Ein Tyroler Bäuerlein

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: *ch*
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Tyroler Bäuerlein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 693–694
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[693]

Ein Tyroler Bäuerlein.


Das schöne Innthal erhält seinen Hauptreiz durch das Mittelgebirge; so nennt man die oft eine halbe Stunde und noch mehr breite Terrasse, welche sich an das eigentliche Hochgebirge legt und die ehemalige Sohle des Thales bezeichnet, in welcher der Strom sein jetziges breites Bett grub und noch Raum genug auswusch für Städte und Dörfer. Ein Thal über dem Thal! könnte man sagen, wenn man dieses meist ebene Gelände betrachtet, das, weithin mit Höfen und Dörfern, mit Feld und Wald bedeckt, nur bisweilen durch eine tiefe Schlucht unterbrochen ist, die ein Bach aus einem Seitenthale in Kies und Felsen einriß. Gehen wir am rechten Ufer des Inn aufwärts; nach zwei Stunden haben wir den steilen Absturz der Terrasse erreicht, im Zickzack windet sich durch die Tannen der Pfad empor, und das liebliche Dörflein Oberperfuß winkt auf der Fläche aus den Obstbäumen. Bald stehen wir vor der reinlichen Kirche; oft trifft man selbst auf dem Lande ein schätzbares Kunstwerk, sei es nun ein Bild oder eine Statue, und wenn auch dieses nicht, so lohnt es sich, die einfachen und herzlichen Worte auf den Todtenkreuzen zu lesen oder den schlichten Aufputz der Altäre zu betrachten. Treten wir ein; dort an der Wand ein weißer Marmorstein, vielleicht zur Erinnerung an einen unbedeutenden Adeligen, der endlich, nachdem er lange gegessen und getrunken, auf seinem Landsitze verschied und altem Herkommen gemäß in der Kirche bestattet ward? Doch nein, wir lesen den Namen eines Bauern „Peter Anich“, nach der Angabe von Geburt, Stand und Tod folgen einige steife Alexandriner, welche ihn im Style des Rococo preisen:

Das Wunder seiner Zeit, der Schatz so vieler Gaben,
Die Zierd’ des Bauernstands ist leider hier begraben,
Gedenk’ an seine Müh’, von ihm gemeßnes Land,
Der Himmel war sein Werk, er lohne seiner Hand.


Peter Anich.

Wer war denn Peter Anich? Ein Bauer und nebenbei praktischer Mathematiker, Geograph und Geometer, vielleicht der größte seiner Zeit. Doch treten wir wieder aus der Kirche und setzen uns auf die Bank vor dem Widum. Da können wir ruhig plaudern, ohne ein paar alte Weiblein, die alle Nachmittage dem lieben Herrgott in den heiligen Hallen ihre Noth vortragen, zu stören, dort sehen wir auch das schlichte Bauernhaus an der Berglehne, wo 1723 am 22. Februar einem armen Landmann ein Söhnlein geboren wurde, dem der Pathe in der Taufe den Namen Peter beilegte. Das Bürschlein wuchs heran unter Kühen und Schafen; als es laufen lernte, mußte es mit der Fibel unter dem Arm in die Schule, wo es gar oft bei den Ohren gerüttelt wurde, weil es sich mit Lesen und Schreiben schwer zurecht fand. Besser ging es mit dem Rechnen, und der Lehrer meinte wohl, das Büble sollt’ ein Schacherjud sein, da würd’ es sein Glück machen. Indessen waren auch die Schuljahre überstanden, Peter trieb die Heerde auf die Alm, führte den Pflug und beschäftigte sich mit Schnitzereien, wenn es im Winter vor der Thüre schneite und wetterte, daß man keinen Hund hätte hinausjagen mögen. Endlich lernte er auch drechseln und schaffte sich bald eine Bank in die Stube, auf der er allerlei kleine Kunstwerke verfertigte, die ihm manches Gröschlein trugen. Ueberhaupt zeichnete er sich früh durch ein ernstes sittiges Wesen aus, Mädchen gegenüber war er fast schüchtern, und mit den anderen Jünglingen des Dorfes an ein Fenster zu gehen, überstieg seinen Muth, und wenn ihn auch das schönste Mädchen mit dem zärtlichsten Gruße empfangen hätte. Da hieß es wohl: „Wo ist denn der Peter?“ – „Der steht im Anger, sperrt das Maul auf und guckt nach den Sternen!“ lautete die Antwort. Ja, er guckte nach den Sternen des Himmels; ihr unvergänglicher Reiz hatte ihn so bezaubert, daß er kein Mädchenauge beachtete, lieber folgte er Nachts ihren wundervollen Bahnen, anstatt im Irrgarten der Liebe zu taumeln.

Da starb sein Vater. Jeder meinte, daß er jetzt als Herr eines kleinen Anwesens die Braut heimführen werde, sein Treiben wurde jedoch immer geheimnißvoller, sein Wesen immer träumerischer, endlich ward es ihm zu eng in der Bauernstube, er nahm den Hut und wanderte nach Innsbruck. Dort suchte er die Universität auf und trat vor den Professor der Mathematik, den freundlichen und behäbigen Dr. Weinhart. „Bist Du der, dessen Amt ist, den Himmel und die Sterne zu beobachten?“ redete er den Mann in der Allongeperücke an. Als es dieser bejahte, fuhr er fort: „Auch ich möchte gern den Lauf der Sterne erkennen lernen, da ich denselben öfters, wenn ich das Vieh weidete, mit Lust beschaut habe.“ Der Professor hörte mit Staunen zu; es war kein Knabe, der Unterricht heischte, sondern ein Bauer von bereits 28 Jahren mit rauhen schwieligen Händen, ein Bauer, kaum fähig zu lesen und zu schreiben. Erst mußte er sich überzeugen, daß er keinen Narren vor sich habe, und er stellte daher eine Menge Kreuz- und Querfragen, deren scharfe, bestimmte Lösung ihn mit größter Bewunderung erfüllte. Er erlaubte ihm alle Feiertage auf einige Stunden zu kommen; Anich scheute weder die Mühe des Weges noch schlechtes Wetter, sondern stellte sich regelmäßig ein. Nun entfaltete der Genius die lang gehemmten Schwingen; er machte in Mathematik, Optik und Astronomie wunderbare Fortschritte, so daß ihm die Universität die Verfertigung eines Himmelsglobus übertrug. Ehe er sich an diese Arbeit wagte, lernte er noch Schönschreiben und Zeichnen; bald hatte er auch hier alle Hindernisse überwunden. Nun saß er vor seiner Drechselbank, drehte aus Holz die Hemisphären, auf die er die Sternbilder eintragen wollte, und schnitt aus Messingplatten Zirkel, Ringe, Zähne und Uhrwerk. Er wollte Alles überbieten, was bis jetzt in dieser Art geleistet worden; in seiner Brust regte sich der Ehrgeiz und spornte ihn rastlos zum Schaffen. Im Herbste 1756 war das Meisterwerk fertig, eine Himmelskugel größer als je eine verfertigt worden; zierlich punktirt prangten die Sternbilder, und Alles drehte sich nach dem Vorbild himmlischer Ordnung durch einen von Anich neu erfundenen Mechanismus. Aber nun ging das Elend an. Als Anich damit zur Thüre hinaus wollte, war diese um ein gutes Stück zu eng, und er mußte erst Maurer und Zimmerleute bestellen, welche eine Wand sprengten und den Himmel aus der engen Stube an den Tag brachten. Der Globus erregte zu Innsbruck allgemeines Aufsehen, Gelehrte von nah und fern gestanden willig, daß sie nie etwas Aehnliches gesehen; Professor Weinhart schrieb eine Abhandlung darüber, welche der großen Kaiserin Maria Theresia vorgelegt wurde, welche seitdem Anich nicht mehr aus den Augen ließ. Der Globus, jetzt freilich durch die Hülfsmittel der neuesten Wissenschaft und ihre allseitigen Entdeckungen überholt, ist jetzt eine Zierde des Museums zu Innsbruck und im Erdgeschosse desselben aufgestellt.

Nachdem Anich das Bild des Himmels entworfen, wendete er sich der Erde zu und zeichnete ein Kärtchen des mittleren Tyrol. Dieses fand so viel Beifall, daß er den Auftrag erhielt, nach den vorhandenen Materialien eine Karte des damaligen Kriegsschauplatzes zu liefern. Zu Innsbruck befanden sich gerade die preußischen Generale Fink und Platen in Gefangenschaft; Anich’s Entwurf ward ihnen vorgelegt und erntete ihren ungetheilten Beifall. Wie wuchs aber erst ihr Erstaunen, als sie vernahmen, daß der Zeichner dieses schönen Blattes ein schlichter Bauer sei! Gleichzeitig verfertigte er einen Erdglobus von der nämlichen Größe wie seine vielbewunderte Himmelskugel und eben so gut. Er steht im Museum dem Himmelsglobus zur Seite und trägt die Aufschrift:

„Quos coluit dimensus agros.“

Nun wurde ihm von Seiten der Regierung eine Arbeit übertragen, welche die Hauptaufgabe seines Lebens werden und seinen Ruhm unvergänglich begründen sollte. Welchem Geographen und Militär wäre wohl Anich’s Karte von Tyrol unbekannt? Durch die neuesten Vermessungen des österreichischen Generalstabes zwar [694] beseitigt, bleibt ihr doch ihr Rang in der Geschichte der Wissenschaft. Peter Anich erhielt von Maria Theresia Befehl, Tyrol zu vermessen. Mit lebhafter Freude machte er sich an diese Arbeit, deren Schwierigkeit nur jener beurtheilen kann, der sich einmal im Gebirge mit wissenschaftlichen Untersuchungen irgend einer Art beschäftigt hat. Wie viele Bergspitzen, die bis jetzt noch kein Fuß betreten, mußte er ersteigen; wie oft drohten Lawinen und Steinbrüche ihn in den Abgrund zu schleudern, wie viele Gletscher voll tückischer Klüfte durchwanderte er! Hatte er den Tag hindurch Noth gelitten und die Sonnenhitze ertragen, so mußte er die Nacht oft am Rande des Eises zubringen, wobei, wie er selbst erzählt, der Boden, auf dem er lag, oft steinfest gefror. Im Unterinnthal hatte er einst einen Gipfel erklettert, da sah er von fern ein furchtbares Gewitter anziehen. Er lief schnell abwärts einem Baume zu, unter welchem sich drei Kühe geborgen hatten. Plötzlich fuhr ein Blitz durch die Luft, der Baum flackerte in Flammen auf und die Rinder lagen erschlagen. Diese Hindernisse setzte ihm die Natur entgegen, andere bereitete ihm der Unverstand des Volkes. Die Bauern, stets mißtrauisch gegen die Regierung, glaubten, Anich sei abgesandt, ihre Felder zu vermessen, damit man sie mit höheren Steuern belasten könne. Wenn er daher in einem Dorfe todmüde ankam, so versagte man ihm hartherzig Lager und Nahrung, so daß er oft mit einem Stücklein Brod vor den Hausthüren schlafen mußte. Andere schrieen, die Sicherheit Tyrols gehe verloren, wenn Karten mit allen Wegen, auf denen der Feind einbrechen könne, entworfen würden. Man schalt ihn einen Landesverräther und bedrohte seine leibliche Sicherheit auf verschiedene Weise. Es gehörte der Heldenmuth einer tüchtigen Natur dazu, um im Kampfe mit so zahlreichen Gegnern nicht zu erliegen.

Im Spätherbste 1760 legte er der Regierung das erste Blatt seiner großen Karte fein gezeichnet und sicher ausgeführt vor und erwarb sich damit solche Zufriedenheit, daß man ihn zur Fortsetzung der Arbeit aufforderte. Erregte dieses einerseits seine größte Freude, so erklärte er andererseits doch, daß er zur Vollendung eines so umfassenden Werkes, das Jahre ungebrochener physischer Kraft verlangte, nicht ausreiche, und bat daher, man möge ihm gestatten, einen Gehülfen abzurichten und mitzunehmen. Gern wurde ihm für einen solchen die nöthige Geldsumme zugestanden und die Auswahl desselben ganz seinem Gutbefinden anheim gestellt.

Da war das arme Lehrerlein von Oberperfuß, Blasius Huber, der eine Stube voll Kinder und im Sommer, wo die Schüler auf dem Feld arbeiten, nicht viel zu verdienen hatte. Ein Freund von Anich hatte er diesem manche kleine Hülfe geleistet, bei seiner Neigung zur Mathematik konnte ihm nichts erwünschter kommen, als der Antrag, ordentlich Geometrie zu lernen und dann den Sommer auf Vermessung zu gehen. Anich verwendete den Winter für den Unterricht. Huber studirte Tag und Nacht, im Frühlinge war er schon so weit, daß ihn der Freund zu Weinhart nach Innsbruck führen konnte, der ihn nach kurzer Prüfung als völlig befähigt erklärte, bei der Landesaufnahme mitzuwirken. Beide machten sich nun auf den Weg; jeden Herbst wurde ein Blatt fertig, jedes Blatt brachte ihnen neuen Ruhm, bereits wurde ihr Name auch außerhalb Tyrols mit voller Anerkennung genannt. Im Frühling 1766 nahmen sie das Etschthal in Angriff, dort arbeiteten sie in den sumpfigen Niederungen der Etsch, wo kaum die Eingeborenen der Ungunst des Klimas zu trotzen vermögen, um so weniger Leute, die stets an den Genuß der reinen Alpenluft gewöhnt waren. Beide erkrankten im August so heftig, daß sie im Wagen nach Hause geliefert werden mußten. Bei Anich gesellte sich die Gicht dazu; der Statthalter, welcher den Werth des seltenen Mannes zu schätzen wußte, sandte seine Leibärzte nach Oberperfuß, um ihn zu heilen. Ihre Kunst konnte jedoch nur eine kurze Frist wirken, gerade lang genug, um in das Leben des Dulders einige Lichtblicke fallen zu lassen. Maria Theresia verlieh ihm den goldenen „Ehrenpfennig“ mit der Weisung, ihn an allen hohen Festen als Auszeichnung zu tragen, und um ihn vor Mangel zu schützen, einen Gehalt von 200 Gulden. Er starb jedoch schon im Herbste 1766 allgemein bedauert, denn nicht blos ein glänzendes Wissen, sondern auch Reinheit und Lauterkeit des Charakters zeichnete ihn aus. Um den Todten zu ehren, gestattete der Bischof von Brixen, daß er anstatt auf dem Friedhof in der Kirche begraben wurde. Die Landesaufnahme war zu zwei Dritteln vollendet, den Rest der Arbeit übernahm Blasius Huber nach seiner Genesung und führte dieselbe unter großen Beschwerden und vielfachen Gefahren auch glücklich zu Ende. Ihm war es vergönnt, ein hohes Alter zu erreichen, er verschied 1814 zu Inzing, wo ihm ein marmorenes Denkmal errichtet wurde.

*ch*