schließer des Amtes, Martin Kraus.“

„Schließer?“

„Oder Gefangenwärter, wie man auch sagt.“

Welch’ ein Licht wollte mir da auf einmal aufgehen! Welch’ ein trübes, fürchterliches, entsetzliches Licht!

Der Schließer, der Gefangenwärter des Amtes hatte mich gestern Abend, vielmehr heute Nacht, in der Mitternachtsstunde gehört, als ich die seltsam und schrecklich klingenden Klagetöne vernommen und dem Klagenden meine Hülfe angeboten hatte! Er hatte also auch jene Klagetöne gehört. Er war vielleicht zu dem Klagenden eingetreten, als die Töne plötzlich verstummten. Er hatte die Thür geöffnet, deren Knarren ich vernommen hatte. Er, der Schließer! Ein Gefangener, ein Gefangener des Gerichts hatte also gestöhnt, geklagt, gejammert.

Aber da unten in der Erde? Unter der Klostermauer? An dem alten, verwüsteten Kirchhofe? Vielleicht unter diesem, unter den Gräbern? Wie konnte ein Gerichtsgefangener dahin kommen? Und warum hatte der Mann mich, der ich in der Nähe der Klagetöne gewesen war, mit solchem obrigkeitlichen Mißtrauen behandelt und, als ich ihn nach ihnen gefragt, mit solcher obrigkeitlicher Grobheit abgefertigt? Kam ich da nicht aus einem Geheimniß in ein anderes, geheimnißvolleres, aber auch schreckenvolleres?

„Hat das Amt viele Gefangene?“ fragte ich den Wirth weiter.

„Es fallen immer Verbrechen vor, wenn auch nicht schwere. Ein paar Dutzend Menschen mögen da sitzen.“

„Wo sind die Gefängnisse?“

„In einem Klosterhause, das zum Stockhause eingerichtet ist.“

„Liegt das Stockhaus nach dem alten Kirchhofe hin?“

„Nein, gerade auf der andern Seite, nach der Stadt zu.“

„Herr Wirth, erzählt man sich nicht Spuk- und Gespenstergeschichten von dem alten Kloster?“

„Von welchem alten Kloster erzählte man sich die nicht!“

„Von welcher Art zum Beispiel hier?“

„Mein Herr,“ erwiderte mir der Wirth mit großer Selbstgenugthuung, „den Glauben an Märchen und Gespenstergeschichten überlasse ich den ungebildeten Classen.“

„Aber man kann sich doch davon erzählen, Herr Wirth!“

„Auch damit gebe ich mich nicht ab.“

Auch mit meinen Fragen über mein Abenteuer war ich nun zu Ende; sie waren aber gleichfalls ohne Resultat, doch nicht ganz ohne allen Erfolg.

[581] Was ich von dem Wirth erfahren, hatte mir wenigstens eine bestimmte Richtung angezeigt, in welcher ich weiter nachforschen konnte. Und nachforschen mußte ich. Meine Begierde, das Räthsel zu lösen, das mir so seltsam, so nahe entgegengetreten war, war eine zu brennende gewesen, als daß ich nicht die möglichen Versuche zu seiner Lösung hätte machen sollen. Ich konnte diese nur im Amte selbst finden.

Die Aemter zu besuchen, mich mit den Beamten zu unterhalten, das war übrigens gerade der Hauptzweck meiner Reise; dadurch lernte ich am besten, am gründlichsten meine künftige Domaine kennen. Sodann konnte vielleicht der Amtmann mir Auskunft über Nettchen Thalmann, die Freundin meiner Mutter, geben.

Ich machte mich auf den Weg zum Amte.

Vor allen Dingen mußte ich mir bei hellem Tage genau den Schauplatz meines Nachtabenteuers ansehen. Ich ging denselben Weg zurück, den ich gestern Abend gekommen war; so konnte ich mich am besten wieder hinfinden.

Das Amt, das ehemalige Kloster, lag einige hundert Schritte vor dem Städtchen. Es bestand aus mehreren weitläufigen Gebäuden; den Mittelpunkt bildete das alte Klostergebäude selbst. Es war ein langes, dreistöckiges Gebäude mit unzähligen Fenstern und einem hohen, spitzen Schieferdache. Ihm gegenüber lag eine alte, verfallene Kirche, auf der ein dicker, noch wohl erhaltener Thurm stand. Rechts vom Kloster lagen einige Wirthschaftshäuser, hinter ihm ein ziemlich großer Garten. Die sämmtlichen Gebäude waren mit einer hohen, grauen Mauer umgeben. Sie umschloß nur nicht den Garten, der von einer lebendigen Taxushecke eingefaßt war, und nicht die Kirche, die nach außen ganz frei lag. Diese äußere, freie Seite der Kirche stieß unmittelbar auf den Kirchhof. Das Ende des Kirchhofes war durch die Taxushecke von dem Ende des Klostergartens getrennt.

Der Kirchhof war wüst und verfallen, wie ich ihn schon in der Nacht gesehen hatte. Er war schon seit vielen Jahren nicht mehr gebraucht. Auf den alten, hohen Gräbern wuchsen Nesseln und anderes Unkraut, manche waren ganz eingefallen; Dornen und wildes Strauchwerk aller Art wucherte und rankte überall zwischen den Gräbern umher.

Ich suchte vergeblich irgend eine Stelle, an der ich mich in der Nacht befunden haben möchte. Ich war in zu großer Dunkelheit dagewesen und jede Stelle des Kirchhofs war beinahe wie die anderen; überall Gräber, Nesseln, Strauchwerk.

Mein eigentliches Abenteuer hatte ich in der Nähe einer Mauer gehabt. Es war nur jene Einfassungsmauer des Klosters da. Sie lief eine weite Strecke an dem Kirchhofe entlang bis zu der Taxushecke des Gartens. Ich verfolgte sie hin und her, sie lief immer gerade, ich konnte aber nirgends, weder an ihr selbst, noch in ihrer Nähe, auf dem Kirchhofe einen Platz finden, von dem ich nur mit Wahrscheinlichkeit hätte sagen können, gerade dort sei das Wehklagen gewesen, sei der Schatten an mir vorübergehuscht, sei der Schließer mit seinem Hunde mir erschienen.

Am auffallendsten war mir, daß die Mauer keinen einzigen Ein- oder Ausgang hatte. Woher waren der Schließer und sein Hund auf den Kirchhof gekommen, daß sie schon so bald nach meinem Rufen und so plötzlich, wie aus der Erde hervorgeschossen, hatten vor mir stehen können?

Sie konnten aus der Kirche gekommen sein, denn diese hatte zwei Thüren nach dem Kirchhofe hin, ein großes Portal und eine kleinere Seitenthür. Aber das Portal – ich besichtigte es genau – war überall mit Spinnengeweben umhangen, als ob es seit einem halben Jahrhundert nicht geöffnet worden sei, und das Seitenpförtchen, wahrscheinlich zu der alten Sacristei der Kirche führend, war, obwohl verschlossen, zum Ueberfluß noch mit Bretern vernagelt. Abgesehen davon, hatte ich in der Nacht nicht das geringste Geräusch des Oeffnens einer Thür vernommen.

Es blieb die Gartenhecke. Ich besichtigte auch diese genau, fand aber keine Thür darin. Die Zweige des Taxus waren überall dicht verschlungen. Aber die Stämme standen dennoch mitunter weit genug von einander, daß Jemand einen Weg durch die Hecke hätte finden können; daher konnte der Schließer gekommen sein. Unerklärlich blieb dann freilich, daß ich sein Näherkommen nicht früher vernommen hatte, als bis er schon dicht vor mir war. Der Weg von der Hecke war von Hunderten wilder und rankender Dornen und Brombeersträucher durchschnitten.

Es blieb Alles für mich räthselhaft, wie es gewesen war.

Und ein neues Räthsel kam hinzu.

Ich war an der Taxushecke des Gartens ein paar Mal auf- und abgegangen, sinnend, manchmal stehen bleibend. Ich schritt noch einmal an ihr entlang und diesmal kehrte ich nicht an ihrem Ende um, sondern ging weiter. Ich war rasch gegangen und stand auf einmal jenseits ihres letzten Stammes, als ich plötzlich ein sonderbares Bild vor mir sah.

Mit der Taxushecke ging dort auch der Kirchhof zu Ende. Die Hecke lief in einen kleinen, scharfen Winkel, und in demselben befand sich ein Pförtchen, aus dem Amts- oder Klostergarten auf [582] den Kirchhof führend. An dem Pförtchen standen zwei Personen. Die eine war ein junges Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren, ihrer Kleidung nach den höheren Ständen angehörend. Sie war das Bild eines schönen Kindes in jenem so nahe an der Jungfrau stehenden Alter. Aber die schönen, feinen, sanften Züge bedeckte Blässe und in den großen, blauen Augen lag unverkennbar eine tiefe Trauer. Bei ihr war ein junger Mensch. Seine Kleidung war sehr einfach, wenngleich nicht geradezu ärmlich. Er konnte sechzehn, vielleicht auch siebzehn Jahre zählen. Es war eine jener unglücklichen, langen, schmalen Gestalten mit eingefallener Brust, die in dem genannten Alter plötzlich in die Höhe geschossen sind, meist, um früh nach wenigen Jahren ineinander zu knicken und in das Grab zu sinken. Dem entsprach auch sein Gesicht. Es war fahl, die Augen waren hohl, der Blick war matt; über dem Ganzen lag überhaupt eine tiefe Melancholie. Kannte der junge Mensch das traurige Schicksal, das ihm bevorstand? Oder was machte ihn sonst so traurig?

Die beiden jungen Leute hatten sich tief in den Winkel gedrückt, als ich auf einmal vor ihnen stand. Sie erschraken sichtlich, als sie mich bemerkten; sie wurden verlegen und wußten nicht, wohin sie ihre Blicke wenden sollten. Ihr Erschrecken und ihre Verlegenheit that sich in einer Weise kund, daß es mir nicht zweifelhaft blieb, daß ich von ihnen schon vorher beobachtet worden sei, und gerade, daß sie mich beobachtet hatten, sollte ich nicht gewahr werden.

Auf einmal schoß es mir wie eine Ahnung, dann wie eine dunkle Erinnerung, dann wie ein klarer, fertiger Gedanke durch den Kopf: der junge Mensch war der lange, hagere Schatten, der in der vergangenen Nacht auf dem Kirchhofe an mir vorüber geflogen war. Auch er hatte mich erkannt und seiner Begleiterin von mir erzählt; Beide hatten mich mit ihren neugierigen Blicken verfolgt und, als ich mich ihnen nahete, sich eilig in den Winkel geflüchtet; sie erschraken auf den Tod, als ich sie dort plötzlich ertappte.

Woher mir das Alles gewiß war? Ich hatte in der Dunkelheit der Nacht keinen Zug eines Gesichtes wahrnehmen, sondern nur flüchtig einen Schatten sehen können. Wie konnte ich den jungen Menschen wieder erkennen? Ich wußte es nicht, aber daß er es war, stand fest in mir, fest, wie so manche Ueberzeugung, für die wir uns eben nur auf unseren Glauben berufen können. Es ist uns gewiß, wir können uns gar nicht denken, daß es möglicher Weise anders sein könne, und doch ist es eben nur unser Inneres, unser innerer Glaube, der es uns versichert.

Aber was hatte den jungen Menschen in der Nacht auf den Kirchhof geführt? Was hatte er dort gethan? Warum war er vor mir geflohen? Warum erschrak er auch jetzt so heftig, als er mich, als ich ihn wiedersah? Warum war auch das Mädchen an seiner Seite so erschrocken?

Wer waren sie? Warum waren sie Beide so traurig? Die bloße Neugierde macht sonst nicht traurig.

Ich war ohne Antwort auf meine Frage, wie ich in der Nacht vorher meine vielen Fragen mir nicht hatte beantworten können. Ich verließ Beide, denn ich konnte sie ohne Zudringlichkeit und Unhöflichkeit nicht anreden.

Ich ging zum Kloster oder „auf das Amt“, wie man im Städtchen gesagt hatte; dort mußte ich der Auflösung des Räthsels, oder der Räthsel, näher kommen. Kam sie mir nicht von selbst entgegen, so mußte ich sie suchen, gerades Weges oder auf Umwegen, wie es sich traf. Hatte ich nicht gar eine Verpflichtung, selbst eine beamtliche Verpflichtung dazu? Der Gedanke an die Gefängnisse des Amtes wollte mich nicht verlassen. Wie, wenn das Geheimniß mit einem Verbrechen, mit einem amtlichen Verbrechen zusammenhing? Ich machte meinen Plan des Forschens. Ich ließ mich bei dem Amtmann, dem Chef des Amtes, melden.

Wie war ein solcher Amtmann in jener Zeit ein ganz anderer Mann, als gegenwärtig der Director eines Gerichtes! Er war wie ein Souverain, wie ein Autokrat in seinem Amtssprengel. Justiz und Verwaltung waren verbunden, aber nur erst in seinen Händen; die Behörden über ihm waren andere für die Justiz, andere für die Verwaltung. So konnte jeder seiner Vorgesetzten ihn nur theilweise controliren. Eigentlich gar nicht; denn wo hörte in einer und derselben Hand die Verwaltung auf, wo fing die Justiz an? Zudem war damals die Zeit der amtlichen Controlen noch nicht; von oben controlirte daher in der That Niemand. Wer von oben nicht controlirt wurde, konnte nach unten hin thun und nicht thun, was er wollte. Was halfen Beschwerden von unten ohne Controle von oben? Und wer wollte sich auch über den gestrengen Amtmann beschweren, der, als Justizamtmann angeklagt, die Anklage zehn Mal als Rentamtmann entgelten ließ, und umgekehrt?

Der Amtmann in Z. war ein vornehmer, strenger Mann; das zeigten seine stolzen, ruhigen, strengen Mienen, seine sorgfältige Kleidung und seine gemessenen Bewegungen.

Ein paar Säckchen unter den Augen, eine feine Röthe auf den nicht mehr ganz festen Wangen, eine trotz aller Gemessenheit hervorblickende Leichtigkeit des Benehmens schienen aber auch anzuzeigen, daß er früher ein Lebemann gewesen war, daß er es zu Zeiten vielleicht noch jetzt war.

Er empfing mich mit jener verbindlichen und doch zurückhaltenden, etwas herablassenden Höflichkeit des gebildeten und humanen höheren Beamten, gegenüber dem jüngeren, dem er dadurch ausspricht: Du stehst zwar jetzt noch weit unter mir, allein du bist ein wissenschaftlich gebildeter Mensch, ganz wie ich, und du kannst künftig noch einmal mein College, gar mein Vorgesetzter werden.

Indeß diesem vornehmen, kalten und gemessenen Manne durfte ich nicht von einer Rundreise in meiner künftigen Domaine sprechen.

„Herr Amtmann,“ sagte ich zu ihm, „ich benutze die Gerichtsferien zur Befriedigung eines lange gehegten Wunsches. Die Theorie allein macht nicht einen praktischen Beamten. Einseitigkeit in der praktischen Ausbildung macht nur einen einseitigen Praktiker. Ich wünsche daher für meinen künftigen Beruf mich dadurch mehr auszubilden, daß ich soviel als möglich den Geschäftsgang der Behörden in allen Theilen unseres Landes kennen zu lernen suche. Hätten Sie die Güte, mir zu gestatten, daß ich mich von den geschäftlichen Einrichtungen informiren darf, die Sie an dem hiesigen Amte getroffen haben?“

Er ging mit großer Bereitwilligkeit auf meine Bitte ein, führte mich selbst durch die Geschäftszimmer und zeigte und erläuterte mir den Mechanismus, den er in den einzelnen Geschäftszweigen eingeführt hatte.

Ich fand überall eine strenge, musterhafte Ordnung. Wäre er Monate lang auf die umständlichste amtliche Geschäftsrevision eines Vorgesetzten vorbereitet gewesen, die Ordnung hätte nicht größer, nicht strenger sein können. Jedes Aktenstück war auf seinem Platze; kein Journal, keine Liste zeigte einen Rest an und jeder Beamte war in seiner Thätigkeit.

In dem Gange vor einer Terminstube stand ein Mensch, der zu warten schien.

„Was macht Ihr hier?“ redete ihn der Amtmann an.

„Ich habe einen Termin bei dem Herrn Assessor.“

„Auf welche Zeit seid Ihr bestellt?“

„Zu neun Uhr.“

„Es ist jetzt ein Viertel über neun.“

„Der Herr Assessor habe noch andere Geschäfte, wurde mir gesagt.“

Der Amtmann öffnete die Thür des Terminzimmers.

„Herr Assessor, Sie haben den Mann auf neun Uhr bestellt?“

Der Assessor wurde verlegen.

„Ich war gerade bei einer dringenden Arbeit, die ich nicht unterbrechen mochte.“

„Der Mann hat vielleicht eine noch dringendere Arbeit unterbrechen müssen, um zur bestimmten Zeit hier zu sein. Die Eingesessenen sind nicht um der Beamten willen, die Beamten sind um der Eingesessenen willen da.“

Der Assessor mußte auf der Stelle den Mann abfertigen.

In dem Cassenzimmer hatte der Rendant Streit mit einem Landmanne, Der Mann wollte eine Zahlung leisten und der Beamte wollte sie nicht annehmen, weil sie erst nach den Ferien fällig sei.

„Aber ich müßte dann nochmals einen Weg von drei Meilen machen,“ sagte der Landmann.

„Aber ich habe das Reglement für mich,“ sagte der Beamte.

In diesem Augenblicke trat der Amtmann ein.

„Sie nehmen die Zahlung an,“ befahl er kurz dem Rendanten. „Auf das Reglement darf der Beamte zu seiner Bequemlichkeit sich nie berufen.“

In einem anderen Zimmer verlangte ein Bauer von dem Beamten, sofort mit einer Klage gegen seinen Nachbar zu Protokoll vernommen zu werden.

[583] Der Beamte bedeutete ihn, er müsse nach den Ferien wiederkommen.

Der Amtmann sah den Bauer an.

„Ihr seid ein täglicher, unnützer Querulant am Gerichte; mit Euch wird nach der Strenge verfahren. Fort!“

Der Bauer ging.

Das waren kleine, an sich unbedeutende Züge, aber sie zeigten die strenge und zugleich gerechte Herrschaft des Amtmanns. Niemand hatte gewagt, seinen stets eben so kurzen wie entschiedenen Befehlen auch nur die Miene eines Widerspruches entgegenzusetzen. Es folgte ihnen stets ein sofortiger, unbedingter Gehorsam.

Desto mehr sollte ein anderer Vorfall mich überraschen.

Wir kamen in die Kanzleistube des Gerichts. Die Schreiber saßen emsig beim Schreiben; kein Platz an den langen Tischen war leer. Im Hintergrunde saß an seinem Bureau der Actuarius, der Inspector der Kanzlei. Er saß auf einem erhöhten Platze, so daß er stets die sämmtlichen Schreiber und ihre Thätigkeit überwachen konnte.

Unter den Schreibern fiel mir gleich beim Eintritt in das Zimmer ein Gesicht auf; es war lang, blaß, hohl, kränklich. Es war der junge Mensch, den ich eine halbe Stunde vorher in Gesellschaft des schönen jungen Mädchens an der Taxushecke neben dem Kirchhofe gesehen hatte, von dem ich überzeugt war, daß er in der vergangenen Nacht in so räthselhafter Weise mit mir auf dem Kirchhofe gewesen sei.

Er schrieb emsig, wie die Anderen, als ich eintrat. Als er sich dann aber, ebenfalls gleich den Anderen, mit einer natürlichen Neugierde halb scheu nach den Eintretenden umgesehen und mich erblickt hatte, wurde sein Gesicht plötzlich fahler und die Feder in seiner Hand wollte auf dem Papiere nicht mehr vorwärts gleiten; die Hand schien ihm zu zittern. Es fiel mir auf. Ich war indeß nicht der Einzige, der es bemerkt hatte; auch der wachsame Actuar sah es.

Dieser Mann war ein sonderbares Männchen, noch ziemlich jung, klein, rund, mit rothen Haaren, mit noch rötherem Gesicht, mit fliegenden und stechenden Augen, mit dem Ausdrucke des steten ärgerlichen, verdrießlichen, verbissenen Keifens.

Er war mit großer Ehrerbietung aufgestanden, als der Amtmann mit mir eintrat. Er hatte mit der ehrfurchtsvollsten Dienstfertigkeit die Journale, Listen und Bücher herbeigeholt, die der Amtmann mir zeigen wollte. Er hatte aber dabei keine Secunde lang die Schreiber aus den Augen gelassen, und es war ihm also auch nicht entgangen, daß der blasse, kränkliche junge Mensch nicht mehr schrieb. Sein Gesicht wurde röther, seine Lippen bissen sich fester aufeinander; lange konnte er seinen Aerger, seinen Ingrimm nicht in sich verschließen.

Während der Amtmann die Bücher mit mir durchging, trat er an den Schreibertisch zu dem jungen Manne.

„Warum schreibst Du nicht?“ sagte er zu ihm, leise, aus Respect vor dem Vorgesetzten, obwohl zitternd vor Zorn.

„Mir ist unwohl,“ antwortete der kränkliche Mensch mit einer kränklichen Stimme.

„Unwohl? Ja, ja, ich glaube es. Wenn man die Nacht herumläuft, dann kann man auch des Morgens nicht zur rechten Zeit in der Schreibstube sein.“

In das blasse Gesicht des jungen Menschen schoß eine dunkle Röthe; nur einen Augenblick lang, dann war es blasser, als vorher.

Ich war aufmerksamer geworden. Der Gescholtene war in der Nacht herumgelaufen! War das nicht eine Bestätigung seiner Anwesenheit auf dem Kirchhofe?

Er hatte dem Actuar nicht geantwortet. Dieser fuhr fort:

„Aber es soll anders mit Dir werden. Ich werde Dich zur Anzeige bringen, und ich muß es, mein Gewissen fordert es von mir, der Dienst.“

Er hatte seinem Gewissen, dem Dienste schon Genüge geleistet. Er hatte, wohl absichtlich, lauter gesprochen. Der Amtmann hatte die Worte gehört.

„Was gibt es da?“ fragte er, aber nicht mit der Strenge, die ich von dem gemessenen, strengen Manne erwartet hatte; seine Stimme hatte vielmehr etwas Zurückhaltendes, das mir auffiel.

Der zornige Actuar aber hielt nicht zurück.

„Herr Amtmann,“ sagte er eifrig, „der Brunner gibt mir wieder viele Veranlassung zu Klagen. Auch heute ist er wieder zu spät zur Arbeit gekommen, erst wenige Minuten, bevor der Herr Amtmann eintraten, und geschrieben hat er seitdem fast noch nichts.“

Durch das Gesicht des Amtmanns flog ein sichtbarer Unmuth. Er blieb aber vollkommen ruhig, und wiederum sprach er ohne Strenge, sogar mit einem gewissen, obgleich ernsten Wohlwollen, diesmal zu dem blassen jungen Menschen:

„Ich hoffe, Carl, ich höre keine fernern Klagen über Dich.“

Der Actuar aber wurde eifriger.

„Er will immer unwohl sein, Herr Amtmann. Ja, er ist es auch. Aber ist es ein Wunder? Auch heute Nacht ist er wieder nach Mitternacht nach Hause gekommen. Der Schließer hat es mir gesagt. Wo hat er sich herumgetrieben? Er will keine Rede darüber stehen, auch nicht, warum er jetzt wieder über eine halbe Stunde zu spät gekommen ist. Der Herr Amtmann behandeln ihn mit so vieler Güte, er verdient es nicht.“

Der Amtmann runzelte doch die Stirn, und ein wenig strenger sprach er zu dem jungen Schreiber:

„Carl, der Herr Actuar ist Dein nächster Vorgesetzter, und Du wirst ihm Auskunft darüber geben, warum Du die Zeit versäumt hast.“

Er wollte sich damit wieder zu mir wenden, aber ein sonderbarer Zufall hielt ihn zurück.

Der junge Schreiber hatte sich nicht gerührt. Er hatte fortwährend still vor sich hingeblickt auf den Bogen Papier, der vor ihm lag, an dem er geschrieben hatte, nicht genug nach der Meinung des diensteifrigen Actuars. Auf einmal fielen dicke, langsame Thränen aus seinen Augen auf das Papier. Man konnte sie fallen hören.

Unmittelbar vorher aber war plötzlich und hastig eine Seitenthür aufgerissen, und in der Thür stand ein schönes Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren, mit hochgeröthetem Gesichte, mit blitzenden, funkelnden Augen. Es war die Gefährtin des kränklichen jungen Mannes an der Taxushecke. Sie stand mitten in der Thür. Rasch, wie sie diese aufgerissen, wollte sie in das Zimmer stürzen. Da sah sie mich. Ihr Schritt hemmte sich unwillkürlich, aber nur einen Augenblick. Was sie vorhatte, wozu ihr Inneres mächtig, unwillkürlich sie drängte, auch die Gegenwart des Fremden konnte sie nicht davon zurückhalten.

Sie stürzte in die Stube, und ging auf den Amtmann zu. Ihr vom Zorn geröthetes Gesicht bekam zugleich den Ausdruck eines zwar heftigen, aber doch noch mehr edlen Stolzes.

„Vater,“ sagte sie zu dem Amtmann, „ich habe Alles gehört. Ja, ich habe gehorcht“ – sie erhob ihr schönes Gesicht stolzer –; „Carl war bei mir, ich habe ihn zurückgehalten. Und ich weiß auch, wo er heute Nacht gewesen ist. Nun weißt Du Alles.“

Nun weißt Du Alles!

Der Amtmann schien in der That Alles zu wissen. Eine Blässe flog über sein Gesicht. Eine Verlegenheit machte seinen Blick ungewiß, freilich kaum eine Secunde lang. Er wußte sich augenblicklich zu beherrschen.

Aber seine Verwirrung kam mir doch so sonderbar vor. Eine bloße Verlegenheit des Vaters, des Beamten, der durch die Heftigkeit seines Kindes in seinem Amte compromittirt wurde, war es nicht. Es lag ein anderer, ein tieferer Grund vor.

Das junge Mädchen, nachdem sie die flüchtigen Worte zu dem Vater gesprochen hatte, wollte sich wieder entfernen. Da sah sie, wie der junge Schreiber weinte, Seine Thränen fielen nicht mehr langsam, sie fielen schneller, dichter auf das Papier.

Sie ging nicht zu der Thür; sie flog auf ihn zu und nahm seine Hand.

„Weine nicht, Carl!“

Dann flog sie zu ihrem Vater zurück.

„Vater, darf ich ihn mitnehmen? Er ist so krank, ich weiß es.“

Sie schien Alles von dem jungen Menschen zu wissen.

Der Amtmann runzelte wohl wieder die Stirn, aber er sagte doch, obwohl diesmal mit mehr Ernst als Wohlwollen:

„Carl, Du kannst gehen.“

„Ich danke Dir, Vater!“ rief das Mädchen.

Sie flog wieder zu dem jungen Manne.

„Komm, Carl!“

Sie ergriff seine Hand, und verließ mit ihm das Zimmer. Ihre Augen standen voll Thränen, während die des jungen Mannes sich trockneten.

Es war ein sonderbarer Zwischenfall gewesen. Dieser heftige muthige Stolz des schönen jungen Mädchens, dessen körperliche Entwicklung noch lange nicht die Jungfrau, noch vollkommen ein Kind [584] zeigte; dieser Stolz, der sich nicht um Formen und um Dienst, nicht um einen Fremden, nicht um die Schreiber kümmerte; dieser ungestüme Eifer, den jungen Freund zu beschützen, zu befreien; diese liebevolle, innige, hingebende Zärtlichkeit, die jeder Blick, jede Bewegung der Tochter des gestrengen Herrn Amtmanns für den kränklichen jungen Schreiber aussprach, das Alles war sehr seltsam, es war aber auch sehr ergreifend.

Und der Vater, der gestrenge und strenge Amtmann, unterwarf sich fast gehorsam den Forderungen, den Launen, den Eingriffen der Tochter! Welche eigenthümliche Verhältnisse lagen hier vor? Zwischen dem Mädchen und dem Schreiber! Zwischen dem Amtmann und den Beiden! –

Der Amtmann war taktvoll und vornehm genug, nach der Entfernung der Beiden kein Wort weiter über den Vorfall zu sprechen. Der Actuar kehrte etwas abgekühlt auf seinen Platz zurück.

Meine Besichtigung in der Kanzlei war zu Ende. Noch hatte ich für meinen besondern Zweck nichts gethan. Der kleine Zwischenfall hatte das Verlangen, ihn zu erreichen, lebendiger in mir gemacht. Ich mußte näher an ihn herantreten.

„Dürfte ich bitten, Herr Amtmann, mir auch die Gefängnisse des Amtes zeigen zu lassen? Ich interessire mich besonders für Criminal- und Gefängnißwesen.“

Er zeigte auch hier dieselbe Bereitwilligkeit.

„Ich freue mich, jenes Interesse von Ihnen zu vernehmen,“ sagte er. „Unsere Juristen überhaupt vernachlässigen die Criminalrechtspflege; besonders die jüngeren. Der Richter und Advocat können in Civilsachen mehr Scharfsinn und mehr Rechtskenntnisse geltend machen, sagen sie. Als wenn Richter und Advocaten nur darum, und nicht zum Schutze des Rechtes Aller, wie jedes Einzelnen, da wären, und als wenn nicht gerade die Strafrechtspflege den Schutz der höchsten Güter des Menschen zu ihrem unmittelbaren Zwecke hätte!“

Er ließ durch einen Diener, der uns begleitete, den Schließer herbeirufen, um uns in die Gefängnisse zu führen.

„Haben Sie viele Gefangene?“ fragte ich ihn unterdeß.

Er wußte die Zahl genau. Er nannte sie mir. Es waren einige dreißig.

„Sind schwere Verbrecher darunter?“

„Zur Zeit, Gott Lob, nicht. Die meisten sind kleine Diebe, Vaganten und dergleichen.“

„Es sitzt also auch wohl keiner von ihnen seit längerer Zeit?“

„Länger als ein halbes Jahr keiner.“

Es kam mir doch vor, als hätte ich bei der Antwort hinten in seinem Auge eine leise Spur von Mißtrauen gewahrt, das meine Frage geweckt haben mußte.

„Die verurtheilten Gefangenen,“ fuhr ich fort, „verbüßen ihre Strafe hier?“

„Mit Ausnahme schwerer Zuchthausstrafen.“

Ich mußte meinem Ziele näher kommen.

„Ich habe,“ sagte ich, „aus Ihrer Aeußerung vorhin geschlossen, daß Sie der Criminalrechtspflege ein besonderes Interesse widmen.“

„Gewiß,“ antwortete er. „Sie verdient es aus so manchen Ursachen. Von der Wichtigkeit der Güter, die sie schützt, sprach ich schon. Noch wichtiger ist mir der wohlthätige Einfluß, den der Criminalrichter auf den Verbrecher ausüben kann, wenn er sich daran gewöhnt, in diesem nicht mit der Menge einen verworfenen und verlorenen Bösewicht, sondern einen Unglücklichen zu sehen, den menschliches Behandeln, Mitleiden, Trösten und Belehren wieder aufrichten, wieder mit seinem Gotte, also auch wieder mit den Menschen versöhnen können.“

Er sprach das mit so wahrem und warmem Gefühle, daß ich mich beinahe der Umwege schämte, auf denen ich bei einem Manne von so edlen Gesinnungen zum Ziele kommen wollte. Aber jene Spur von Mißtrauen in seinen Augen hatte mich stutzig gemacht.

„Sie haben Recht,“ sagte ich, „darin liegt eine erhabene Seite des Berufes des Criminalrichters. Und dagegen kommt allerdings nur in untergeordneten Betracht ein anderes Interesse, das ich noch hervorheben möchte, Ich meine das psychologische.“

„O,“ entgegnete er; „es ist kein untergeordnetes. Nur der Criminalrichter wird seinem Berufe genügen können, der das menschliche Herz zu seinem Hauptstudium macht.“

Auf diesen Gegenstand hatte ich kommen wollen.

„Sie haben Wohl manche interessante psychologische Erfahrungen in Ihrer Praxis gemacht?“

„Welcher beobachtende Criminalrichter macht sie nicht!“

„Freilich wohl meist betrübende, der Heuchelei, der Simulationen aller Art, selbst des Wahnsinns –“

„Auch solche.“

„Auch des wirklichen Wahnsinns, von dem Verbrechen erzeugt?“

„Auch ihn habe ich kennen gelernt.“

„In neuerer Zeit?“

Die rasche Frage hatte ihn überrascht. Ich gewahrte wieder jenes Mißtrauen in seinem Auge. Ich war freilich etwas plump herausgeplatzt. Es wäre daher völlig verfehlt gewesen, wenn ich jetzt mein nächtliches Kirchhofsabenteuer hätte vorbringen wollen; ich mußte vielmehr für den Augenblick den Gegenstand des Gesprächs fallen lassen und konnte erst später wieder darauf zurückkommen.

Auch er hielt ihn nicht fest.

Mir fiel mein zweiter Zweck wieder ein, der Auftrag meiner Mutter. Ich fand kein Bedenken, die Frage nach der verschollenen Dame sofort vorzubringen, zumal da ich nicht die geringste Beziehung derselben auf den eben besprochenen Gegenstand sah.

„Darf ich mir eine völlig nicht hierher gehörige Frage erlauben?“ begann ich.

„Ich bitte.“

„Meine Mutter hatte mir den Auftrag gegeben, mich nach einer Jugendfreundin von ihr zu erkundigen, die hier wohnen soll. Im Städtchen konnte man mir keine Auskunft über sie ertheilen. Nettchen Thalmann ist ihr Tauf- und Geburtsname.“

Welche plötzliche Veränderung war mit dem ruhigen, kalten, gemessenen Manne vorgegangen! Sein Gesicht war leichenblaß geworden, seine Augen glanzlos. Aber welche Gewalt hatte der Mann über sich!

Mein Auge hatte die Veränderung seines Gesichtes kaum mit einem flüchtigen Blicke auffassen können, da stand er schon wieder in seiner vollen Ruhe und Kälte und Gelassenheit da.

„Ich erinnere mich des Namens ebenfalls nicht,“ antwortete er mit fester und gleichgültiger Stimme.

„Sie soll hier an einen Mechanikus verheirathet gewesen sein.“

Noch einmal schien es leise in ihm zu zucken; aber ruhig, wie eben, fragte er:

„Der Name des Mannes?“

„Er war eben meiner Mutter entfallen. Die beiden Eheleute sollen vor einigen zwanzig Jahren hierher gezogen sein.“

„Ich bedauere, Ihnen durchaus keine Auskunft geben zu können; ich bin seit mehreren zwanzig, seit beinahe dreißig Jahren hier und habe keine Erinnerung, welche paßte.“

In dem Augenblicke trat der herbeigerufene Schließer zu uns. Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen. Ich hätte es ohnehin kaum fortsetzen können. Der Amtmann wollte offenbar meinen Fragen nach Nettchen Thalmann nicht Rede stehen; und er konnte es eben so offenbar. Welches Geheimniß lag da wieder vor? Welches, das ihn so heftig ergreifen konnte, daß der besonnene Mann so völlig, wenn auch nur auf einen Augenblick, die Herrschaft über sich verloren hatte? Und stand dieses neue Geheimniß mit jenem des Kirchhofes in Verbindung? Ich mußte es unwillkürlich denken. Die Phantasie bringt so gern Geheimnißvolles mit Geheimnißvollem in Verbindung.

Der Schließer war der riesige, baumstarke, alte Mann in dem weiten Kamisol und der Pelzmütze, den ich in der Nacht auf dem Kirchhofe gesehen hatte; ich erkannte ihn auf der Stelle wieder. Auch er erkannte mich. Ich hatte ihn erwartet, er mich nicht.

Sein erster Blick, als er mich erkannte, fiel auf den Amtmann, forschend, fragend, Alles mit einer gewissen Aengstlichkeit. Als er den Amtmann völlig ruhig sah, wurde auch er es wieder. Zugleich mußte er schnell einen Plan gefaßt haben.

„Schließer Kraus,“ sagte der Amtmann zu ihm, „führt uns in die Gefängnisse.“

„Zu Befehl, Herr Amtmann, Aber ich habe dem gnädigen Herrn Amtmann vorher eine Meldung zu machen.“

Ein von mir ungesehener Wink mußte diese Worte begleitet haben.

[597] Der Amtmann trat mit dem Schließer auf die Seite. Dort machte derselbe seine Meldung, leise, lange. Der Amtmann blieb unbeweglich. Keine Miene in seinem Gesichte zeigte, daß er etwas Anderes, als eine gewöhnliche dienstliche Anzeige, entgegen nehme. Auch der Schließer sprach mit großer Ruhe. Nur ein einziger unbewachter Seitenblick auf mich verrieth mir, daß er von mir sprach. Handelte es sich um mein nächtliches Abenteuer? Das schien mir gleich darauf das Benehmen des Amtmanns zu bestätigen.

Nach Beendigung seiner Unterredung mit dem Schließer trat er zu mir zurück. Er war ruhig und höflich wie vorher. Nur glitt ein leise forschender Blick wie unwillkürlich aus seinem Auge über mein Gesicht, und etwas kälter und zurückhaltender schien er mir doch geworden zu sein.

„Ich bedauere,“ sagte er zu mir, „Sie nicht in die Gefängnisse begleiten zu können. Ich erhalte in diesem Augenblicke eine Mittheilung, die mich abhält. Es ist mir übrigens sehr angenehm gewesen, einen so intelligenten und strebsamen jungen Beamten kennen gelernt zu haben.“

Da hatte ich zugleich meinen Abschied von ihm.

Ich dankte ihm für seine Freundlichkeit, drückte ihm, sein Compliment erwidernd, meine Bewunderung über Ordnung und Vortrefflichkeit seiner Einrichtung des Amtes aus, und schied von ihm. Er kehrte in seine Wohnung im Klostergebäude zurück. Ging er wirklich dahin, oder welches andere Ziel verfolgte er?

Mich führte der Schließer Martin Kraus zu den Gefängnissen. Ich war sehr neugierig, ob sich diese in der That nicht nach der Kirche, nach dem Kirchhofe, nach der Gegend meines nächtlichen Abenteuers hin befinden würden.

Sie lagen nicht nach dieser Seite, sie lagen, wie schon der Wirth mir gesagt hatte, in der völlig entgegengesetzten Richtung, nach der Stadtseite; die sämmtlichen Klostergebäude befanden sich zwischen ihnen und der Kirche mit dem Kirchhof. Jenes Klagen konnte also aus einem Gefängnisse nicht hervorgegangen sein, oder das Amt mußte mehrere Gefängnisse haben.

Der Schließer Kraus hatte nach der Entfernung des Amtmanns ganz die finstere Miene der vergangenen Nacht. Er sah nur nicht drohend aus. Dafür war er völlig schweigsam. Er führte mich, ohne ein Wort zu sagen, in das Gefangenhaus, in die einzelnen Gefangenzellen. Auf meine Fragen gab er nur die allernothdürftigste Auskunft.

Gefängnisse und Gefangene boten nichts Bemerkenswerthes dar, nur daß auch hier überall die größte Ordnung, Pünktlichkeit und Ruhe herrschte. Ein strenger, aber zugleich humaner Geist mußte auch hier walten.

Die Besichtigung war bald vorüber.

In den Zellen, in Gegenwart der Gefangenen hatte ich über Anderes mit dem Schließer nicht sprechen können. Auch jetzt mußte ich jede Frage über unser nächtliches Begegnen für überflüssig halten. Er stand zwar vor mir wie ein Untergeordneter, der seine Entlassung erwartet. Aber sein finsteres Gesicht sprach den festen Entschluß aus, mir auf keine Frage eine Antwort zu geben. Ich entließ ihn.

Und wie Vieles hätte ich ihn fragen mögen! Wie Vieles den Amtmann, der so plötzlich mich entlassen hatte! Wie Vieles die Leute in dem Städtchen, die aber nichts wußten, als daß es auf dem Kirchhofe spuke!

Aber daß ich hier ein Geheimniß zurücklassen müsse, wahrscheinlich ein furchtbares Geheimniß, um das vielleicht nur zwei Menschen wüßten, der finstere Gefangenwärter und der peinlich-ordentliche, gerechte, humane, aber doch auch kalte, gemessene Amtmann, das ferner aller Muthmaßung und Berechnung nach nur irgend ein gefangen gehaltenes Wesen betreffen könne, darüber war ich nicht in dem mindesten Zweifel mehr.

So reiste ich ab.




Sechs Jahre waren seitdem verflossen. Ich war nie wieder nach Z. gekommen. Ich hatte nie wieder etwas über mein dortiges Abenteuer gehört. Desto öfter hatte ich daran denken müssen.

Meine Mutter hatte auch nie wieder etwas von Nettchen Thalmann gehört. Ob sie noch oft an sie gedacht hatte, weiß ich nicht.

Ich war schon seit mehreren Jahren wohlbestallter Amtsassessor in der Nähe meiner Heimath.

Eines Tages erhielt ich ein mit „sehr eilig“ bezeichnetes, an mich persönlich gerichtetes Rescript aus dem Ministerium der Justiz und des Innern. Es war darin der Befehl für mich enthalten, mich Angesichts dieses nach Z. zu begeben, um an Stelle des plötzlich und schwer erkrankten dortigen Amtmanns die Direction des Amtes zu übernehmen. Der Postenlauf von der Residenz nach Z., hieß es ferner in dem Schreiben, sei ein langsamer; wahrscheinlich sei daher die gleichzeitig an das dasige Amt abgesandte Benachrichtigung von dem mir gemachten Auftrage dort bei meiner Ankunft noch nicht eingetroffen; ich habe dann gleichwohl sofort die Geschäfte zu übernehmen, und durch Vorzeigung dieses Rescriptes mich zu legitimiren.

[598] Der mir ertheilte Auftrag war, bei meiner Jugend an natürlichem wie an dienstlichem Alter, eine große Auszeichnung. Sie beschäftigte gleichwohl meine Gedanken kaum so sehr, als das mit neuer Kraft und Lebendigkeit vor mich hintretende Geheimniß, das ich vor sechs Jahren in Z., in dem Amte zu Z., hatte zurücklassen müssen. Jetzt mußte ich den Schlüssel zu ihm finden.

Mit dieser Gewißheit reiste ich gleich nach Empfang des Ministerialrescripts ab. Ich war noch unverheirathet. Meine gute Mutter lebte nicht mehr. Ich hatte keinen einzigen schweren Abschied zu nehmen.

Es war an einem Sonntag Abend, als ich in Z. eintraf.

Ich konnte an demselben Tage in meine neuen Geschäfte nicht mehr eintreten. Es war schon spät, ich mußte auch fürchten, die Beamten nicht bei der Hand, nicht einmal in ihren Wohnungen zu finden. Und ich wollte überraschen, um jenes Geheimnisses willen, daher vor Allem die Gefängnisse, den Gefangenwärter, den Schließer Martin Kraus, wenn er noch am Leben und im Amte war. Deshalb gab ich mich auch an dem Abende in dem Wirthshause nicht kund, und ließ mich vor Niemandem sehen.

Ich war in dem nämlichen Gasthofe abgestiegen, der mich vor sechs Jahren aufgenommen hatte, denn es gab keinen andern in dem Städtchen. Es war ein neuer Wirth da, der mich nicht kannte.

Am folgenden Morgen, gleich nach acht Uhr, der Zeit des Beginnes der Bureaustunden, begab ich mich auf das Amt. Ich wollte zugleich sehen, ob der strenge Ordnungsgeist des Amtmanns auch während seiner Krankheit nachwirke. Er wirkte nach. Alle Beamten waren auf ihrem Platze.

Ich ließ mich zu dem ältesten Assessor führen, der bis zu der Uebernahme der Geschäfte durch mich einstweilen die Direktion des Amtes führen mußte. Der Diener, der mich führte, kannte mich nicht, auch der Assessor nicht; er hatte mich bei meiner früheren Anwesenheit nicht gesehen.

Der Assessor war eine aufgeblasene Null, eine Schreiberseele, wie man ihrer leider auch in dem Richterstande so viele findet. Als interimistischer Chef hatte er sich doppelt aufgeblasen. Er empfing mich hochmüthig in seinem Arbeitszimmer; er stand nicht auf, er sah kaum nach mir auf.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Ich überreichte ihm schweigend mein Ministerialrescript.

Da flog er freilich schnell genug in die Höhe, und er war nicht blos mein gehorsamster, er war mein unterthäniger Diener, der nur unterthänigst fragte, was zu meinen Befehlen stehe.

„Ich bitte nur,“ erwiderte ich ihm, „daß Sie, nach Inhalt des Rescriptes, mir sofort die Geschäfte übergeben.“

„Zu Befehl. Womit befehlen der Herr Amtmann den Anfang zu machen? Mit den Cassen?“

„Ich bin kein Amtmann; ich bin Amtsassessor, wie Sie.“

„Gehorsamster – unterthänigster Diener. Also zuerst die Cassen, befehlen Sie?“

„Ich denke, zu ihnen gehen wir später, damit die Rendanten unterdeß ihre Abschlüsse machen können.“

„Sie könnten aber auch unterdeß Unrichtigkeiten, selbst Malversationen verdecken.“

„Ich halte die Menschen nicht eher für schlecht, als bis ich sie für schlecht erkannt habe.“

„Ah, ah, im Beamtenleben –!“

„Die Beamten sollten die Besten unter den Guten sein.“

„Freilich, freilich!“

„Aber wenn ich bitten darf, so machen wir den Anfang mit der Uebergabe der Gefängnisse.“

„Wie Sie befehlen.“

Er sandte den Diener, der mich zu ihm geführt hatte, zu dem Schließer.

„Rufe Er auf der Stelle den Schließer hierher,“ befahl er blos.

Einen Namen nannte er nicht. Ich erwartete fast klopfenden Herzens, ob ich Martin Kraus werde eintreten sehen. Ich erkundigte mich unterdeß nach dem Befinden des Amtmanns.

„Er ist sehr schwach,“ erwiderte mir der Amtsassessor. „Er hatte plötzlich eine Lungenlähmung bekommen. Sowohl der Arzt des Städtchens, wie ein herbeigeholter Arzt aus der benachbarten größeren Stadt haben ihn aufgegeben. Er kann höchstens noch drei Tage leben.“

„Hat er Familie?“ fragte ich.

„Nur eine Tochter. Er ist schon lange Wittwer.“

„In welchem Alter ist die Tochter?“

„Sie wird ungefähr zwanzig Jahre zählen.“

War es jenes schöne, heftige, leidenschaftliche Mädchen, das ich an der Taxushecke so traurig bei dem blassen Schreiber gesehen, das sich dann so heftig und doch so liebevoll zärtlich des kränklichen jungen Mannes angenommen hatte?

Der Schließer trat ein. Es war der alte Martin Kraus. Er war in den sechs Jahren nicht älter geworden, war noch eben so kräftig und rüstig, wie damals, als ich ihn zum ersten Male sah, und sah auch noch eben so finster, verschlossen und schweigsam aus. Aber als er mich erblickte und sofort erkannte, da schrak er plötzlich und heftig zusammen, und als der Assessor ihm dann erklärte, daß ich der neue Vorgesetzte des Amtes sei und jetzt gleich mein Amt antreten und zuerst die Gefängnisse mir übergeben lassen wolle, da sank der riesige, kräftige Mann ineinander, daß er sich kaum aufrecht halten konnte; er schien in einer Secunde um zehn Jahre älter geworden zu sein.

Was war das? Hier mußte ich zu meinem Geheimnisse kommen.

„Sogleich befehlen der Herr?“ konnte er kaum fragen.

„Ich wünsche es,“ sagte ich.

„Gewiß!“ rief befehlend der Assessor, der noch, indem er mir das Amt zu übergeben hatte, als erster Beamter befehlen konnte.

Martin Kraus mußte gehorchen. Er gehorchte; er führte uns, als ob er uns zum Richtplatze, zu seinem Richtplatze führen sollte. Auf dem Wege erholte er sich jedoch nach und nach, als wenn näheres Nachdenken ihm eine plötzliche Hoffnungslosigkeit genommen habe. Auch in den Gefängnissen waltete noch der Geist des Amtmanns; überall die frühere Ruhe und Ordnung. Von den Gefangenen, von denen keiner über ein halbes Jahr lang saß, hatte kein einziger eine Klage zu führen, weder über seine Untersuchung, noch über seine Behandlung in der Haft. Das Gefängnißgebäude war das frühere. Es lag für sich allein, von den übrigen Kloster- oder Amtsgebäuden getrennt, von einer hohen Mauer umgeben. Daß zwischen ihm und dem Kirchhofe sich die sämmtlichen anderen Gebäude des Amtes befanden, habe ich schon gesagt. Ich ließ mich in jeden Raum des nicht weitläufigen Hauses führen, immer an mein Geheimniß denkend. Ich fand nirgends etwas Verdächtiges, nirgends eine Spur, daß in einem der Räume jemals ein Mensch etwa in verborgener Gefangenschaft gehalten sei. Ich mußte den Schlüssel zu dem Geheimnisse anderswo suchen. Nur in der Nähe der Kirche und des Kirchhofes konnte er auch jetzt noch zu finden sein.

Leider konnte ich ihn dort nicht sogleich suchen; ich mußte mir die sämmtlichen übrigen Geschäfte des Amtes übergeben lassen, und das nahm den ganzen Tag weg.

Welche Vorbereitungen und Verdunkelungen konnte nicht unterdeß der Schließer Martin Kraus treffen, der auch den Schlüssel des Geheimnisses hatte! Hatte sich darauf seine plötzlich erwachte Hoffnung gebaut?

Außer dem Schließer fand ich bei meiner Einführung in das Amt noch zwei andere Bekannte wieder. Der Actuarius mit dem rothen Gesichte und den rothen Haaren schien seine Kanzlei mit eben so cholerischem Diensteifer zu überwachen, wie vor sechs Jahren. Und der so kränkliche Schreiber Karl Brunner, der Schützling der schonen Amtmannstochter, saß noch auf seinem alten Platze an dem Kanzleitische. Er war noch mehr in die Höhe geschossen; aber auch seine Brust war noch mehr eingefallen und sein hohles Gesicht bedeckte rund um die hektische Röthe auf der Spitze der Backenknochen eine furchtbare Blässe; sein Athem war kurz, beschwerlich; man glaubte zu hören, wie jeder Zug sich mühsam durch zerstörte Lungen hindurcharbeiten müsse. Und der arme Mensch mußte noch immer die kranke Brust über den Schreibtisch krümmen!

Er stand mit jenem Geheimnisse in Verbindung. Auch dieses sein Schicksal?

In sein Gesicht schoß wieder eine dunkle Rothe, als er mich erkannte; dann wurde es so leichenblaß, daß selbst jene verrätherischen rothen Flecken verschwanden. Aber weiter schreiben konnte er. Hatte der cholerische Eifer des Actuar ihn das seitdem gelehrt? Der rothe Mann sah es wenigstens mit zufriedenem Stolze, daß er weiter schrieb. –

Die Uebernahme der Geschäfte war beendet. Ich hatte mit Ungeduld das Ende abgewartet.

Seit sechs Jahren hatte mich der Gedanke nicht verlassen, daß in den Räumen des Amtes auf geheimnißvolle Weise eine gefangene [599] Person verborgen gehalten werde; daß der Amtmann und der Schließer darum wissen; aber auch nur diese Beiden; daß auch nur diese Beiden darum wissen dürften, daß ein sehr wichtiger Grund vorliegen müsse, das Geheimniß zu bewahren, wahrscheinlich zugleich ein neues Verbrechen zu dem des Gefangenen, wenn dieser überhaupt ein Verbrechen begangen hatte.

Beide Beamte wußten aber auch, daß ich eine Ahnung von dem Geheimnisse hatte. Ich hatte sogar schon einmal den Versuch gemacht, meine Ahnung zur Gewißheit zu erheben. Ich hatte es damals aufgeben müssen; mir hatte jedes Mittel dazu gefehlt.

Heute, wenn das Geheimniß noch bestand, wie leicht konnte ich als Vorgesetzter des Amtes alle Mittel dazu mir verschaffen, wenn diese nicht schon vor meiner Ankunft beseitigt waren oder schnell nach meiner Ankunft beseitigt wurden! Und daß das Geheimniß noch bestand, daß der Gefangene – wie ich nun einmal meinte – noch immer in seiner verborgenen Haft war, darüber hatte das Erschrecken des Schließers mir keinen Zweifel gelassen.

Man hatte aber auch vor meinem Eintreffen schwerlich an Beseitigung jener Mittel denken mögen.

Der Amtmann lebte noch. Daß das Ministerium einen fremden Beamten zu seiner Stellvertretung schicken werde, daran hatte Niemand gedacht. Wäre man aber auch darauf vorbereitet gewesen, so hatte dies wenig zu sagen; denn wie außer dem Amtmann und dem Schließer kein anderer Beamter des Amtes das Geheimniß nur geahnt hatte, so konnte auch ein neuer Beamter nicht gefürchtet werden, der nicht schon einen Verdacht mitbrachte.

Das war einzig und allein ich, und ich war völlig unerwartet gekommen.

Freilich, auf desto mehr Eifer und Eile zur Verbergung des Geheimnisses seit meiner Ankunft mußte ich rechnen. Aber der Amtmann lag auf den Tod krank; nur der Schließer allein konnte mithin handeln. Er war indeß den ganzen Tag beschäftigt gewesen und hatte sich überdies immer beobachtet wissen müssen. Meine Anwesenheit hatte sämmtliche Beamte fortwährend in den Gebäuden zurückgehalten; selbst Neugierige hatten sich eingefunden. So hatte er am Tage schwerlich Zeit und Gelegenheit gehabt; erst der Abend konnte ihm diese bringen, und er mußte sie ihm auch bringen; er mußte dann aber auch mir Licht bringen.

So hatte ich combiniren müssen schon während der vielen Geschäfte, die mit der Uebernahme meines Amtes verbunden waren; so mußte ich nach deren Beendigung combiniren.

Aber welchen Weg sollte ich einschlagen, um zu dem Lichte zu gelangen? Mir standen mehrere Wege zu Gebote.

Der erste war, dem Schließer Alles, was ich wußte, meinen ganzen Verdacht geradehin auf den Kopf zuzusagen und ihn zur sofortigen Enthüllung der Wahrheit und Nachweisung des Gefangenen aufzufordern, für den Fall der Weigerung ihm die strengste Nachsuchung und, bis diese ein Resultat geliefert hätte, seine Einstellung in seinen amtlichen Functionen anzudrohen; dieser Weg war der geradeste. Es war von ihm am sichersten ein Resultat zu erwarten, schon darum, weil bei einer Entfernung des Schließers aus seinen Amtsverrichtungen und aus dem Amte der verborgene Gefangene nothwendig dem Verhungern ausgesetzt war und sein Tod im Falle einer Entdeckung ihm, dem Schließer, als einem Mörder zur Last fiel. Zu einem Morde hielt ich ihn nicht fähig. Allein das Alles setzte voraus, daß wirklich ein verborgener Gefangener da war, und dafür hatte ich keinen einzigen tatsächlichen Anhalt, nichts als persönliche Vermuthungen. Wie leicht konnten diese mich täuschen! Und hatten sie mich getäuscht, so hätte ich mich auf die allereinfältigste Weise von der Welt lächerlich gemacht und nicht nur meine Stellung in Z., sondern meine beamtliche Laufbahn für immer verdorben.

Die beiden zunächstfolgenden Wege beruhten auf der gemeinsamen Voraussetzung, daß der Schließer entweder den Aufenthaltsort des Gefangenen oder den Weg dahin noch verborgener als bisher machen oder den Gefangenen an einen noch verborgeneren Ort bringen werde. Beides konnte allerdings nur innerhalb des Umfanges der Amts- oder ehemaligen Klostergebäude geschehen. Ich konnte es aber in zweierlei Weise beobachten. Einerseits, indem ich selbst im Innern der Gebäude mich auf die Lauer stellte; aber es waren der Gebäude so viele, und es war mir völlig unbekannt, welches das rechte war. Andererseits konnte ich mich auf dem Kirchhofe aufstellen, um, wenn auch nicht wieder die Klagetöne jener Mitternacht, doch mindestens ein Geräusch der jedenfalls in der Nähe des Kirchhofes unter der Erde vorzunehmenden Arbeiten zu hören. Allein theils war es auch hier ungewiß, ob ich die richtige Gegend des Kirchhofs treffen werde, theils lief ich Gefahr, die ganze Nacht ohne Resultat auf dem Kirchhofe zubringen zu müssen, um dennoch vielleicht durch irgend einen Zufall entdeckt und zum Gespötte zu werden. Zudem waren beide Wege keine geraden, offenen.

Es blieb mir nur ein vierter Weg übrig. Er war zugleich ein offener und er konnte mich nicht compromittiren. Diesen schlug ich ein.

Es war schon dunkel, als meine Geschäfte beendigt waren.

Ich ließ den Schließer Martin Kraus zu mir rufen. Er kam mit seiner finsteren, verschlossenen, undurchdringlichen Miene und erwartete schweigend, was ich ihm befehlen würde.

Ich sagte ihm nichts auf den Kopf zu; ich wußte ja auch nichts. Aber ich sagte zu ihm:

„Schließer Kraus, Ihr seit der älteste Beamte hier am Amte?“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

„Wart Ihr schon vor dem Herrn Amtmann hier?“

„Zehn Jahre früher.“

„Und wie viele Jahre seit Ihr im Ganzen hier?“

„Sechsunddreißig,“

„Immer als Schließer?“

„Die ersten acht Jahre als Schließerknecht, dann als Schließer.“

„Ihr habt zur Zeit keinen Schließerknecht?“

„Ich versehe den Schließerposten allein, Mein Vorgänger war krank, darum hatte er einen Knecht zur Hülfe.“

„Ihr kennt die sämmtlichen Amtsgebäude hier wohl genau?“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

„Ich wünsche, sie ebenfalls kennen zu lernen. Ihr führt mich wohl umher?“

„Zu Befehl.“

„Jetzt gleich.“

„Zu Befehl.“

„Holt eine Laterne herbei, oder gleich zwei; wenn die eine ausgeht, bleibt die andere.“

„Zu Befehl.“

„Habt Ihr eine Blendlaterne?“

„Zu Befehl.“

„Bringt sie mit, und dazu eine größere.“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

Er ging.

„Zu Befehl! Zu Befehl, Herr Assessor!“ Ich hatte fast keine anderen Worte von ihm gehört. Sie waren immer mit derselben festen, unzerstörlichen Ruhe gesprochen. In dem finsteren, harten Gesichte hatte sich nichts bewegt.

Er war nach wenigen Minuten mit den zwei Laternen wieder da. Ich nahm die Blendlaterne.

„Wohin befehlen der Herr Assessor zuerst?“

Ich hatte mir schon am Tage während einer Mittagspause die Lage der sämmtlichen zu dem Amte gehörigen Gebäude wiederholt betrachtet. Sie bestanden aus dem ehemaligen eigentlichen Kloster. Es war ein langes, gerades Gebäude, in welchem sich jetzt die sämmtlichen Geschäftsbureaux und die Wohnungen der höheren Beamten befanden. Links von ihm, ein wenig vorstehend, lag das Gefangenhaus, isolirt und mit einer hohen Mauer umgeben. In ihm hatte zugleich der Schließer seine Dienstwohnung. Rechts vom Kloster, mit seiner ganzen Front quer vorspringend, befand sich ein großer, hoher Speicher; er diente blos zur Aufnahme und Aufbewahrung der an das Amt als Rentamt einzuliefernden Naturalien, Roggen, Weizen, Gerste und anderer ländlicher Producte. Er war unbewohnt. Rechts von ihm, wieder durch einen Zwischenraum von ungefähr zehn Schritten getrennt, stand die alte Klosterkirche; sie war verfallen und wurde zu nichts mehr gebraucht. Zu ihrer rechten Seite, nach einem Zwischenraume von ungefähr zwanzig Schritten, lag ein langes Gebäude, das zum Aufbewahren der Wirthschaftsvorräthe für die Beamten des Amtes und für die Gefangenen, zu Stallungen und Remisen diente und in dem zugleich die Unterbedienten des Amtes ihre Wohnungen hatten. Sämmtliche Gebäude lagen in einem länglichen Viereck; der Platz in ihrer Mitte war ein freier Hof. Durch diesen gelangte man in ein eisernes Gitterthor zur Rechten des Gefangenhauses, mithin so, daß, wenn man durch das Thor trat, man links zuerst das Gefangenhaus, dann das ehemalige Kloster, jetzt sogenannte Amthaus, darauf gerade vor sich den hohen Speicher, sodann rechts, gerade dem [600] Amthause gegenüber, die Kirche, und hierauf neben dieser, dem Gefangenhause gegenüber, das Wirthschaftsgebäude vor sich sah.

Der hohe Speicher und die Kirche stießen mit ihren Rückseiten an den alten Klosterkirchhof, der zugleich ein Gemeindekirchhof gewesen war, jetzt aber gleichfalls nicht mehr gebraucht wurde.

Das Ganze war nach außen von einer hohen, dicken Mauer umschlossen, jedoch nicht überall. Die nach außen vorspringende Kirche stand frei; der Garten des Amthauses, unmittelbar hinter diesem gelegen, war nur mit einer dichten Taxushecke umgeben.

„Wohin befehlen der Herr Assessor zuerst?“ hatte mich der Schließer gefragt.

„Zu dem Speicher. Ihr habt doch die Schlüssel?“

„Zu Befehl.“

Er führte mich zu dem hohen Speicher.

Wir Beiden waren ganz allein; ich hatte keinem Dritten von der Besichtigung etwas gesagt und mußte auch bezweifeln, daß der schweigsame Schließer davon gesprochen hatte.

Der Speicher war ein altes Gebäude, noch aus den Zeiten des Klosters. Er hatte aber auch schon damals wohl nur seine heutige Bestimmung gehabt. Er bestand in allen seinen drei Stockwerken nur aus fast regelmäßigen, ungeheueren Räumen zur Aufnahme jener Naturalien. Es war jetzt September; sie waren beinahe sämmtlich gefüllt.

An einen geheimen Versteck konnte man hier kaum denken. Ueberall lagen die Mauern, so weit die Vorräthe nicht in die Höhe reichten, nackt und kahl da; nirgends ein Zeichen, daß eine geheime Thür, eine verborgene Treppe vorhanden sein könne.

„Zu der alten Kirche, Schließer!“

„Zu Befehl, Herr Assessor!“

Immer der gleichmäßig ruhige, feste Ton.

Wir gingen zu der Kirche. Speicher und Kirche stießen, wie gesagt, an den Kirchhof. Ersterer war nur durch die hinter ihm laufende Mauer davon getrennt und letztere grenzte unmittelbar daran. Beide lagen zehn Schritt von einander; den Zwischenraum trennte die Mauer gleichfalls von dem Kirchhofe.

In dem Speicher, in dem Zwischenraume, in der Kirche, nur in einem dieser drei Räume konnte der Ort oder der Eingang zu dem Orte sich befinden, an welchem ich vor sechs Jahren das Wehklagen gehört hatte. In dem Speicher hatte sich mir keine Spur eines Verdachtes gezeigt; auch jener Zwischenraum zeigte keine. Ich besichtigte ihn genau, ich leuchtete mit meiner Laterne überall hin; der Schließer mußte überall das Licht der seinigen hinfallen lassen. Der Boden bestand aus harter, fester Erde, die vielleicht seit Menschengedenken nicht aufgewühlt war. Die Steine der Mauer saßen fest, wie sie vor ein paar Jahrhunderten zusammengemauert waren.

„Schließt die Kirche auf, Schließer.“

Er schloß sie auf.

Die Kirche hatte, wie ich schon früher bemerkte, nach dem Kirchhofe hin zwei Thüren, ein großes Portal und ein Pförtchen, das, wie ich meinte, in die ehemalige Sacristei geführt hatte. Nach dem Kloster-, jetzt Amtshofe hin hatte sie ein zweites Portal, es hatte wohl den Haupteingang für die Geistlichen, für Processionen und andere kirchliche Feierlichkeiten gebildet. Weitere, als diese drei Thüren, waren nicht da.

In früheren Zeiten hatte ein bedeckter Bogengang unmittelbar aus einem oberen Stockwerke des Klosters auf ein verschlossenes Empor der Kirche geführt; er war nur für die Nonnen bestimmt gewesen. Seit Aufhebung des Klosters war er abgebrochen und der Eingang vermauert. Der Schließer Martin Kraus schloß das Portal am Hofe auf. Dabei machte mich ein Umstand stutzig. Das Schloß öffnete sich leicht; das Thor drehte sich ohne Geräusch in seinen Angeln. Es mußte also oft, auch in neuester Zeit aufgeschlossen sein. Dennoch war die Kirche außer allem Gebrauch.

„In wessen Gewahrsam befindet sich der Schlüssel zu der Kirche, Schließer?“

„Ich führe die Schlüssel zu allen Gebäuden.“

„Warum?“

„Ich bin der Schließer für Alles.“

„Kommt Ihr oft in die Kirche?“

„Zu Befehl.“

„In welchen Verrichtungen?“

„Ich lasse hier die Kleidungsstücke der eingebrachten Gefangenen reinigen. Der Ort ist am abgelegensten.“

Wir traten in die Kirche ein.

Es war eine gewöhnliche alte, verfallene, zum Theil absichtlich zerstörte Klosterkirche. Sie war nicht groß; sechs kahle, etwas plumpe Säulen bildeten das Schiff; das Chor mit dem Hochaltar war eine große, leere Nische; Emporbühnen, in denen früher hinter Gittern die Nonnen ihre Andacht verrichtet hatten, waren abgebrochen; einzelne Risse in der Mauer zeigten kaum noch an, wo sie sich befunden hatten. Ein Schmuck, nur eine Spur, daß irgend ein Kirchenschmuck vorhanden gewesen sein könne, war nirgends mehr zu sehen. In den hohen Bogenfenstern befand sich keine einzige Scheibe mehr; selbst die Fensterkreuze waren nur noch hin und wieder da. Das Ganze war so vollkommen zerstört, so nackt, so kahl, so vollständig prosaisch, daß selbst die schwache, ungewisse, schwankende Beleuchtung der beiden Laternen an dem späten Abende in dem ehemaligen Gotteshause keinen Eindruck, weder auf Gefühl, noch auf Phantasie machen konnte. Man sah sich eben nur in einem nackten, kahlen, wüsten Raume. Zum Ueberfluß waren im Chor ein paar Seile, wie zum Trocknen von Wäsche, aufgespannt; auf einem lag ein altes, zerrissenes Hemd.

Ich nahm mir nicht die Zeit, Betrachtungen über den Wechsel und Verfall der menschlichen Dinge anzustellen, auch der Gotteshäuser. Ich durchschritt, von dem Schließer gefolgt, die ganze Kirche und besah überall den Erdboden und die Mauern; weiter war freilich nichts da zum Besehen. Aber Mauern und Erdboden waren auch hier überall fest und hart, und wie seit Menschengedenken, vielleicht seit Jahrhunderten nicht gerückt und gerührt. Da konnte gleichfalls nirgends ein heimlicher, verborgener Versteck sein. Ich unterwarf zuletzt die beiden Thüren, die auf den Kirchhof führten, meiner Untersuchung.

Das große Portal, eine Flügelthür von altem, dickem, überall mit ungeheueren Nägeln beschlagenem Eichenholze, lag in festem Verschlusse. Auch von innen zeigten zahllose Spinnengewebe, wie lange sie nicht könne geöffnet gewesen sein.

„Habt Ihr den Schlüssel zu der Thür, Schließer?“

„Es ist kein Schlüssel für sie da.“

Wir gingen zu dem kleinen Pförtchen. Es führte nicht, wie ich vermuthet hatte, in die ehemalige Sacristei, sondern in eine ehemalige Seitencapelle der Kirche, die auch nach innen mit dieser durch eine jetzt zerstörte Thür verbunden war. Wir traten in die Capelle. Sie war kahl und nackt, wie die Kirche; Boden und Mauern darin waren fest und hart, wie in dieser.

Ich untersuchte die Thür, jenes auf den Kirchhof führende Pförtchen. Von außen war es mit Bretern beschlagen gewesen; so war es auch von innen der Fall. Aber ich berührte eins dieser Breter. Ich faßte es stark an, drückte und schob daran, und auf einmal war es mir, als wenn es nachgebe, als wenn es sich schieben lasse. Nur ein wenig, nur sehr wenig; aber es gab doch nach, es wich doch zur Seite, wenn ich auch meine Hand sehr anstrengen mußte. Das war mir ein wichtiger Fund; aber ich durfte mir nicht merken lassen, daß ich ihn gemacht hatte. Freilich konnte ich deshalb auch meinen Begleiter nicht ansehen und nicht gewahren, ob er meinen Fund bemerkt und welchen Eindruck er auf ihn gemacht hatte.

Als ich mich nach einer Weile, wie zufällig, nach ihm umwandte, bemerkte ich nicht die mindeste Veränderung an ihm.

„Auch dieses Pförtchen wird nicht gebraucht?“ fragte ich ihn, gleichgültig, wie ich die anderen Fragen an ihn gerichtet hatte.

„Nein,“ antwortete er nur ruhig, wie er mir immer geantwortet hatte.

Ich war mit meinen Besichtigungen zu Ende. Es war keine Stelle mehr zu untersuchen, welche möglicher Weise mit meinem früheren nächtlichen Abenteuer hätte in Verbindung stehen können.

Ich trat meinen Rückweg an.

Ich hatte nichts Verdächtiges gefunden, als jene verschiebbaren Breter an dem Capellenpförtchen; aber wie gering, wie entfernt, wie unbestimmt war der Verdacht!

Der Schließer war ohne alle Unterbrechung ruhig, unbeweglich geblieben.

Sollte ich ihn nicht doch noch überraschen können, um nur eine einzige verräterische Veränderung seiner Mienen aufzufangen?

[609] Wir waren auf unserem Rückwege bis an das Portal gelangt, durch welches wir in die Kirche eingetreten waren. Ich blieb stehen.

„Kehren wir noch einmal um, Schließer.“

„Zu Befehl.“

Es war das ewige ruhige „Zu Befehl.“

Ich kehrte zurück nach der Seitencapelle. Er folgte mir. Ich faßte an das Pförtchen, an die Breter, und drückte stark daran, daß er es sah. Sie gaben nach. Ich wandte mich rasch nach ihm um. Er stand ruhig und unbeweglich. Nun drückte ich stärker, die Breter gaben noch mehr nach; es entstand eine Oeffnung, durch die ich meinen Arm stecken konnte. Ich that es, und fühlte ein Schloß, eine Klinke. Ich drückte darauf. Die Thür öffnete sich. Ich blickte auf den Kirchhof. Die Thür hatte sich leicht geöffnet, ohne das geringste Geräusch.

„Was ist das, Schließer?“

„Die Thür ist zu öffnen, Herr Assessor.“

Kein Zug in seinem Gesichte hatte sich geändert. Seine Stimme war fest und ruhig, wie vorher.

„Ihr hattet mir gesagt, die Thür werde nicht gebraucht?“

„Ich weiß es nicht anders.“

„Ihr habt sie nie gebraucht?“

„Nein.“

„Schließer, erinnert Ihr Euch, wie Ihr mich vor sechs Jahren in einer Nacht auf dem Kirchhofe antraft?“

„Zu Befehl.“

„An welcher Stelle war es?“

„Ich weiß es nicht mehr.“

„Woher waret Ihr gekommen?“

„Um die Kirche herum.“

„In welcher Absicht waret Ihr um die Kirche herumgegangen?“

„Ich mache jede Nacht einen Umgang um das ganze Amt.“

„Zu welchem Zweck?“

„Die Bewachung des Amtes gehört zu meinem Dienste.“

„Warum jagtet Ihr mich von dem Kirchhofe?“

„Es war meine Pflicht, ich kannte den Herrn Assessor nicht.“

Und bei dem Allen blieb er der kälteste, der ruhigste, der unbefangenste Mensch. Auch mein letzter Versuch war also mißglückt.

Ich hatte nichts, als eine Thür, die geöffnet werden konnte. Was hatte ich mit ihr gewonnen? Ich verließ mißmuthig die Kirche und verabschiedete den Schließer Martin Kraus.

Es war neun Uhr Abends. Ich wollte auch das Amt verlassen und zu meinem Gasthofe zurückkehren. Da fiel mir eine Pflicht der Höflichkeit ein. Ich hatte den ganzen Tag während der Einführung in mein neues Amt nicht daran gedacht, mich nach dem Befinden des kranken Amtmanns zu erkundigen. Die Sitte hätte es erfordert, zumal da er noch immer der Vorgesetzte war, den ich nur einstweilen vertrat. In dem kleinen Leben des kleinen Städtchens konnte man den Verstoß mir doppelt übel nehmen. Ich mußte ihn wieder gut machen. Ich entschloß mich kurz und rasch, mich in seine Wohnung zu begeben, einen Dienstboten zu fragen, wie es dem Kranken gehe, und mein Compliment machen zu lassen.

Die Dienstwohnung des Amtmanns befand sich in dem obern Flügel des Amthauses, des alten Klosters. Sie war mir noch aus früherer Zeit bekannt. Er bewohnte jenen Theil des Gebäudes mit seiner Familie allein. Ich ging dahin.

Die Hausthür stand offen. Ich trat durch sie in einen dunklen Flur. Nach fünf bis sechs Schritten erreichte ich eine steinerne Treppe, die in den obern Stock des Hauses führte. In dem obern Stock lagen die Wohnzimmer der Familie. Ich stieg die Treppe hinauf, sie war gleichfalls dunkel. Als ich ihr oberes Ende erreicht hatte, befand ich mich erst recht in vollkommener Finsterniß.

Ich glaubte mich noch zu erinnern, daß ich in einem langen Gange sein müsse, an dessen beiden Seiten die Wohnzimmer lägen. Aber ich wußte nicht, ob ich mich rechts oder links wenden müsse.

Ich stand unschlüssig. Ich war langsam die Treppe hinaufgestiegen. In dem Hause des Kranken mußte ich eine tiefe Stille erwarten, die ich auch überall fand. Ich wollte sie nicht durch ein Geräusch stören, das nur zu leicht in die Stube des Kranken selbst hätte dringen und, zumal in so später Abendzeit, Unruhe verursachen können.

Auf einmal, als ich oben am Ende der Treppe stand, hörte ich in dem Gange, nicht weit von mir, Jemanden leise sprechen. Ich erkannte die Stimme sofort. Es war die heisere, kurzathmige Stimme des kränklichen Schreibers Karl Brunner. Ich dachte im ersten Augenblick, irgend ein gleichgültiges Geschäft habe ihn hergeführt; vielleicht auch, meinte ich, wohne er im Hause, und er mache eine Bestellung an einen Dienstboten. Ich wollte ihn ausreden lassen, um dann an ihn mich zu wenden, und durch ihn mein Anliegen auszurichten. Daß er leise sprach, konnte mir in der Nähe des Kranken nicht auffallen.

Allein ich verstand bald, was er sprach, und als ich es verstand, und als ich hörte, was ihm geantwortet wurde, und wer ihm antwortete, welche andere Richtung erhielten alle meine Gedanken! Die Tochter des Amtmanns war es, die ihm antwortete, jenes [610] schöne, heftige und liebevolle Mädchen. Ich erkannte ihre Stimme bei dem ersten Laut, wie leise sie auch sprach. Sie war runder, voller geworden; sie war aber frisch und glockenrein geblieben, und sie flüsterte mit derselben Innigkeit zu dem jungen Manne, mit welcher sie früher zu ihm gesagt hatte:

„Komm, Karl, weine nicht.“

Damals waren sie Beide Kinder gewesen, auch er noch, wie kränklich hoch er auch emporgeschossen war. Als Kinder hatten sie in dem Versteck hinter der dichten Taxushecke gesessen. Sie waren heute keine Kinder mehr. Er mußte drei- bis vierundzwanzig, sie neunzehn bis zwanzig Jahre zählen. Und sie waren in einem finsteren Versteck beisammen. Sie waren aber auch wieder nicht glücklich. Sehen konnte ich diesmal ihren Schmerz nicht; aber hören sollte ich ihn desto deutlicher.

„Und er war lange hier, sagst Du?“ hörte ich zuerst die Stimme des jungen Menschen sprechen.

„Ueber eine halbe Stunde,“ antwortete die Stimme des jungen Mädchens.

„Und ganz allein mit ihm?“

„Ganz allein. Ich mußte hinausgehen. Hinter mir verschloß er die Thür. Mir wurde so angst; er sah so schrecklich, so entsetzlich aus. Ich fürchtete ein Unglück, und wollte nicht gehen, aber ich mußte.“

Von wem sprach sie? Von dem Schließer, antwortete es in meinem Innern. Es war lächerlich, aber es war auch so natürlich. Ich hatte ja fast den ganzen Tag nur an ihn denken müssen. Ich mußte horchen, weiter horchen, wie unangenehm es mir war. Ich stand wie gebannt; ich konnte nicht rückwärts, nicht vorwärts.

Der junge Mensch fuhr fort zu fragen:

„Und Du hast kein Wort von dem verstanden, was sie mit einander sprachen?“

„Kein Wort. Ich war draußen an der Thür stehen geblieben und lauschte, aber ich verstand nichts. Nur einmal kam es mir vor, als wenn mein Vater ihm etwas beföhle. Er weigerte sich aber, es zu thun.“

„Und Dein Vater darauf?“

„Er schien ihm noch einmal zu befehlen, strenger. Aber aus dem Tone, mit dem er meinem Vater antwortete, schloß ich, daß er bei seiner Weigerung blieb.“

„Das Alles war schon heute Morgen?“

„Heute Morgen gegen zehn Uhr.“

„Um die Zeit war er mit dem neuen Assessor aus den Gefängnissen gekommen.“

Ich hatte also Recht gehabt, sie sprachen wirklich von dem Schließer. Martin Kraus war sofort, auf der Stelle, nachdem er von mir sich hatte trennen können, zu dem Amtmann geeilt. Der auf den Tod Kranke hatte über eine halbe Stunde lang mit ihm gesprochen. Beide hatten eine geheime Unterredung mit einander gehabt. Ich mußte weiter horchen. Das Mädchen fuhr fort:

„In den Gefängnissen mußte etwas vorgefallen sein, weil er so verstört ankam. Ich entsetzte mich vor seinem Anblicke.“

„Es war damals nichts vorgefallen,“ erwiderte der Schreiber. „Aber vorher, nachher.“

„Und was, Karl?“

„Nichts, nichts!“

„Du willst es mir verschweigen, Karl!“

„Nichts. Ich weiß nichts.“

„Karl, ich höre an dem Tone Deiner Stimme, daß Du etwas weißt, was Du mir verhehlen willst.“

„Das hast Du schon seit Jahren zu mir gesagt. Ich konnte Dir nur immer sagen, daß ich nichts wußte.“

„Und schon seit Jahren, Karl, konnte ich Dir das nicht glauben. Seit Jahren? Seit meiner Kindheit schon, so lange ich denken kann, habe ich Dir immer angesehen, daß Du etwas auf dem Herzen hattest, etwas recht Schweres, ein schreckliches Geheimniß. Wie viele hundert Male, wenn ich Dich träumend oder weinend sitzen sah, mußte ich Dich fragen, was Dir fehle, was Dir das Herz drücke. Wie oft bin ich Dir, wenn ich des Abends, noch ganz spät, Dich plötzlich fortschleichen sah, nachgefolgt – Du warest in den Garten gegangen, durch die Taxushecke auf den Kirchhof gekrochen, gingst auf dem Kirchhof zwischen den Dornen und den Gräbern herum, und horchtest und suchtest, und ich mußte durch die Hecke hinter Dir herkriechen, und an Dich heran treten, und Deine Hand nehmen und Dich fragen, wonach Du dort horchtest, was Du in der Nacht zwischen den Gräbern suchtest. Aber immer sagtest Du: es ist nichts. Ich habe nur so traurige Gedanken, die mich quälen. Ich muß allein sein, dann wird mir wieder besser. – Einmal, als wir auch wieder am späten Abend auf dem Kirchhofe waren, und plötzlich unten in der Erde das sonderbare, schreckliche Stöhnen hörten, und ich mich vor Angst an Dich drückte, und Du mich von Dir stießest, und auf die Erde niedersankest und laut schluchztest, das eine Mal wolltest Du mir sagen, was Dir das Herz abdrückte. „Komm!“ riefst Du auf einmal. „Komm und höre diese Töne, und dann höre eine Geschichte, die ich Dir erzählen will.“ – In dem Augenblicke stand der finstere Mensch hinter uns, und schrie uns an, was wir da machten, er wollte es dem Vater anzeigen, daß wir uns in der Nacht so umher trieben. Wir waren noch Kinder und fürchteten uns vor ihm, und liefen auf verschiedenen Wegen in das Haus zurück. Und nachher, als ich Dich nach der Geschichte fragte, die Du mir hattest erzählen wollen, hattest Du nur wieder die alte Antwort, Du wissest nichts, Du seiest durch einfältige Träume aufgeregt gewesen, was wir auf dem Kirchhofe gehört hätten, sei wohl ein Thier gewesen. Ich glaubte Dir schon damals nicht. Aber Du bliebst bei solchen Antworten trotz alles meines Unglaubens, aller meiner Bitten, aller meiner Thränen. So hast Du Jahre lang, wohl über zehn Jahre lang, mich fortwährend getäuscht. Getäuscht, Karl. Denn Du weißt wohl etwas! Dich drückt ein schweres Geheimniß. Theile es mir mit, jetzt, jetzt, in den letzten Stunden vor dem Tode meines Vaters. Denn, Karl, eine entsetzliche Ahnung hat mir manchmal gesagt, daß Dein Geheimniß meinen Vater betreffe, und daß Du es mir darum nicht verrathen wolltest. Und jetzt muß mein Vater sterben. Ich weiß es, und auch er weiß es. Sage es mir, Karl, was Du auf dem Herzen hast. Vielleicht kann ich die letzten Stunden des armen Vaters beruhigen, wenn ich es weiß. Er schien ohnehin so sonderbar, so schwer unruhig zu sein. Besonders seitdem heute Morgen der Schließer von ihm gegangen war. Sage es mir, sprich endlich, Karl.“

Sie schwieg. Ihre schöne Stimme hatte so innig, so traurig, so bittend, so flehend gesprochen. Sie hatte mir, dem Fremden, mit ihren flehenden Schmerzenstönen tief das Herz ergriffen. Wie mußte sie es dem jungen Manne zerreißen, der in einer so nahen, engen Verbindung mit ihr stand! Konnte er ihr widerstehen?

Ich halte schon lange gehört, wie während ihrer Worte sein Athem schwerer und kürzer wurde. Ich glaubte zu sehen, wie ungestüm seine kranke Brust wogte. Aber sein Sinn war fest geblieben. Es war ein edler Sinn.

„Rosa, meine liebe Rosa,“ sagte er, „ich beschwöre Dich, dringe nicht weiter in mich, nur heute nicht. Glaube mir, was mich quält und ängstigt, sind meist Träume und Einbildungen, zu denen mir aller gewisse Grund fehlt. Es kann etwas Wirkliches für sie da sein. Aber ich weiß es noch nicht. Ich habe es in all den Jahren nicht ermitteln können. Ich weiß es heute noch nicht. Wie könnte ich mit meinen leeren Ahnungen auch Dir das Herz beschweren, unglücklich machen? Ist aber etwas Wirkliches da, Rosa, dann fürchte ich noch heute Nacht etwas Schreckliches, und dann kann es auch Dir nicht länger verborgen bleiben.“

„Und Du willst es mir nicht sagen, Karl?“

„Ich kann nicht.“

„Du bist grausam.“

„Grausam?“ rief schmerzlich der junge Mann. „O, Rosa, wenn Du wüßtest –! Aber erzähle mir weiter. Sahest Du den Schließer von Deinem Vater fortgehen?“

„Ich sah ihn.“

„Und wie war sein Aussehen?“

„Finster und in sich gekehrt, wie immer.“

„Wie fandest Du Deinen Vater?“

„Ich sagte es Dir schon, ich fand ihn unruhiger. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben. Er schien es aussprechen zu müssen. Er richtete sich auf, dann sah er mich an, so sonderbar. Auf einmal legte er sich wieder zurück. Das that er oftmals so.“

„Er sagte Dir nichts?“

„Kein Wort.“

„Rosa, ich muß jetzt gehen. Versprichst Du mir Eins?“

„Was könnte ich Dir abschlagen, Karl?“

„Bleibe mir immer gut, bleibe immer meine Freundin.“

„Wie könnte ich anders werden? Aber wie kommst Du zu der Bitte?“

[611] „Ich kann es Dir nicht sagen. Aber sage Ja zu meiner Bitte. Ich habe nur noch kurze Zeit zu leben. Dann folge ich Deinem Vater. Dann – Sage Ja, Rosa, daß Du mich immer lieb behalten willst. Gib mir die Hand darauf.“

„Immer, immer, Karl. Hier hast Du meine Hand. Ich werde Dich nie verlassen.“

Sie schwiegen und drückten sich wohl stumm die Hände.

In stummer Liebe?

Nicht weit von ihnen wurde leise eine Thür geöffnet.

„Mamsell Rosa,“ flüsterte eine männliche Stimme in den Gang hinein.

„Hier bin ich,“ antwortete das junge Mädchen.

Die Thür wurde leise in das Schloß gelegt. Dann sagte die Stimme: „Der Herr Amtmann haben mir befohlen, schleunig den neuen Herrn Assessor herzubitten. Ich soll auf der Stelle gehen.“

Das junge Mädchen schien sich einen Augenblick zu besinnen. Darauf sagte sie:

„Gut, Friedrich, gehe. Ich werde zum Vater zurückkehren. Führe aber den Herrn Assessor nicht gleich in das Krankenzimmer, sondern in den blauen Saal. Ich möchte ihn vorher sprechen.“

Das hörte ich noch. Es blieb mir, in der allerdings traurigen Rolle, die ich einmal übernommen hatte, nichts übrig, als mich so eilig und leise wie möglich zurückzuziehen. Ich that das, und verrieth mich nicht. Ich verließ unbemerkt das Haus und den Hof. Draußen vor dem Hofthore kehrte ich um, als wenn ich aus der Stadt komme. Ich ging wieder auf das Amthaus zu.

Mitten im Hofe begegnete mir ein Bedienter mit einer Laterne. Er erkannte mich und blieb vor mir stehen.

„Ich war gerade auf dem Wege, um den Herrn Assessor zu dem Herrn Amtmann zu bitten.“

Es war die Stimme des Friedrich, der mit der Tochter des Amtmanns gesprochen hatte.

„Mich?“ antwortete ich. „Und ich bin auf dem Wege, um mich nach dem Befinden des Herrn Amtmanns zu erkundigen“

„Es geht dem guten Herrn sehr schlecht. Ich fürchte, daß er die Nacht nicht überlebt, obgleich sie Alle im Hause das Ende noch nicht so nahe erwarten.“

Ich ging mit ihm in das Haus. Er führte mich in einen blauen Salon und bat mich, einige Augenblicke zu verziehen, er wollte mich ankündigen.

Was wollte der Amtmann von mir? Was seine Tochter?

Nach einer Minute erschien das junge Mädchen. Das Kind, das ich vor sechs Jahren gesehen hatte, war zu einer vollblühenden Jungfrau geworden, und in den schönen Zügen sprachen sich Geist und Herz aus. Angst und Sorge um den kranken Vater hatten zwar für den Augenblick die Wangen etwas gebleicht. Sie war nur um so schöner. Sie wurde nicht verlegen, als sie mich wiedersah. Sie hatte etwas Schweres auf dem Herzen, das sie über eine kleinliche Verlegenheit erhob.

„Mein Herr,“ sagte sie, „mein kranker Vater wünscht Sie dringend zu sprechen. Er hat mir nicht gesagt, was er Ihnen mitzutheilen hat. Es muß ein schweres Geheimniß sein. Aber was es auch sei, darf ich zu Ihnen vertrauen, daß Sie meinem armen Vater seine letzten Stunden nicht schwer machen, und daß Sie –“

Sie konnte vor plötzlichem Schluchzen nicht weiter sprechen. Erst nachdem sie sich gesammelt hatte, fuhr sie fort:

„Und daß Sie stets meines Vaters Ehre schonen werden? Darf ich Sie darum bitten, mein Herr?“

„Mein Fräulein,“ erwiderte ich ihr, „mein Thun wird Ihnen beweisen, daß es Ihrer Bitten bei mir nicht bedurfte. Sie sind mir dennoch heilig, als die Bitten eines edlen, treuen Tochterherzens.“

„Sie beruhigen mich, mein Herr. Wie danke ich Ihnen!“

Sie führte mich zu dem Zimmer des Kranken. An der Thür blieb sie zurück. Ich war mit dem kranken Amtmann allein.

In dem Zimmer brannte nur eine Nachtlampe hinter einem Schirme. Es war kaum ein Dämmerungslicht, das die Stube erhellte. Der Kranke lag in einem mit Vorhängen versehenen Bette. Die Vorhänge waren zurückgeschlagen. Ich konnte gleichwohl in dem Halbdunkel seine Züge nicht erkennen. Nur seine Stimme erkannte ich wieder, wie matt, wie gebrochen, wie den Tod ankündigend sie auch schon war.

„Sie sind der Herr Assessor –?“ fragte er mich.

„Ich bin der Assessor –, vom Ministerium mit Ihrer einstweiligen Vertretung betraut.“

„Einstweilig?“ sagte er schmerzlich.

Aber er verweilte bei dem Gedanken nicht.

„Setzen Sie sich zu mir, Herr Assessor; hier nahe an mein Bett. Ich habe Sie zu einer dringenden Unterredung bitten lassen.“

Ich setzte mich an das Bett.

Er hatte gefaßt gesprochen. Seine Fassung schien mir aber eine etwas mühsam gemachte zu sein.

„Vorher eine Frage,“ fuhr er fort. „Sie waren schon einmal hier, vor ungefähr sechs Jahren?“

„Sie hatten damals die Güte, mich mit den geschäftlichen Einrichtungen des Amtes bekannt zu machen.“

„Dann noch eine Frage: Sie haben heute die sämmtlichen Geschäfte des Amtmanns übernommen?“

„Die sämmtlichen.“

„Sie haben dabei –?“

Er stockte. Gleich darauf fuhr er fort:

„Sie hatten vor sechs Jahren gegen den Schließer Kraus einen gewissen Verdacht gezeigt?“

„Ich glaubte, dazu Veranlassung zu haben.“

„Haben Sie heute denselben Verdacht gegen ihn geäußert?“

„Ich weiß es nicht –“

„Sie haben, ich weiß es. Aber etwas Anderes wünschte ich zu wissen. Haben Sie heute irgend eine Entdeckung gemacht, die Ihren Verdacht hätte bestätigen können?“

„Eine thatsächliche – nein.“

„Und der Schließer Kraus hat sich davon überzeugt?“

„Er kann wenigstens nicht das Gegentheil wahrgenommen haben.“

Der Kranke hatte die letzten Fragen mit einer gewissen ängstlichen Spannung ausgesprochen, die er wohl vergebens zu verbergen gesucht hatte. Meine Antwort schien ihn zu beruhigen.

„Wohl,“ sagte er, „so drängt die Zeit nicht.“

Ich begriff nicht, was er damit sagen wollte; ich hatte aber auch keine Veranlassung, ihn zu fragen.

Hätte ich ihn gefragt!

Er fuhr fort. Seine Stimme zeigte wieder jene gewaltsam erzwungene Fassung.

„Herr Assessor, ich habe Ihnen ein schweres Geheimniß zu entdecken. Ich muß es, um ruhiger sterben zu können, denn der Tod steht hinter mir; aber auch, um ein neues Unglück, ein neues Verbrechen zu verhüten. Ich bitte Sie, mich ruhig anzuhören.

„Ich wurde als junger Mann von fünfundzwanzig Jahren Vorstand des hiesigen Amtes. Ich hatte Verbindungen in der Residenz. Ich war rasch befördert. Ich war leichtsinnig, liebte ein angenehmes Leben und scheute die Arbeit. Am Amte ließ ich die andern Beamten arbeiten, auch für mich. So wurden bald alle Geschäfte vernachlässigt, am meisten die meinigen. Dabei war ich strenge gegen die Unterthanen. Sie fürchteten mich. Es wurden daher nach oben keine Klagen gegen mich laut. Es gab daher auch von oben her keinen Richter gegen mich. Ein pünklicher Cassenvorstand war hier. Er sorgte für die Einnahmen des Amtes, für ihr Eingehen, für ihr Absenden nach oben. Das hielt das Amt. Um Weiteres bekümmerte man sich in der Residenz nicht; nicht, ob die Gerichtseingesessenen ihr Recht erhielten, nicht, ob die Gefangenen Jahre lang unverhört in den Gefängnissen schmachten mußten. Bald nach oder kurz vor meiner Ankunft hier war ein fremder Mechanikus nach Z. übergesiedelt. Er war verheirathet. Seine Frau hieß Antoinette Thalmann, jene Freundin Ihrer Mutter, nach der Sie mich vor sechs Jahren fragten. Der Mann hieß Brunner.“

Welches Licht schienen mir auf einmal die paar Namen zu geben! In welches Dunkel sah ich doch nur noch immer!

Der Kranke fuhr fort:

„Der Mechanikus Brunner war ein fleißiger, stets arbeitsamer Mann; er war, wie man sagt, ein Genie, und zwar ein unglückliches Genie. Er machte hundert neue Erfindungen, unternahm hundert neue Sachen, aber keine schlug ein, keine glückte ihm, und er kam in seinem Hauswesen immer mehr und mehr zurück. Nach einiger Zeit waren auf einmal falsche brabanter Kronthaler in der Gegend verbreitet. Sie waren von unbekannten Menschen ausgegeben. Aber man hatte die unbekannten Menschen bei dem Mechanikus Brunner sich ein- und ausschleichen sehen; als man näher nach ihnen forschte, waren sie verschwunden. Brunner hatte unterdeß angefangen, besser zu leben.

„Schon damals entstand der Verdacht gegen ihn, daß er mit [612] den Falschmünzern in Verbindung stehe; daß er vielleicht der eigentliche Falschmünzer sei und die Anderen nur seine Helfershelfer, die das falsche Geld verbreiteten. Der Verdacht war indeß zu schwach, um ein Einschreiten gegen ihn veranlassen zu können. Allein bald nachher las man in den Zeitungen, daß auch anderswo im Lande und in den benachbarten Ländern durch unbekannte Menschen falsche Kronthaler verbeitet seien, der Beschreibung nach aus derselben Fabrik, aus welcher die in hiesiger Gegend ausgegebenen herrührten. Zugleich hatte man wieder zur Nachtzeit einen jener verdächtigen Menschen das Haus Brunner’s heimlich verlassen sehen. Man hatte vergebens auf den Menschen gefahndet. Aber zu einem Verfahren gegen den Mechanikus Brunner schien jetzt hinreichender Verdacht vorzuliegen. Es mußte gegen ihn eingeschritten werden. Die wichtige Untersuchung mußte ich selbst übernehmen. Zudem reizte mich das Geheimniß, das über der Sache lag, und die Lust, sein Dunkel zu erhellen, die Fäden, die wild verworren da lagen, einen nach dem anderen aufzulösen.

„Ich nahm eine unvermuthete Haussuchung bei dem Mechanikus Brunner vor. Ich fand in der That allerlei Apparate zur Anfertigung von falschen Münzen bei ihm. Er behauptete, die Gegenstände für fremde, unbekannte Personen angefertigt zu haben, die sie so bestellt hätten, nach ihrer Angabe zur Fabrikation von Zimmerzierrathen, an Fenstern, Schränken und so weiter, und die sie abholen würden. Er gestand ein, denselben Personen schon seit einiger Zeit ähnliche Instrumente verfertigt zu haben. Ich konnte in diesen Angaben nur leere Ausreden finden und mußte ihn deshalb verhaften und die Untersuchung gegen ihn eröffnen.

„Ich führte dieselbe anfangs mit all’ dem Eifer, den der Reiz des Neuen und des Geheimnisses geben kann; aber ich konnte das Geheimniß nicht erhellen, und das Neue wurde alt. Ich betrieb bald die Untersuchung nachlässiger; sie lieferte desto weniger ein Resultat. Ich vernachlässigte sie darauf ganz und mochte gar nicht mehr an sie denken, denn sie wurde mir unangenehm. Ich vergaß sie, vergaß sie völlig, vergaß sogar auch den verhafteten Angeschuldigten.

„So waren acht Jahre verflossen; da trat eines Morgens der Schließer Martin Kraus zu mir. Er war schon damals, er war immer ein finsterer, verschlossener Mann; aber er war auch immer ein pünktlicher, zuverlässiger Beamter und mir unbedingt treu, blind ergeben. Er sah finsterer aus, wie je; aber nicht gedrückt. Sein Wesen schien mir vielmehr leichter zu sein, als vorher. Er hatte in der letzten Zeit manchmal etwas Gedrücktes gehabt.

„Herr Amtmann, die Frau des Mechanikus Brunner ist heute Nacht gestorben.“

„Ich hatte seit Jahren den Namen nicht gehört und eben so lange an den Gefangenen nicht gedacht; bei dem Namen erst fiel mir der Gefangene wieder ein.

„Und der Mann,“ fragte ich.

„Die Frau ist im Elende gestorben.“

„Und was macht der Gefangene?“

„Er ist wahnsinnig.“

„Mensch, seid Ihr wahnsinnig?“

„Er hatte schon vor drei Jahren den Verstand verloren.“

„Und Ihr habt mir nie ein Wort davon gesagt?“

„Es wäre ja zu spät gewesen; mit dem Wahnsinnigen konnten der Herr Amtmann nichts machen, und entlassen konnten Sie ihn auch nicht.“

„Warum nicht? Gewiß, gewiß hatte ich es gekonnt. Ich hätte es gethan.“

„Damit die Welt erfahren sollte, der Mensch habe ohne Verhör, vergessen, verloren und vergessen, und doch unschuldig, fünf volle Jahre in den Kerkern des Amtes schmachten müssen und zuletzt wahnsinnig werden müssen? Das durfte kein Mensch in der Welt wissen. Dazu war mir die Ehre des Herrn Amtmanns zu lieb.“

„Mensch, was habt Ihr mit dem Unglücklichen gemacht?“

„Er ist schon seit drei Jahren gut aufgehoben.“

„Todt? Ihr habt ihn –?“

„Er lebt, Herr Amtmann.“

„Wo?“

„Das Amthaus hat viele und weite Keller.“

„Dahin habt Ihr ihn gebracht?“

„Ja.“

„Hier unter dieses Haus?“

„Die Keller gehen weiter; sie gehen bis unter den Kirchhof.“

„Dahin?“

„Dahin. Nur ich allein in der Welt weiß, daß die Keller des Amthauses so weit laufen. Dort nur allein war er sicher, ist er sicher. Man könnte oben auf dem Kirchhofe seine Stimme hören, aber nur undeutlich aus der Tiefe, nur schwach. Wer sie hört, wird an einen Kirchhofsspuk glauben.“

„Aber er hat dort keine Sonne, kein Licht.“

„Nein.“

„Mensch, Ihr seid grausam, ein Ungeheuer.“

„Herr Amtmann, den Verstand hatte er einmal verloren; es war nicht meine Schuld. Ob ein Mensch, der seiner Sinne nicht mehr mächtig ist, Licht und Sonne sieht und mit Menschen sprechen kann oder ob er dasselbe nicht mehr kann, darauf kommt es nicht an; aber Ihre Ehre, Herr Amtmann, mußte rein bleiben; kein Mensch durfte sagen können, daß Sie ihn in den Zustand gebracht hätten, daß Sie einen Justizmord begangen hätten, was man so gern von der Justiz sagt – darum brachte ich ihn in den Keller und den Leuten sagte ich, er sei todt. Sie haben seitdem nichts mehr von ihm gehört, auch andere Leute nicht. Heute ist seine Frau gestorben, die Einzige, die seit den acht Jahren seiner Haft nach ihm gefragt hat. Jetzt wird keine Menschenseele mehr nach ihm fragen und er kann ruhig da unten bleiben, bis er stirbt. Lange wird er es doch nicht mehr machen; er ist sehr mager und hinfällig. In die Acten und Listen schreiben Sie schon jetzt, daß er gestorben sei, vor fünf Jahren, vor sechs, vor sieben Jahren, wie Sie wollen.

„Aber noch eins, Herr Amtmann; die Frau hat einen Knaben zurückgelassen von bald acht Jahren, welcher kurze Zeit nach der Verhaftung seines Vaters geboren wurde. Das Kind ist hülflos. Wollen der Herr Amtmann sich seiner annehmen? Sie thun ein Werk der Barmherzigkeit.“

„Welche entsetzlichen Entdeckungen hatte der Mann mir gemacht! Welche furchtbaren Wahrheiten hatte er mir gesagt! Meine Ehre sollte vor der Welt rein bleiben. War sie nicht vor meinem eigenen Bewußtsein vollständig, für immer gebrochen? Von einem Justizmorde sollte die Welt nicht sprechen dürfen. Hatte ich nicht den empörendsten Justizmord begangen, den jemals Leichtsinn, Selbstsucht, Rohheit, die vollste Herzlosigkeit verüben konnten? Und was sollte ich ferner thun? Zu den alten Verbrechen ein neues begehen? Um meine Ehre vor der Welt zu retten, immer weiter ehrlos handeln, gemein, herzlos, niederträchtig? Ich war schwach genug, so zu handeln. Innerlich an meiner Ehre gebrochen und verloren war ich einmal, blieb ich. Sollte ich auch äußerlich gebrandmarkt werden? Sollte ich – denn das war für den Fall der Entdeckung mein Loos – von meinem Amte mich entsetzen, als gemeiner Criminalverbrecher mich in das Zuchthaus sperren lassen, mein Weib und mein Kind der allgemeinen Verachtung, der Schmach, der Armuth, dem Elende preisgeben? Ich hatte nicht die Kraft, mich dem Allen zu unterwerfen.

„Ich ließ den Unglücklichen in seinem unterirdischen Gefängnisse. In den Acten verzeichnete ich seinen Tod, als schon vor längern Jahren erfolgt. Mein Gewissen suchte, wußte ich zu beschwichtigen. Wie viele Mittel findet der Mensch dafür! Ich wurde der strengste, pünktlichste Mann in meinem Dienste, der gerechteste, der humanste Richter.

„Den Knaben des Unglücklichen nahm ich zu mir. Ich hielt ihn wie mein Kind. Er war kränklich, ich konnte ihn nichts lernen lassen. Ich ließ ihn in den Kanzleien des Amtes sich beschäftigen.

„Es entwickelte sich früh eine Neigung für meine Tochter in ihm. Ich trat ihr nicht entgegen. Ich hätte ihm mein einziges Kind zur Frau gegeben, wenn sie seine Neigung erwidert hätte. Aber sie hatte nur Freundschaft, nur Mitleiden für ihn, und ich wünschte oft, sie möchte ihn lieben.

„Um den Unglücklichen kümmerte sich Niemand weiter. Niemals tauchte nur irgendwo eine Ahnung auf, daß er noch am Leben sein könne; niemals wurde nur die leiseste Vermuthung laut, daß unter den Gräbern des Kirchhofes, in Räumen die außer mir und dem Schließer Niemand kannte, ein menschliches Wesen verborgen sein, gefangen gehalten werden könne. Nur Sie hatten vor Jahren einmal einem solchen Verdachte Raum gegeben, hatten ihn aber nicht weiter verfolgen können. So hatte ich gemeint.“

[621] „Es lebte aber noch ein anderer Verdacht. Jener Sohn des Unglücklichen mußte von seiner sterbenden Mutter Worte vernommen haben, die ein entsetzliches Mißtrauen in sein Herz gepflanzt hatten. Er verschloß die Worte, er verschloß das Mißtrauen in sein Inneres. Aber mancher späte Abend, manche stille und manche stürmische Nacht sah ihn auf dem Kirchhofe einem Geheimnisse nachspüren, das er nicht ergründen konnte, dessen Dasein ihm aber eine fürchterliche Gewißheit war. Indessen er konnte es nicht ergründen, und hätte er es auch vermocht, seine fast krankhafte Liebe zu meinem Kinde hätte es stets in seinem Herzen verschlossen gehalten.

„So konnte ich sicher leben, sicher vor jeder Entdeckung. Martin Kraus war der treueste Mensch von der Welt. An seinen Tod dachte ich nicht. Aber ich lebte nicht ruhig. Der Mensch hat tausend Mittel, durch die er sein mit Schuld beladenes Gewissen zu beschwichtigen sucht. Kein einziges kann es ihm beruhigen. Und vor Allem hatte ich nicht an meinen Tod gedacht. Er steht seit einigen Tagen an meinem Bette. Heute habe ich ihn erkannt.

„Ich kann mein Herz nicht mehr von seiner Schuld befreien, ich muß sie mit mir hinübernehmen vor den ewigen Richter, denn ich glaube an ihn.

[622] „Aber ich konnte nicht, ich kann nicht sterben, ohne nach meinen Kräften Alles gethan zu haben, was sie minder schwer machen kann. Und dann mußte ich ein neues Verbrechen verhüten. Martin Kraus ist zu dem Aeußersten fähig, um meine Ehre auch nach meinem Tode zu bewahren, er hat es mir geschworen. In dem Augenblicke, in welchem er weiß, daß Ihre Ahnung von der Existenz des Gefangenen zur Gewißheit geworden ist, zur Gewißheit werden könnte, hat der Wahnsinnige aufgehört zu leben, und Martin Kraus wird den Leichnam Ihnen spurlos entziehen. Kommen Sie ihm zuvor.

„Ich habe lange geschwankt, ob ich Sie mit dem fürchterlichen Geheimnisse bekannt machen solle. Ich mußte es, der nahende Tod forderte, fordert es von mir.

„Retten Sie den Unglücklichen, er ist zugleich ein Unschuldiger. Auch in seinem Wahnsinne spricht er sich frei. Er würde sich anklagen, verurtheilen, wenn er schuldig wäre. Erleichtern Sie ihm seine dunklen Tage. Thun Sie es mit möglichster Schonung meines armen Kindes. Sie ist so brav, und hält mich für so brav.“

Der Kranke mußte hier innehalten, das liebevolle Vaterherz hatte an dem Rande des Grabes noch Thränen, und welche bittre Thränen für sein armes Kind!

Nach einer Pause sprach er weiter:

„Die Keller, in denen der Gefangene sich befindet, liegen unter meiner Dienstwohnung. Sie haben einen besonderen Eingang, rechts nach der Seite des hohen Speichers. Unter diesen her zieht sich einer ihrer weiten Arme; er zieht sich bis unter die Mitte des Kirchhofes. Es ist gleich vom Eingange rechts. An seinem äußersten Ende befindet sich links ein verschließbarer Raum, in diesem werden Sie den Gefangenen finden. Sie werden Gewalt anwenden, wenn Martin Kraus nicht mit Güte Sie hinführen will.“

Er machte eine neue Pause. Dann sagte er noch ein paar Worte:

„Schonen Sie auch, so viel Sie können, des Schließers Martin Kraus. Sein Verbrechen war nur seine Treue für mich. Und nun, mein Herr, handeln Sie, wie Ihre Pflicht, wie aber auch Ihr Herz es Ihnen eingibt.“

Er schwieg. Ich stand auf. Er reichte mir noch seine Hand, und drückte die meinige.

„Leben Sie wohl. Wir sehen uns hier nicht wieder. Nehmen Sie sich meines armen Kindes an.“

Ich ging, ich ging tief erschüttert. Meine Neugierde war jetzt befriedigt, endlich, nach so langer Zeit, Aber wie konnte ich an ihre Befriedigung denken? Eine furchtbare Last drückte mich fast zu Boden.

Im Gange vor der Thür trat die Tochter des Sterbenden mir entgegen. Sie hatte auf mich gewartet, und sah mich ängstlich fragend an.

„Sie waren so lange bei ihm,“ sagte sie, „darf ich ihn fragen, was er mit Ihnen gesprochen hat?“

Durfte sie es?

„Fragen Sie ihn nicht,“ antwortete ich ihr. „Sie werden ihn ruhiger finden, und er bedarf der Ruhe.“

Ich eilte fort.

Auch die Arme hatte ja eine Ahnung, nicht blos der Sohn des Gefangenen, wie der Sterbende gemeint hatte. Jenes Gespräch mit dem kränklichen jungen Menschen hatte es mir verrathen. Durfte er auch die Ahnung seines Kindes kennen?

Aber was hatte ich jetzt zu thun? Ich hatte eine schwere, traurige Aufgabe, und mußte mich ihrer Lösung unterziehen. Nicht blos das Vermächtniß des Sterbenden, meine eigene Pflicht forderte es von mir, meine amtliche, wie meine menschliche Pflicht. Von einem neuen Verbrechen hatte der Amtmann gesprochen, das verhindert werden müsse. Ich war auch nicht zweifelhaft, wie ich jener Lösung mich zu entledigen hätte. Der Amtmann hatte nicht eine sofortige Verübung des Verbrechens gefürchtet. Ich war besorgter darüber, als er. Ich mußte es sein. Er wußte nicht, daß ich noch unmittelbar vor meiner Unterredung mit ihm, unter Zuziehung des Schließers, die alte Kirche durchsucht hatte. Die Nachsuchung war zwar ohne alles Resultat geblieben, hatte mich diesem um nichts näher geführt, aber sie hatte dem finsteren, mißtrauischen, entschlossenen Manne die Energie zeigen müssen, mit der ich auf Verfolgung meines Verdachts beharrte. Wie leicht konnte ihn das zur sofortigen Ausführung seines angedrohten entsetzlichen Verbrechens veranlassen!

Ich begab mich aus der Wohnung des Amtmanns gerades Weges in die des Schließers Martin Kraus. Ich ging allein hin.

Einen Augenblick hielt ich unterwegs meinen Schritt an. Ich ging einen gefährlichen Gang. Ich wollte zu dem Schließer und dann weiter mit ihm allein gehen. Ich war ohne alle Waffen, ich trug nicht einmal einen Spazierstock bei mir. Er war, wie viele Jahre er mehr zählte, als ich, mit seinem riesigen Körperbau mir noch immer an körperlichen Kräften weit überlegen. Er konnte zu dem Gange, den ich mit ihm vorhatte, sich mit Waffen versehen. Ich ging mit ihm einen Gang, der ihn zur Verzweiflung führen konnte, führen mußte. Er war zu einem fürchterlichen Verbrechen entschlossen. Die Ehre des Amtmanns, diese von ihm mit der rücksichtslosesten Entschlossenheit vertheidigte Ehre hing daran. Nicht minder seine eigene Ehre, seine Existenz, sein Leben. Von diesem Verbrechen wollte ich ihn zurückhalten, mit Gewalt, wenn es sein müßte! Aber ich mußte allein gehen. Die Ehre des Amtmanns, die auch ich nach Möglichkeit schonen mußte, forderte es von mir, und auch meine eigne Ehre.

Der Schließer Martin Kraus wohnte in dem Gefangenhause neben dem Amthause. Er war zu Hause, in seiner Stube. Der finstere Mann war ohne Familie. Er saß in einem alten Lehnsessel, die Beine über einander geschlagen, aus einer alten Pfeife rauchend, durch den Tabaksdampf vor sich hinstarrend.

Ich war zu ihm eingetreten, ohne mich vorher anzukündigen. Er erschrak nicht, er fuhr nicht auf, als er mich plötzlich erblickte. Er sah mich nur einen Augenblick wie mit leiser Verwunderung an, dann stand er auf, legte seine Pfeife fort, und stellte sich, meine Befehle erwartend, aufrecht vor mich.

„Schließer, zündet Eure Laternen an.“

„Beide, Herr Assessor?“

„Beide.“

Er zündete die beiden Laternen an, die uns in der Kirche geleuchtet hatten. Ich nahm wieder die Blendlaterne.

„Ihr werdet mich in die Keller unter der Wohnung des Herrn Amtmanns führen.“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

„Und dort zu dem, der sich bis unter den Kirchhof zieht.“

„Zu Befehl.“

Er ging an einen alten Koffer, der in einer Ecke der Stube stand, schloß ihn auf und nahm ein paar große Schlüssel heraus. Den Koffer verschloß er wieder.

„Ich stehe dem Herrn Assessor zu Befehl.“

Er war bei dem Allen vollkommen so ruhig, wie er auf dem Gange in die Kirche gewesen war. Einmal glaubte ich sogar ein leises spöttisches Lächeln in seinem harten Gesichte zu bemerken.

Wir verließen seine Wohnung. Es war zwischen zehn und elf Uhr in der Nacht. Auf dem Hofe, in den Gebäuden rings umher war Alles still. Nur in dem Wohnhause des Amtmanns waren ein paar Fenster erleuchtet. Sonst überall eine Finsterniß, so vollkommen wie die Stille.

Wir gingen durch Nacht und Stille, Niemand begegnete uns, Niemand sah uns. Wir gingen schweigend, der Schließer vor mir, ich unmittelbar hinter ihm. Wir kamen an der ganzen Länge des Klostergebäudes vorüber. Als wir sein Ende erreicht hatten, bogen wir links um die Ecke. Nach wenigen Schritten gelangten wir an eine niedrige, halb unter der Erde liegende Thür. Der Schließer schloß sie mit einem seiner Schlüssel auf. Sie öffnete sich leicht. Wir traten in einen Kellerraum.

„Soll die Thür offen bleiben?’ fragte mich der Schließer.

Ich durfte ihm keine Spur einer Furcht zeigen.

„Verschließt sie.“

Er verschloß sie von innen.

Ich sah mich in dem Raume um. Er schien vor mir ohne Ende zu sein. Das Licht der Laternen brach sich an kleinen, niedrigen Pfeilern und nicht hohen Gewölben. Pfeiler und Gewölbe waren dunkelgrau, beinahe schwarz, sie schienen bei dem schwachen Lichte sich in’s Unendliche auszudehnen. Wir traten weiter in den ungeheuern Raum hinein. Nach wenigen Schritten waren wir an einem breiten Gange. Er wurde durch Mauern gebildet, die eben so dunkelgrau waren, wie jene Pfeiler und Gewölbe. Er lag zur rechten Seite. Martin Kraus führte mich in ihn hinein. Er zog sich ein Dutzend Schritte weit fort abschüssig in die Tiefe; dann wurde er eben, aber er bog sich immer mehr und mehr nach rechts. Wir mußten so, ganz wie mir der Amtmann gesagt hatte, unter den großen Speicher und unter diesem hinweg unter den Kirchhof kommen.

[623] Wir erreichten das Ende des Ganges. Links von uns befand sich eine eiserne Thür. Wir waren völlig schweigend gegangen. Ich horchte eine Weile an der Thür. Ich hörte nichts. Doch etwas hörte ich. Das Klopfen meines Herzens.

Ich stand, nicht mehr vor der Auflösung des Räthsels, aber vor der Entscheidung eines entsetzlichen Schicksals, die so unendlich viel neues Elend, neuen Jammer nach sich ziehen sollte.

Daß ich mit dem riesigen, zum Aeußersten entschlossenen, vor einem Verbrechen, auch dem schwersten, nicht zurückbebenden Menschen mich allein befand, hier, tief unter der Erde, allein, ohne daß in der Welt ein dritter Mensch davon wußte, allein in einem verborgenen Winkel, dessen Existenz nur er und der vielleicht unterdeß schon verstorbene Amtmann kannte – ich dachte in diesem Augenblicke weder an alle diese Umstände, noch an die gefahrvolle Lage, in die sie mich versetzten.

Martin Kraus stand unbeweglich mit seinem unbeweglichen Gesichte neben mir.

„Schließt die Thür auf.“

Er schloß sie auf.

Wir traten in einen großen Raum. Es war ein neuer, weiter Keller. Eine Menge kleiner Pfeiler trugen niedrige Gewölbe. Alles war von jenem dunkelgrauen Stein aufgemauert. Ich horchte mit angehaltenem Athem hinein. Ich hörte nichts, nicht das leiseste Geräusch. Nur eine kalte, feuchte, dumpfe Luft wehte mir entgegen.

„Schließer, folgt mir.“

Wir schritten tiefer in den Raum hinein. Es blieb still um uns her, todtenstill. Aber der Raum war auch völlig leer. Die nackten grauen Pfeiler, die nackten grauen Mauern, das war Alles, was meine Augen erblickten. Ich durchschritt ihn in allen Richtungen, ich sah nichts weiter.

Ein menschliches Wesen war hier nicht; auch keine Spur, daß jemals ein Mensch hier gelebt habe. Selbst die Luft verrieth es in dem freilich ungeheuer weiten, dumpfen und feuchten Keller nicht.

Ich trat vor den Schließer Martin Kraus.

„Wo habt Ihr den Gefangenen gelassen, der bis heute sich noch hier befand?“

„Hier hat sich kein Gefangener befunden.“

„Brunner hieß er.“

„Ein Gefangener Brunner ist vor zwanzig Jahren und noch länger oben in den Gefängnissen gestorben.“

„Mensch, der Herr Amtmann hat mir Alles entdeckt. Gebt den Gefangenen heraus.“

„Wenn der Herr Amtmann Ihnen etwas gesagt hat, so hat er wohl schon in der Verwirrung des Todes geredet.“

Der Mensch blieb eisern fest und ruhig. Jedes fernere Wort an ihn blieb vergeblich. Weitere Räume, in denen der Gefangene hätte verborgen sein können, gab es dort nicht mehr.

Martin Kraus hatte ihn also entweder in einen andern der Verstecke gebracht, deren die alten Klostergebäude so viele darbieten mußten, oder er hatte schon jenes entsetzliche Verbrechen begangen, das der Amtmann befürchtet hatte. In beiden Fällen konnte ich in den unterirdischen Kellerräumen, zumal in der Nacht und allein, nichts mehr machen. Und draußen?

Ich verließ mit ihm die Keller. Wir gelangten wieder an die Oberfläche der Erde, auf den Hof.

Und jetzt?

Auf dem Hofe gingen Menschen hin und her, mit Laternen, ohne Laternen.

„So eben ist der Amtmann gestorben,“ theilten sie uns mit, als sie uns gewahrten.

Martin Kraus athmete an meiner Seite tief auf. Dann war er auf einmal von meiner Seite verschwunden. Ich sah mich in der Dunkelheit vergebens nach ihm um. Warum hatte er mich so plötzlich verlassen? Wohin war er gegangen?

Ich konnte es mir nicht beantworten. –

Ich war den ganzen Tag in einer langweiligen und desto mehr ermüdenden Thätigkeit gewesen. Mein Gemüth war so vielfach, oft so heftig angegriffen, zuletzt noch durch diese plötzliche Todesnachricht. Ich fühlte mich ermüdet, ermattet. Ich wollte nachsinnen, was zu thun sei. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alle meine Kopfnerven schmerzten mich. Ich fühlte nur, daß ich nicht mehr nachdenken könne, nicht mehr nachdenken dürfe.

Ich verließ den Amtshof. Ich wollte zu meinem Gasthofe zurückkehren. Mein Weg führte mich hinter der alten Klosterkirche her. Jenseit der Kirche stand ich an dem Eingange zu dem alten Kirchhofe.

Auf einmal zog es mich unwillkürlich auf den dunkeln, stillen Friedhof. Es war mir, als müsse ich zwischen den einsamen, verlassenen und verfallenen Gräbern etwas finden, die Ruhe, deren mein schmerzhaft aufgeregtes Nervensystem so sehr bedurfte; vielleicht etwas Anderes. Ich mußte hin.

Ich sollte etwas Anderes finden.

Ich trat zwischen die Gräber. Ich ging weiter zwischen ihnen, zwischen ihnen und den Sträuchern und den Dornen und Brombeeren. Immer weiter. Hinter mir schlug die Uhr auf dem Klosterthurme Mitternacht.

Als der Ton des letzten Schlages verklungen war, glaubte ich, hinten am Ende des Kirchhofes ein Geräusch zu vernehmen. Ich horchte. Ich hörte etwas sich bewegen. Ich ging darauf zu, leise, langsam. Eine furchtbare Ahnung ergriff mich.

Das Geräusch dauerte fort. Es arbeitete Jemand an und in der Erde. Er arbeitete emsig, eilig, im Dunkeln. Er unterbrach die Arbeit nicht; er hatte mich nicht gewahrt. Auf einmal stand ich bei ihm.

Der Schließer Martin Kraus füllte ein Grab, vielleicht ein altes, längst verfallenes, aber zu einer neuen Bestimmung. Er warf die letzten Steine, die letzte Erde hinauf. Rasen zur Bedeckung des Ganzen lag neben ihm.

„Martin Kraus, wen habt Ihr da begraben?“

Da war er erst meiner gewahr geworden. Er erschrak wieder nicht; aber er sah mich mit einem wilden Blicke an.

„Herr,“ sagte er, „Sie können das Grab öffnen lassen. Sie werden einen nackten Leichnam darin finden, den kein Mensch auf der Welt kennt. Und weiter werden Sie nichts erfahren.“

Ein Schuß fiel neben mir. Der Schließer Martin Kraus sank mit zerschmettertem Gehirn auf das Grab. Er war auf Alles vorbereitet gewesen.

Welch’ ein treuer Mensch! Welch’ ein Beamtenthum! –

Ich ließ den Leichnam ruhen und ließ auch die dunkeln Verbrechen ruhen, die hier begangen waren. Kein Mensch war mehr da, den die irdische Strafe erreichen konnte. Das Andenken des Gemordeten war längst aus der Menschen Gedächtnisse verschwunden.

Sein Sohn hatte nur noch wenige Monate zu leben. Er starb in der That noch vor dem Winter. Er hatte geahnt, aber er hatte geschwiegen. Auch er in Treue und Liebe.

Rosa, die Tochter des Amtmanns, hat nie erfahren, was ihr Vater verbrochen hatte. Sie wurde meine glückliche Gattin. Vor wenigen Jahren ist sie gestorben.

Da erst theilte ich meinen Söhnen die Geschichte ihres Großvaters mit, zu ihrer Warnung auf den Beamtenweg, den auch sie eingeschlagen hatten.