Ein blinder Wegweiser, Sagenforscher, Dichter
[496] Ein blinder Wegweiser, Sagenforscher, Dichter. Aus dem Seeberg bei Salzungen, dem meiningischen Städtchen, welches sich durch seine ergiebigen Salzquellen, seine Badeanstalt und den einzigen See Thüringens auszeichnet, begegnet der Gast während der Saison wohl täglich einem hohen, ernsten Mann, der seines Weges meist allein geht, obwohl kein Menschenfeind aus den edlen Zügen seines Antlitzes spricht. Oft finden wir ihn an alten Lieblingsplätzchen, wo die Fernsicht am weitesten oder lieblichsten ist, wie im Anschauen der Herrlichkeit der Natur versunken. Und wenn dann ein Fremder zu ihm tritt, der des Mannes Schicksal nicht kennt, so entspinnt sich wohl ein Gespräch über die Reize der Landschaft, und der Gast des Berges ist dankbar erfreut, einen so genauen Kenner derselben gefunden zu haben. Im weiten Umkreise nennt der Andere ihm jede Bergspitze, bis zu den fernsten duftigen Höhen, jede Ortschaft, deren Kirchthurmspitze hervorragt, jeden überhaupt bemerkenswerthen Gegenstand. Und wie erstaunt erst der Fremde, wenn er seinem Mann in’s Auge schauen will und in ihm den Strahl des Lichtes erloschen findet!
Noch mehr geschieht dies, wenn der einsame stille Wanderer auf seinem Gange von Gästen angesprochen wird, die sich bei ihm nach irgend einer Wegrichtung nach einer sehenswerthen Stelle des Gebirges erkundigen. Mit der ausführlichsten Genauigkeit beschreibt er ihnen die Richtungen und die Merkmale, jeden Fels, jeden Baum, jeden Bach, jede Quelle, die den Wanderer zum Ziele führen hilft, – und wenn sie von ihm scheiden, merken sie oft erst, daß er selbst den Stab zum Wegweiser braucht, aber sonst keinen andern Führer, als sein treues Heimathsgedächtniß.
Wenn wir den Mann einen „Wegweiser“ nannten, so verzeihe der Leser, sollte diese Ueberschrift ihn getäuscht haben. Wir meinten damit keinen „Fremdenführer“, der um Lohn dient, sondern den freundlichen Ortskundigen, der gern Jedem auf den rechten Weg hilft. Der Leser merkt vielleicht unsere Absicht, aber ohne verstimmt zu sein.
Und derselbe Mann benutzt seine Landeskunde, um die alten geistigen Schätze des Volksthums zu heben. Mit dem Dichtergefühl, das am richtigsten und darum am leichtesten den schweren Pfad zum Volksherzen findet, wandert er von Ort zu Ort, um die mehr und mehr verklingenden Sagen des Landes zu sammeln, um von ihnen zu retten, was noch zu retten ist, und um sie der Gegenwart in einer Form wiederzugeben, die durch ihre klare, anschauliche Einfachheit und kernige Gediegenheit ihnen auch eine Zukunft im Volke sichert. Waren die Brüder Grimm für die deutsche und Ludw. Bechstein für die thüringische Sagenwelt darin seine Vorbilder, so gebührt ihm die Anerkennung, daß er hinter Beiden in keiner Beziehung zurückgeblieben, daß er sie in der edlen ungeschminkten Darstellung erreicht, in der Vollständigkeit der Ausbeute aber nicht unbeutend übertroffen hat.
Die Werra-Sagen von C. Ludwig Wucke – so heißt unser Mann – verdienen die allgemeinste Beachtung. Nicht blos der Fachmann, der Literator und Ethnograph findet hier eine neue reiche Fundgrube für die Kunde deutschen Volksthums von den ältesten Religionsgebräuchen, dem ältesten Aberglauben bis zu den späteren Volkssitten und zum Theil längst verschollenen Gebräuchen, sammt vielen geschichtlichen Anklängen; das Volk selbst erhält mit Wucke’s Sagen einen treuen Spiegel seines eigenen Wesens, kurz ein rechtes Buch für den Abendtisch des Hauses in jeder Familie, die ihres deutschen Wesens bewußt und froh ist.
Aber nicht blos zur Sagenforschung leitet und half ihm sein Dichtergefühl, es spricht sich selbstständig und beredt und mit immer frischer Schaffenskraft in Dichtungen aus, die ebenso oft den reichen Geist, wie selten das schwere Schicksal verrathen, das die poetische Ader in ihm erst flüssig gemacht hat. Um diese Andeutung zu erklären, vergönnen uns die Leser, sie in die Vergangenheit unseres Mannes zurückzuführen.
Ludwig Wucke, ein geborener Salzunger, ist jetzt ein Mann von achtundfünfzig Jahren. Er wurde für das Rechtsfach bestimmt, während das Herz ihn zu den Naturwissenschaften und der Malerei hinzog. Der Widerwille gegen den drohenden Actendienst verleitete ihn am Ende seiner Studienzeit, statt nach Hildburghausen an den Accessistentisch ohne Weiteres nach Holland unter die Kriegsfahne zu gehen. Dahin lockte ihn die Aussicht, nach Ostindien gelangen und dort in der Tropennatur als Forscher und Maler schwelgen zu können. Wirklich wurde der blühende, schöne und kräftige junge Mann nicht nur gern aufgenommen, sondern durch seinen Diensteifer rasch über die ersten Rangstufen hinweggeführt und zum Corporal befördert. Dabei fand er noch Zeit, eine höchst interessante Sammlung von Skizzen holländischer Orte und Scenen aus dem Volks- und Lagerleben theils zu zeichnen, theils in Farben auszuführen. Ein gediegener Kunstkenner rief später bei ihrem Anblick aus: „Hier blickt uns ein ganzer Claude Lorrain entgegen.“
Indeß Wucke auf das Commando lauerte, das ihn nach Ostindien versetzen sollte, brach die belgische Revolution aus und entschied auch sein Schicksal. Fröhlich zog er mit in’s Feld und ertrug mit glücklichem Jugendmuth alle Strapazen des strengen Vorpostendienstes seines Corps. Allein die ungewohnten klimatischen Verhältnisse übten bald auch auf ihn ihren Einfluß aus, seine vielleicht ohnedies durch Ueberarbeit angegriffnen Augen verfielen einer Entzündung, die, trotz aller Sorge, die den geliebten Kranken umgab, in die sogenannte ägyptische Augenentzündung (Ophthalmia aegyptiaca) ausartete, welche damals viele Opfer dem holländischen Heere forderte und der auch Ludwig Wucke’s Augenlicht erlag. Vollständige Erblindung war das Loos des jungen Mannes mit der glühenden Kunstseele. Aber eine wunderbare Wandelung ging nun in ihm vor. Seitdem das Reich der Farben ihm für immer verschlossen war, übte sein Geist die Gestaltungslust in der Sprache der Dichtkunst aus: er, der früher sich nie viel mit Versemachen abgegeben, ward nun zum Dicher, und nicht etwa zu einem gewöhnlichen, sondern zu einem unserer vorzüglicheren, dem eben so großer Gedankenreichthum wie Gefühlstiefe und zu beiden eine bedeutende Gewandtheit in der Beherrschung der Sprache zu Gebote steht. Wenige seiner Gedichte sind veröffentlicht, die meisten in meinem „Weihnachtsbaum“. Nur selten stürmt der alte Schmerz in ihm auf, und es ist sicherlich das höchste Glück in diesem Wehe, daß selbst jener Schmerz ihm zum Gedichte werden kann. Der bittere Schluß eines solchen lautet:
Sieh, wie wild der Sturm die Wipfel
Jener dunkeln Tanne schlägt!
Sieh nach jenes Berges Gipfel,
Der den ersten Schnee schon trägt!
Sieh den schönen Christbaum prangen,
Von dem Kerzenglanz umstrahlt;
Wie sich Freude und Verlangen
In dem Aug’ der Kleinen malt!
Siehe! Siehe! rufst Du immer,
Erdenwelt, Dir unbewußt!
Doch mir Armen blieb kein Schimmer –
Gott! mir sprengt der Schmerz die Brust!