Der Junker von Hohensee
Der Junker von Hohensee.
Im heißen Sommer 1826 machte ich mit meiner Familie eine Reise zu den Eltern meiner Frau in unsere gemeinsame alte Heimath, in jenen Landestheil, der früher „Schwedisch-Pommern“ hieß und seit seiner Vereinigung mit den bereits länger preußisch gewesenen Theilen des alten Herzogthums „Neu-Vor-Pommern“ genannt wird. Es ist eigentlich nur ein Küstenland, mit fruchtbarem Boden, fetten Wiesen und prachtvollen Laubwaldungen, mit zwar veränderlicher Witterung, aber im Ganzen sehr mildem Klima, mit gesunden, kräftigen Menschen endlich, die zu leben wissen und leben lassen, was alles den anderen Theilen dieser Provinz nicht gerade immer nachzurühmen ist.
Meine Familie brachte ich bei den Schwiegereltern unter und machte selber dann bald allein, bald mit einem meiner Kinder Ausflüge zu Verwandten und Bekannten, die mir im Ländchen zahlreich verstreut lebten. Bei einem solchen Ausfluge hatte ich in einem Gasthofe auf dem sogenannten Peendamm bei Anklam den Wagen zu erwarten, der mich weiter führen sollte, und während des Wartens machte ich durch Vermittelung meines Töchterchens die Bekanntschaft eines alten Herrn, der in Begleitung einer um Vieles jüngeren Dame dort gleichfalls abgestiegen war, um die heißeste Zeit des Tages unter Dach zu sein, und alsbald an meiner kleinen Clara Geschmack gefunden hatte. Es war ein großer und hagerer alter Mann, mit schon ergrauendem, kurz gehaltenem Haar und schneeweißem, unmäßig langem und dickem Schnurrbart. Das eine Auge war durch eine schwarze Binde verdeckt, das andere blitzte dafür aber nur um so lebhafter und jugendlicher. Und auch seine Kleidung war von jenem Schnitt und Schluß, der mir ihren Besitzer als einen alten Militär erscheinen ließ, welcher sich jetzt etwa auf sein Gut zurückgezogen haben mochte.
So zeigte es sich auch. Nachdem wir uns, wie gesagt, durch die Kleine zusammengefunden, tranken wir unsern Kaffee mit einander und geriethen bald in ein lebhaftes Geplauder über alles Mögliche. Er schien eine gar besondere Gabe zu besitzen, den ihm Begegnenden auszuholen, ohne daß es diesem viel auffiel, und so hatte er denn nach kurzer Zeit schon heraus, wer und was ich sei, wie und wo ich lebe. Dabei fand es sich, daß er meinen seligen Vater vor langen Jahren auf das Genaueste gekannt und den „Magister Mühl in Liebenhagen“ stets für den wackersten Menschen unter der Sonne gehalten habe, wie er ihm denn auch noch ein fast zärtliches Andenken widmete. Es fand sich ferner, daß meine Frau aus einer ihm nahe verwandten Familie stamme, mit der die seine zufällig nur seit manchen Jahren außer Berührung gekommen war. Als er das entdeckt hatte, reichte er mir zum zweiten Male die Hand, hieß mich einmal über das andere „Vetter“, stellte mir die Dame als seine Nichte, eine Frau von Brederloo, vor und nannte sich endlich mir auch selber. „Ich heiße [690] Hohensee,“ sagte er, „oder um Euch einen bekannteren Namen zu nennen – der Junker von Hohensee. Den kennt Ihr doch?“
Das war freilich der Fall, obschon ich ihm bisher wunderlicher Weise noch niemals begegnet war. Der „Junker von Hohensee“ war seiner Zeit im Lande bekannt genug gewesen als ein seltsamer, eigensinniger und doch auch liebenswürdiger Kauz, als ein Original ersten Ranges, von dem hundert und aberhundert lustige, wilde, barocke, gutmüthige Streiche und Züge erzählt wurden, kurz, ein Mensch, von dem Viele behaupteten, man müsse ihm stets drei Schritt vom Leibe bleiben, auch seiner zum mindesten sehr zweifelhaften Vergangenheit wegen, in der es allerlei finstre Thaten geben sollte, und den Andere, darunter früher auch mein Vater, das treueste, ehrlichste und bravste Herz im Lande hießen. Jetzt war er alt und lebte auch wohl solider, überdies war ich seit zehn Jahren schon in einer fremden Provinz angestellt und hatte daher nichts Neues mehr über ihn erfahren. – Von seiner Lebensstellung will ich nur kurz anführen, daß er einer der reichsten Grundbesitzer des Ländchens war, noch von der schwedischen Zeit her den Titel „Kammerjunker“ hatte, aber nicht führte, natürlich wie fast alle seine Zeitgenossen „bei den Preußen“ gedient hatte, Anno 1813 sogar noch einmal zu Felde gezogen war und seitdem auch „Oberst“ hieß. Er hörte sich jedoch am liebsten „Junker“ nennen und mochte von allen übrigen Titulaturen nichts wissen.
Ueber sein vergangenes Leben erfuhr ich auch jetzt, trotz meiner Erkundigungen, so gut wie nichts. Man wußte, entweder nichts Genaueres, oder hielt damit aus diesem oder jenem Grunde zurück. Dafür wurde meine neu angeknüpfte Bekanntschaft mit ihm eine gar intime, denn bevor wir uns an jenem Nachmittag auf dem Peendamm trennten, lud er mich auf das Herzlichste zu einem Besuch bei ihm in Hohensee ein, und der Alte hatte mir gleich Anfangs so sehr gefallen und zog mich durch Alles, was ich nachher über ihn erfuhr, so lebhaft an, daß ich alsbald von dieser Einladung Gebrauch machte. Ich fand die beste, jovialste Aufnahme.
Seine Güter lagen oder liegen vielmehr in dem äußersten Winkel des Landes, fern von den Städten und damals ohne alle wirkliche Landstraßen, so daß Einheimische so gut wie Fremde selten oder nie in diese Gegend gelangten. Und das war schade, denn Hohensee selbst, das Hauptgut, bildet mit seiner Umgebung einen der hübschesten Punkte des Ländchens, Alles vereinend, was in demselben an landschaftlichen Reizen zu finden ist. Links zieht sich der Seestrand in einem weiten Bogen hin, theils flach und kaum über die Fluthen hervorragend, theils aber auch sich zu hohen und immer höheren Dünen erhebend, die endlich in einen wirklichen, gegen das Meer zu schroff vorspringenden und jäh abfallenden, reich bewaldeten Hügel auslaufen. An den Strand schließen sich üppige Wiesen, dann kommen reiche Felder, und rechts schließt der schönste Laubwald jede Aussicht.
Hohensee selber ist zwar nur ein Dorf, wie alle andern, allein es zeichnete sich schon damals durch ganz besondere Sauberkeit und Ordnung vor allen seines Gleichen aus. Der „Hof“ liegt eine starke Viertelstunde entfernt gegen den Wald zu, mit dem Dorf durch eine vierreihige Allee prachtvoller alter Buchen verbunden. Das Wohnhaus war damals noch ein langes, niedriges Gebäude, ein Parterre und nichts mehr, mit einem dunklen Strohdach. Von Wohlhabenheit oder gar Reichthum zeigte sich hier nichts, und zum einzigen Schmuck mußten die großen Bäume dienen, welche an der Vorderfront ein paar Bänke beschatteten, während andere noch höhere und dichtere Wipfel weit über das Dach emporragend auf den hinter dem Hause befindlichen Garten hinwiesen.
Die Hohensee gehörten, wie bemerkt, zu den reichsten Grundbesitzern des Landes, an und in ihrem Wohn- und Stammhause wurde davon jedoch, um auch das zu wiederholen, nichts sichtbar. Es war geräumig, aber innen so schlicht und einfach, wie außen, und eben so zeigte sich auch das Mobiliar, solid und ausreichend, aber weder schön und reich, noch im Ueberfluß vorhanden und vor allen Dingen nichts weniger als neu. Im Gegentheil, fast Alles, was man sah, stammte aus vergangenen Zeiten und ließ deutlich erkennen, wie bescheiden man selbst in den wohlhabendsten Familien dazumal gedacht und gelebt. Der Reichthum barg sich schier schamhaft in unscheinbaren Kästen und Schränken und kam, wie das wahrhaft fürstliche Silberzeug, selten oder nie an’s Tageslicht. Die Waffensammlung, eine der schönsten, die ich je gesehen, zeigte der Alte mir erst, nachdem wir schon Jahr und Tag mit einander bekannt. Er hatte sie gleichfalls in Schränken, weil er sogenannte Trophäen an den Wänden für eine knabenhafte Spielerei erklärte, bei der die feineren Stücke nach und nach nur zu Grunde gingen. – Seine Bibliothek endlich, die außerordentlich einfach aufgestellt und sehr unscheinbar war, bei genauerer Ansicht aber überraschend viel Werthvolles enthielt, fand sich seltsamer Weise in des Alten Schlafzimmer, nur für ihn selbst und besonders Begünstigte zugänglich. Ein Schrank mit Unterhaltungslectüre stand im Wohnzimmer für die Gäste bereit.
Eben so einfach war auch die Umgebung des Hauses, der Wirthschaftshof, die Wirthschaft selbst. Was da war, zeigte sich solid und brauchbar, der Viehstand musterhaft, die Pferde prachtvoll; Maschinen jedoch und überhaupt Neuerungen ließen sich nirgends bemerken. Der „Junker“ liebte dergleichen nicht und erklärte sich für zu alt, um noch viele Proben zu machen. „Die nach mir müssen auch etwas zu thun haben,“ sagte er wohl. – Der Garten hatte zwar noch einige Partieen im alten Hecken- und Berceaustil, war jedoch bei weitem mehr Nutz- als Ziergarten. Rückwärts stieß er an den Wald, durch den einige breitere und schmälere Wege gehauen waren, und wenn man dem einen der erstern folgte, gelangte man in zehn Minuten zu dem sogenannten „schwarzen See“, der, vom Waldesschatten stets dunkel gefärbt, innerhalb eines nur auf einer schmalen Stelle geöffneten, fast zirkelrunden, hohen grünen Walles ausgebreitet war. Dahin richteten sich häufig die Spaziergänge der im Hause anwesenden Gesellschaft.
Die Bewohner desselben bestanden außer den Dienstleuten – Dienerschaft zu sagen, wäre viel zu vornehm, es gab nur einen alten Burschen, der bei Gelegenheiten Livree trug – allein aus dem Junker selbst, den beiden Wirthschaftern und der alten „Mamsell“, das ist: Wirthschafterin. Dazu kamen nun aber oft genug die Familie der nahewohnenden Nichte, und ein Paar Mal im Jahr sämmtliche Kinder und Kindeskinder der beiden verstorbenen Schwestern des Alten, des letzten Mannes mit seinem Namen. Dann war das Haus voll Lärm und Heiterkeit, und Alles fühlte sich so wohl, wie nirgends anderwärts. Der „Junker“ wußte es aller Welt behaglich zu machen, aber Alt und Jung hing auch mit sichtbarer Liebe an ihm, und die Kinder und zumal die heranwachsenden Mädchen waren ihm mit wahrer Schwärmerei zugethan. Wie er mit diesen zu verkehren verstand, wie er sich mit der jungen fröhlichen Schaar neckte und „verzog“, mit ihr scherzte und plauderte, Gesellschaftsspiele spielte oder gar einmal tanzte, wie er sie reiten und mit der Pistole schießen lehrte – das hatte selbst für uns Zuschauer einen unbeschreiblichen Reiz, und man begriff leicht, daß und in welchem Umfange ihm Jedermann zu eigen werden mußte.
Denn das geschah, obgleich schwerlich Jemand anzugeben vermocht haben würde, worin diese eigenthümliche Anziehungskraft eigentlich bestand. Ich fand ihn stets lebhaft, ja heftig und wild, fast immer rührig und beweglich und doch auch wieder eigenthümlich bequem und nachlässig, sorglos und zuweilen rücksichtslos, überhaupt das, was man nach unserer charmanten Gesellschaft-Terminologie „façonlos“ heißt. Dadurch stieß er bei Un- oder Halbbekannten vielfach an, kümmerte sich aber wenig darum und fragte ebensowenig darnach, wenn er selber einmal wieder gestoßen wurde.
„Wie ich dir, so du mir,“ sagte er wohl einmal lachend bei solcher Gelegenheit; „das ist billig.“
Kam man ihm freilich näher, und das gelang schon hin und wieder Jemand, so fand man Anziehendes und Fesselndes genug. Er war ein Mann von reicher Erfahrung, von hoher Bildung und einem ausgebreiteten Wissen. Es gab in seinem Kopfe mancherlei, was man nicht im Traume darin gesucht hätte, und da er ein Mensch von gesundem Verstande, von durchdringendem Geiste und einer Energie war, die ihn Alles beenden ließ, was er schaffend oder lernend einmal begonnen, so hatte er sich in mehr als einem Fach nicht nur Kenntnisse erworben, sondern sich auch zu einer Höhe und Klarheit der Anschauung durchgearbeitet, wie man sie bei den Leuten vom Fach bekanntlich häufig genug vergeblich sucht. Leider blieb das Alles aber gewissermaßen unfruchtbar, wenigstens für Andere. Denn er kam höchstens nur gelegentlich einmal mit diesen Schätzen zu Platze. Prahlerei und Prunksucht fand man an ihm selbst so wenig, wie in seinem Hause.
Ueberhaupt sprach er von sich, von seiner Familie selten und niemals mehr, als was gerade absolut nothwendig war. Und um das hier anzuführen, der „Junker von Hohensee“ hatte zwar ein ernstes Gefühl vor seinem Range und Stande und, wo dazu Veranlassung, [691] auch ein wahrhaft stolzes Selbstbewußtsein; allein von dem, was man Adelsstolz heißt, was man in einem „Junker“ zu suchen und als „Junkerthum“ zu bezeichnen pflegt, habe ich trotz meines langen und intimen Umgangs nie auch nur eine Spur gefunden. Er legte im Ganzen wenig Werth auf seinen Adel und die Reinheit seines Stammbaums; ich, der ich nicht einmal aus einem patricischen Geschlecht stamme, war ihm als „Vetter“ eben so lieb und gültig, wie einer der adeligen Verwandten. „In unserer Zeit,“ pflegte er zu sagen, „begründet nur noch die Bildung die Ebenbürtigkeit, und wer es anders will, ist ein Thor.“ – Herab sah er nur auf diejenigen, welche etwa aus Geldstolz und Prunksucht sich neuerdings den Adel verschafft hatten; gegen solche konnte er bei Gelegenheit den „alten Edelmann“ auf das Herbste herauskehren, und niemals wären derartige Leute in seinen oder seiner Familie Umgang gekommen. Er konnte zuweilen starr und hart wie Stahl sein, und von seinem entschieden ausgesprochenen Willen sah kein Mensch ihn jemals abweichen.
Von meinem ersten Besuch, von meinem späteren Verkehr mit ihm habe ich eigentlich nichts zu erzählen. Wir lebten dies erste Mal vierzehn Tage lang auf das Behaglichste mit einander, wiederholten das im nächsten Jahr und kamen, zumal ich demnächst in eine Garnison kam – ich war Auditeur –, welche der alten Heimath viel näher war und mir häufigere Besuche daheim erlaubte, immer tiefer in die beste und treueste Freundschaft hinein. Mein Gefühl sollte ich vielmehr verehrende Liebe nennen, denn diese erfüllte mich je länger, desto tiefer für den alten wunderlichen Gesellen. Was ihn zu mir zog und mich ihm sichtbar lieb machte, weiß ich noch heute nicht. Aber er ließ mich, wie schon bemerkt, nicht wieder los, er suchte mich sogar in meinem damaligen Wohnorte heim, um dies und jenes mit mir zu bereden oder mich und gelegentlich eins meiner Kinder zu sich hinüberzuholen. Es kann wohl sein, daß ihm die Einsamkeit in seinem Hause zuweilen gar zu groß wurde, zumal er jetzt, in seinem Alter, nicht gerade ruhiger, aber doch – vernünftiger, muß ich sagen, und maßhaltender wurde und nicht leicht mehr die Ruhe des täglichen Lebens und die Stille seiner Umgebung durch einen jener tollen Streiche unterbrach, die ihn vordem und noch bis vor kurzem häufig genug in Nähe und Ferne berufen gemacht. Ich zum mindesten habe nur noch wenig von dergleichen gehört und bin kaum ein oder zwei Mal Zeuge jener Extravaganzen gewesen, die früher in Hohensee und an seinem Herrn zur Tagesordnung gehörten.
Neben aller Rührigkeit und Rastlosigkeit steckte in dem alten Herrn seltsamer Weise auch eine gehörige Portion von – wie sage ich nur? – Ruhelust und Träumerei. Es gab ein paar Plätze auf Hohenseeer Gebiet, wo er häufig und lange zu weilen und – eben zu träumen pflegte, stundenlang, friedlich und herzlich, zur ruhigen Unterhaltung aufgelegt, oder auch nachdenklich, still und versunken, so daß er dann hin und wieder zu keinem Wort zu bringen war. Und so wenig ein oberflächlicher Bekannter eine solche Stimmung bei ihm gesucht haben würde, ebenso wenig wäre selbst ein Freund zu errathen im Stande gewesen, wo der Junker sich diese Plätze ausgesucht hätte.
Eine Viertelstunde vom Hofe, rechts neben der Buchenallee, lag die alte kleine Kapelle mit dem Friedhof umher einsam in den Gefilden; das Dorf hatte sich von ihr weggezogen, und nur die Schullehrer-Wohnung war noch in ihrer Nähe geblieben. Das Gebäude wurde nur vier bis fünf Mal im Jahre zum Gottesdienst benutzt – gewöhnlich gingen die Hohenseeer in ein nicht fernes Dorf zur Kirche hinüber – und wenn Nachmittags die Schule geschlossen war, lag die Gegend umher und der Platz selbst in einer Stille und Einsamkeit, als sei weit und breit kein Mensch zu finden. Besonderes zeigte sich an der Stelle nichts. Die Kapelle war alt und unscheinbar; es fehlte ihr sogar der Thurm, und die beiden Glocken hingen in einem sogenannten „Stuhl“, der, aus Holzwerk einfach genug errichtet, nahe der Hauptpforte auf der Westseite stand. Auch der Friedhof selbst war wie alle Seinesgleichen, und zum Schmuck dienten ihm nur einige schöne alte Bäume und der überall üppig angesiedelte Epheu.
Man hatte für die Kapelle und ihren Hof vordem die trockenste Stelle der Umgegend ausgesucht – eine Bodenerhebung, die, so unbedeutend sie sein mochte, dennoch einen weiten Um- und Ausblick über das flache Land gestattete. Und wer diese Ausschau haben wollte, ging in die äußerste Ecke des Kirchhofes gegen die See zu, wo eine prachtvolle uralte Eiche ihre Zweige ausbreitete und den Platz zwischen ihren moosigen Wurzeln mit dichtem Schatten überwölbte. Da ruhte mein alter Freund und erfreute sich der Aussicht, die in der That, wenn auch beschränkt, doch anziehend genug war. Seitwärts, gegen das Dorf zu, schnitt die Allee jeden Fernblick ab; an ihr vorüber sah man in der Entfernung einer starken Viertelstunde die oben erwähnte hohe, mit Wald bewachsene Düne und neben derselben die See, welche hier mit einem tiefen Busen sich in das Land hineindrängt. Die Hügeldüne begrenzt wie ein Vorgebirge die linke Kante, vorn hinaus ist ein ungemessener Horizont, rechts geht der Strand unabsehbar fort, und man blickt bis tief in’s „preußische“ Pommern hinein. Es ist möglich, daß auch das fast gar zu einfach erscheint. Man muß eben Sinn für die Natur und ein Herz für die See haben, um den leisen, leisen Zauber zu spüren, der da heraus zieht und den Schauenden unwiderstehlich umschlingt und ihn festhält bis an’s Ende seines Lebens.
Der Raum, welcher zwischen der Friedhofsmauer und dem Strande ausgedehnt lag, zeigte jetzt ziemlich weite Wiesen. Doch sah man noch an vereinzelten Büschen und Bäumen, welche hie und da an Grabenrändern und auf kleinen Erhöhungen wieder aufgeschlagen oder erhalten waren, daß vordem auch hier der Wald geherrscht habe, und der Alte bestätigte das auf meine angelegentliche Frage, indem er hinzusetzte, daß meistens er selber erst die Rodungen vorgenommen habe, weil die Waldung in Abnahme gekommen sei und die Wiesen einen höheren Ertrag gewährten. Es kam dazu, daß er eine Aussicht haben wollte und freie Luft, wie er sich ausdrückte, im Leben und im Tode. Denn obgleich er niemals auch nur eine Faser von Sentimentalität an sich hatte und der Ansicht war, daß es dem Menschen sehr gleichgültig sein kann, wo seine todten Knochen vollends zerfallen, wollte er dereinst doch nicht bei seinen Ahnen in der Kapelle begraben werden, sondern hier, vor der weiten See, unter dem alten Baume und unter der unermeßlichen Höhe mit ihren ewigen Lichtern.
Es war einer jener Tage, die im Herbst, aber auch nur dann, nach stürmischer Nacht und wildem Morgen ziemlich häufig sich zur vollsten Schönheit aufzuheitern pflegen und an Glanz und Klarheit, an Milde und zugleich an Frische und Elasticität Alles übertreffen, was ich zu solcher Jahreszeit jemals anderwärts kennen gelernt. Die Sonne macht es dann so warm, daß man zwar den Schatten sucht, in diesem wird es einem aber auch wohl bis in’s Herz hinein. Die Luft ist goldklar und goldrein, der Seewind ist nur ein frischer Hauch, in dem man alle Glieder sich kräftigen fühlt, der alles Schwere und Dumpfe aus uns und von uns fortnimmt.
Nie im Jahre sonst hat der Himmel dieses reiche, glänzende Blau gezeigt, die See niemals so mild und fröhlich gelächelt. Das Land kleidet sich erst jetzt in lebhafte Farben – tiefes Grün, goldiges Gelb, glühendes Roth.
Am Morgen war trotz des noch ungestümen Wetters Frau von Brederloo, wie häufig, mit ihrem ältesten Knaben zu Pferde nach Hohensee herüber gekommen und bald nach dem Mittagsessen wieder fortgeritten. Ein paar Stunden später hatte der Junker mich dann zum Ausgange aufgefordert und war mit mir nach dem Friedhofsplatze geschlendert, wo wir nun ruhten, schauten und plauderten. Der Alte war den ganzen Tag über ungewöhnlich still gewesen und selbst durch die Anwesenheit der Nichte nicht erheitert worden. Erst hier, unter dem alten Baume, vor der glanzvollen See war er, so zu sagen, aufgewacht und nach und nach wieder so munter geworden, wie ich ihn meistens sah. Man konnte heut hier auch nicht träumen und still bleiben, es war gar zu freundlich rings, und ganz überwältigt von diesem Eindruck meinte ich: hierher solle man einen Ernsten und Traurigen führen, damit er einmal allen Druck und alle Banden plötzlich von sich abfallen fühle.
„Das ist richtig,“ sprach der Junker und zog den weißen Bart, dessen Spitzen bis auf den Rockkragen hinabstarrten, lang durch die Finger. „Ich kann’s durch mein eigen Beispiel beweisen, Vetter. Ich habe hier einmal an solchem Tage – es war sogar gleichfalls der zwanzigste September, und auch die Stunde trifft beinahe zu – gesessen, nach den schwersten Minuten, meines ganzen Lebens, borstig wie ein Eber, und doch auch bis in den Tod betrübt, wie zerschlagen und zerbrochen. Da steht die Birke noch, an der ich damals mein Pferd anband. Ich kam nämlich von Liebenhagen, von Eurem Vater, wollte zu den Meinen und mochte doch Niemand von ihnen sehen und umritt zögernd Hof und Dorf [692] auf dem Wege, der damals hier vorbei durch den Bruch führte. Da packte mich der alte Platz, ich rastete und fand Frieden und das Bewußtsein, daß ich mit meinem Elend wenigstens die qualvollste Last von dem besten und liebsten Geschöpf genommen, das ich in der Welt kennen gelernt. Und das Bewußtsein ist mein Gottessegen geworden und geblieben in aller Noth.“
Er schwieg und schaute schier träumerisch auf die See hinaus, und als er wieder zu reden begann, war sein erstes Wort: „Es ist seltsam genug, Vetter – damals, in den schwersten Stunden, war der Vater mein einziger Vertrauter, und nun, da ich zum ersten Mal in vierzig Jahren wieder davon spreche, wird’s der Sohn.“
Und ohne weitere Vorrede fing er an und erzählte mir die Geschichte seines Lebens.
„Obgleich wir damals nicht zu Preußen gehörten, vielmehr vor nicht vielen Jahren, während des nordischen Krieges, ihm sogar feindlich gegenüber gestellt waren, blieben natürlich doch hunderterlei Verbindungen mit dem stammverwandten Lande im Gange. Nach altem Herkommen, welches nach jenem Kriege sogleich wieder aufgenommen wurde, traten zum Beispiel die Söhne der meisten einheimischen Adelsfamilien nicht in die schwedische, sondern in die preußische Armee, und wenn Ihr die alten Stammlisten in meiner Bibliothek einmal abstauben und nachschlagen wollt, werdet Ihr schwerlich eine einzige unserer alten Familien finden, welche nicht, besonders unter den Reiter-Regimentern, einen oder einige Repräsentanten ihres Namens aufzuweisen hätte. Es war nicht anders; wer gesunde Glieder hatte, diente damals jedenfalls, und wäre es auch nur für ein paar Jahre gewesen.
Bei meinen Vorfahren war es gerade ebenso; mein Großvater war in der Zeit des nordischen Krieges jung gewesen und daher nicht hinüber gekommen, mein Vater aber und mein Onkel, Hans Peter, traten Anno 43 in’s Regiment Baireuth-Dragoner, der Eine fünfzehn, der Andere dreizehn Jahre alt, waren bei Hohenfriedberg und dienten mit Ehren fort, bis mein Vater Anno 49 durch den plötzlichen Tod meines Großvaters zurückgerufen wurde und, 21 Jahre alt, die Güter übernahm. Das ging denn, wie es wollte und mußte, und drei Jahre darauf heirathete er die Freiin Ulrike Magdalene von Ehrenswärdt, eine reiche, junge, schöne und stattliche Dame, die neben all diesen Vorzügen auch noch eine gehörige Portion Stolz und Eigenwillen erhalten hatte, von welchen Ihr im Lauf meiner Erzählung mehr als eine Probe kennen lernen werdet, Vetter.
Die Ehe war trotzdem eine ganz glückliche, wenn man bei dieser Bezeichnung nur nicht, wie die Heutigen, gleich an ein schnäbelndes Taubenpaar denken will. Dergleichen ist ihnen sicher niemals eingefallen, und sie würden es nach den Ansichten ihrer Zeit auch für unanständig gehalten haben. Sie liebten sich herzlich, achteten und vertrauten einander unbegrenzt und hielten in ihrer Stellung zu einander so gut wie zu ihren Mitmenschen und Standesgenossen streng auf Anstand und Ehre. Wie stolz und entschieden, wie herrschsüchtig und eigenwillig meine Mutter auch sein mochte, dem Gatten gegenüber nahm sie sich mit dem allen sehr in Acht und verstand es, bei Gelegenheit ausgezeichnet sich zu menagiren. Denn mein Vater war ein curioser Herr, für gewöhnlich so bequem, behaglich und gutmüthig, daß er Alles gehen ließ, wie seine Frau es arrangirte; heftig habe ich ihn nur ein einziges Mal gesehen. Er wußte aber sehr gut, was er wollte und sollte, und führte das dann auch auf die ruhigste Weise von der Welt aus. Gab er überhaupt einmal seinen Willen kund, so war die Sache unter allen Umständen abgethan, und es verlor kein Mensch mehr darüber ein Wort.
Kinder waren wir unser vier, zwei Mädchen, Marie und Hedwig, zuerst und bald, dann nach vierjähriger Pause mein Bruder Julius, und nach einer sechsjährigen, am Drei-Königstage 1766, ich. An dem Tage fiel plötzlich der einzige und zugleich Zwillingsbruder meiner Mutter, Baron Gerold Ehrenswärdt, wie eine Bombe mit der Nachricht in’s Haus, daß Se. Majestät, der alte Fritz, ihm zum Neujahrsgruß Knall und Fall seine Entlassung zugeschickt, und zwar ohne Angabe irgend eines Grundes, wie Se. Majestät es bekanntlich öfters zu machen pflegten. Darüber alterirte sich meine Mutter so, daß ich höchst unpassender und unerwarteter Weise ein paar Wochen zu früh anmarschirt kam und alle Menschen und alle Dinge in Confusion brachte. Meine Mutter besonders war außer sich, daß sie sich so habe decontenanciren lassen und nun ihrem Bruder nicht sogleich helfen, ihn stützen und trösten könne. Und diese „Decontenancirung“ hat sie mir nachgetragen ihr Leben lang, und mein ganzes Leben ist dadurch vermuthlich in andere Bahnen gelenkt worden. Das ist Ernst, Vetter, und kein Scherz, wie Ihr bald hören werdet.
Wir Kinder wurden im Ganzen ziemlich streng erzogen, konnten aber in manchen Punkten auch wieder thun und lassen, was wir wollten, und somit hatten wir’s gut. Von Zärtlichkeit war allerseits keine Rede; mein Vater wäre dadurch aus seiner Ruhe, meine Mutter aus ihrem Anstand gekommen; meine Schwestern, brave und saubere kleine Fräulein, die keinem Menschen jemals eine schwere Stunde gemacht und die ich stets herzlich lieb gehabt, neigten nicht zu solchen Extravaganzen, und uns Brüder, die wir die bei Vater und Onkel nicht zum Durchbruch gelangten Stammeigenschaften entwickelten – Keckheit, Hartnäckigkeit, Trotz, ein bischen Wildheit und überhaupt heißes Blut – verwies man hübsch zur Ruhe. Mein Bruder Julius nahm das leichter, ich schwerer. Ich vermißte die Zärtlichkeit und tobte dies Gefühl nicht im Spiele aus. Ich wurde noch trotziger und hartnäckiger und zumal gegen meine Mutter, die ja schon ohnedies erkältet gegen mich war – noch von der Geburt her, obgleich ich doch weiß Gott weniger schuld an meinem zu frühen Erscheinen war, als ihr Bruder. Auf den ließ sie aber nichts kommen.
Baron Gerold war außer meinem Vater wahrscheinlich der einzige Mensch in der Welt, den meine Mutter wirklich geliebt hat. Grund dazu hatte sie, denn er war ihr Zwillingsbruder und mit ihr stets ein Herz und eine Seele, daneben ein Mann von stolzer Schönheit, von großen Gaben und Fähigkeiten und ein Cavalier von tadellosem Benehmen, so daß er Jeden, der ihn nicht genau kennen lernte, bestechen und einnehmen mußte. Das hatte er nicht nur, wie ich später erfuhr, häufig genug Frauen gegenüber bewiesen, sondern auch in seiner Carriere erprobt. Denn er war, da er die jähe Entlassung erhielt, schon bis zum Oberst des Regiments Gensd’armes avancirt und doch kaum einunddreißig Jahre alt.
Nun blieb er, nicht gerade in rosiger Laune, für’s Erste bei uns, reiste auch im Lande umher, kam wieder zurück und trieb das so mehrere Jahre lang fort. Er wußte nicht recht, was angreifen, dazu war sein Vermögen auch meistens verputzt. Endlich kaufte er mit Hülfe meines Vaters Büzenow, wo jetzt sein Sohn noch wohnt, wurde somit unser nächster Nachbar und blieb mit unserer Mutter im engsten und intimsten Verkehr. Meinem Vater ist das Alles, wie ich später einmal erlauscht, niemals angenehm gewesen. Meine Mutter wurde noch herrschsüchtiger und eigenmächtiger, der Bruder mischte sich überall ein und hielt mit ihr zusammen, so daß dies Verhältniß in jeder anderen Familie hätte zu hunderterlei Unannehmlichkeiten führen müssen. Meinem gutmüthigen Vater gegenüber ging es meistens immer gut, zumal die Geschwister noch stets seinen Willen gelten ließen und seine Eigenheiten zu schonen verstanden. Anno 72 gab der Alte dem Schwager sogar sein ältestes Kind, meine Schwester Marie, zur Frau.
Nur in einer Richtung wies mein Vater dem Baron zuweilen die Zähne, und das war für seinen Bruder, meinen Onkel Hans Peter, welcher seit dem Frieden gleichfalls seinen Abschied genommen hatte und auf Liebenhagen wohnte. Der Onkel war ein braver Soldat gewesen, im täglichen Leben aber nicht allein ein gutmüthiger und bescheidener, sondern sogar ein fast schüchterner, mit einem Worte ein schwacher und schier willenloser Mensch, der sich häufig gegen seine bessere An- und Einsicht überreden und lenken ließ. Begabt war er nicht, seine Bildung war, da er mit dreizehn Jahren Soldat wurde, eine sehr mangelhafte, und so war er denn stets die Zielscheibe der Neckereien seiner Cameraden gewesen und zumal von Baron Gerold, mit dem er bei den Gensd’armes gestanden, so unbarmherzig gequält worden, daß es zwischen ihnen zum Duell kam und Hans Peter bald darauf seinen Abschied nahm. Er wollte Ruhe haben.“
[705] „Als mein Onkel Hans Peter und der Baron Gerold sich bei uns nun wieder begegneten, schien der Letztere das alte Spiel auf’s Neue beginnen zu wollen. Mit einem Mal sah er sich aber meinem Vater gegenüber, und dieser erklärte einmal mit aller Gemüthsruhe seiner Frau, daß „ihr Herr Bruder“ den seinen ungeschoren lassen solle oder sein Haus zu meiden habe. Weshalb der stolze Gerold sich dieser Alternative fügte, weiß ich nicht, aber er fügte sich wenigstens anscheinend und ließ den Andern ziemlich in Frieden. Doch soll er, als Hans Peter damals um ein Fräulein von Ribnitz – sie hieß nur „die schöne Ribnitz“ und war in der That ein unendlich liebliches Geschöpf – warb, dort plötzlich als Nebenbuhler aufgetreten sein. Doch holte er sich einen Korb, und Hans Peter führte die Schöne heim. Ich werde darüber noch weiter zu reden haben; jetzt aber muß ich von mir berichten.
Mein Verhältniß zur Mutter besserte sich nicht, es wurde vielmehr schlechter von Jahr zu Jahr. Sie wurde stets liebloser und herber, ich stets trotziger und verbitterter, und seit Baron Gerold meine Schwester geheirathet hatte und neben uns wohnte, ward es immer schlimmer. Was sie gegen mich gehabt, mag Gott wissen; denn jenes Mißwollen, das meine Mutter von meiner Geburt her gegen mich hatte, kann es doch nicht allein gewesen sein. Ich war, so viel ich mich erinnere, ein wilder, warmblütiger Knabe, der aber für seine Freunde das Leben ließ, der mit voller Zärtlichkeit jeden Beweis von Zuneigung vergalt, der ihm, sparsam genug, von dieser oder jener Seite gegeben wurde – mein Vater und Onkel, Hans Peter, mein Bruder Julius sogar, wußten wohl davon zu sagen. Ich liebte unseren Lehrer auf das Allerzärtlichste, ich lernte ihm zu Liebe sogar und überwand meinen großen Trieb zum Umherstreifen; er konnte mich um den Finger wickeln, und ein strafendes oder auch nur ernst mahnendes Wort von ihm preßte mir Thränen aus. Kurz, ich war im Ganzen ein Knabe, an dem seine Eltern wohl hätten froh sein dürfen, und der in Wirklichkeit auch – wenn ich so von einem Kinde sagen darf – sehr beliebt war. Ja ich war, so weit das im Wesen und Charakter der Brüder lag und geäußert wurde, der entschiedene Liebling meines Vaters und des Onkels, Hans Peter. Aber meiner Mutter und dem Baron Gerold gegenüber nützte mir Alles nichts; sie bevorzugten meinen Bruder und haßten mich. Schüttelt nicht den Kopf, Vetter,“ setzte der Erzähler mit fast finsterem Ernst hinzu; „es war so.“
„Es kam so weit – ich war damals vielleicht zehn Jahre alt – daß meine Mutter mich mit keinem Blick und keinem Wort mehr beehrte, wenn nicht mit einem bösen oder strafenden und scheltenden, – daß ihre Hand, wenn sie mir dieselbe zu dem gebotenen Morgen-, Mittag- und Abendkuß überhaupt reichte, stets in der meinen zuckte, und daß ihr schönes, stolzes Gesicht von sichtbarem, zürnendem Verdruß und Widerwillen verzogen wurde, daß sie hundert und hundert Mal mich das schlechteste Kind hieß, den bösesten Buben, den Gott erschaffen! Es ist ja natürlich, daß wir uns einander steigerten! – Und Baron Gerold – ich hieß ihn damals nämlich niemals Onkel – accompagnirte dazu in seiner Weise und zeigte seine Stimmung gegen mich noch viel unverhohlener, weil ihm freilich auch nicht verborgen blieb, daß ich ihn in Wahrheit haßte, so sehr das ein Kind in solchem Alter vermag.
Vetter, es ist etwas Seltsames um Kinder! Wir beachten sie viel zu wenig und trauen ihnen viel zu wenig zu, suchen viel zu wenig Regungen und wirklich schon herangebildete Gefühle in ihnen. Seht, ich weiß es von mir, daß ich den Onkel damals haßte, daß ich ihn mit wahrem Grimm dort hinten aus dem Walde, hervor und über den Hof reiten sah, daß ich mit finsterem Zürnen sein Wirken und Walten in unserem Hause, seine langen Conferenzen mit der Mutter beobachtete, aus denen ja auch häufig genug etwas hervorging, was selbst für uns Kinder nicht ohne unbehagliche Nachwirkung blieb; daß ich mit heißer Erbitterung sein Auftreten gegen Onkel Hans Peter und dieses und meines Vaters gutmüthiges – ich nannte es schon feiges – Nachgeben sah. Das Alles war in mir, Vetter, und – kindlich oder unkindlich – so viel wie ich mich in der Folge mit Kindern beschäftigt habe, weiß ich nur zu genau, daß dergleichen leidenschaftliche Empfindungen in den jungen Dingern gar nicht so selten sind.
Ich selber war nicht „feig“ gegen ihn. Mit wildem, finsterem Trotz trat ich ihm, wo er mir zu nahe kam, ungestüm entgegen, was ich natürlich jetzt nicht mehr als etwas Lobenswerthes, aber doch als etwas unter solchen Umständen sehr zu Entschuldigendes hinstelle. Ebenso ungestüm entzog ich mich ihm, wenn er sich einmal mit mir beschäftigen zu wollen schien – ich wußte gut genug, daß dahinter keine Spur von Güte oder auch nur augenblicklichem Interesse steckte, – und wenn die Eltern hin und wieder nach Büzenow hinüberfuhren, hätte mich keine menschliche Gewalt zu ihnen auf den Wagen gebracht. Ich war dann übrigens auch sicher immer so weit vom Hause, daß mich Niemand zu finden wußte. Die Scene, die ich dann Abends nach der Rückkehr oder am anderen Morgen mit der Mutter gewöhnlich zu bestehen hatte, ertrug ich mit finsterer oder kalter Resignation. Und was, [706] wenn Ihr die Sache einmal von anderem Standpunkt betrachten wollt, das Schlimmste war – ich hatte bei meinem Trotz nicht allein die Zustimmung fast sämmtlicher Hausgenossen, die den Baron ebenso wenig leiden konnten, wie ich, sondern ich erlauschte auch einmal das ungewöhnlich feste Wort des Vaters an meine Mutter: „er soll auch nicht mit!“ –
Da geschah es eines Tags im Anfang August 1776, daß ich Nachmittags um die Vesperzeit vom Felde nach Hause kam, und zwar hatte ich den Weg als Lenker eines der großen Erntewagen zurückgelegt und das schwere Fuder vollkommen geschickt vom Felde bis zum Hofe und sogar in die Scheune hineingebracht – denkt Euch selber, wie stolz das einen Knaben machen mußte, der noch nicht elf Jahre zählte! – Und die Leute hatten mir freundlich zugelacht und mir lobende Worte zugerufen, und mein Vater, der, neben dem Scheunthor stehend, diese Fahrerei mit angesehen, schmunzelte und sagte sogar: „na, es geht ja!“ Und als ich aus dem Sattel geglitten war und glühend vor Hitze und Aufregung an ihm vorbei einem andern abfahrenden Wagen zusprang, um das gleiche Kunststück zu wiederholen, hielt er mich an, strich mir über den Kopf und sprach in seiner ruhigen Weise: „Genug, Junge! Geh hinein und laß Dir ein Butterbrod geben. Nachher will ich Dir die schwarze Stute satteln lassen, und Du sollst mit mir zu Felde reiten.“ – Das war nun freilich eine unerhörte Auszeichnung. Auf einem wirklich für mich gesattelten Pferde war ich noch nicht gesessen und noch weniger mit dem Vater ausgeritten. Das war sogar dem Bruder Julius, der dazumal schon seit Jahr und Tag fort und beim Regiment, niemals eingeräumt worden, und mit vor Glück wirbelndem Kopfe folgte ich der Weisung und eilte hinein.
Im Eckzimmer – während der Ernte wurde zur Vesper stets der Eßtisch wirklich gedeckt – wäre freilich mein rechter Platz gewesen, allein ich wollte vorüber und mir mein Brod von der alten Mamsell in der Speisekammer holen; es schmeckte mir dort besser. Doch indem ich vorbeischießen wollte, öffnete sich die Thür, der Baron Gerold trat heraus, packte mich am Arm und zog mich mit den Worten in das Zimmer: „Du hast Recht gehabt, Ulrike, da ist er, und er wollte wirklich wieder vorbei! Das macht das schlechte Gewissen! Aber wir haben Alles gesehen, Bürschlein, und nun sollst Du vor’s Bret.“
Ich war so bestürzt von diesem jähen Anfall und noch mehr von diesen Worten – ich war mir keines Unrechts bewußt –, daß ich zuerst den Onkel wie verdummt angestarrt haben mag. Jedoch faßte ich mich alsbald, ich machte mich ungestüm los und rief: „Was wollen Sie von mir? Ich muß mir ein Butterbrod holen. Papa will mit mir ausreiten!“ – „Ich will Dir was mit ausreiten!“ sagte er und faßte mich wieder hart an. „In’s Loch sollst Du, Bube! So will’s Deine Mutter, damit Du Manier und Gehorsam lernst und Dich nicht mit den Knechten gemein machst. Wir haben Dein Fahren wohl gesehen, Bube! Der Knecht, der Dir’s erlaubt, soll schon seine Hiebe haben, und wenn Du nicht nachgiebst, kann es Dir auch so werden. Es scheint mir damit überhaupt einmal an der Zeit, Ulrike! Der Bube ist nicht mehr zu bändigen.“ – Meine Mutter redete nicht, sondern nickte nur finster, und da setzte er hinzu: „und nun hinauf und Dich nicht gemuckst, bis man Dich wieder herunter ruft.“
„Mein Papa hat mich aber für das Fahren nicht gescholten, sondern gelobt,“ sprach ich heftig und suchte mich vergeblich von dem harten Griff loszumachen. „Ich soll mir ein Butterbrod holen und mit ihm ausreiten.“ – „Also auch noch Lügner?“ fuhr er mich an. „Wir wissen’s wohl, daß Dein Vater auf dem Felde ist.“ – Und da riß ich mich los mit Gewalt, denn ich kleiner Kerl hatte Ehrgefühl in mir, und schrie ihn an: „Ich lüge nicht, Herr Baron, aber Sie thun’s! Und Sie haben mir nichts zu befehlen!“ – „Was wagst Du, Bube?“ rief meine Mutter und sprang auf, und der Onkel langte aus und gab mir eine harte Ohrfeige, die mich zurücktaumeln machte; der große Ring, den er trug, traf mich empfindlich, so daß ich meine Hand, mit der ich unwillkürlich nach der Wange fuhr, leicht blutig zurückzog. Und er murrte grimmig, „ich will Dich schon bändigen, Kröte!“ und holte zum zweiten Schlage aus. Ich aber war betäubt von unbeschreiblichen Gefühlen. Ob meine Mutter mir vielleicht einmal einen Stoß gegeben, weiß ich nicht; geschlagen aber war ich noch niemals worden.
In dem Augenblick, da er wieder ausholte, sprang die Thür auf, und mein Vater trat herein, das einzige Mal also in meinem ganzen Leben, daß ich ihn heftig gesehen. Allein, Vetter, da er es nun einmal war, so war er auch wie ein gereizter und verwundeter Löwe. – „Was geht hier vor?“ rief er mit einer Stimme, daß die Fenster klirrten. „Welcher Cannibale wagt mein Kind blutig zu schlagen?“ Und damit riß er mich ungestüm zu sich und beschaute mich mit vor Zorn funkelndem Blick. – „Mein Gemahl, mäßige Dich – der ungezogene Bube ist frecher gewesen, als zu dulden,“ stammelte meine Mutter – ich sehe sie noch; sie war leichenblaß geworden. – „Ja, ich sah mich dazu genöthigt, Herr Schwager,“ fiel ihr der Baron in’s Wort, der sich gleichfalls verfärbte. „Mein Ring mag ihn gestreift haben, es ist ja nur ein Tropfen, er hätte viel mehr verdient. Außer seinem Ungehorsam und Trotz hat er uns auch noch angelogen und gesagt –“
„Was wahr ist!“ unterbrach ihn der Vater wieder, mit unverminderter Heftigkeit, mit der gleichen donnernden Stimme, und trat hart auf ihn zu. „Mein Kind lügt nicht, aber Ihr selber loget, Ihr! – Als ich hörte, daß Ihr wieder hier, bin ich dem Felix nachgegangen; ich dachte mir so was! Ich habe dort vor der Thür jedes Wort gehört und den Schlag vernommen, der meines Kindes Blut vergossen. Ich habe ihn gelobt, ich habe ihn hinein geschickt – zu Euch und Euresgleichen gewiß nicht! – Ich habe ihm versprochen, daß er mit mir reiten soll, und – Donner und Teufel! – ich möchte den Frechen kennen lernen, der sich in Hohensee’s Hause gegen Hohensee’s Willen zu opponiren wagt! – Komm’ mit, Junge,“ wandle er sich an mich; „mache Dir nichts daraus. Du hast Deinen Vater für Dich, und er wird Dir zu Deinem Recht helfen.“ Und damit führte er mich hinaus, in sein Zimmer hinüber, wusch mir selber die Wange ab, ließ mir mein Butterbrod geben, das mir auf all die Alteration vortrefflich schmeckte, ritt mit mir zu Felde – und es war von dem Geschehenen nicht mehr die Rede.
Ebenso ging es auch Abends, als wir nach Hause zurückkehrten. Ich war todtmüde und durfte zu Herrn Dollenius – das war mein Lehrer – hinauf, um dort alsbald zu essen und in’s Bett zu gehen. Ich schlief auch gleich ein, und das Erste, dessen ich mir wieder bewußt ward, war, daß mein Lehrer mich am folgenden Morgen um vier Uhr weckte, mich rasch aus dem Bett und in die Kleider trieb. Halb wachend frühstückte ich mit ihm, und dann ging es hinab vor die Thür, wo ein bespannter Wagen hielt und mein Vater stand. Er reichte dem Dollenius die Hand, bückte sich dann zu mir, gab mir – Wunder über Wunder! – einen warmen Kuß und sagte: „Sei verträglich und gehorsam, Junge. Gott behüte Dich! Und nun fort!“ – Und ich saß auf dem Wagen, und es ging fort, ich noch immer halb im Schlafe, oder war’s nur betäubt von all dem rasch folgenden Ungewöhnlichen und Unverständlichen ?
Wir fuhren zu meinem Schwager Büren, der, seit dem Frühling mit meiner Schwester Hedwig verheirathet, auf Karlshof wohnte. Er war ein Westphale von Geburt, der das Gut erst vor Kurzem von dem letzten Besitzer ererbt hatte, ein wackerer, gescheidter und jovialer Mann, eng befreundet mit dem Onkel Hans Peter und meinem Vater und gegen Wunsch und Willen der Mutter nun der Mann ihrer Tochter. Denn Hedwig, will ich nur gleich sagen, war ein wenig lebhafter und willenskräftiger als Schwester Marie, hatte den Büren absolut haben wollen und dazu die Zustimmung und Entscheidung des Vaters erhalten: „na, er ist ein Cavalier und Ehrenmann, das Mädchen mag ihn – also ja.“ – Und in der That, Vetter, es wurde eine der glücklichsten und zufriedensten Ehen im Lande. – Kurz, zu denen fuhren wir, und bei denen sollte ich für’s Erste bleiben, bis ich in zwei, drei Jahren Soldat würde.
Es ging mir gut in Karlshof. Das junge Paar war lustig, heiter und voll Liebe für einander so gut wie für mich und alle Welt. Schwach waren sie gegen mich nicht: die Hedwig kanzelte mich im Gegentheil zuweilen ab, daß es eine Art hatte, und der Schwager machte mir gelegentlich, wenn ich’s gar zu arg getrieben, recht tüchtig den Marsch. Allein aus dem Allen blickte die Liebe heraus, und somit war auch Alles gut und ich ein glückseliger kleiner Kerl, dem’s noch nie im Leben so wohl geworden, und der sich – leider, Vetter! – mit keinem Herzschlage nach Hohensee zurücksehnte. Und wie denn das Glück ebensogut wie das Unglück nicht allein kommt, erging es mir auch in allen übrigen Lebens-Accidenzien über die Maßen wohl. Ich war gesund, ich gedieh an Leib, Seele und Geist.
[707] Das Haus in Karlshof war dazumal noch alt und sehr beschränkt, für mich und einen Hauslehrer wäre kaum Platz gewesen, und da ich über die Anfangsgründe hinaus war und, wie gesagt, Soldat werden sollte und wollte, ließ man’s bei dem Unterricht bewenden, den mir täglich in einigen Morgenstunden der kurz zuvor angestellte und verheirathete Prediger in Liebenhagen ertheilte – Magister Gotthold Mühl, Euer trefflicher Vater, Vetter, ein Mann nach dem Herzen Gottes, der die Liebe seines Schülers bald in einem Grade zu gewinnen wußte, wie es nur einem einzigen Menschenkinde in noch höherem gelang.
Karlshof und Liebenhagen liegen, wie Ihr wissen werdet, kaum eine halbe Stunde von einander, eine Strecke, die mein kleiner rauhköpfiger Oeländer[1] Teufel mit mir stets in der halben Zeit zurücklegte. So ritt ich denn Morgen für Morgen hinüber und kam, wenn ich nicht einmal beim Onkel Hans Peter blieb, zu Mittag wieder heim. Einen Besuch auf dem Hofe stattete ich aber alle Tage ab, und es kam je länger, desto häufiger vor, daß ich mich dabei lange genug verweilte, um den Onkel lachend sagen zu lassen: „Na, Junge, nun bleib’ nur da und iß mit uns. Zu Haus’ kriegst Du nichts mehr.“ – Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Als ich nach Karlshof kam, Anfang August Anno 76, war mein Onkel seit etwa sechs Jahren verheirathet, und seine Frau hatte, wie ich schon erwähnt habe, „die schöne Ribnitz“ geheißen. Es wird mit solchen Beinamen sonst gewöhnlich nicht so ernst genommen, und häufig genug ist’s nur eine Bezeichnung wie eine andere, von irgend einem näher Stehenden einmal zufällig aufgebracht, von Anderen, der Kürze wegen, willig angenommen. Hier traf es jedoch zu, wenn ich auch hinzusetzen muß: gewissermaßen, – denn meine Tante war eigentlich weniger schön, als lieblich, anmuthig und holdselig; um „schön“ zu sein, fehlte ihren feinen Zügen nicht nur die classische Reinheit, sondern auch die classische Ruhe. Es sprach Euch daraus der reichste Geist, die liebenswürdigste, kindlich reine Seele an, Ihr fandet darin Leben und Bewegung, wenn auch beherrscht und geregelt durch das, was der Grundsatz ihres ganzen Seins und Wesens war – durch Sanftmuth und Anmuth. Kurz, sie war ein wundervolles und wunderliebes Geschöpf, das selbst meine Mutter einigermaßen für sich eingenommen, und dem alle Anderen, die ihm nahe standen, eine schier abgöttische Liebe und Verehrung weihten. Von ihrem Mann, meinem braven, alten Onkel, will ich gar nichts sagen. Wäre er nicht von so ruhigem Temperament gewesen, so hätte er ihren Verlust, der ein paar Jahre später eintrat, nicht überlebt. Er verlor ohnehin darüber fast den Verstand.
Sie hatten nur ein einzig Kind – ein Mädchen, bei meiner Ankunft vier Jahre alt – und es hieß Livia. Ich muß zu diesem Namen bemerken, daß damals bei uns in einigen Familien die Sitte, oder vielmehr Unsitte, herrschte, die guten deutschen Namen zu verachten und aus der Fremde die möglichst hochtrabenden herbeizuholen. Die Prediger waren im Allgemeinen widerstandslos. Halb waren sie damals zu indifferent, halb wagten sie keine Einwendungen gegen den Wunsch des Patrons; ich rede hier nämlich hauptsächlich von den Adelsfamilien. – Meiner Tante Familie war eine solche neuerungssüchtige, die „schöne Ribnitz“ hieß Livia, und so war denn auch ihr Kind getauft worden.
Es ist das hübscheste, heiterste, anmuthigste Kind gewesen, das ich jemals gesehen, das Ebenbild seiner Mutter, bis auf die Farbe der Augen – meine Tante hatte veilchenblaue, die Kleine dagegen, wie mein Vater und Onkel und auch ich selbst – graue, wohl verstanden aber rein graue, mit keiner grünlichen oder bräunlichen oder gelblichen Mischung wie wir, und sie blieben so bis an ihr Lebensende. Es waren – ich rede sonst nicht gern in Gedichts- oder Romanausdrücken, aber bei Livia traf diese Bezeichnung zu, – „wunderbare“ Augen, voll Melancholie und Träumerei in der Ruhe, voll einer herztiefen Innigkeit in der Theilnahme, voll einer glänzenden und doch süßen Fröhlichkeit in der aufwallenden Jugendlust – an Schnitt, Tiefe und Reinheit denen der Mutter gleich, d. h. tadellos, kurz, Augen, mit denen schon das Kind jeden empfindenden Menschen bezauberte, so daß er nicht mehr von ihnen loskam. Das habe ich früher und später oft genug gehört und beobachtet und am besten an mir selber erfahren.
Meine Neigung zu Kindern und meine Gabe, mit ihnen umzugehen, sie anzuziehen, zeigte sich damals schon fast in derselben Stärke und demselben Umfange wie später. Die Kleine hing an mir und ich an ihr, wie mit Ketten und Banden, und wenn ich die Schönheit und Güte der Tante abrechne, die auf mich, den lebhaften Knaben, einen tiefen Eindruck machten und mich stets mit bewundernder Zärtlichkeit der holdseligen Frau nahen ließen, so war es im Grunde nur Livia, die mich stets wieder in das alte Hofhaus lockte und mich immer länger und glücklicher dort verweilen machte. Mein Onkel nannte uns bald scherzend „das Ehepaar“, meine Tante nickte dann mit mildem, freundlichen Lächeln dazu und verfolgte uns und unser Treiben mit ihren liebevollsten Blicken, und Livia erklärte mit großem Ernst, daß wir freilich ein solches Paar seien und es auch bleiben wollten. Ich selber hatte keine Einwendung, und, was mir natürlich erst viel später klar wurde, Niemand schien sie zu haben. Alle, die bei Gelegenheit von diesem Scherz erfuhren, lachten dazu und hatten sich hinterher irgend eine Bemerkung zuzuflüstern. Aber nun genug davon und zu anderen Dingen. Es geht jetzt rascher vorwärts.
Von Hause hatte ich in diesen zwei Jahren wenig zu hören bekommen, und zu sehen bekam ich noch weniger. Zwei oder drei Mal fuhren wir zu Familienfesten nach Hohensee oder sahen die Meinigen bei uns; ein paar Mal erschien auch mein sonst nicht reiselustiger Vater in Liebenhagen oder Karlshof und war dann in seiner Weise freundlich gegen mich, das war aber auch Alles, und ich kann nicht behaupten, daß ich nach mehr verlangt hätte. Es ging mir eben gar zu wohl in der neuen Heimath. Von der Mutter weiß ich nichts weiter zu sagen, als daß sie bei den paar Begegnungen, meiner Erinnerung nach, weder wärmer noch nachsichtiger gegen mich war. Wir schienen uns immer fremder zu werden.
Im Frühling 1778, als die Kriegsgerüchte immer lebhafter wurden, ließ ich mich nicht länger halten. Mein Vater und Onkel, so einfache Leute sie auch waren, hatten doch gute Connexionen, und da ich für meine zwölf Jahre ungewöhnlich groß und stark war, so gelang es ihnen wirklich, mich bei den Baireuth-Dragonern unterzubringen. Ich marschirte richtig schon in den letzten Maitagen mit dem Regimente aus.
Von den nächsten zehn Jahren ist verzweifelt wenig zu sagen, denn von dem Sinn und Unsinn, den ich als Standartenjunker, Cornet und Lieutenant mitmachte, erlaßt Ihr mir wohl zu reden, Vetter. Es war das Gewöhnliche, und das ist genug. Nur das will ich anführen, daß mir allgemach ein etwas ernsterer Sinn kam, der über die Armuth des Dienstlebens hinausstrebte, so daß der alte Bülow mich einmal wegen meiner „federfuchserischen“ Neigungen gehörig abkanzelte. Nun, das währte so fort, bis ich im Jahre 1785, wo ich neunzehn alt war, endlich zu einem ernsten Streit mit meinem Rittmeister kam, der mir gleichfalls wegen jener Neigung gram war; es erfolgte nach den unglaublichsten Scheerereien ein Duell und in Folge dessen, wie es bei der Weise der alten Majestät nicht ausbleiben konnte, ein kurzer Festungsarrest und meine Entlassung. Ein paar Jahre zuvor hätte mich das noch unglücklich gemacht; jetzt war es mir gerade recht. Ich ging nach Frankfurt an der Oder, dann nach Göttingen und studirte – allerlei, Vetter. Heutigen Tags würde man einen solchen Studiosus etwa einen Cameralisten heißen. – Obgleich die Wissenschaften gerade nicht in meinem Sinn tractirt wurden – das Studentenleben selber reizte mich wenig, denn es war nicht sowohl wild, wie ich selber, sondern vielmehr ordinär – hielt ich an jedem Ort doch ein volles Jahr aus. Dann ging ich nach Hause, um zu sehen, was hier etwa für mich zu hoffen sei, vor allem aber, um von meinem Herrn Papa einen anständigen Wechsel zu einer größeren Reise heraus zu schlagen.
Ich fand, wie Ihr es nehmen wollt, viel und wenig verändert. Meine Tante war schon drei Jahre todt – so lange war ich nicht daheim gewesen – mein Onkel ging umher wie ein Träumender oder Irrsinniger und wurde sichtbar immer schwächer und willensloser. Meine arme kleine Cousine zählte fünfzehn Jahre und hatte statt der Jugendlust und des Jugendglücks wenig Anderes als Trauer, Kummer und Unannehmlichkeiten aller Art, wie sie in einem so großen, Herrn- und aussichtslosen Hausstande, den sie mit dem besten Willen nicht vollständig in Ordnung erhalten konnte, niemals ausbleiben werden. Von Karlshof hatte sie auch keine Hülfe, da Büren mit den Seinen schon seit einigen Monaten in seiner alten Heimath weilte, eine Erbschaftsangelegenheit zu betreiben, die sich [708] bei der damaligen Advocatenwirthschaft noch lange hinziehen konnte. Hohensee war zu fern, und im Uebrigen – wer von dort hätte ihr auch recht was nützen können? Doch erzählte sie nur, daß meine Mutter ein paar Mal herüber gekommen sei und sich – wir hatten keine Geheimnisse vor einander – in der That über Erwarten liebevoll und freundlich erwiesen, besonders auf den armen Vater des Mädchens einen sichtbaren und zwar für jetzt wohlthätigen Einfluß gewonnen habe. Ich schüttelte dazu den Kopf. Die knabenhafte Opposition gegen die Mutter hatte sich freilich aus mir verloren; sie zu lieben aber vermochte ich um so weniger, da ich sie noch immer in der alten intimen Verbindung mit ihrem Bruder wußte.
Ihr seht daraus, daß hier in Hohensee selber noch alles in der alten Weise weiter ging. Wie mein Vater und der Baron sich nach jener Affaire mit mir wieder zusammengefunden, erfuhr ich niemals. Es ist aber auch gleichgültig, denn jetzt lebten sie ganz wie vordem, ja, die Wahrheit zu sagen, eher noch verträglicher als sonst. Man erzählte mir, daß Baron Gerold sich mit meinem Vater sehr in acht nehme, und dieser letztere, nunmehr sechszig Jahre alt, war gleichfalls ein wenig stumpf geworden, daneben wegen seiner großen Stärke wenig beweglich und augenscheinlich mehr als je unter dem klugen Regiment meiner Mutter. Wo er noch gereizt werden konnte, wußte sie besser als irgend jemand, und da sie das auf’s sorgfältigste vermied, konnte sie thun und lassen, was sie wollte.
Er hatte eigentlich nur einen lebhaften Wunsch – daß mein Bruder nach Hause kommen und sich in die Landwirthschaft eingewöhnen möge, denn er hing an seinen Gütern mit einer Art von wirklicher Liebe, und der Gedanke, daß sie in schlechte Hände und damit aus dem für damals musterhaften Zustande kommen könnten, war ihm ein gar peinlicher. Er wollte dem Julius für’s erste Sollnitz geben, damit er dort lerne und zugleich nahe und fern genug von Hohensee sei, um sich nöthigenfalls stets schnell Rath und Hülfe verschaffen zu können und anderntheils doch auch selbständig zu bleiben. Julius hatte aber bisher noch nicht gewollt; das Leben in Berlin, wo sein Regiment stand, gefiel ihm gar zu gut. Er war achtundzwanzig Jahre alt, hatte Geld, so viel er wollte, und gab sich nicht, wie ich, mit „wissenschaftlichen Grapsen“ ab, sondern lebte ein rechtes Lieutenants-Leben.
Für mich und meine Zukunft hatte der Alte bisher weder Pläne noch Wünsche; er mochte sie für gegeben halten, denn er deutete ein paar Mal darauf hin, daß ich dereinst wohl in Liebenhagen sitzen werde. – Gegen meine Reise hatte er nichts, und da, was ich sonst gefürchtet hatte, die Mutter keine Einwendungen machte, so erhielt ich, was ich wollte, und reiste baldmöglichst ab – von der Mutter zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Art von Freundlichkeit entlassen – ich erfuhr es später, was dahinter steckte! – vom Alten mit den Worten: „bleib’ nicht zu lange aus, Junge. Möcht’ Dich doch auch noch gern wiedersehen.“ – Mein guter, alter Papa hatte mich eben in seiner Weise wahrhaft lieb und bewies mir das auch diesmal wieder.
Es wird Euch nicht darnach verlangen, von meiner Reise zu hören, Vetter; genug, wenn ich sage: ich trieb mich fast drei Jahre lang in der Welt umher, da mich der eine Weg immer zu einem anderen lockte, und ich habe Fahrten gemacht, wie sie dazumal noch nicht gerade gewöhnlich waren. Die letzten zwei Jahre zumal war ich recht eigentlich ein Vagabund gewesen, ohne bleibende Stätte und Standquartier. Ich hatte wohl ein paar Mal an die Meinen einen Brief abgeschickt – Schreiben war übrigens nie meine Leidenschaft – aber selten genug war es geschehen, und von ihnen hatte ich gar nichts erfahren, weil selbst mein Hamburger Banquier mich nicht aufzufinden wußte und mir keinen Brief nachschicken konnte; es ging damals eben noch nicht wie heut zu Tage. Als ich nun im December 1790 mit einem Hamburger Schiff, das ich in Smyrna getroffen, direct zurückkam, fand ich doch mehr als ich gedacht, einen ganzen Haufen Briefe.
Es war eigentlich nur Eins darin, was mich wirklich, freilich aber auch um so ernstlicher berührte – das war die Nachricht, daß mein Bruder im vorigen December schon meine Cousine Livia geheirathet hatte und nun, dem Wunsch des Vaters gemäß, auf Sollnitz lebte und wirthschaftete. – Wie sich das gemacht, war nicht recht zu erkennen, nur fand sich in einem Briefe Eures Vaters, des Magisters, der eigenthümliche, mir ewig unvergeßliche Satz: „Ich kann das Verfahren der Ihren, so weit ich davon erfahren, nicht ganz in der Ordnung finden, mein lieber junger Freund. Der Mensch hat in so ernsten Lebensfragen sein eigenes unveräußerliches Recht, seine eigene, niemals zu übertäubende Stimme. Ich sehe nicht klar, mein Freund, aber ich glaube, beides ist hier gar zu wenig geachtet worden. Das theure Kind hat sich indessen gegen niemand geäußert und ist still in sein neues Leben hineingetreten. Gott gebe ihm denn seinen vollen Segen.“
Vetter, das machte mich außerordentlich nachdenklich, und zwar – offen gestanden – mehr als die Sache selbst. Es verletzte mich freilich, daß man die alten Pläne, daß man mich so unbekümmert auf die Seite geschoben; ich fand darin die Abneigung der Mutter, den Haß des Barons Gerold, und die Wange brannte mir, und ich fühlte noch einmal jenen einen Blutstropfen darauf wie geschmolzenes Blei. Allein, ehrlich gesagt, war dieser Verdruß dennoch gewissermaßen nur ein äußerlicher, und von einem tiefer gehenden, wahren Schmerz ward mir nichts fühlbar. Ich hatte meine Cousine nur als Kind gekannt und sie auch das letzte Mal nur als ein solches, wenn auch liebreizendes, kennen gelernt. Sie war, mit einem Wort, nicht dazu angethan gewesen, jene alten Plane der Anderen, die bei mir, dem Knaben, freilich Beifall gefunden, in der folgenden Zeit aber dem Heranwachsenden immer ferner und ferner getreten und aus dem Sinn gekommen waren, mir wieder nahe zu rücken, oder mich gar für sie zu begeistern. Vetter, ich war ein halb träumerisches, halb fideles, vor allen Dingen aber ein gesundes Menschenkind; ich sah die Frauen mit freundlichen, aber nicht mit begehrlichen Augen an, und ich wiederhol’s – so lieb ich die Livia hatte, als Braut oder Gattin, als mein volles Eigen hatte sie mir noch nicht erscheinen können, wie mir bis dahin überhaupt auch noch Keine in solchem Lichte erschienen war.
Aber, was hießen denn nun jene Worte Eures Vaters? Hatte das junge, in seiner Einsamkeit träumende Mädchen die Sache anders angesehen? Hatte Livia anders an mich gedacht? Ich verwarf diesen Gedanken, sobald er gefaßt war. Es war unmöglich! Sie war ja ein Kind, da wir uns zuletzt begegneten, und hatte seitdem so gut wie nichts mehr von mir gehört. Oder hatte sie jemand Anderes im Herzen, und hatte man sie gezwungen, den aufzugeben, und gegen ihren Willen meinen Bruder zu heirathen? Dies Letztere schien mir das Natürlichere zu sein, und wie ich auch zu dem Kinde stand – es regte sich in mir für dasselbe ein tiefes – nennt es: ritterliches – Gefühl; ich hatte mich stets, so lange ich in Livia’s Nähe, als ihren naturgemäßen Schützer betrachtet und sah mich auch noch jetzt so an. Hatte man sie gezwungen oder gequält zu etwas, was gegen ihren Willen? Vetter, ich ballte noch einmal die Faust, und noch einmal brannte der Blutstropfen auf meiner Wange. Ich kannte die Meinen und wußte, in wem von ihnen ich – deutsch heraus – Livia’s und meinen Feind zu finden haben würde.
Ich hatte keine Ruh’ noch Rast. Ich packte meine Briefe zusammen und meinen Koffer nicht aus. In der Nacht schon fuhr ich mit Extrapost der Heimath zu.
[721]„Na, wird der Teufel ein Aff’, oder ist das der Herr Felix?“ Das waren die Worte, die meinem Herrn Onkel Gerold, Baron von Ehrenswärdt, höchst malapropos und nur in der maßlosen und unangenehmen Ueberraschung entfuhren, als ich am zweiten Weihnachtstage 1790, Nachmittags drei Uhr, zu den Meinen in’s Cabinet trat, wo, wie üblich an solchen Festen, nach der verlängerten Mittagstafel der Kaffee getrunken wurde. – „Beides, mein Herr!“ versetzte ich schier atempo; „der Herr Felix kommt, um dem Herrn Teufel das Spiel zu legen, das er letztlich ein wenig zu lustig zu treiben scheint.“ – Weiter kam’s nicht, denn in dem Augenblick war mein Bruder neben mir und küßte und knuffte mich lachend und meinte: „Charmant gegeben, Felix! Schlag auf Schlag!“ Und der Vater und Onkel Hans Peter wurden mobil, kamen hinter dem Tisch hervor und hießen mich mit einer Art von aufleuchtendem Blick willkommen; Schwager Büren, die Schwestern, ein paar schon heranwachsende Kinder – Alles drängte sich herzu, sogar die Mutter war aufgestanden und sah mir entgegen. Es war Alles da und Alles nahm mich leidlich freundlich auf – da war der Herr Gerold für’s Erste vergessen.“
So begann der Junker die Fortsetzung seiner Erzählung nach einer längeren Pause, während welcher wir unsere Pfeifen frisch gefüllt und angebrannt und einen langen Ausblick auf unsere Umgebung gethan, plaudernd dabei über dies und jenes. Denn so lebhaft und anschaulich der Alte auch erzählte – so anschaulich, daß ich die ferne Zeit vor mir aufsteigen und ihre Menschen wieder aufleben sah – eigentlich erregt war er dabei nicht geworden, geschweige denn wirklich bewegt oder ergriffen. Nur als er von jenem brutalen Angriff des Onkels berichtete, hatten seine Brauen sich flüchtig zusammengezogen, und ich erkannte wohl, wie jener Schlag und jener Blutstropfen noch heut auf seiner Wange brannten. Bei der Erzählung von den Briefnachrichten hatte er nachdenklich gesprochen, als grüble er noch jetzt über meines Vaters Worte – endlich aber war die Fortsetzung in einem gewissen leichteren, ja humoristischen Ton von ihm begonnen worden, und in dem gleichen redete er nun auch weiter.
„Ich kam zum Sitzen und Umherschauen – die Meinen, wiederhole ich, waren Alle da, so viele von ihnen, wie nur selten in dem alten Nest vereinigt gewesen sein mochten – nur Livia fehlte. Das war mir so unerklärlich, so unglaublich – wir sind zuweilen dumm, Vetter! – daß ich mich ganz bestürzt noch einmal umschaute, die Mienen der Verwandten musterte, die natürlich von meinen Gedanken nichts ahnen konnten und ziemlich bunt durcheinander und auf mich einredeten. Aber das Resultat war das gleiche – sie war nicht da, in keinem Winkel! – Und da schüttelte ich den Kopf und guckte meinen Bruder an und sagte endlich: „Wo ist denn aber Deine Frau, Julius?“ – „Felix, Du bist eben ein Felix – siehst Du, mein Schulsack hat noch einige classische Reste in sich!“ versetzte er munter lachend und schlug mir auf die Schulter, denn er saß neben mir. „Das ist eben der Witz von ihr und Dir – sie hat mir vorgestern einen Buben bescheert, und Du sollst morgen bei ihm Gevatter stehn, ’s war schon ausgemacht, daß Schwager Büren Dich vertreten sollte; nun ist’s noch besser.“ – „Gratulire, gratulire!“ sprach ich halb mechanisch und schüttelte ihm die Hand. „Und geht’s der Mutter denn so gut, daß Du heut schon von ihr gingst?“ – „Na, was sollte ihr denn fehlen, Brüderlein?“ fragte er wieder lachend zurück. „Unsere Weiber sind noch nicht so schwach, wie Du sie auswärts gefunden haben magst. Es ist Alles mit ihr in bester Ordnung, und sie hat gestern genug gejammert, daß ihr der Doctor noch das Aufstehen untersagte und von der Taufe am heutigen Tage nichts wissen wollte. Morgen ist sie aber, das hab’ ich ihr versprochen – der Dollenius zieht über den Aufschub so schon ein schiefes Gesicht. Der Dollenius ist auch da, Bruder,“ plauderte er fort, „und so werden wir morgen in Sollnitz noch vollständiger bei einander sein, so, wie wir lange nicht gewesen. Felix, es war ein Prachteinfall von Dir, gerade heut zu kommen. Vivat Hohensee und die dazu gehören!“ Und animirt, wie er war, ließ er nicht nach, bis Wein herein gebracht und die Gläser gefüllt wurden.
Die Anderen sperrten und zierten sich nicht, sondern tranken tapfer mit. Die Fidelität war allgemein, selbst die Mutter und der Onkel Gerold waren in ihrer Weise heiter, und ich – ich fühlte mich in einer gewissen sentimentalen Bewegung. Denn ich war nach solcher Zeit wieder einmal im alten Nest, nicht mehr wie bisher gleichsam ein verschlagener Vogel; das hat doch immer einen tiefen, ernsten Reiz. Und endlich – ich empfand daneben auch mit einer Art von wirklichem Glück, was Julius vorhin über die endlich erzielte Vereinigung aller Familienglieder gesagt. Es war richtig genug. Seit Mariens Hochzeit, das heißt also damals seit achtzehn Jahren, waren wir nicht einmal mehr Alle zugleich daheim gewesen.
In diese Heiterkeit hinein trat der alte Christian, der Leibjäger meines Vaters, mit verstörtem Gesicht und brachte meinem [722] Bruder die Nachricht, daß ein Bote von Sollnitz da – die Wöchnerin sei jählings schwer krank geworden, so daß der Schreiber (Wirthschafter) gleich nach dein Arzt geschickt, der glücklicherweise bei einem Kranken in der Nachbarschaft weilte, und den Bruder bitten lasse, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
Mein Bruder wurde leichenblaß, er war ein durchaus sorgloser Mensch, der nur in und für die Gegenwart lebte und niemals an etwas möglicherweise Kommendes dachte, so daß dergleichen, wenn es einmal kam, ihn dann jedesmal zuerst beinah’ um und zu Boden warf. Andererseits war er aber auch wieder derb genug geartet, um sich alsbald wieder aufzuraffen, und so stand er denn auch jetzt gleich darauf fest auf seinen Füßen, und als die Mutter anzuspannen befahl, weil sie mit hinüberfahren wolle, da versetzte er bestimmt: „Nichts da, Mutter, Schwester Büren kommt mit, die ist ihr vertrauter. Nicht wahr, Hedwig, Du kommst?“ – Die Mutter ließ sich piquirt auf ihren Sophaplatz zurücksinken, die Schwester machte sich reisefertig. Sie fuhren ab.
Am Abend kam Botschaft – es stehe zwar noch nicht gefährlich, aber immerhin schlecht genug, um demnächst das Schlimmere und Schlimmste zu erwarten.
Es war am folgenden Tage ein unendlich trübseliges Tauffest, denn das wurde der kranken Mutter wegen nicht verschoben, Vetter. Es war dazumal noch selten, daß man damit auch nur bis zum dritten Tage wartete. Julius ging umher, als habe er eine Centnerlast auf sich liegen, die Uebrigen waren zum Theil freilich sichtbar betrübt und gedrückt, zum Theil aber noch mehr gereizt, ohne daß ich für’s Erste begriffen oder erfahren hätte, was eigentlich vorgefallen. Eine Andeutung erhielt ich freilich bald. Denn als ich nach dem Act zu dem Onkel Hans Peter trat, der am Fenster stand und leise den stolzen Hohenfriedberger Marsch auf der abgethauten Scheibe abtrommelte, und als ich dem alten Mann ein paar tröstende Worte zu sagen versuchte, da lächelte er schwermüthig vor sich hin und meinte: „Ja siehst Du, Felix, wir haben das Alles vorausgesagt, es war und ist kein Glück in dieser Ehe. Aber sie wollten ja nicht auf uns hören; Dein Vater und ich, wir sind eben alte Leute und gutmüthig, Du warst nicht da, und so mußt’ es denn gehen, wie’s ging. Stirbt mir aber das Kind – nun gut, nun gut!“ brach er dann plötzlich ab. „Ich hab’s ihnen deutlich gesagt, und so mag es nun ruhen, bis der Herrgott das Weitere fügt.“
Abends, als wir heimkehrten, ritt ich mit dem Schwager Büren zusammen, während die Anderen fuhren. Julius war beim Abschied sehr niedergedrückt gewesen, und ich warf nach einer Weile nur so gedankenvoll hin: „Das sind denn die Freuden des Ehestandes!“ – „Unsinn, Schwager!“ entgegnete Büren ernst. „Das gehört auch mit dazu; am ewig blauen Himmel stürbe man vor Langeweile, Wolken und Stürme erproben und unterhalten die Liebe und vermehren sie. Julius hat seit gestern Abend in meinen Augen gewonnen; ich sehe doch, daß ihm an der Frau etwas liegt, und daß er sich vom Gängelbande losgemacht hat. Das wird auch das arme Kind, wenn es uns erhalten bleibt, mit andern Augen zu ihm aufsehen und nach und nach zufriedener werden lassen.“
„Schwager, was heißt das Alles? Ist Livia gezwungen worden zu etwas, das ihr nicht willkommen, – und Ihr habt’s gelitten?“ fragte ich gepreßt. „Schenke mir reinen Wein ein – Euere Briefe sagen ja nichts, und Mühl ergeht sich in Dunkelheiten.“ – „Hältst Du mich vielleicht für ein altes Weib, das jetzt hinterher schwatzt, explicirt und lamentirt, wie’s hätte sein können und sollen und wie’s geworden?“ gab er mir mit hörbarem Verdruß zurück. „Wende Dich an Deine Schwester, die versteht so was und wird’s Dir genau sagen. Ich habe nur Eins für Dich, und das ist, daß Du ein unsinniger Narr gewesen und Dein Glück muthwillig verloren hast; daß Du gar nicht verdientest, wie die beiden Alten sich für Dich gewehrt. Aber das läuft in der Welt umher und verliert Sinn und Verstand!“ fuhr er noch grollender fort, und wie vorhin der Onkel, setzte er abbrechend hinzu: „der Alte hat ganz Recht, wenn er ihnen sagt: den Tod des Kindes würden sie und Du auf dem Gewissen haben. Dir wär’s nicht gestorben. Das glaub’ ich selber.“ – „Schwager,“ sprach ich noch gepreßter und nach einer langen Pause, denn das Herz war mir voll zum Zerspringen; „hat sie denn irgendwie anders an mich –“ – „Frage sie selber, wenn Du Lust hast,“ unterbrach er mich barsch. „Ich sage kein Wort mehr darüber.“
Somit saß ich denn fest und schwieg wie betäubt, so daß selbst der Ton, den der Schwager gegen mich angeschlagen und den ich zu anderer Zeit von keinem Menschen ertragen haben würde, an mir vorüber ging, ohne daß ich darauf acht gab oder, die Wahrheit zu sagen, etwas darauf zu erwidern wußte. Mir war zu Muth, als habe ich eine schwere Sünde auf mir, und ich wußte doch kaum, was es für eine war, wie ich sie hätte vermeiden sollen!
Die nächsten Tage gingen still hin, von Sollnitz hörten wir immer noch das Gleiche: es werde nicht besser. Die Milch war ihr, wie man es damals hieß, in den Kopf gestiegen, und man sorgte daher nicht allein um ihr Leben, sondern auch um ihren Verstand. Julius war niedergedrückt und wich mir sichtbar aus; ebenso machte es Hedwig, wenn ich hinüberkam. Ich selber freilich suchte, wie Ihr denken könnt, auch keine erörternden Gespräche, denn so dumpf ich auch war, ich hatte doch eine Art Gefühl davon, daß Schwager Büren mit jenem Nachtgespräch eine kaum verzeihliche und noch weniger erklärliche Thorheit begangen haben müsse – zu erklären nur auf die Weise, daß er bei mir ganz andere, als die wirklich vorhandenen Gefühle vorausgesetzt und daß er in dieser widerwärtigen Affaire herbe Kämpfe mit – irgend Jemand zu bestehen gehabt habe.
Hier in Hohensee war erst recht der Teufel los. Vater und Mutter waren, jedes in seiner Weise, verdrießlich; der Onkel redete tagelang kein Wort, Baron Gerold ließ sich nicht sehen, ich, selber endlich hatte, ganz abgesehen von meinem gegenwärtigen Zustande, auf dem langen Umherstreifen die rechte Ruhelust verloren und fühlte mich jetzt daheim und zwischen den Meinen wie verrathen und verkauft. So nahm ich denn mit einer Art Freude den Vorschlag der Mutter an, nach Stockholm zu gehen, um König Gustav von unserer Loyalität zu überzeugen. Denn unsere Familie war schlecht angeschrieben, seit hundert Jahren war kein Hohensee mehr in schwedischen Diensten gewesen, und man flickte uns allgemach, wo man konnte, am Zeug.
Meine oder vielmehr der Meinen Absicht gelang auf’s Beste; es ging drüben Alles vortrefflich, man wollte mir wohl, der König selber hatte für mich ein paar seiner bezauberndsten Blicke und Worte – Gustav III. verstand dergleichen bekanntlich wie kein anderer Monarch seiner Zeit. Man gab mir ohne mein Zuthun den Titel als Kammerjunker, ich sollte partout dableiben, in Dienst treten. Das wollte ich nicht, denn ich hatte eine Art Grauen vor jedem Staatsdienst – es war ja kein Krieg da, wo ich hätte nützen können! – und noch mehr vor dem Treiben dieser liederlichen und gewissenlosen Hofpartei hier, dieser landes- und hochverräterischen Adelspartei da. Ich riß mich also nach einigen Monaten aus dem Wirbel der Feste los und kehrte in die Heimath zurück – freien Herzens. Ich wußte, daß Livia lebe und genesen sei, und die Dummheiten des Winters hatte ich in dem Gedanken überwunden: sie ist die Frau deines Bruders, du hast bisher niemals tiefer für sie gefühlt, und was sonst auch hätte geschehen können und mögen, es ist keine Rede mehr davon.
Ich hielt mich noch hie und da auf, und wir waren schon über die Mitte des Mai hinaus, als ich hier wieder anlangte. Das Haus war still; der Vater natürlich auf dem Felde, die Mutter hauste seit acht Tagen bei ihrem Bruder, dem eben noch ein kleiner Spätling geboren war. „Aber die junge Gnädige sitzen im Garten,“ schloß der alte Christian, der mich empfangen hatte, seinen Bericht.
„Die junge Gnädige?“ wiederholte ich verwundert. „Wen meint Er, Christian?“ – „Nun, Junker, Bruder Julius’ Frau, die Frau Livia,“ sagte er gleichfalls wie verwundert über meine Frage. – „Wer denn? Cousine Livia? Unmöglich!“ rief ich immer überraschter. „Wie käme die jetzt hieher? Wo ist denn mein Bruder?“ – „Auf vierzehn Tage verreist,“ versetzte er; „wohin, weiß ich nicht. Und da es unserm alten Herrn hier ohne Frau und Kind zu einsam wurde und die Livia in Sollnitz auch so mutterseelenallein saß, so machten sie’s aus, daß sie herüberkäme und dem Herrn inzwischen Haus hielte. Er hat doch sein Herz an die junge Gnädige gehängt, und sie verdient’s. Sie ist ein Engel von einer Frau, Junker,“ schloß er, „und der Kleine, der uns im Winter all die Molesten gemacht, ein wahrer Staatskerl von einem Kinde.“ – „Sie ist im Garten?“ fragte ich gedankenvoll oder war’s zerstreut, ich weiß das nicht. Mir war wunderlich zu Muthe. – „Ja, im Garten, Junker, unter der Linde,“ [723] sagte er. „Und sie wird eine mächtige Freude haben über Eure Ankunft, denn sie hat mit dem Herrn, wie ich wohl gemerkt, alle Tage –“
Ich wandle mich ab, ohne ihn auszuhören, ging und trat aus dem Gartensaal auf die kleine Plattform, die noch jetzt dort ist, und schaute mich um. Damals stand dort, wo nun die junge Linde, ein uralter Baum derselben Art, der das halbe Dach des Hauses überschattete und thurmhoch überragte. Ein Februarsturm 1805 hat ihn umgeworfen, und ich pflanzte dazumal auf seinem Platz den jungen Baum an. Nun also, die unteren Zweige des alten hingen rings umher fast auf den Boden hernieder, bildeten um die Bank und den Steintisch eine wirkliche, prachtvolle Laube, und dort, in dem Schatten des jungen, von der Sonne überschimmerten Laubes, saß Livia mit einer Handarbeit neben dem Korbe mit dem schlummernden Erbprinzen von Hohensee.
Livia halte mich bisher nicht bemerkt und erst, da ich nach einer Weile des stummen Schauens hinabgestiegen war und schon nahe vor ihr stand, sah sie auf, fuhr überrascht empor, erröthete; wir erhoben, wie auf einen Antrieb, im gleichen Augenblick die Hände und legten sie ineinander, und dann sagte sie, tief aus der Brust heraus: „Felix!“ – nichts weiter. Und ich sprach gepreßt auch nur ein: „grüße Sie Gott, Schwägerin!“ – Dann schaute ich sie schweigend an.
Sie war, wie sie hatte werden müssen, wie es das Aeußere des Kindes verheißen, und doch – wenigstens in diesem Augenblick – so ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte; denn in meiner Erinnerung herrschten noch die Züge und Linien, die ich vordem an dem Kinde geliebt und auch bei meiner letzten Anwesenheit an dem knospenhaften Mädchen wahrgenommen. Von dem Allen war nichts mehr da. Das Zierliche und Schmächtige hatte dem Feinen und Schlanken Platz gemacht, das Rasche und Kecke dem Sanften und Leisen. Das reizende Köpfchen mit den fröhlichen und beweglichen Zügen war zu einem schönen Kopfe geworden, der auf dem weißen Halse sich wie eine Blume wiegle, anmuthig erhoben, anmuthig geneigt, mit einem Gesicht von weichster Jugendlichkeit und taubenhafter Sanftheit. Kurz, mein Freund, das Kind war inzwischen doch zum Weibe geworden, und zwar zu einem engelhaft schönen Weibe, dessen Hauptausdruck der der reinsten Jungfräulichkeit und der süßesten Unschuld war. Das sprach sich auch, und zwar am deutlichsten, in den Augen aus, welche ganz und gar die alten geblieben zu sein schienen. Kurz, das Ganze ist unbeschreiblich, wie das Einzelne, wie der geheimnisvolle Zauber, der sich leise daraus hervorspann. Ich weiß nur Eins, was Livia’s Wesen und Erscheinung Euch deutlich machen kann – wenn man vor ihr war, sie sah, sie hörte, so konnt’ es Einem werden, als ob ihn ein volles, sanftes, melodisches Glockenläuten umtöne und Leib und Seele in Frieden und Ruhe wiege. Und das, mein Freund, ist nicht das Resultat dieser meiner ersten Begegnung mit ihr, sondern eines langen, innigen Umganges, und es ist das Urtheil Aller, die sie näher kennen lernen durften.
So standen wir Hand in Hand und schauten uns an. Und endlich rafft’ ich mich auf – die Situation war drückend oder lächerlich, wie Ihr wollt – und sagte so einfach hin: „Ich bin überrascht und erfreut, Sie hier und so wiederzufinden, Schwägerin, nicht nur genesen, sondern gesund! Wo aber ist der Erbprinz?“ - Sie ließ mich ruhig ausreden; die Hände hatten sich gelöst, die Nöthe hatte ihre Züge verlassen, die in ruhiger, klarer Schönheit vor mir lagen. Da ich schwieg, sah sie mich noch einen Augenblick gleichsam nachdenklich an und dann fragte sie in einem Tone, den ich nicht näher bezeichnen kann: „Warum heißt Du mich aber „Sie“, Felix?“
Lächerlich war der Ton eigentlich nicht, lächerlich sah sie nicht dabei aus, lächerlich war mir selber keineswegs zu Muthe, und dennoch lachte ich auf diese Frage hell auf – ich erfuhr, weiß Gott, erst durch diese, daß ich sie „Sie“ geheißen, so benommen war ich! – und bot ihr die Hand und meinte: „Nun, Livia, hab’ ich’s gethan, so hab’ ich’s gethan. Wo in der ganzen Welt redet man denn seine Schwägerin übrigens mit „Du“ an?“ – Da ging auch durch ihr Gesicht ein sonniges, schelmisches Lächeln, und sie versetzte, mit dem Finger drohend: „Vetter, Vetter, Du lügst mir da was vor! Bin ich doch vor der Schwägerin Deine Cousine und Deine Spielcameradin gewesen! Allein Du bist nun ein feiner, galanter Herr, ein großer Reisender, ein Hofmann geworden und magst von der armen kleinen Landfrau nichts mehr wissen, hast am Ende so eine Art Grauen vor ihr? Also sei’s darum – wir haben auch noch ein paar Manieren. Seien Sie mir bestens willkommen, Herr Kammerjunker!“ Und sie machte dazu eine prachtvolle Verneigung, wie sie trotz alles darin liegenden Spottes das Herz jedes Tanzmeisters entzückt und der feinsten Menuet à la reine am Hofe zu Stockholm zur Zierde gereicht haben würde. Blitz noch einmal, was war’s für ein Weib in diesem Augenblick! Mit solcher königlichen Anmuth der Haltung des Gesichts, mit solcher stolzer Grazie der Bewegung, mit solcher Feinheit des Blicks! Wo hatte ich meine Augen gehabt, als ich vorhin nur die Sanftheit und Weichheit, fast Träumerei und Melancholie in diesen Zügen entdecken wollte? Und – „wo habe ich meine Augen gehabt?“ fragte ich mich noch einmal, als sie, von der Verneigung sich aufrichtend, nun unmittelbar mit einem so schelmischen und leuchtenden Lächeln in dem lieben Gesicht mir fast ungestüm herzlich beide Hände hinbot und sagte: „sei mir tausend Mal willkommen, thörichter Vetter! Ich freue mich ja so ganz unmenschlich, daß ich Dich einmal wiedersehe!“
Es zog mir wie ein voller Frühlingsjubel in’s und durch’s Herz; ich schüttelte ihre Hände, als seien wir noch einmal Kinder und Spielcameraden, ich lachte sie fröhlich an und rief ihr zu: „Ja, Livia, liebe Livia, wir sind thöricht gewesen! Aber nun ist Alles recht! Ich – Du sahst’s mir wohl an, wie ich mich über Dich freue! Und nun zeige mir den kleinen Kerl dort im Korbe!“ –
Vetter, es war ein Anblick, der nicht zu beschreiben ist, wie sie mir nun vorauseilte, voll fröhlichster Lieblichkeit sich über den Korb beugte, mich lächelnd heranwinkte, die Decke ein wenig lüftete, mir den dicken, gesunden, schlummernden Burschen zeigte, den Finger auf den Lippen, daß ich ihn nicht störe, voll Stolz und Jubel der Mutter, voll keuscher Befangenheit und süßer Scheu des jungen Weibes, das dem Jugendfreund zum ersten Mal als ein solches entgegentrat. Sie war so hinreißend schön, so unaussprechlich hold und lieblich in dieser Mischung, wie auch ich sie weder früher noch später wieder gesehen, und als sie nun flüsterte: „sie sagen, er sei mir ähnlich, Felix?“ – kam mir das schier wie eine Lästerung vor. Wer glich diesem engelhaften Wesen, so weit die Erde sich dehnt und die Menschen darauf hausen? Und nun gar der dicke Bursche da, der, wie alle Kinder in solchem Alter, noch keiner Menschenseele glich – oder vielleicht allen, da man aus den unentwickelten Zügen eben noch alles Mögliche herausfinden kann! – Und so versetzte ich denn auch mit verdrießlichem Lachen: „Ach. dummes Zeug! Ich sehe nur, daß es ein gesunder Junge ist, von dem noch kein Mensch aus der Welt sagen kann, ob er häßlich oder hübsch oder sonst was wird. – Nährst Du ihn selbst?“
– Es flog ein Schatten durch das eben noch so sonnig heitere Gesichtchen, da sie entgegnete: „Ach nein, ich darf’s nicht. Meine Brust soll zu schwach sein, sagen sie. – Das ist ein Schmerz, Felix! – Aber nun komm herein,“ brach sie ab und wandte sich fort, „daß ich auch als Hausfrau für Dich hungrigen und durstigen Menschen sorge.“
Es geschah nach ihrem Willen, denn ich war nicht sentimental genug, um nicht wirklich Hunger und Durst zu spüren. Wir saßen dann drinnen, wir gingen wieder hinaus, plaudernd, lachend, scherzend, kurz seelenvergnügt, wenn auch von Zeit zu Zeit über sie so gut wie über mich eine Art von Träumerei kam, die Munterkeit dämpfend, unwillkürliche Pausen im lebhaftesten Plaudern hervorrufend, ohne daß zum wenigsten ich wußte, wovon oder weshalb ich träumte. – Sie erzählte mir viel und ließ mich einen Einblick in alle Verhältnisse und Zustände der Heimath und der Menschen daselbst gewinnen. Sie sprach mit Wehmuth von ihrem Vater, der stumpfer von Tag zu Tag wurde; sie redete mit warmer Liebe von den Meinen, mit Respect von der Mutter, mit einer gewissen gleichgültigen Freundlichkeit – anders als freundlich schlug dies goldene Herz fast nie – von Julius, ihrem Gatten; nur vom Baron Gerold sagte sie kein Wort, sie wich nicht nur jeder Bemerkung über ihn, sondern auch der Nennung seines Namens aus, so daß ich endlich geradezu fragte: „Nun, und der Onkel Gerold? Hast Du etwas gegen ihn, Livia?“ – Da schüttelte sie leise den Kopf und versetzte: „Laß das ruhen, Felix. Du hast den Baron nicht in Dein Herz geschlossen, so viel ich weiß, und ich auch nicht.“
Es war mittlerweile spät geworden, die Sonne brannte durch das Gezweig, so daß der Kleine – sie hatten ihn auf meinen Namen [724] getauft –, der inzwischen erwacht und von seiner Amme aufgenommen war, unruhig wurde, und wir gingen wieder hinein, auch um uns zum nahen Mittagsessen umzukleiden. Denn so ungenirt mein Vater sonst lebte und dachte, auf dergleichen hielt er ebenso streng, wie meine Mutter, und er selber erschien niemals in dem Anzuge bei Tische, in welchem er vom Felde oder vom Hofe hereinkam. So trennten wir uns denn, und ich hatte Zeit, auf meinem einsamen Zimmer über den Morgen mit seinen Ergebnissen nachzudenken. Lange währte das freilich nicht, denn ich war kaum fertig, als Christian mich zu dem inzwischen angelangten Alten hinabrief.
Ich fand ihn, wie ich ihn immer gekannt, ruhig und behaglich, jetzt sichtbar durch meine Ankunft erfreut und überhaupt in der ihm möglichen besten Laune. Wir waren in seinem Schlafzimmer, und er kleidete sich während unserer Unterhaltung um. – Für Euch, wenn Ihr ihn so gesehen hättet, vermuthlich ein possirliches Bild: während er die schweren Reitstiefeln mit sauberen Schuhen und den festen Tuchrock mit einem feinen von hellerer Farbe vertauschte, brachte Christian zugleich seine Frisur wieder in Ordnung und band ihm den Haarbeutel ein, und dabei ließ der alte Herr die kurze Pfeife keinen Augenblick aus dem Munde – sie mußte ausgeraucht sein, wenn zu Tisch gerufen wurde.
„Was denkst Du nun von Hierbleiben oder Reisen?“ fragte er mich, zwischen den Zähnen heraus, währenddem. - „Darüber hab’ ich noch nicht recht nachgedacht,“ sagte ich. „Aber wenn ich nur eine Thätigkeit fände, bliebe ich schon daheim, glaub’ ich.“ – Christian blinzelte mich über den sitzenden Alten hin schlau lächelnd an, und dieser Letztere selbst, der gerade die Schnallen an seinen Kniehosen befestigte, meinte nach der herkömmlichen Behaglichkeitspause: „Recht, Junge! Sollst sie haben. Hab’s mit Deinem Bruder abgemacht, daß wir die Röder’schen Güter dereinst zum Majorat schlagen, die ich eigentlich für Dich gekauft, und daß Du dafür die beiden dort drüben bei Deinem Schwager Büren schon jetzt erhältst. Julius wollte zuerst nicht recht daran, und die Alte und der Gerold setzten ihm noch mehr Flausen in den Kopf – dumme Gesellschaft das! Die Röder’schen liegen für’s Majorat bequem, wenn sie auch nicht so gut sind. Denn das sind die anderen, nur arg herunter, weil sie uns stets aus den Augen lagen. Da kannst Du schaffen, daß Dir die Knochen knacken, aber es lohnt sich auch. Nun, die Kleine, die Livia, und ich haben’s denn zuletzt gewonnen. Bedanke Dich bei ihr, Junge, ’s ist eine schlaue Hexe. Und nebenher hat sie – schlaue Hexe, sage ich! – ausgeheckt, daß der Rittmeister auf Dedenhof nur die eine Tochter hat, ein schmuckes Ding, jung, reich – kennst sie wohl noch selber, da sie mit der Livia vordem gespielt. Lasse sie Dir nicht wieder fortschnappen, Junge.“ –
So redete er, und wenn Ihr ihn gekannt hättet, brauchte ich nicht extra hinzuzusetzen, daß das Alles natürlich nicht in einem Zuge, sondern in vielen Absätzen herauskam, daß er mittlerweile fertig angekleidet war und noch vor dem letzten Worte die Klapper zum Mittagsessen rief. Das „lasse sie Dir nicht wieder fortschnappen, Junge,“ sagte er schon auf dem Flur, so daß ich nichts mehr hätte erwidern können, selbst wenn ich gewollt. Denn mit den nächsten Schritten spazierten wir schon zu Livia in’s Speisezimmer hinein, und war ich noch nicht consternirt genug gewesen über das, was ich gehört, so wurde ich’s nun über das, was ich zu sehen kriegte – die Livia sprang dem Alten entgegen und küßte ihn, und er duldete das nicht nur, sondern erwiderte es auf’s Wärmste und schaute sie schier zärtlich an und sprach so hin. „Nun, Du Goldkopf? Rechte Freude gehabt über den Jungen da?“ So was hatte ich von dem Alten noch nie erlebt und war stumm vor Ueberraschung.
Wir aßen, der Alte ging zu seinem Nachmittagsschlaf, und Livia und ich waren wieder allein und beredeten die Sache. Sie war wunderbar einsichtsvoll, da sie über das Geschäftliche, sie war lieblich und hinreißend, als sie mit leiser Befangenheit über die Heirathspläne sprach, welche richtig in ihrem eigenen kleinen Kopf ausgeheckt worden waren. „Helene ist schön und gut und heiter,“ sagte sie; „Du wirst es auf’s Beste mit ihr haben, Felix. Sie ist auch noch frei, wie ich weiß; es müßte denn sein,“ setzte sie schelmisch lächelnd hinzu, „daß Du selbst ihr noch von früher her im Herzen geblieben wärest.“ – So sprach sie noch lange auf mich ein, die Sache von allen Seiten beleuchtend, bis ich endlich, den dies Alles halb zu lachen machte, halb verwunderte, offen fragte: „Aber was hast Du denn für einen seltsamen Trieb, mich „unter die Haube“ zu bringen, Kind?“ – Es zuckte etwas durch ihr Gesicht, was ich nicht zu deuten wußte, allein es kam mir fast wie eine Art Schreck vor. Doch alsbald hatte sie ihn überwunden und lächelnd versetzte sie: „Nun, Felix, das ist doch begreiflich! Ihr seid meine beiden ältesten und liebsten Jugendfreunde, die ich so gar gern vereint sähe. Dann bist Du fest und bleibst da – Vetter Büren und Du dort, wir übrigen hier, mein lieber alter Papa dazwischen – denke, welch’ ein reizendes Leben das werden kann, so einig, so innig, so herzlich!“ Und indem sie mir jählings die Hand über den Tisch hinbot, setzte sie mit einem von Herzinnigkeit leuchtenden Blick hinzu: „Und siehst Du, Cousin, ich wünsche Dir von so ganzem Herzen eine frische, frohe, befriedigende Thätigkeit! Denn leugne es nur nicht, all dies Untertreiben hat Dich zuletzt müde und traurig gemacht und Dir nicht genügt. Du bist doch ein Mensch für die Ruhe und Freuden der Heimath!“
„Das mag wohl sein,“ erwiderte ich gedankenvoll und ließ damit das Thema fallen. Ich grübelte über all diese Pläne und noch mehr über das, was Livia selbst auf solche Weise denken und reden lassen möchte. Die Güter da drüben neben Büren waren allerdings verwildert und vernachlässigt, allein trotzdem, wie ich sehr wohl wußte, die besten fast, die wir besaßen, die Röder’schen dagegen allerdings bequemer gelegen, zum Theil aber in jenen Sandstreifen hineinreichend, der sich, wie Ihr wißt, gleich einem gewaltigen alten Strombett durch das ganze Land zieht. Es war gar kein Vergleich zwischen diesen und jenen, und ich fand Julius’ Widerstand sehr gerechtfertigt und sein Nachgeben zum mindesten unerklärt. – Die Tochter des Rittmeisters auf Dedenhof – Gentzkow hieß er – war sicher reich und noch jung, vielleicht auch liebenswürdig und hübsch, aber Letzteres wußte wenigstens ich nicht. Ich erinnerte mich ihrer kaum, Spielgefährtin war sie, während ich dort weilte, uns so gut wie nie gewesen, um so weniger, da der Vater ein bärbeißiger Mann war, der mit allen Nachbarn ziemlich übel stand. – Was war also das Alles und wie hing es zusammen, was lauerte dahinter – bei meinem Vater nicht, aber bei Anderen, zum Exempel hier bei Livia?
Wie dem allen auch sei, lange währte es mit diesen Grübeleien trotzdem nicht, denn des Gesprächs- und des Denkstoffs war ohnedies kein Ende zwischen ihr und mir. Der Tag verging, es folgten ihm andere ähnliche, ruhige und schöne, ich hatte seit langer Zeit oder eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl des Daheimseins, der Heimath, mit all dem Glück, dem Frieden und Zauber, den dieser Begriff umschließt. Es ist ein eigen Ding, Vetter, wenn man niemals so zu sagen eine bleibende Stelle hatte und nun mit einem Mal nicht nur sieht, sondern selber fühlt, was es heißt, eine solche zu haben. Die angenehme und warme Häuslichkeit, die ich vordem als Kind im Hause des Onkels gefunden, aber natürlich nicht zu würdigen verstanden hatte, traf ich jetzt im Elternhause bei und unter Livia wieder. Sie war ein reizendes Hausmütterchen und verstand es, den Ihren wohl werden zu lassen. Mein Vater war ein ganz anderer Mensch, die Dienstleute waren voll Dienstfertigkeit und Zufriedenheit, und ich – ich sog dies Glück in vollen Zügen ein und dachte nicht an sein Ende.
„Von meinem Verkehr mit der Cousine oder Schwägerin in diesen Tagen ist wenig zu sagen,“ redete der Alte nach einem tiefen Athemzuge weiter; „er war wie er in solcher engen Häuslichkeit, bei solchem einsamen Leben sein mußte, stündlich, intim, herzlich, gefärbt und geregelt durch alle Stimmungen, die Tag und Leben im Menschen hervorrufen. An die Frau dachte ich gar nicht, wie diese mir auch so gut wie nie vor Augen kam, denn von Julius als ihrem Gatten war meines Wissens kaum jemals die Rede, wenigstens betonte Livia das begreiflicher Weise nicht, wie sie denn seinem Vater und Bruder gegenüber auch keinen Grund dazu hatte. Ich sah nur das junge Weib, die Mutter vielleicht, vor allem aber die mir von jeher bekannte und vertraute Verwandte, die mir näher stand als meine Schwestern, weil wir uns im Alter näher waren und jahrelang wie wirkliche Geschwister zusammen gelebt hatten.“
[737] „So und nicht ein Haar breit anders würde ich mein Gefühl für sie verstanden und taxirt haben,“ fuhr der Junker fort, „wenn ich mir jemals Rechenschaft über dasselbe gegeben hätte. Meinem Bruder und seinen Rechten trat ich nicht zu nahe, nicht mit dem flüchtigsten, heimlichsten Gedanken. Denn, mein Freund, ich wiederhole das hier: ich war nichts weniger als eine – deutsch gesprochen – sinnliche Natur. Die Liebe stand mir fern und mein Herz war frei, mochte ich diesen und jenen Menschen, mochte ich Livia selbst so lieb haben wie möglich. Lacht mich aus, wie Ihr wollt, aber ich schwöre es Euch zu – ich dachte sie in dieser Zeit nicht ein einziges Mal als mein, als das, was sie nach dem früheren Wunsch der Ihren und Meinen hätte werden sollen, als meine Frau, wie ich denn auch mich niemals als ihren oder überhaupt einer Frau Gatten dachte. Ich hatte sie ja und Alles von ihr, was mein Herz irgend begehrte.
Aber es kam ein Ende dieser Zeit und dieses Friedens, und es kam mit den Worten, die nach einigen Tagen Mittags bei Tisch der Vater an mich richtete: „Hätt’s bald vergessen, Junge – die Mutter fragt, ob Du denn gar nicht nach ihnen drüben in Büzenow sehen wolltest und was Du hier eigentlich so eifrig triebest. Und ’s ist auch wahr, was treibst Du eigentlich? Und hinüber solltest Du freilich lange schon gewesen sein. ’s ist doch die Mutter, Felix!“ – Die Worte trafen mich wie ein Donnerschlag, nicht des begründeten Vorwurfs wegen, der darin lag, sondern um ihres einfachen Inhalts willen. Bei meiner Ehre, ich hatte seit dem ersten Tage gar nicht wieder an diesen Theil meiner Verwandtschaft gedacht, dessen Glieder mir theilweise so fern standen, wie Mutter und Schwester, theilweise, wie der Onkel, mir sogar ernstlich verhaßt waren. Und nun mit einem Mal waren sie nicht nur da und gewissermaßen mir gegenüber im Recht, sondern ich sah auch die Mutter schon wieder zurückkehren und Livia scheiden; ich sah das Ende unseres Verkehrs, ich sah für mich und auch für sie – es war ja zweifellos, daß sie etwas gegen den Baron Gerold hatte, was er so oder so sicher ihr vergalt – Widerwärtigkeiten aller Art voraus. – Ich schaute zu ihr hinüber – sie kritzelte mit der Gabel auf dem Teller, ohne die Augen zu erheben. Und meinen Blick zum Vater zurückwendend, versetzte ich mit einer Art von finsterem Sarkasmus: „O Gott, wie zärtlich! Daß man die Schwester schon sehen könne, wußt’ ich nicht, dafür jedoch, daß die Mutter in einigen Tagen zurückkehrt. Wüßte also nicht, was mich nach Büzenow treiben sollte.“
„Schon recht,“ bemerkte der Alte nach einer Pause, denn er aß während dieses Gesprächs in möglichster Ruhe sein Fleisch und Gemüse, „aber am Ende wird der Gerold Dich nicht fressen, Junge.“ – „Mein’s selber,“ erwiderte ich. „Aber ich habe auch keine Lust zu Zänkereien, die nicht ausbleiben würden. Und wie gesagt, es drängt mich nichts dahin.“ – „So fährst Du morgen wohl nicht mit zu der Gesellschaft? ’s ist die erste, die Deine Schwester wieder mitmacht,“ sagte er wieder nach einer Weile. – „Danke,“ versetzte ich kühl; „wußte gar nicht, daß sie eine Gesellschaft geben wollen.“ – „Die Mutter schrieb’s heut Morgen,“ sprach er nach einer neuen Pause. „Lassen auch um einen Rehbock bitten zum Braten. Hast Du Lust, ihn zu holen, Junge, oder schicke ich den Jäger?“ –
Livia hatte bisher kein Wort hinein geredet und keinen Laut von sich gegeben, noch aufgesehen; nun blickte sie schelmisch lächelnd zu mir auf, und dieser Ausdruck ihres Gesichtes und der Gedankengang ihres Kopfes, den ich schier ebenso deutlich vor mir sah, ließen mich dem Alten unwillkürlich lachend erwidern: „Du bist ein Schlaukopf, Papa, der mich neckt. Du weißt wohl, daß meine Feindschaft nicht weit genug geht, um den armen Teufeln da drüben einen Bissen in die Küche und mir selber das seltene Vergnügen eines Jagdzugs im Mai zu versagen. Conrad kann mitgehen, denn ich weiß am Ende in den Revieren nicht genug Bescheid.“ – „Thu’s!“ sagte er.
So geschah es denn auch. Bald nach Tisch zog ich mit dem Jäger aus, streifte tüchtig umher, zugleich auch um im Walde wieder daheim zu sein, von dem ich seit meiner frühsten Jugend wenig mehr gesehen, und erreichte bald meinen Zweck. Denn es gab dazumal noch unglaublich reiche Bestände hier zu Lande, Vetter, und Hohensee hatte einen der reichsten von allen. Bei Büzenow aber gab es schon damals kein Standwild mehr, weil der Baron Jagdhunde hielt und dem Wilde keine Ruhe ließ; ’s war auch eine seiner vielen Thorheiten. – Genug, so gegen halb Sechs hatte ich den Jäger schon mit dem Bock nach Hause geschickt und kam nach einem Umwege zum „schwarzen See“, wo es an dem heißen Tag wunderbar kühl und heimlich war. Da wollte ich ein wenig ruhen, denn derartige Streifereien waren mir nicht gewohnt genug, um mich nicht zu ermüden; als ich jedoch um die „drei Eichen“ bog und auf die Moosbank zuging, die Ihr noch heute seht, fand ich dieselbe schon besetzt und zwar von Livia.
„Nun, edler Junker und großer Nimrod,“ rief sie, da sie mich überrascht stehen bleiben sah, wieder mit jenem schelmischen Lächeln vom Mittage mir entgegen, „hältst Du mich für eine [738] Waldfee, daß Du erschrickst, oder gar für ein verzaubert Stück Wild, das Du zu erlegen gesonnen? Denn ich wette, Felix,“ setzte sie lustig hinzu, „Deine christliche Gesinnung gegen den Herrn Baron hat keine Früchte getragen, und Du kommst nur mit vielen Fehlschüssen heim.“ – „Die Fehlschüsse thust Du selbst,“ versetzte ich gleichfalls heiter. „Conrad trägt den Braten nach Hause. Nun aber laß mich bei Dir sitzen, denn ich bin müde.“ – „Weshalb ist der Herr selber gelaufen und hat es nicht dem Diener überlassen?“ warf sie neckend hin, indem sie mir zugleich Platz neben sich machte. – „Ein solches Vergnügen kann freilich eine Frau nicht taxiren,“ gab ich zurück. – „Vergnügen?“ wiederholte sie, und die großen Augen sahen mich plötzlich wie nachdenklich an, – „Vergnügen? Hast Du es um dessen willen gethan, Felix? Du sahst mir heut Mittag eher nach allem Anderen aus, und ich habe fast gemeint, Du seiest nur aus Verdruß davongelaufen. Sage mir, Felix, was verstörte Dich so? Es war doch am Ende natürlich, daß Deine Mutter sich nach Dir erkundigte und nach Deinem Ausbleiben fragte. Hinüber wirst Du immerhin einmal müssen, früher oder später, und morgen wäre dazu die beste Gelegenheit. Du thätest dann auch noch ein gutes Werk an mir,“ schloß sie wieder lächelnd, „denn freilich – auch ich bin nicht gern in Büzenow, sondern fühle mich dort stets mit zusammengeschnürtem Herzen.“
Ich saß neben ihr und ließ den Zauber dieser weichen Stimme, dieses milden Auges mich umspinnen; ich hätte ihr gern stundenlang so zugehört, sie stundenlang so angesehen, dort an dem stillen Platz, in der dämmerigen Beleuchtung, in der prachtvollen Lust des Maitages, – ausruhend an ihrer Seite von meinen kleinen Strapazen. Seht, Vetter, solch ein Ausruhen zu solcher Stunde, in solcher Umgebung, ist wie das Genesen nach einer schweren Krankheit, beide Gefühle sind verwandt mit einander und unbeschreiblich wohlthuend. Und so war auch mir heut, wohlig bis in’s Herz hinein. Ich ließ eine ganze Weile vergehen, ohne zu antworten, denn ich wußte auch kaum etwas zu sagen, was mich nicht zu widerwärtigen Explicationen geführt hätte, die ich gerade in diesem Augenblick am allermeisten scheute, und überdies – ich wiederhole es – hätte ich am liebsten ihr nur zugehört, sie nur angesehen. Endlich aber besann ich mich, und indem ich ihre Hand in die meine nahm, sagte ich herzlich: „Du fragst, was mich so verstörte und verdroß? Kind, das war nicht allein die Erinnerung an den Baron, den ich nun einmal nicht leiden kann, bei dem ich jedesmal das Gefühl habe, als dränge er sich zwischen mich und mein Glück – sondern es war zuerst und hauptsächlich der traurige Gedanke, daß es demnächst mit unserem Stillleben hier aus und zu Ende. Ich habe mich durch diese Ruhe, diesen Frieden so beherrschen lassen, daß ich nicht daran dachte, wie bald es aufhören könne und müsse. Kehrt die Mutter zurück, spionirt der Baron wieder täglich hier umher, so ist es eben schon anders. Dann muß ja aber auch Julius bald wiederkommen, Du gehst mit ihm nach Sollnitz, wir sind auseinander und finden uns so schwerlich bald wieder vereint. Für mich ist die Zeit des Ausruhens und der süßen Faulheit dann auch vorbei, es geht in’s strebende und schaffende Leben hinein – freilich wohl etwas Natürliches und Nothwendiges, was mir jedoch jetzt noch gar nicht zu Kopfe will. Weißt Du noch, was Du mir neulich einmal sagtest – ich sei ein Mensch für die Ruhe und die Freuden der Heimath? – Ja, ja, Livia, so ist’s! Ich bin es mehr, als Du vielleicht denkst, als ich selber es bisher gewußt; ich habe es erst jetzt und hier recht gespürt. Und siehst Du – damit ist es für mich für’s Erste wenigstens wieder vorbei.“
Sie hatte mir die Hand gelassen, ihr Auge haftete auf mir mit einem zuerst nachdenklichen, bei einem längeren Sprechen nach und nach aber immer wehmuthsvolleren Blick. War etwas in meinen Worten, das sie besonders ergriff, oder hörte sie’s und nahm sie sich’s zu Herzen, daß ich mich traurig redete – ich sah ihren Blick plötzlich von einer aufsteigenden Thräne verschleiert, ich fühlte einen leichten Druck der feinen Finger, und dann fragte sie gedämpft: „Willst Du denn wieder fort, Felix?“ – „Hier bleibe ich nicht, kann ich nicht bleiben,“ versetzte ich. „Du mußt das einsehen, Cousine.“ – „Aber die Güter?“ sagte sie mit fragendem Tone. – „Die Güter, Livia, laufen mir nicht weg; ich habe aber jetzt gar nicht an sie gedacht. Doch wenn ich sie auch übernehme und dort zu wirthschaften beginne – was ändert sich dadurch für mich? Gewinne ich damit Heimath und Ruhe? Nein, Kind! Ich soll mir Beide ja erst gründen und erringen!“ Und wie man manchmal Einfälle hat und Antrieben folgt, über deren Entstehung, über deren – sage ich: Absicht man sich selber am wenigsten Rechenschaft zu geben vermag, so setzte ich hinzu: „Sieh, Livia, und das ist ein halb traurig und halb langweilig Geschäft, wenn man’s nur für sich allein thut. Was soll ich einsames und nichts weniger als egoistisches Menschenkind viel für meine Zukunft, meine Behaglichkeit sorgen und arbeiten! Das macht sich ja Alles ohne Sorge und Arbeit, von selbst. Ja, hätte ich einen anderen, einen rechten Zweck, bei dem auch mein Herz in’s Spiel käme! Aber so? – Ach, es schafft sich nur fröhlich zu Zweien oder für Zwei!“
Es war jetzt eine gewisse Befangenheit in dem Blick, der auf mir haftete, und in dem Klang ihrer Stimme, mit der sie wieder wie fragend nach einer Pause sagte: „Und Helene Gentzkow?“ – Die Worte waren wie ein kaltes Bad, das mich aus allen Träumen und Phantasien schreckte. Ich zuckte zusammen und auf und versetzte fast heftig: „Ach, bleibe mir mit diesen Dummheiten vom Leibe, Livia! Was habe ich mit Helene Gentzkow oder sonst einem solchen Geschöpf zu thun! Ich bin allein und bleibe allein – das ist einmal nicht anders.“ So sprach ich und stand zugleich auf, mir war unleidlich zu Muth, gerade so, als wenn uns im ernstesten, heiligsten Moment, während der tiefsten, frömmsten, inneren Bewegung etwas recht Dummes oder Frivoles, Unheiliges nahe tritt. Und Livia mochte das wohl empfinden, denn auch sie stand auf und legte mir die Hand wie begütigend auf die Schulter und sprach innig: „Felix, lieber Felix, habe ich Dir weh gethan? Das wollte ich bei Gott nicht!“ - Da entwich Verdruß und Verstimmung, denn vor diesem Zauber der Stimme, des Blicks, des ganzen Wesens hielt nichts dergleichen Stand, und ich konnte freundlich und milde antworten: „Laß gut sein, Kind, es ist schon vorüber. Aber ich bitte Dich, lasse mich in Zukunft mit allen derartigen Plänen zufrieden. Wen man wählt und ob man wählt und ob solcher Wahl und solchem Wunsch auch die Erfüllung folgt, das muß dem Herzen des Menschen selber und seinem günstigen oder ungünstigen Stern überlassen bleiben. Und ich weiß von diesem allen noch wenig oder gar nichts, zum mindesten nichts Günstiges. – Aber nun genug,“ brach ich ab. „Wohin sind wir gerathen, Livia, daß wir uns mit solchen widerwärtigen und albernen Dingen quälen! Heiter, Kind, heiter! Sei wieder fröhlich, Cousinchen!“
Ueber ihr liebliches Gesicht flog ein flüchtiges Lächeln. „Du bist ein lieber, guter Mensch, Vetter,“ sagte sie, „aber auch ein sehr wunderlicher, von dem Niemand ahnen, geschweige denn berechnen oder sagen kann, was es in ihm giebt, was ihm wohl, was ihm weh thut!“ – In dem Fall sind wir Alle,“ gab ich munter zur Antwort. „Geht es, zum Beispiel, mir besser mit Dir? Weiß ich von den Gedanken, Gefühlen, Regungen, die Du so zu sagen privatim hast?“ Und als ich die Worte gesprochen hatte und sie dabei neckend fixirte, erschrak ich fast über ihre Wirkung, denn sie wurde jählings glühend roth und fast eben so schnell tödtlich blaß, und sie bebte am ganzen Körper, so daß ich rasch den Arm um sie legte und bestürzt rief: „Aber, Kind, um Gotteswillen, was ist Dir?“ – Sie strich mit beiden Händen über die Stirn und richtete sich rasch auf. „Nichts, nichts!“ erwiderte sie hastig; „mir wurde nur so schwindlig. Jetzt ist’s schon vorüber!“ – „Leidest Du denn öfters daran?“ fragte ich, und da sie den Kopf schüttelte, fügte ich hinzu: „Ich dachte zuerst, meine Worte hätten Dich so berührt, obgleich ich freilich nicht begriff, wie das möglich sein könnte.“ – Da lachte sie wieder ganz heiter, wenn sie auch noch ein wenig blaß war, und meinte: „Nun, Vetter, so arg ist’s nicht, obschon der Gedanke sogar allerdings wohl zum Erschrecken ist, daß wohl ein Anderer die Fähigkeit besitzen könnte, uns bis in unser Eigenstes und Geheimstes zu durchschauen. Meine Bemerkung vorhin war dumm und Deine Antwort treffend genug. Aber nun laß uns heim. Ich muß nach dem Kleinen sehn.“
Wir waren schon auf dem Wege, gingen langsam und bald wieder ziemlich heiter plaudernd vorwärts und traten in den Garten. Ich weiß nicht mehr, worüber wir gerade redeten, aber es beschäftigte uns, daß wir uns nicht viel umschauten, sondern neckend und lustig weiter gingen oder stehen blieben, uns anlachend, kurz, wie man es bei solcher Gelegenheit eben treibt, wenn man jung und kein Kopfhänger ist. Das Vorhergegangene hatten wir Beide anscheinend vergessen oder abgeschüttelt. – So übersahen wir’s, daß in einem Nebensteige mein Vater mit dem Baron Gerold herankam, und erst der Anruf des Erstern: „Heda!“ ließ uns aufmerken, [739] stehen bleiben und dann des Anderen lachend vorgebrachte Worte vernehmen: „Ei guckt doch – versunken wie ein Liebespaar!“
Livia erröthete glühend, mir zogen sich die Finger der Hand zusammen, als müsse ich im nächsten Moment den Frechen zu Boden schlagen. Allein es mag nur mein Blick von dieser Regung meines Innern gezeugt haben, – der Baron verfärbte sich wenigstens, obgleich er sein Auge nicht von mir abwandte – dann war ich schon wieder gefaßt und warf ihm ein: „Nicht wahr, Cousine, gesprochen wie – Baron Gerold?“ entgegen. – Er lenkte ein. Herantretend bot er mir mit einer Art von Bonhomie die Hand und sprach mit anscheinend wohlwollendem Blick und Ton: „Also kennst Du mich doch noch, Herr Neffe! Wir sind sonst lange genug von einander gewesen und uns auch Weihnachten so wenig begegnet. Ich fürchtete fast, Du würdest mich ganz vergessen haben, zumal wir erst heut Morgen hörten, daß Du, und zwar schon seit acht Tagen, hier. Da mußte ich doch nach Dir sehen, Deine Mutter und Schwester schicken mich auch. Und nun frage ich: wie ist’s? Hilfst Du uns den Braten, den ich schon gesehen und für den ich danke, morgen verzehren?“
Das ging so schnell und geschlossen hin, als hätte er es extra für mich zurecht gedacht und auswendig gelernt. Der Mann, die Weise, der Ton, Alles und Alles mißfiel mir gründlich, und ich mußte mich ernstlich zusammennehmen, um meiner Empfindung nicht ganz und gar den Zügel schießen zu lassen. „Ich habe lange keine Gelegenheit mehr gehabt, zu erfahren, ob ich in Büzenow willkommener als vordem sein würde, Herr Onkel,“ erwiderte ich mit einer steifen Verbeugung. „Jetzt werde ich aber nicht ermangeln, von Ihrer Einladung Gebrauch zu machen, – nur morgen bedauere ich. Ich habe mich schon nach Liebenhagen, bei Onkel Hans Peter, angemeldet.“ -– „Ei, davon weiß ich ja noch gar nichts!“ schob mein Vater ein, die unschuldige Seele, der Baron aber sagte in seiner ganzen bösen Weise und mit einem schiefen Blick auf Livia, die schweigend neben uns stand: „Nun, für Herrn Hans Peter läßt man sich schon aufgeben!“ und ich endlich replicirte: „Sie wissen wohl, Herr Onkel, daß ich früher mehrere Jahre in Karlshof und Liebenhagen leben mußte und dort eigentlich mehr daheim bin, als hier.“ – „Das ist verständlich,“ meinte er, das Haupt neigend; „nun, ich muß fort. Also, wenn Du wiederkommst, Herr Neffe, sehen wir Dich wohl drüben? A revoir! – Kommt Ihr mit, Schwager?“ – Und nachdem er mit dem Vater sich einige Schritte entfernt hatte, denn ich zögerte, ihm zu folgen, und Livia blieb neben mir, – wandte er sich im Gehen und rief der Letzteren zu: „Daß ich’s nicht vergesse – Julius kommt übermorgen, schöne Nièce!“ – Sie sah auf und ihm ruhig entgegen. „Danke, aber ich wußte das schon,“ versetzte sie kühl.
„Hast Du wirklich im Sinn, nach Liebenhagen zu gehen?“ fragte sie mich, als wir so langsam den Beiden nachgingen. – „Das habe ich freilich,“ antwortete ich ernst. „Es ist ein schneller, aber fester Entschluß. Ich möchte Büren’s sehen –“. – „Die triffst Du nicht, sie sind zur Hochzeit nach G. gefahren,“ unterbrach sie mich, „und werden noch nicht zurück sein.“ – „Nun gut, so bleibe ich bei Deinem Vater und dem Magister,“ redete ich weiter; „den Einen sprach ich kaum, den Anderen seit fast fünf Jahren nicht.“ „Du verdienst ein Gotteslohn um meinen armen alten Papa,“ bemerkte sie gedrückt. „Wollte Gott, ich könnte mit Dir hinüber, Felix!“ Sie blieb fortan still und – ich will sagen gedämpft, denn das war es.
Am folgenden Morgen war ich früh auf den Beinen und ging in den Stall, um nach meinem Pferde zu sehen und das Aufsatteln zu befehlen. Da ich zurückkam, sah der Vater mit der weißen Schlafmütze und seiner langen Pfeife aus dem Fenster, und Livia ließ eben den Frühstückstisch für mich unter der Linde neben der Hausthür aufstellen. Sie sah frisch und rosig aus und begrüßte mich auf das Heiterste, und da ich sie wegen des Frühaufstehens schalt, meinte sie lachend, sie sei um diese Zeit stets auf und heut natürlich um so eher, da sie mit mir noch über den Vater und Liebenhagen plaudern wolle. Für mich möge es aber schwer sein, da ich mich sonst immer noch zwei Stunden im Bett strecke. So redeten und scherzten wir, sie gab mir ihre Aufträge für den Vater und machte dabei die sorgliche Hausfrau. Ich hatte sie niemals anmuthiger gesehen.
Es war ein prachtvoller Morgen, voll solcher Frische und solchem Glanz, voll solcher Himmelsbläue und so kühlem, kräftigem Duft des jungen Laubes, der Frühlingsblumen auf den beiden Rabatten, die damals – der einzige poetische Einfall, den meine Mutter vielleicht jemals gehabt – nahe vor dem Hause, hinter der Ausfahrt angelegt waren, daß es einem das Herz weit und leicht machen mußte. Von rechts herüber grüßte und winkte der Wald, der zu jener Zeit noch nahe an den Hof herantrat; über den Feldern links jubelten die Lerchen; die Hügeldüne vor uns lag mit ihrem hohen Wipfel wie in Licht gebadet. Kurz, ich selber habe meine Heimath niemals lieblicher und zugleich anmuthiger vor mir gesehen. Und da sagte Livia, die das Alles einen Augenblick träumend angeschaut, mit einem strahlenden Lächeln und einem wahrhaft verklärten Gesicht: „O Felix, an solchem Morgen ist’s mir immer, als müßt’ ich hinauf und hinaus in alle Lüfte, so froh, so leicht, so namenlos sehnsüchtig und glückselig! Ach und dann auf einem leichten Wagen sitzen, mit raschen Pferden in’s Land hineinfahren, scherzend, jubelnd, jauchzend – es wäre himmlisch! Wie beneid’ ich Dich um Deinen Ritt! Warum kann ich nicht mit Dir!“
„Warum kann ich nicht mit Dir!“ – Mein Freund, das waren so einfache, so unschuldig gemeinte, so unbefangen gesagte Worte, und dennoch waren sie es, die in meinem freien Herzen den Schmerz und Gram heraufbeschworen, die für sie und mich der Anfang eines Elendes waren, das man selber durchgemacht haben muß, um seine volle, Alles lähmende, Alles vernichtende Wucht und Schwere zu begreifen. „Warum kann ich nicht mit Dir!“ – Warum kann sie nicht mit mir? klang es in mir nach; warum sitzt sie da nicht bei dir, vor euerem eigenen Hause, an eurem eigenen Tisch, als dein eigen, dein Glück und Segen, dein Weib, wie es einmal sein sollte und sein konnte? Warum kannst du nicht mit ihr hinausziehen und diesen Herzensjubel, der dir jetzt entgegenklagt, in seiner reichsten Fülle, in seiner vollsten Seligkeit von Lippen klingen, aus dem Herzen sich aufschwingen hören, das dein ist und sein tiefstes Glück von dir empfängt? – Seht, Vetter, so wucherte es in mir auf, jäh und furchtbar rasch – ich muß eigentlich sagen: es war Alles mit einem Male da und fertig! Und hart, drückend hart daneben stand der Gedanke: sie ist deines Bruders Weib, und für dich ist Alles vorüber! –
Mir war Herz und Kehle wie zugeschnürt von diesen mich in einzigem Schwall überstürzenden Bildern und Gedanken. Ich nickte nur zu ihren Worten, ich stand auf und ging, dem im Fenster liegenden Vater die Hand zum Abschied zu bieten; ich kehrte zu ihr zurück und gab auch ihr die Hand und sah sie an – freundlich wollt’ ich, und traurig ward es, denn im Innern weint’ ich, so zu sagen, blutige Thränen über das zauberhaft emporgestiegene Bild meines verlorenen Paradieses. Und Gott weiß, was es war, das auch sie plötzlich still und trübe gemacht, ihr Auge wie schwermüthig und bangend dem meinen begegnen ließ – war es die Trauer über den vergeblichen Jubel, oder die Sehnsucht in die Ferne, noch Glück und Genügen, oder war es ein sympathetisches Fühlen, Ahnen, Verstehen dessen, was in mir vorging? –Gott weiß es, wiederhole ich! – „Viele, viele Grüße!“ sagte sie weich und gedämpft; ihre Hand glitt leise aus der meinen. Ich nickte ihr noch einmal zu, wandte mich, saß auf und ritt vom Hofe, stumm drinnen und draußen.
Der Morgen war prachtvoll und mein Weg der angenehmste fast ganz durch den duftenden, üppig grünen Wald, Alles dazu geeignet, das Herz wieder leicht und den Kopf frei werden zu lassen. Allein an mir ging es diesmal spur- und wirkungslos vorüber, mein Traum blieb gleich wüst und schwer, meine Trauer gleich dumpf, und wie sehr ich strebte, was ich versuchte, mich emporzureißen aus all den qualvollen Gedanken, es gelang mir nicht. Das Bild, wie ich mit ihr, dem jubelvollen, glücklichen jungen Weibe, diesen Weg hinausfahren könnte, wenn ich mein Glück nicht auf das Leichtsinnigste verscherzt, verließ mich nicht, und zum ersten Mal in meinem Leben erfüllte mich eine glühende Sehnsucht, durch ein anderes Wesen beglückt zu werden und ein anderes Wesen glücklich zu machen, – das Schönste zu bieten und das Schönste zu empfangen, was dem Menschen erlaubt und bestimmt ist.
Die Freude des alten Onkels über meinen Besuch war sichtbarer und größer, als ich erwartet; ich fand ihn überhaupt lebhafter, als sonst, wenn das auch leider die Folge seiner neuen Gewohnheit war, vom Morgen bis zum Abend der Weinflasche in einem selbst hier zu Lande unerhörten Maße zuzusprechen. Berauscht wurde er nicht, sondern nur animirt in seiner Weise, zuweilen freilich auch gereizt, und hiervon empfing ich noch am selben Morgen eine bittere Probe, als er zu mir, nachdem er die Grüße [740] Livia’s empfangen und nach ihrem Aussehen und Ergehen gefragt, plötzlich und mit gänzlich ungewohnter Heftigkeit und Bitterkeit sagte: „Ja, jetzt mag sie heiter und gesund scheinen, wo sie allein ist und sich einmal frei fühlt, aber später – bald! – Siehst Du, Junge, ich sollte Dich eigentlich aus dem Hause jagen und Dich mit keinem Blick mehr ansehen! Du bist daran schuld! Du hast’s gemacht, daß man mein Kind mir und Deinem Vater, Dir und ihm selber stehlen konnte, daß man sie zwang, wozu ihr armes Herz Nein schrie! Ich bin einmal ein alter, schwacher, miserabler Hund, ich hab’ keine Gewalt über Andere, keinen Widerstand gegen sie! Ich hätt’ mich eher in Stücke reißen lassen sollen, als daß ich das Elend meines armen Mädchens zugegeben! Ja, verflucht sie Alle und verflucht ich selber!“ fuhr er immer heftiger, schier wüthend fort. „Und Du, Knabe, Du bist das Licht nicht werth, daß Du das Alles verschuldet, daß Du Dich herumgetrieben, indeß die Kleine weinte und sich sehnte und kümmerte, daß Du dem Gesindel freie Bahn ließest, mein Kind unglücklich zu machen und – Dich auch,“ setzte er mit einem Male mit sinkender Stimme hinzu. „Denn Du wirst’s, verlaß Dich darauf! Ich seh’ es deutlich vor mir! Aber ihr habt’s Alle nicht anders gewollt und ich bin ein miserabler alter Kerl ohne Saft und Kraft, dem’s am wohlsten wäre, wenn er erst unter dem Stein in der Kapelle läge.“ – Und er stürzte ein neues Glas Wein hinunter. – Ich war stumm und starr vor Bestürzung und in einer halben Todesangst vor dem, was nun kommen werde. Allein es kam ebenso, wie damals im Winter, nichts mehr. Die Stunde der Offenheit war vorüber.
Was ich vernommen, und noch mehr, was ich glaubte noch weiter dahinter suchen, daraus folgern zu müssen, drückte mich so entsetzlich, daß ich Nachmittags, während der Onkel schlief, zu Eurem Vater, dem Magister, der mit uns gegessen hatte, mich offen aussprach, zum Anfang ihn an jene Mittheilung in seinem Briefe erinnernd, von der ich Euch vorhin gesagt. Ich beschwor ihn, mir die volle Wahrheit zu sagen. Hätte Livia mich geliebt, hätte sie das den Meinen nicht verborgen uns wäre trotzdem von ihnen zu dem Bunde mit meinem Bruder überredet, deutsch gesprochen, gezwungen worden, so müßte ich das Alles für um so infamer erklären, da man einerseits die auf mich gebauten Pläne und andrerseits doch die ungefähre Zeit meiner Rückkehr kannte, so daß man nur kurze Zeit hätte zu warten brauchen, um uns Allen gerecht zu werden. Und so sagte ich ihm auch von jenen Aeußerungen Büren’s, die mich schon im Winter so tief erregt hatten.
Euer Vater war sichtbar sehr betreten durch das Vernommene. „Um Gotteswillen, wie unvorsichtig, wie taktlos!“ rief er endlich. „Ich bitte Sie, junger Freund, lassen Sie sich nichts in den Kopf setzen, schieben Sie vielmehr alle diese Aeußerungen auf die Weinlaune, die unsern alten Herrn und Ihren Schwager erfüllt zu haben scheint. Halten Sie sich an das, was ich Ihnen schrieb, an nichts mehr. Ich habe es ein Unrecht genannt und halte es noch dafür, daß man die alten, Sie betreffenden Pläne umstieß, daß man gegen den Wunsch – von Willen, wissen Sie wohl, ist keine Rede! – des Vaters dem Kinde Ihren Herrn Bruder nahe brachte, daß man sie überredete – wohlverstanden: überredete, nicht zwang! – seine Gattin zu werden, während sie ihn damals sicher nicht liebte, kaum kannte. Daß Livia ernst für Sie gefühlt, mein Freund, dafür spricht nichts, das glaube ich nicht, wenn sich auch ein kindliches, halb kindisches Erinnern an die alten Reden und Spielereien in dem jungen Wesen erhalten haben sollte. Weiter aber ist es sicher nichts gewesen, und daß man sie nicht zum Jawort gezwungen, dafür bürge ich Ihnen. Ich habe vor der Trauung ernst mit ihr geredet und sie nicht gerade heiter, aber ruhig, zufrieden, hoffend auf ein friedliches Glück, ihrer Pflichten, des ganzen ernsten Schrittes sich vollbewußt gefunden. Ohne diese Einsicht in ihr Inneres hätte ich sie nicht getraut, davon seien Sie überzeugt. Und nun nehme Gott Sie Beide in seinen treusten Schutz, besonders aber Sie, mein lieber junger Freund,“ schloß er mit ernster Herzlichkeit. „Geben Sie dem Dämon, der sich in Ihnen regt, den man unvorsichtig in Ihnen wachgerufen, nicht nach, Felix! Es ist Ihr Bruder, es ist Ihre Schwägerin, an deren Ehre, an deren Glück und Frieden schon Gedanken rütteln, wie ich sie bei Ihnen leider sich erheben sehe.“
Er sprach noch lange in ähnlicher Weise fort, ohne daß mir leichter, ohne daß mir klar wurde, was demnächst geschehen könne und müsse. Was ich im Winter überwunden, war Alles wieder da; was ich heut vom Onkel gehört, war so seltsam, so gefährlich mit dem zusammengetroffen, was ich am Morgen empfunden. Die Liebe, die bisher geschlummert, war wach geworden – das war’s. Es kam in mir schon jetzt nichts mehr gegen sie auf, und die Worte Eures Vaters verklangen fast ungehört.
Ich hatte Angst vor dem Heimkehren, ich hatte keine Ruhe zu bleiben, obgleich letzteres jedenfalls das Beste für mich gewesen wäre; ich hätte Zeit gefunden, mich zu fassen, wenigstens ein Maß wiederzugewinnen. Aber es schien mir unmöglich, jetzt gerade von derjenigen nichts mehr zu sehen, die mir eben nur wie ein Stern aufgegangen, welche mir die finster aufsteigenden Wolken sobald vielleicht schon wieder entziehen würden. Und so saß ich am nächsten Morgen wieder auf und ritt heimwärts. Das Wetter – ich gab und gebe viel auf dergleichen – hatte sich geändert; es war wohl noch schön und klar, aber drückend heiß, denn ein Gewitter brütete in der Luft und ließ sie erschlaffend auf den Fluren und Wäldern ruhen. Man brauchte nicht abergläubisch zu sein, um dabei an ein drohendes Unheil zu denken. Und als ich daheim vom Pferde stieg und Livia mir mit Gruß und Frage nach dem Vater herzlich entgegenkam, war das erste Wort, das ich darnach von ihr vernahm, ein leises: „Deine Mutter ist seit gestern Abend wieder hier, Felix.“ – Mein Herz zog sich zusammen, das Stillleben mit seinem Glück und Frieden war also nun auch äußerlich schon zu Ende.
Ich hatte damals ein Recht, so zu fürchten und zu denken, ich habe jetzt das Recht, so zu sagen, denn es war zu Ende. Ich kann nicht in Einzelnheiten gehen, ich kann Euch nicht von der Mutter und ihrem Wesen, von unserem Leben mit, neben und unter ihr erzählen. Der Friede und die Behaglichkeit waren fort, wir Familienglieder gingen gelangweilt oder verdrossen umher, die Dienstleute zeigten keine zufriedenen Mienen mehr, sondern nur noch scheue und vorsichtige. Und dennoch wäre es ungerecht, zu sagen, daß die Mutter dies Alles direct verschuldet habe, im Gegentheil war sie gegen alle Welt und auch gegen mich freundlicher, milder und humaner, vor Allem weniger steif, als ich sie jemals gekannt und zu finden gehofft, obschon damit natürlich nicht gesagt ist, daß sie sich gänzlich verändert oder auch nur von ihren hervorstechenden Eigenheiten gelassen habe. Gegen Livia zeigten dieselben sich in allerlei schwiegermütterlichen Airs, in einem gewissen Mäkeln und Zurechtweisen, in einem Belehren und Besserverstehenwollen, was das junge Wesen alles mit der besten Manier von der Welt und unendlicher Geduld hinnahm. Trotzdem war von Mißwollen gegen die Schwiegertochter keine Rede; vielmehr liebte die Mutter sie anscheinend mit aller ihr möglichen Zärtlichkeit, wollte sie stets in ihrer Nähe haben oder selber bei Livia bleiben, ließ sie nie aus den Augen – um es kurz zu sagen: ich sah meine Cousine so gut wie gar nicht mehr allein. Und da wir an einem der folgenden Tage dennoch einmal einen langen Spaziergang in den Wald gemacht und zurückkehrend der uns entgegenkommenden Mutter begegneten, schickte diese Livia zum Knaben hinein und hieß mich sie selber ein Stück begleiten.
„Mein Kind,“ sagte sie, als Livia vor uns im Berceau verschwunden war, und ihr Ton und ihre Stimme waren hoch, „ich weiß nicht, wie Du bist. Die leichten Sitten der Fremde sind hier zu Lande, wenigstens bei uns in Hohensee, noch nicht daheim, und es compromittirt in manchen Augen eine junge Frau, wenn sie mit einem ebenfalls jungen Manne lange einsame Wege macht. Obendrein ist sie Deine Schwägerin, die Gemahlin Deines abwesenden Bruders, uns zum Schutz und zur Aufsicht anvertraut, und Du –“ – „Und ich,“ fiel ich ihr in’s Wort, denn länger ließ mich Stolz und Zorn nicht schweigen, „und ich, Mutter, habe meines Wissens von den Sitten der Fremde nichts in mir aufgenommen und nichts von ihnen gezeigt, da wir hier nicht in der Türkei leben, wo es schon ein Verbrechen, wenn man eine andere als die eigene Frau nur anzusehen wagt, und wo ein solcher Blick des Fremden auch der Frau selber zum Verbrechen angerechnet wird. Ich glaube auch nicht, daß Livia selbst sich ähnliche Prätensionen und Beschränkungen gefallen lassen würde, am wenigsten mir gegenüber. Denn Du weißt doch, daß sie meine Cousine war, lange bevor sie meine Schwägerin wurde, und daß ich sie damals mindestens ebenso herzlich lieb gehabt, ebenso ungenirt mit ihr verkehrte, wie jetzt, ohne daß sie dadurch compromittirt worden wäre, selbst wenn ich sie jetzt noch unverheirathet wiedergefunden und den alten Verkehr erneuert hätte, wie es nun geschah.“
[753] „Weißt Du das so bestimmt, mein Kind?“ fragte die Mutter herb. „Andere denken darüber doch vielleicht anders, und auch ich meine, daß eine veränderte Stellung zu einander auch andere Gefühle für einander, wenigstens eine andere Aeußerung derselben bedingt.“ – „Und ich für meine Person weiß nur, daß es für den Mann so gut wie für die Frau ein Schimpf ist, wenn man hinter ihrem unbefangenen Verkehr gleich etwas Schlechtes argwöhnt,“ versetzte ich gleichfalls scharf. „Und ich weiß ferner, daß da das traurige Sprüchwort zur Geltung kommen würde: was ich selber thu’, trau’ ich Anderen zu! – Nur ein schlechter oder unsinniger Mensch könnte dergleichen Einfälle haben, und beides ist Julius nicht.“ – „Wir einigen uns nicht, wie es scheint,“ sagte sie kalt. „Aber gleichviel; ich wollte Dich aufmerksam machen und habe das hiermit gethan. Nun handle, wie Du es verantworten kannst.“
Sie wandte sich mit einer entlassenden Handbewegung von mir ab in einen anderen Steig hinein, und ich ging in schweren Gedanken dem Hause zu, denn wirkungslos waren der Mutter Worte nicht geblieben, wie herb’ ich sie auch abgewiesen. Nur wirkten sie anders, als sie vielleicht gesollt, denn sie verscheuchten mich nicht von Livia, sondern machten mich nur bitter und zornig über die Thorheit und Quälerei, die ich sich gegen uns erheben sah, und riefen zugleich in mir alle Reste des alten Trotzes wach. Und sie waren gefährlich, diese Mahnungen! Indem sie andeuteten, daß man uns Unrechtes zutrauen könnte, ließen sie mich selber erst an dies Unrecht denken. Bei Gott und meiner Ehre, mögt Ihr es paradox heißen oder sentimental – bis dahin hatte sich nichts in mir geregt als jene Frage: warum mußte sie mir genommen werden, sie, die mich, wie ich es jetzt fühle und weiß, beglückt haben würde, sie, die ich glücklicher gemacht, als ein Anderer es vermag? Denn Niemand liebt sie mehr als ich, und Niemand versteht ihr Wesen, ihr Sehnen und Bedürfen so wie ich! – Ein unheiliger Gedanke war mir niemals nahe gekommen. Livia’s Wesen war nicht dazu gemacht, dergleichen entstehen oder gar sich festsetzen zu lassen. Nun aber waren solche Vorstellungen angeregt, und wenn ich sie auch zornig weit von mir stieß – sie waren dagewesen, ich sah, wie ich schon bei der nächsten Begegnung merkte, das holdselige Geschöpf mit anderen Augen an als bisher – heißt es finsterer oder trauriger, scheuer oder befangener, das ist Alles einerlei ! – und ich sah auch der bevorstehenden Rückkehr meines Bruders mit anderen Blicken und Gefühlen entgegen.
Es gingen noch ein paar Tage hin, man hielt Livia und mich so sichtbar auseinander, daß es auch ihr nicht entgehen konnte.
Sie fügte sich in diesen Zwang, ich weiß nicht, ob nachgebend oder mit eigenem Willen. Ich vermag überhaupt nichts von ihr zu sagen. Sie war so lieblich und holdselig, so innig und gütig wie je, aber so unbefangen wie früher war sie seit dem Morgen, da ich nach Liebenhagen ritt, nicht wieder geworden. Hatte sie erkannt, was damals in mir vorgegangen? Begriff sie, was es seitdem in mir gab? – Ich wußte es nicht, mein Freund, ich glaubte aber, wie jeder in meiner Lage, nicht daran, da ich mit meinem Willen wenigstens nichts aus meinem Innern hervortreten ließ und mein Gefühl, das ich nicht zu überwinden vermochte, fest im Zaum zu halten meinte.
Also, ein paar Tage gingen noch hin, und dann war mein Bruder eines schönen Morgens wieder da. Die öffentliche Begrüßung der Gatten war freundlich und schicklich, nicht mehr, ich hatte aber auch gar nicht mehr erwartet, da Julius kein Mensch der Aufgeregtheit oder lebhaften Gefühlsäußerung war, wenn er auch gelegentlich einmal bei irgend einem Ausbruch des Eigensinns oder Jähzorns ein heißes Blut verrieth. Seine Freude, als er mich begrüßte, war entschieden lebhafter, als die seiner Frau gegenüber gezeigte, und noch voller und wärmer brach es aus ihm hervor, da er seinen Knaben auf den Arm nahm. Und wie es begonnen, blieb es den Tag über; Livia ließ er für mich, und mich für das Kind im Stich, mit der heitersten und, ich möchte sagen, natürlichsten Manier von der Welt. Von Animosität oder gar Eifersucht war keine Rede. Im Gegentheil hieß er es ein Glück, daß ich in die Langeweile von Hohensee gekommen, daß ich seine Frau unterhalten und erheitert; er fände sie wohler und heiterer als früher, setzte er hinzu. Einen längeren Aufenthalt bei ihm in Sollnitz erwartete er von mir auf das Bestimmteste.
„Was willst Du hier bei dem guten, alten, langweiligen Papa und der guten, alten, steifen Mama hocken?“ sagte er. „Bis Trinitatis und bis die Pächter abziehen, bleibst Du einmal jedenfalls bei mir.“ – Es fiel mir auf, daß er nicht „uns“ sagte, zumal Livia bei diesem Gespräch gegenwärtig war, allein ich vergaß es über seinen folgenden Worten, die er jetzt mit einem freundlichen Blick auf seine Frau hinzufügte: „Und es wäre mir auch um die da lieb, Felix. Sie ist an Unterhaltung gewöhnt, während ich doch auf dem Felde und in der Wirthschaft zu thun habe und daheim oft nur noch zum Schlaf zu gebrauchen bin. Ihr kennt Euch ja von Jugend auf und wißt genug für einander. So gewöhnt sie sich nach und nach wieder an unser stilles Leben [754] Nicht wahr, Liv’chen? Mit einem Male wäre der Abstand zu groß.“ – Ich nickte ihm schweigend zu, wie auch sie. Mir war gut zu Muth, ich glaubte mich beruhigen zu dürfen. Die Mutter hatte den Versuch gemacht, mich mit Gespenstern zu quälen, und wenn ich auch nicht daran dachte, seinen Vorschlag vollständig anzunehmen, so meinte ich doch in den noch freien vierzehn Tagen – Trinitatis fiel etwa auf den 10. oder 20. Juni, denn wir hatten Ostern sehr spät gehabt – häufig in Sollnitz weilen zu können. Auf solche Weise, rechnete ich, würde ich mich am leichtesten von Livia’s Umgang entwöhnen können.
Das Alles war noch am ersten Tage, am folgenden wollten sie Nachmittags nach Sollnitz zurückfahren, und ich hatte wenig von ihnen, da sie mit Packen beschäftigt waren und Julius überdies sich ziemlich verdrießlich und störrisch zeigte. Sein Inspektor war früh Morgens dagewesen, um mit ihm zu conferiren, darauf schob ich’s; und ich war noch nicht Landwirth genug, um mich für die Zustände, welche ihn etwa geärgert, besonders zu interessiren und ihn extra darum zu befragen.
Als die Reisestunde da war, trieb er ungebehrdig und heftig zum Aufbruch, zankte mit aller Welt, krittelte über Alles, so daß auch wir Anderen nach und nach verdrießlich wurden und ihn zum Kukuk wünschten. Mich dauerte Livia grenzenlos – gegen sie richtete sich das Meiste seiner Widerwärtigkeit, und wenn ich ihren jubelvollen Wunsch, an schönen Tagen lustig durch’s Land zu fahren, mit der Fahrt verglich, die ihr nun bevorstand, so zuckte mir das Herz und ich verfolgte das geliebe Geschöpf mit traurigen Blicken. „Warum kann sie nicht mit mir!“ klang es dumpf durch mich hin.
Da der Wagen endlich vorgefallen und bepackt war, da wir zum Abschied vor der Thür standen und Livia einstieg, wandte Julius sich an mich. „Ich höre zwar, daß Du andere Pläne hast, die es besser scheinen lassen, wenn Du bald hinüber gehst und drüben weilst,“ sagte er mit einem gar eigenen Lächeln, indem er mir flüchtig die Hand reichte und entzog, „aber meine Einladung gilt, und wenn Du magst, so komm nach Sollnitz.“ – „Was für Pläne?“ fragte ich verwundert ihn anschauend. – „Ach bah, Du weißt schon,“ versetzte er, den Fuß auf den Tritt setzend; „jetzt ist keine Zeit zum Schwatzen. Also – wie Du willst! Fahrt zu!“ – Er warf sich in die Ecke der Kutsche zurück, Livia nickte uns mit mildfreundlichem Blicke zu, und der Wagen rollte vom Hofe.
„Na, was dem in die Krone gefahren sein mag!“ meinte der Vater mit gemächlichem Kopfschütteln.“ – „Möcht’s auch wissen,“ sagte ich ernstlich verletzt durch den Vorgang; „ich begreif’ es wenigstens nicht, wie ein paar dumme Wirthschaftsaffairen einen Menschen so grob machen können. Oder war es etwas Anderes?“ Und als ob mir Jemand mit Gewalt den Kopf drehe, blickte ich bei den Worten rasch auf die Mutter – der Gedanke durchschoß mich: hat sie mit ihm geredet, etwa wie neulich mit mir? Ihre Züge waren kalt und unbewegt, die harten Augen starr dem Wagen nachgerichtet. Ich ging mit dem Vater ins Haus.
Ich ließ ein paar Tage vergehen, bevor ich nach Sollnitz hinüberritt, denn Ihr begreift, daß mir nach solcher Einladung nicht viel Lust geblieben war, häufig von derselben Gebrauch zu machen, und um das zu wiederholen und ein für alle Mal damit abzumachen – wie tief, innig und glühend ich auch für meine Cousine fühlte, ich hatte nicht im Sinn, ihren Frieden zu stören, sondern wollte mit diesem Gefühl, gleichviel wie, in meinem Innern fertig werden. Fliehen, wie es ein Anderer vielleicht gethan, konnte und wollte ich nicht, da ich dazu nicht feig genug war und der Mutter und dem Baron Gerold auch keine Veranlassung geben durfte, ihren Argwohn für gerechtfertigt zu halten und auch Livia selbst unglücklich zu machen. Weiter mag ich auf dies Alles nicht eingehen, es verletzt mich und thut mir weh, heute so gut wie vor vierzig Jahren.
Mein Bruder war nicht daheim, als ich anlangte, und Livia empfing mich allein. Sie war freundlich und innig, wie immer, aber nicht frei, so daß, zumal bei meinem Zustande, unsere Unterhaltung bald stockte und immer einsylbiger wurde. Nach einiger Zeit gingen wir in’s Kinderstübchen, den Knaben in seiner Wiege zu betrachten, und dann nahm sie ihren Strohhut und forderte mich auf, mit in den Garten zu kommen und die neuen Anlagen zu besehen, auf die Julius viel Zeit und Geld verwendet hatte. Draußen schritt sie jedoch durch diese Partien schnell hindurch und wandte sich dem Küchengarten und der Bleiche zu, wo die Dorffrauen bei ihrer Arbeit waren. Sie sah nach dieser, sie redete mit der einen oder anderen und lenkte dann in den breiten Steig zurück, den die damals noch jungen Obstbäume angenehm beschatteten. Da gingen wir in gleichgültigen Gesprächen ein paar Mal auf und ab. – „Julius bleibt lange aus,“ sagte ich endlich, um nur etwas zu sagen. „Versäumt er sein Frühstück oft so?“
Sie ließ ein paar Augenblicke vergehen, ohne mir zu antworten, dann aber schöpfte sie hörbar Luft, als werde ihr ein Entschluß schwer, und plötzlich, ohne sich zu mir zu wenden, ohne die Augen zu erheben, begann sie: „Felix, es nützt nichts, ich muß offen mit Dir reden. Dein Bruder ist in sehr übler Stimmung,“ fuhr sie ganz gegen ihre Gewohnheit rasch sprechend fort, „so daß Alle darunter leiden, während doch Niemand weiß, was ihn in solcher Weise verdrießen mochte. Hauptsächlich aber gegen Dich hat er etwas, Gott weiß was, denn es bleibt bei Andeutungen, Cousin, die ich nicht verstehe oder doch nicht verstehen – genug, die mir unfaßbar sind. Es fing neulich schon, noch in Hohensee, an und ist, zumal seit gestern der Baron Gerold hier war, immer schlimmer geworden, auch – ich will ganz offen sein – auch gegen mich.“ – „Livia!“ unterbrach ich sie heftig. – „Es ist, wie ich sage,“ versetzte sie mit einem fast finsteren Lächeln, „und da es so ist, Felix, so will ich Dich bitten –“ – „Nichts, nichts!“ fiel ich ihr noch einmal in’s Wort und fügte knirschend vor Zorn hinzu: „ich muß und will also mit dem Herrn endlich einmal reden, denn diese Einmischung in fremde Angelegenheiten mag sich gefallen lassen, wer will, ich thu’ es fürder nicht mehr!“
„Sei nicht thöricht,“ sprach sie nach einer kleinen Pause. „Was erreichtest Du damit? Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ungeschehen machen; das Gift ist schon beigebracht und wirkt nun fort. – Ich habe unser Zusammensein überdacht,“ redete sie mit sinkender Stimme weiter; „ich habe Dein Wesen zu mir und das meine zu Dir mir so recht klar gemacht, und sei es wie es sei, Trauriges find’ ich wohl, aber ein Unrecht nirgends. Aber was hilft uns das, wie Dein Bruder nun einmal denkt? Und somit bitt’ ich Dich, Felix – wenn Du mich so lieb hast, wie ich es seit jenem Morgen drüben glaube,“ schloß sie, und da sie dabei die Augen zu mir erhob, sah ich’s wohl, daß sie von aufsteigenden Thränen verschleiert waren, ihre Wange war bleich und ihre Stimme bebte, – „wenn Du mich so lieb hast, so kommst Du für’s Erste nicht mehr herüber und lässest Dir und ihm Zeit, auch innerlich die rechte Ruhe wieder zu finden. Nicht wahr, Felix?“ – „Livia,“ sagte ich nach einer Pause, und mein ganzes Innere war eine Trauer, „Du weißt es also, wie es steht; mit Willen aber hast Du es von mir nicht erfahren – oder doch?“ – „Nein,“ entgegnete sie fester, „Du hast mich nicht ein Wort hören, nicht einen Blick sehen lassen, die zu hören oder zu sehen mir hätte empfindlich sein, die irgend Jemand Dir oder mir hätte zum Vorwurf machen können. Daß ich es trotzdem errathen, dafür kannst Du nicht, es konnte nicht anders sein. Einen Vorwurf mache ich Dir auch gewiß nicht. Laß uns jetzt nur wachen, daß das Alles in den Grenzen bleibt, welche demselben für uns gezogen sind. Und daher bitte ich Dich noch einmal, gieb ihm und Dir Zeit, wieder ruhig zu werden.“ – –
Ich sage Euch nichts von dem, was in mir vorging, während ich das junge Wesen so, gerade so, zu mir reden hörte; es war zu schwer und traurig, oder auch zu heilig für beschreibende und erklärende Worte. Es genügt die Anführung, daß ich sie niemals mehr bewundert, niemals sie heißer, inniger und reiner geliebt, als in diesem Augenblick. Eine solche Trennung aber, wie sie sie verlangte, schien mir unmöglich und gefährlich zu sein, gefährlich, weil wir dem Feinde damit Gelegenheit boten, uns noch mehr und mit einem Anschein von Recht zu verdächtigen. Ich sprach das auch gegen sie aus und schloß meine Rede mit den Worten: „Verbanne mich nicht, Livia, wenigstens nicht so ganz. Glaube mir, ich finde und habe mehr Kraft ruhig zu werden, wenn ich Dir von Zeit zu Zeit nahe bin und mich an Deinem Wesen stärke, und wenn Julius uns nur öfters zusammensieht, muß auch er wieder vernünftig und ruhig werden.“ –
Sie ging ein paar Schritte schweigend neben mir weiter, dann schüttelte sie leicht den Kopf und sagte, ohne aufzusehen, und so leise, daß ich’s kaum verstand: „Nein, geh’, Felix! Es ist für uns Alle besser! – Geh, und wenn Du’s vermagst, so denke an das, was ich von Helenen gesagt. Da wäre uns Allen geholfen – [755] uns Allen!“ – Ich blieb stehen und starrte sie an wie betäubt – es war ein doppelter Schlag, der mich traf. „Livia!“ murmelte ich. – „Es ist so,“ versetzte sie ebenso leise wie vorhin. – „Hältst Du mich dessen im Ernst für fähig?“ fragte ich. – „Ja,“ sagte sie und schlug die Augen zu mir auf mit einem Blick, wie ich ihn nie vorher und nie nachher in ihnen gesehen, so melancholisch war er, so stolz und – so gewaltig, das ist das rechte Wort! – „Ja, denn man kann Alles, was man muß, Felix, Alles. Ich hab’ es trotz der Liebe vermocht, weshalb sollten wir’s nicht aus Liebe thun können?“
Das war, wie es in den alten Legenden zu lesen ist – man sieht plötzlich den ganzen Himmel geöffnet vor dem trunkenen Blick, – nur einen einzigen Moment und dennoch lange genug, um sein ganzes Leben davon durchleuchtet zu sehen.
Ich erwiderte nichts, denn ich wußte nichts. Ich weiß auch nicht, ob und was sie vielleicht noch geredet, ob und was ich etwa geantwortet, noch wie lange das Alles gewährt. Ich hörte zum ersten Mal wieder, als sie nach einer Weile sagte: „Da kommt mein Mann. Laß uns ihm entgegen gehen.“ Ich folgte ihr mechanisch.
Julius war nicht unfreundlich. „Gott bewahre, welch ein prosaischer Spaziergang für Euch poetische Menschenkinder!“ meinte er in einem gewissermaßen spöttischen Ton, als er mir die Hand schüttelte. „Meine Anlagen hätten wohl eher einen Blick verdient.“ – „Ich hatte mit den Frauen zu reden,“ versetzte Livia gleichgültig, „und Felix begleitete mich. Jetzt wollten wir zu den Anlagen.“ – „Nein, erst zum Frühstück, ich habe Hunger,“ sprach er lachend, und wir gingen hinein, wir frühstückten, plauderten, gingen wieder hinaus zu den unglücklichen Anlagen, kurz – ich weiß nicht, was noch Alles geschah. Halb war ich wie im Rausch, halb wie im Traum, so daß es ihm auffallen mußte und er mich nach dem Grunde meines Gebahrens fragte. „Ich habe unbändiges Kopfweh,“ versetzte ich mit der bekannten, stets wieder glaubwürdigen Ausflucht. „Die Sonne hat mir auf dem Herritt zugesetzt.“ Er gab zu, daß es ungewöhnlich heiß, und bedauerte mich auf’s Herzlichste. Nach und nach kam ich denn auch wieder zu größerer Ruhe und Fassung, wie es Livia’s stillem Walten, ihrer ganzen liebreizenden Weise gegenüber nicht anders möglich war.
Gegen Mittag ging er noch einmal hinaus, und wir Zwei waren allein, ich in der Sophaecke, sie am Nähtischchen in der Fensternische, die sie, was ich damals nur in ihrem Zimmer gefunden habe, mit Epheuranken zu einer grünschattigen Laube gemacht hatte. Nach einem langen Schweigen sah sie auf und begegnete meinem Auge, das bisher wie träumend auf ihr gehaftet, mit einem schwermüthigen, fast traurigen Blick. „Du siehst es ein, Felix, so kann es nicht fortgehen,“ sprach sie. „Ich ginge an diesem Heucheln und Lügen zu Grunde. Julius wird Dich sicher einladen zu bleiben oder wieder zu kommen. Was wirst Du antworten?“ – „Du weißt es wohl, Livia,“ versetzte ich traurig und stand auf und ging langsam im Zimmer umher. „Dein Wunsch, vor allem aber Dein Friede sind die bestimmenden Mächte meines Daseins.“ – Da war sie mit einem Mal neben mir und reichte mir beide Hände und sagte, die Augen voll Thränen zu den meinen erhoben: „So will ich Dir jetzt Adieu sagen, Felix. Gott behüte und stärke Dich und vergelte Dir, was Du an mir gethan und noch thust. Und wie weit und auf wie lange wir von einander gehen – im Herzen bleiben wir einander nah. Nicht wahr, Felix, das ist keine Sünde? – Adieu, Felix!“ – Ihre kleinen Hände preßten die meinen noch einmal fest und lange, sie legte einen Augenblick, aber auch nur einen Augenblick, den Kopf gegen meine Schulter und litt es, daß ich leise mit der Hand über ihr weiches Haar strich, unfähig einen Laut von mir zu geben, und als sie sich wieder aufrichtete, lächelte sie mich innig an und sprach: „Und nun Muth, mein Freund, und mit tapferem Sinn in’s neue Leben! Das alte ist abgethan!“ –
An Vorwänden, die nicht einmal dringende Einladung des Bruders abzulehnen, fehlte es mir nicht, und so schied ich am Abend von Sollnitz. – Jetzt machte ich noch ein paar kleine Reisen, dann war Trinitatis da und ich hatte die Güter zu übernehmen, denn ich wollte wenigstens den Versuch machen, ob mir das Wirthschaften gefallen könne. Ich saß denn bald auch bis über die Ohren in all diesen Dingen und kam wenig aus meinem alten Hause, selten zu Büren’s, seltener noch nach Liebenhagen, da ich des Onkels Weise fürchtete, in der er mich stets an Livia zu erinnern liebte, und gar nicht hieher nach Hohensee. Von Briefschreiben war, wie ich schon früher gesagt, nie viel zwischen uns die Rede gewesen, jetzt hörte es ganz auf, und wenn ich nicht dennoch einmal in Liebenhagen war oder ein Bekannter bei mir einsprach, hörte ich Wochen- und monatelang von daheim kein Wort. Bei meinem Schwager Büren, muß ich noch hinzufügen, würde ich häufiger gewesen sein, hätte ich an ihm und meiner Schwester nicht eine Befangenheit wahrgenommen, die ich aus seinen, ihm jetzt sicher drückenden, Aeußerungen in der Nacht nach der Taufe nur halb zu erklären wußte, der ich aber jedenfalls keine Lust hatte, weiter nachzuforschen. Mit Gentzkow’s, um auch das zu erwähnen, kam ich kaum ein oder zwei Mal in Berührung. Daß es nicht weiter ging, brauche ich Euch nach allem Bisherigen nicht erst zu sagen.
Bald nach der Ernte, gegen Ende Augusts, kam mein Vater seinen Bruder zu besuchen und auch bei Büren’s und mir einzusehen. Er zeigte sich – als Landwirth war er nichts weniger als gleichgültig oder phlegmatisch und verstand sein Geschäft meisterlich – wohl zufrieden und durfte es sein, da ich gethan, was möglich war. Das war der Einzige der Meinen, den ich in all dieser Zeit sah, und ich erwähne seines Besuches nicht umsonst. Denn als ich mit ihm und Büren in Liebenhagen am Tisch saß und nach dem schweren Diner noch tüchtig fortpoculirt wurde, sagte er, nachdem er sich durch einen tiefen Trunk gestärkt: „’s ist hier doch besser als in Hohensee, da zeigt sich keine Menschenseele mehr als mein Herr Schwager, und wir leben wie die Mönche. Was plagt eigentlich Euch Menschengesindel, daß Ihr gar nicht einmal einseht? Du, Hans Peter, kommst auch nicht mehr nach Sollnitz, merk’ ich?“ – „Wie sollt’ ich?“ versetzte der – er hatte schon wieder die Art von Rausch, die ihn lebhafter machte – und er sah dazu grimmig aus. „Habe nicht Lust mit Fünften drein zu schlagen, und müßt’ es doch.“ – Der Vater zuckte die Achseln, Büren sah finster vor sich nieder, ich wußte nichts zu sagen, sondern sah nur Einen nach dem Anderen forschend an. Allein ich erhielt weder so noch so Antwort.
Und ich erhielt sie auch nicht, als ich am nächsten Tage, da der Alte wieder fort war, zu Büren’s hinüberritt, um mir einmal Schwester Hedwig vorzunehmen. Sie hatte hunderterlei Ausflüchte und Absprünge, sie wußte zu scherzen und mich gewissermaßen wieder zu beruhigen. Dann kamen die Kinder und mein Schwager dazwischen, so daß ich das Gespräch fallen lassen mußte, und wieder ein paar Tage daraus zwang mich mein erstes größeres Korngeschäft zu einer Reise nach Stralsund, wo ich obendrein durch allerlei Freunde und Bekannte aufgehalten wurde und in ein ziemlich krauses Leben gerieth. Denn, Vetter, solch eine Junggesellenwirthschaft, wie ich sie seit den Juni geführt, bietet zumal bei den Gedanken und Gefühlen, welche ich in mir hatte, nicht gerade Gelegenheit zum soliden Lebenswandel. Ein Kopfhänger war ich nie gewesen und ward es auch jetzt nicht. Ich schrak vor nichts zurück, ich verlangte nach Saus und Braus, auch um alles, was in mir hauste, zu übertäuben, und alles das, was späterhin das Land zum Lachen oder Staunen oder sich Aergern brachte, nahm schon damals seinen Anfang, und man wußte schon vom „Junker von Hohensee“, wie man mich der Unterscheidung von Vater, Onkel und Bruder wegen hieß, vielerlei zu erzählen.
Als ich Morgens vor der Abreise über den alten Markt ging, um ich weiß nicht was noch zu besorgen, begegnete mir ein Bekannter aus der hiesigen Gegend. „Ei sieh da, der Junker!“ sagte er, „habe Euch lange nicht gesehen, Felix. Wie geht’s, wie steht’s?“ Und nachdem ich die passende Antwort gegeben und wir noch hin und her geredet, meinte er: „Weßhalb kommt Ihr eigentlich gar nicht mehr zu uns herüber? Im Vertrauen, ist’s wahr, daß Ihr Euch mit Julius überworfen? Verdenken könnt’ ich’s Euch nicht, er ist ein widerwärtiger Gesell geworden, und wie er sich damals zu dem Brauthandel herbeigelassen, da er doch wußte – genug, es war nicht rühmenswerth! Aber nun haben sie denn auch ihre Strafe. Eine so gemachte Ehe konnte zu nichts Gutem führen.“
– „Was heißt das Alles?“ fragte ich, bebend vor Aufregung. „Wißt Ihr’s wirklich nicht?“ forschte er, mich fixirend. „Euer Name wird doch auch dabei genannt.“ – „Mensch, redet oder schweigt, aber foltert mich nicht!“ rief ich ungestüm, und da sagte er kopfschüttelnd: „Aber ich verstehe das nicht! Ihr müßtet es doch eher als wir Andern alle wissen, daß die Ehe Eures Bruders so unglücklich wie möglich und die Scheidung kaum noch zu vermeiden [756] ist.“ – Ich starrte ihn ein paar Augenblicke an, als sei er oder ich wahnsinnig geworden, so wahnsinnig erschienen mir wenigstens diese Nachrichten. Und dann drehte ich mich ohne ein weiteres Wort ab, stürzte zurück zu meinem Gasthof, ließ anspannen und fuhr, so schnell es die Wege erlaubten, der Heimath zu. Jetzt war die Zeit zum Handeln für mich gekommen, und ich ballte die Faust – wehe ihnen!
Dennoch war es schon über Mitternacht, da ich zu Hause anlangte, und für den Augenblick nichts mehr zu thun. Am Morgen jedoch trat ich bereits um neun Uhr, wo Büren stets draußen zu sein pflegte, zu Schwester Hedwig in’s Zimmer und sprach: „Das und das habe ich gehört und nun will ich reinen Wein eingeschenkt haben. Thust Du es nicht, so zwinge ich Julius oder Livia selbst dazu. Was ist vorgefallen – damals und jetzt?“ – Sie machte Ausflüchte, sie weinte ein wenig, und endlich kam sie zum Sprechen.
Ich kann nicht viel davon reden, Vetter, es regt mich stets von Neuem wieder gar zu sehr auf und es würde uns auch allzu weit führen. Haltet fest, daß ich bei Mutter und Onkel Gerold nie beliebt war und der Letztere besonders mir jene Worte niemals vergab, die er meinetwegen vom Vater zu vernehmen hatte. Haltet fest, daß ich dagegen des Vaters und Hans Peter’s Liebling war, so weit die beiden phlegmatischen Brüder sich mit dergleichen Gefühlen abgaben. Diese wünschten meine Verbindung mit Livia, deren Vermögen ein sehr ansehnliches war und mich in Verbindung mit dem meinigen zum reichen Mann machen mußte. Die andere Partei gönnte mir das alles weniger als Julius, den sie ihrerseits bevorzugten; der Baron, der es sah, wie Livia’s Eltern an dem Plane hingen, erhielt dabei auch Gelegenheit, zugleich dem halb verachteten, halb gehaßten Hans Peter einen Schlag zu versetzen. So betrieb man denn die Sache, seit Livia’s Mutter todt und das Mädchen selber erwachsen war, immer ernstlicher. Man überschrie den Alten, man bestürmte und quälte das Kind, man reizte Julius auf alle mögliche Weise zu ernstlicher Bemühung um die ihm sonst ziemlich Gleichgültige, man brachte zuletzt meinen hartnäckig entgegenhaltenden Vater dadurch herum, daß Julius endlich in den von ihm gewünschten Gütertausch zu meinen Gunsten einwilligte. Mit einem Wort, man verhandelte das arme Geschöpf wie eine Sclavin.
Ihr Widerstand war verzweiflungsvoll, aber vergeblich gewesen. Wie sehr sie mich auch liebte – diese Liebe konnte kein Halt für sie bleiben, da ich fern war und sie nichts von mir und meinen Gefühlen wußte. Die Mutter nahm sie dann nach Hohensee hinüber, man stellte ihr Gott weiß was alles vor, daß ihr Vater selber die Ehe mit Julius wünsche, daß ich so gut wie verschollen, vielleicht verloren. Meines Bruders Bewerbungen wurden dringender, die Hetzereien und Quälereien gingen fort und nahmen zu, und endlich sagte sie ja, und ihr Vater brachte es gleichfalls zu der Antwort: „Nun denn, in’s Teufels Namen, meinetwegen! Wenn sie ihn will, was kann ich thun? Aber – ’s geht nicht gut.“
Als sie das Mädchen fest und verheirathet hatten, fingen sie an, am Kaufpreise, dem Gütertausch, zu rütteln und Julius einen Floh über den anderen in’s Ohr zu setzen. Dabei war man noch, als ich Weihnachten nach Hause kam und Livia, wie Hedwig meinte, durch die unvorsichtig ihr mitgetheilte Nachricht von meiner Ankunft – ich war durch Sollnitz gefahren und der Inspector hatte mich erkannt – in jene schwere Krankheit gestürzt wurde. Dann ging alles weiter, wie Ihr wißt oder doch Euch selber sagen könnt; Julius’ Eifersucht, durch der Mutter Bemerkungen und des Barons Hetzereien angefacht, kam hinzu und brachte ihn vollends um Ruhe und Ueberlegung, um Takt und Billigkeit. Das Leben in Sollnitz sollte das traurigste sein, zumal – es ist eine Schmach, dergleichen auch nur wieder zu erzählen! – zumal seit Livia die Aussicht hatte wieder Mutter zu werden. „Und wenn Julius eben so denkt, wie Onkel Gerold neulich einmal gegen Büren von sich hat fallen lassen,“ setzte Hedwig hinzu, indem sich ihre sonst so freundlichen Augen mit fast finsterem Forschen auf mich richteten, „daß – daß – ich kann das nicht aussprechen, Felix! Du wirst es ja auch wohl verstehen und mußt am besten wissen, was daran wahr – –“ – „Hedwig!“ unterbrach ich sie drohend. – „Ich sage ja nichts,“ sprach sie abwehrend. „Ich habe überhaupt nichts mehr zu sagen, als daß Julius neulich mit dem Vater einen heftigen Zank wegen all dieser traurigen Geschichten gehabt und gemeint haben soll: er komme eben überall zu kurz. Die Güter habe man ihm abgeschwatzt, ohne daß er gewußt, was er hingebe; seine Frau sei niemals die Seine gewesen und jetzt ihm vollends entzogen. – Ich vertrete dies aber nicht,“ schloß sie. „Es stammt von Onkel Gerold.“ --
Als ich mit diesen Nachrichten Mittags wieder zu Hause anlangte, fand ich Botschaft von meinem Onkel, ich solle so bald wie möglich nach Liebenhagen kommen. – Es ging nach der langen, stummen Pause jetzt eben Schlag auf Schlag, Vetter. Denn als ich am Nachmittag alle Anordnungen für meinen morgigen Ritt nach Hohensee und zum Baron Gerold getroffen hatte und dann nach Liebenhagen hinüber kam, fand ich den Alten vor ein paar theils leeren, theils vollen Flaschen in so zu sagen grimmig fröhlicher Laune, und er schrie mir entgegen: „Na, Junge, nun ist’s richtig. Sie ist da und will mit Dir reden.“ – „Wer ist da?“ fragte ich entsetzt. – „Dummer Kerl, wer denn anders als meine Kleine?“ erwiderte er im früheren Ton. „Mach’, daß Du zu ihr kommst, und bringt die Sache in Ordnung.“
Und im Garten trat mir Livia entgegen und sie sprach zu mir: „Felix, ich habe Deinen Bruder und mein Kind verlassen, denn ich wäre wahnsinnig geworden, wenn ich noch länger an seiner Seite hätte leben sollen. Ich habe Deines Bruders Liebe nie besessen und ihn nur selten freundlich gefunden; allein ich konnte mich darüber nicht beklagen, vermochte doch auch ich ihm nichts zu bieten als den ehrlichen Willen, eine pflichtgetreue Frau und Gattin zu sein. Das habe ich gehalten und würde es mein Lebenlang gehalten haben, wenn ich nicht, erst neuerdings, erfahren hätte, daß man mich meinem Vater abgelogen und dem Deinen abgehandelt, wenn ich nicht seit gestern in Deinem Bruder die Spuren eines Verdachtes wahrgenommen hätte, der mich und Dich beschimpft, der mich auf ewig von ihm trennt.“ – „Geduld, Geduld!“ murmelte ich, da sie inne hielt; „wir rechnen ab, und – der alte Gott lebt noch.“ –„Felix,“ sagte sie lebhaft und ergriff meine Hand, „Du versprichst mir bei Deiner Ehre, daß Du nichts gegen Deinen Bruder unternimmst, er ist nicht der Hauptschuldige, sondern ein blindes Werkzeug in fremden Händen. Doch genug von all’ diesem Schmutz,“ setzte sie finster hinzu. „Ich rede nicht darüber mit Dir. Ich habe keinen Menschen in der Welt, dem ich meine Angelegenheiten, meine und meines Kindes Zukunft und Ehre anvertrauen könnte, als den wackeren Magister und Dich – ja, als Dich, Felix, Dich, der mich liebt, “den ich lieb habe, den ich kenne als einen Mann von Ehre und Treue. Euch Beiden vertraue ich mich ruhig an, bei Euch Beiden weiß ich mich gesichert,“ fuhr sie fort und drückte mir fest die Hand, und so wehmüthig das Lächeln war, das über ihre bleichen Züge flog, so innig war es auch. „Und gerade weil wir fortan äußerlich auf’s Strengste und für immer geschieden sind –“ – „Livia!“ unterbrach ich sie entsetzt. – „Weißt Du es anders?“ fragte sie todesernst. „Darfst Du mich, darf ich Dich fortan auch nur dem leisesten Vorwurf aussetzen, gerade nach jenem schmachvollen Verdacht, der sich – hier und da zu regen scheint? Felix, ich bitte Dich!“ fuhr sie fort, und die Thränen stürzten aus ihren Augen und sie erhob flehend zu mir die gefalteten Hände; „laß mich Dir vertrauen dürfen bis an meinen Tod! Gebrauche nicht Deine Gewalt über mich! Ich weiß nicht, wie weit sie gehen würde, aber wenn ich an alte Zeiten, an alte Träume und Kämpfe denke, ist mir’s zuweilen, als würde Deinem Willen gegenüber der meine unterliegen.“
„Und da es so steht,“ sagte ich hart, „willst Du, daß ich feige, wie Du, über unser Glück, über unser ganzes Dasein, über uns selbst, Livia, die feilen Ränke der Schurken triumphiren lasse, daß wir uns einem Vorurtheil opfern, das ich, ebensogut wie jene, so tief verachte, wie ich’s nicht aussprechen kann? Fordere von mir, was Du willst, aber hierzu bringst selbst Du mich nicht, Livia. Ich kann und will nicht von Dir getrennt sein. Sie sollen es erkennen, daß das Kleinod heller als je leuchtet, dessen Glanz sie frech zu trüben gedacht! Sie sollen es sehen, daß ich Dir das Glück wiedergebe, um das sie Dich betrogen. Ich muß nachholen, Livia, ich muß nachholen, was ich früher verträumt und versäumt!“ – Sie stand vor mir mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen, und erst nach einer Pause sah sie auf und mich an und murmelte flehend: „Schone mich, Felix!“ – „Hierin – nein, Livia!“ versetzte ich wie vorhin. „Der Mensch hat nicht nur ein Recht auf sein und der Seinen Glück, sondern auch Pflichten für und gegen dasselbe.“ – „Lasse uns hinein,“ sprach sie nach einem langen Schweigen. „Ich kann heut Abend nicht weiter. Morgen laß uns mit Mühl reden.“ – „Es sei wie Du willst,“ entgegnete ich [757] im Hineingehen. „Aber in diesem Falle wird auch Mühl mich entschlossen finden.“
So dachte und rechnete ich, dazu war ich entschlossen. Das Was? stand fest in meinem Sinne, um das Wie? kümmerte ich mich noch nicht; das mußte sich finden. – Und dennoch, Vetter, kam es Alles so ganz anders.
Livia zog sich in ihr Zimmer zurück; mit dem alten Onkel Wein zu trinken, spürte ich kein Verlangen, und so ritt ich heim, um am nächsten Morgen desto früher wieder da zu sein. Allein ich wurde aufgehalten, und als ich gegen neun Uhr in Liebenhagen anlangte, ließ Livia mich mit dem Bedeuten abweisen, sie habe mit dem Magister Mühl zu reden. – Ich setzte mich also mit dem Alten zum Frühstück und blieb dabei sitzen, bis Euer Vater kam und mich ihm in’s Pfarrhaus zu folgen bat.
Was wir da gesprochen haben, läßt sich in kurzen Worten sagen, obgleich es damals Stunde auf Stunde füllte. Livia hatte ihm nicht nur ihre Pläne, sondern auch unsere ganze Unterredung vom vorigen Abend bekannt. Daß sie vielleicht zu schwach sein werde, um meinem Drängen zu widerstehen, gestand sie zu, aber sie sprach auch die Ueberzeugung aus, daß wir miteinander niemals ein ruhiges, schönes und wahres Glück finden würden. Euer Vater schloß sich ihren Ansichten und Gründen nicht nur an, sondern verstärkte die letzteren noch durch Alles, was ihm Stand, Bildung und Erfahrung an die Hand gaben. Für mich war das Alles freilich noch verloren, und je mehr er redete und je weniger ich in Wahrheit einzuwenden wußte, desto finsterer erhob sich mein Trotz, desto zäher wurde mein Wille, desto grimmiger entschlossen ward ich, jetzt gleich, ohne Livia zu sehen, zu den Meinen hinüberzureiten und die Angelegenheit nach meinem Kopf zu ordnen. Dabei blieb es trotz seines sichtbaren Kummers, trotz seines endlichen Zürnens. Ich wollte zuletzt nichts mehr hören, sondern riß mich los und eilte hinaus. Da kam er mir dennoch nach, faßte fest meine Hand, sah mir ernst in’s Auge und sagte: „So gehen Sie denn hin, trotziger Mensch! Ich aber verzage noch nicht an Ihnen. Ich vertraue auf Ihre Ehre, Felix, und auf Ihre Liebe zu der Unglücklichen.“ – Ich ritt unbewegt fort.
Aber waren es diese letzten Worte, die Euer Vater zu mir in einem Tone sprach, der mich stets bis in’s Herz getroffen, oder war es die lange Einsamkeit während meines Ritts durch Flur und Wald, die Stille und der Friede um mich her, der ruhig schöne Tag mit seinem milden Blau, seinem milden Glanz, seiner milden Luft – es wurde nach und nach immer stiller in mir, ich wurde, so zu sagen, erst jetzt zugänglich für die Bitten derjenigen, die ich über Alles in der Welt liebte, und für die Mahnungen Eures wackeren Vaters. Und da ich in der Nähe des schwarzen Sees war, vermochte ich es nicht, jetzt zu Vater und Mutter zu treten mit den bösen Worten und wilden Plänen, die ich vorgehabt, sondern lenkte das Pferd ab, ließ es gehen und gelangte hierher, an diese Stelle und lag hier und grübelte und sann, zürnte und rang – mit mir selbst, Stunde auf Stunde. Und Euer Vater hatte Recht gehabt – die Ehre und die Liebe zu Livia gewannen’s. Ich sah es ein, wie Livia war und sein mußte, mochte das Glück an meinem Herzen sie berauschen und betäuben, den Frieden aber vermochte es ihr nie zu bringen oder zu erhalten. Ich entsagte. – Die Heimath blieb ihr, für mich nahm ich die Fremde, denn allerdings – zusammen konnten wir nicht bleiben, wenn einmal die Trennung unser Loos war. –
Von allen meinen Vorsätzen kamen nur zwei und auch diese nur theilweise zur Ausführung. Meinem Bruder hielt ich in dürren offnen Worten einen Spiegel vor, der ihn erbleichen und erbeben [758] ließ. Er sah seine Schuld schneller und tiefer ein, als ich erwartet, und nun, da er sein Weib auf immer und wirklich verloren, begann er ihren Werth richtiger und höher anzuschlagen, als er es jemals zur Zeit ihres Besitzes gethan. Denn was auch versucht wurde, Livia zu ihm zurückzubringen, sie gab niemals nach und hat ihn, so viel ich weiß, nicht wieder gesehen. Der wahnsinnige Verdacht, den der Unselige gegen sie angedeutet, hatte sie ihm für immer entzogen. Gerichtlich geschieden wurden sie nicht; man scheute allerseits das Aufsehen eines solchen Schrittes. – Nach drei Jahren starb sie auch schon und hinterließ ihre damals zweijährige Tochter ohne Einwendung dem Vater. Er hat das als ein Zeichen genommen, daß sie dennoch versöhnt geschieden.
Mit meinem Bruder vereint rückte ich dem Baron Gerold zu Leibe. Davon will ich jedoch nicht mehr reden, es würde ein Mißklang sein nach all dem zwar Traurigen, aber auch Guten und Schönen, was ich Euch zuletzt berichten mußte. Es genüge Euch zu hören, daß ich auch mit ihm leichter fertig wurde, als ich gerechnet, denn er war, wie die meisten Tyrannen und Eisenfresser, im Grunde eine durch und durch feige Seele.
Zwei Tage später war ich daheim und ordnete meine Angelegenheiten, und nach weiteren acht Tagen schrieb ich Livia den Abschiedsbrief, den ersten und letzten, den sie von mir erhalten, und zog wieder für manche Jahre in die Welt hinaus, ein ruhloser Wanderer. Wiedersehen wollte ich sie jetzt nicht – ich traute meiner Kraft nicht. Nachher, da ich ruhiger geworden, war es zu spät, sie war todt, und da konnte ich noch weniger daheim sein.
Erst im Jahre 1802 kehrte ich zurück und hauste auf den Gütern, mit aller Welt, nur mit den Meinen nicht, in Verkehr. Der Vater, der alte Hans Peter und Baron Gerold waren auch bereits gestorben; zu meiner Mutter und meinem Bruder wollte sich aber kein Verhältniß finden. Als Julius an dem unglücklichen Schuß, der ihn das Leben kostete und den, wie man ja weiß, armselige Thoren auf meine Rechnung schrieben, auf den Tod darniederlag, kam es dennoch zwischen uns zur vollen Versöhnung, und er befahl mir seine beiden Kinder an. So zog ich wohl oder übel nach Hohensee herüber und that für die Kleinen, was ich vermochte. Mein Neffe war aber eben ein Hohensee und ließ sich, da die Trommeln schlugen, nicht halten; er fiel bei Aspern. Meine Nichte kennt Ihr; sie ist nicht schön wie ihre Mutter, aber brav und edel wie sie, und mein ganzer Stolz’, mein ganzes Glück.“
Er stand auf und stampfte mit dem Fuß nieder, um die verschobenen Kleider wieder in Ordnung zu bringen. „Die Sonne geht unter,“ sagte er. „Es war ein schöner Tag, Vetter. Wer hätte das nach der rauhen Nacht, nach dem stürmischen Morgen gedacht! Aber es ist in der Natur wie im Leben. Als ich damals Livia entsagen mußte, war mir’s zuweilen, als werde es um mich her ewig Nacht bleiben, und nun – was habe ich doch für ein reiches, warmes, schönes und heiteres Leben gehabt, so viel Glück und Freude an den Kindern, so viel Glück und Segen von der Erinnerung an sie! – Fürwahr, Vetter, der Junker von Hohensee tauscht mit Keinem!“
Ich drückte ihm die Hand. Wir gingen schweigend nach Hause.
- ↑ Kleine, lebhafte und kräftige schwedische Pferde, noch bis auf den heutigen Tag in diesen Gegenden häufig und gern gebraucht.