Sie will sich duelliren

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Autor: Arnold Schloenbach
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Titel: Sie will sich duelliren
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32 und 33, S. 497–500, 513–516
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[497]
Sie will sich duelliren.
Von Arnold Schloenbach.
1.

Doctor Ludwig, ein berühmter Publicist und abgesetzter „außerordentlicher“ Professor des Staatsrechtes, war in dem Weichbild der kleinen Residenzstadt A. gleichsam internirt. Einige Stunden weiter, und er stand schon an den Grenzen eines Großstaates, dem er drohender Preßprocesse und schon erkannter Strafurtheile wegen entflohen war und der ihn nun steckbrieflich verfolgte.

Für einen Mann, welcher noch in der ganzen Kraft und Fülle seines Lebens und Strebens stand, wie Doctor Ludwig, für einen Mann von Welt und universeller Bildung, der sich seit vielen Jahren im Mittelpunkt der culturhistorischen Strömungen der Zeit bewegt hatte, für ihn mußte das Leben in der kleinen Residenz wohl die mannigfachsten Schattenseiten haben. Indessen hatte er auch schon so vieles und so Bedeutsames erfahren und genossen, gethan und gelitten, daß ihm dieses neue, kleine Stillleben für eine Zeit lang auch recht behaglich, vielleicht nothwendig erschien. Nur dann und wann ergriff ihn große Sehnsucht nach einem echten Kunstgenuß; denn derselbe Mann, der schon manchen Fürsten und Minister erbleichen gemacht hatte, den man von manchen Seiten her für den leibhaftigen Robespierre und Antichrist hielt, wenigstens ausschrie, er war gegenüber einem großen Kunstwerk so sanft und glücklich, wie nur irgend ein Mensch auf der Welt es sein kann, und dem feinen Organismus seiner Seele war ein großer Kunstgenuß zu Zeiten ebenso sehr Bedürfniß, wie seinem Körper die Nahrung, wie seinem Auge das Licht.

So war es auch jetzt wieder über ihn gekommen. Gerade zur selben Zeit, als für die nächste größere Residenz ein paar Concerte von drei der vorzüglichsten Virtuosen der Gegenwart angezeigt waren, von Joachim, Clara Schumann und Stockhausen, gerade zu derselben Zeit bekam Doctor Ludwig einen sehr anregenden Besuch. Graf Bernting war sein Landsmann, sein Jugend- und Universitätsfreund, bis zu einer gewissen Grenze auch sein Parteigenosse. Mit seinem lebhaften Verstande und mit seinem feurigen Herzen, war Graf Bernting der freie Sohn unserer Gegenwart, aber durch Muttermilch und Erziehung, Verwandtschaft und Gesellschaft und die dadurch gebotenen Rücksichten noch ein Sohn seines Standes, der Sohn eines alten, berühmten und reichen Geschlechtes. Und weil man ihn in der Verwandtschaft noch mit einer gewissen traurigen Zärtlichkeit und bangen Hoffnung wie einen kranken Sohn hätschelte und bevorzugte, den Demokraten in ihm noch mit einer scheuen, zurückhaltenden Delicatesse behandelte, so fühlte sich Graf Bernting gleichsam verpflichtet, dies dankbar zu erwidern und nicht rücksichtslos die Fäden zu zerreißen, die ihn noch an seinen Stand und an sein Haus knüpften, Indessen war er auch wieder so durchaus offen und rechtschaffen, hatte sich so wacker und tüchtig für seine politischen Freunde gezeigt, daß er bei diesen immer einen ehrenwerthen Vertrauensplatz einnahm. Wie er nun seinen ältesten Jugend- und Universitätsfreund Ludwig hoch vor allen Anderen hielt, so hatte dieser auch ihn sehr lieb und freute sich jetzt von ganzem Herzen, als der Graf ihn in seinem Stillleben zu A. laut jubelnd begrüßte.

Man kann sich daher denken, wie verlockend es für Ludwig sein mußte, als der Graf mit aller Lebhaftigkeit und Wärme seines raschen Wesens ihn aufforderte, jenem außerordentlichen Concerte in der Residenz D., wo der Graf sich jetzt für kurze Zeit aufhielt, beizuwohnen und ohne Weiteres mit ihm dahin abzureisen. Zwar konnte dies auf Umwegen zu Wagen geschehen, ohne das feindliche Gebiet berühren zu müssen, aber dann ging der Hauptzweck verloren: man kam erst um Mitternacht in D. an, und das Concert sollte Abends stattfinden. Es mußte also mittels Dampfes gereist und dabei eine jener verhängnißvollen Grenzen berührt werden. Die „strategischen Rücksichten und steckbrieflichen Bedenken“, wie der Doctor die Gründe seiner Internirung in A. nannte, wurden indessen von dem Grafen mit folgender Auseinandersetzung zu beseitigen gesucht:

„Wir fahren nicht mit dem Eilzug, sondern mit dem gemischten Zug, der auch bei der kleinen Zwischenstation W. anhält. Dahin begeben wir uns zu Wagen und fahren dann erst mit Dampf. Dort bist Du natürlich ganz unbekannt, hast also nicht zu fürchten, daß man Dir bei dem Einsteigen etwa ein freundliches Telegramm vorausschickt, und kein Mensch wird bei der nächsten Station unseres edlen Großstaates daran denken, daß mein Freund Ludwig incognito durchreist. Zu allem Ueberfluß nehmen wir für einen Thaler schnöden Trinkgeldes ein Coupé für uns allein, und wenn wir in die Nähe des feindlichen Gebietes kommen, schaust Du unablässig zu dem gegenüberliegenden Fenster hinaus, während ich vor dem Perronfenster stehen bleibe und bei irgend einer verdächtigen Erscheinung nöthigenfalls so lange Capriolen und Umstände aller Art mache, bis der Wagen wieder davon dampft. Dann sind wir bald wieder auf neutralem Gebiet, lachen den ehrenwerthen Großstaat aus und schwelgen noch am selben Abend in den herzlichsten Kunstgenüssen. Allons, mein Freund! Rasch entschlossen und frisch gewagt!“

„Nun denn, ihr schönen Geister von Joachim, Clara Schumann und Stockhausen, schützt mich vor den Gensd’armen meines angestammten Vaterlandes! Da hast Du mich, Roller, und ging’s zum Hochgericht!“ Mit diesen Worten reichte Ludwig seinem [498] Freunde die Hand. Bald fuhren sie dahin, ganz so, wie der Graf es angerathen hatte, und als sie die gefährliche Stelle des Großstaates erreichten, stand der Graf breit und sicher vor dem Perronfenster, während Ludwig in dem gegenüberliegenden Fenster lag und beginnende neue Bauten mit großer Aufmerksamkeit beobachtete. Des Grafen Blicke begegneten inzwischen mit heiterer Sicherheit den spähenden Augen der Polizeidiener, die an dem Wagenzug gemüthlich auf- und niedergingen. Schon hatte es zum zweiten Male geläutet, es schien keine Spur von Gefahr vorhanden und der Graf wippte vor Vergnügen mit dem Fuße. In diesem Augenblicke kam raschen Schrittes ein Herr heran, so, als wenn er eilig das Coupé besteigen wolle, welches der Graf gleichsam in Belagerungszustand hielt, und als er dicht vor demselben stand, fragte er mit artiger Verbeugung und leiser Stimme:

„Herr Doctor Ludwig?“

Der Graf stutzte, antwortete aber in demselben Augenblick:

„Zu dienen!“

„So haben Sie die Güte, mir zu folgen,“ und der höflich Bittende zeigte dem Grafen rasch und heimlich eine gewisse Münze, die derselbe denn auch sofort als das Abzeichen eines Polizeibeamten erkannte.

„Schön!“ antwortete er verbindlich, griff rasch nach den wenigen Reiseeffecten, die neben ihm lagen, und stieg behutsam aus – da ertönte das dritte Zeichen zur Abfahrt, ein Pfiff und der Wagen fuhr dahin. Bald war die Grenze überbraust und Doctor Ludwig drehte sich fröhlich um, ein fröhliches Wort auf den Lippen – er sah sich allein! Er war erstaunt, dann betrübt um den Freund, ärgerlich wegen der gestörten Freude. Doch war es auch ein gewisser Humor, mit dem er sagte: „Hat der Mensch sich schon wieder verspätet! Er ist darin unverbesserlich. Wenn er nur zum Concert wieder da ist, dann will ich schon zufrieden sein.“ Währenddem saß sein Freund neben dem Polizeibeamten in einem Wagen und fuhr dem alten Amthause zu; er lächelte geheimnißvoll, schmunzelte listig und bot seinem Begleiter die feinste Cigarre mit der feinsten Liebenswürdigkeit an.




2.

Als Doctor Ludwig in D. ausstieg, sah er sich noch einmal genau um, es war ja doch nicht unmöglich, daß der Graf aus irgend einem anderen Coupé ausstieg. Plötzlich blieb Ludwigs Blick an einer Frauengestalt haften, die in seiner Nähe stand, gleich ihm einen Erwarteten lebhaft zu suchen schien und mit auf der Brust gekreuzten Armen immer stolzer und verächtlicher auf die Aussteigenden schaute, je länger sie den Erwarteten vermißte und endlich wohl ganz aufgab. Es war eine junge Frau von schlanker Mittelgestalt, kühner Haltung und entschlossener Bewegung. Ihr Anzug war auffallend einfach und schien weit mehr für eine Bergtour als für Stadt und Gesellschaft berechnet, aber er war gediegen und geschmackvoll, sogar vornehm; wenigstens war die ganze Erscheinung vornehm und paßte vollkommen zu der crinolinlosen Kleidung und der ganzen Art, wie sie dieselbe trug. Die Frau hatte große tiefblaue Augen, die fast bedeckt waren von langen Wimpern, ihre rabenschwarzen Brauen stießen über der Nasenwurzel zusammen. Es gab das ihrem Antlitz etwas Finsteres und verrieth eine mächtig zurückgedrängte Leidenschaftlichkeit, wenn sie aber die Augen plötzlich emporschlug und ihre Blicke hinaussandte, dann war es, als ob ein heller Strahl aus schwarzer Wolke hervorglänze. Um ihren Mund lag etwas Scharfes und Spöttisches, was man an solchem Munde sonst nicht leicht gewahrt. Ihre Züge waren fein und regelmäßig, doch streng und blaß. Um ihren Hals ringelten sich volle tiefschwarze Locken.

Doctor Ludwig betrachtete die Frau mit Interesse, fast mit Staunen, und als der Blick ihres Auges ihn traf und einen Moment lang mit eigenthümlicher Forschung auf ihm ruhen blieb, da war es ein nie gekanntes süßes Erschrecken, was ihn durchfuhr. Nun aber glitt jener Blick kühl von ihm ab, und er begegnete demselben Ausdruck stolzer Verachtung, womit die Frau auch die anderen Fremden gemustert hatte. Dann sah er sie mit trotzigem Unwillen sich abwenden und langsam gehen. Er schritt dem Ausgang des Bahnhofes zu. Draußen erblickte er die ihm wohlbekannte, elegante, aber wappenlose Equipage und die ihm ebenfalls bekannte Dienerschaft des Grafen, die ohne Livrée, in einfachem Civil erschien. Er wollte auf den vor dem Wagen stehenden Diener zuschreiten, um ihm das Ausbleiben seines Herrn mitzutheilen, auch wohl die Equipage zur Fahrt in das Hotel Driburg – welches der Graf ihm schon als ihr gemeinschaftliches Absteigequartier bezeichnet hatte – zu benützen, als er jene merkwürdige Frau dem sichtlich sie erwartenden Diener aus kleiner Entfernung ein abwehrendes Zeichen geben sah. Der Diener lüftete den Hut, winkte dem Kutscher zu, sprang hinten auf und fort rollte die Equipage, während die junge Frau auf einem Seitenweg der Stadt zuschritt. Der Doctor sah ihr sinnend nach. Hatte diese Frau über die Equipage und Dienerschaft des Grafen zu gebieten? Gewiß! Hatte sie den Grafen selbst erwartet? Es schien ihm das jetzt außer Zweifel. Aber so allein; so ohne Begleitung eines Dieners, der ihr doch wohl zur Verfügung stand? Seltsam! sollte diese Dame vielleicht die Schwester des Grafen sein? Die Schwester, die er nie gesehen, von der er aber früher viel und oft als von einer ganz besonderen Natur gehört hatte? Aber die war ja weit, weit fort, in Madrid an den –schen Gesandten, den Grafen Timmelskirch, verheirathet. Sie hatte auch mit ihrem Bruder niemals in liebevollem Verkehr gestanden, ja, Ludwig erinnerte sich, wie der Graf ihm einst anvertraut hatte, daß seine adelsstolze Schwester ihn wegen seiner demokratischen Gesinnungen und Handlungen hasse. Später war nie mehr die Rede von ihr gewesen. So war es kaum anzunehmen, daß diese Schwester jetzt plötzlich hier sei, noch weniger, daß sie ihren Bruder an der Eisenbahn erwarte und zwar so ungeduldig, wie der Doctor dies deutlich bemerkt hatte.

Das Alles ging an Ludwig’s Gedanken vorüber, als er dem Hotel Driburg zufuhr. Er war wie träumend in den Wagen des Hotels eingestiegen und wie träumend kam er vor diesem an. Eben war er ausgestiegen, eben wollte er in das Haus eintreten, als er, durch einen besonders tiefen Bückling des Herrn Driburg aufmerksam gemacht, sich umwandte und die rätselhafte Dame von der Eisenbahn vor sich sah. Er konnte eine lebhafte Bewegung freudigen Erstaunens nicht unterdrücken.

„Wer ist diese Dame?“ fragte der Doctor leise, als sie am Wirthe vorüber stolz die Treppe hinaufstieg.

„Gräfin Timmelskirch,“ erwiderte Herr Driburg mit einer gewissen Feierlichkeit.

„Die Schwester des Grafen Bernting?“

„Hochdieselbe.“ Und Herr Driburg eilte „Hochderselben“ nach.

„Also doch, doch! Merkwürdig!“ murmelte Ludwig vor sich hin, indem er langsam einem Kellner nachschritt, der ihn zu einem Zimmer im zweiten Stock führte.




3.

Als Doctor Ludwig in sein Zimmer eingetreten war, lächelte der Kellner mit bescheidener Artigkeit ihm zu und nannte ihn bei seinem Namen.

„Ei, Joseph!“ rief Ludwig, sich erinnernd, ihm freundlich zu, war aber auch betreten, denn er glaubte sich hier nicht erkannt, wollte auch nicht erkannt sein, sondern nach Absprache mit dem Grafen als „Professor Monz“ erscheinen. Joseph gehörte indessen zu den geheimen Anhängern des Doctors und des Grafen, war auch Beider Landsmann, kannte ihre intime Freundschaft zu einander und versprach nun auf Wunsch des Doctors die strengste Discretion. Ludwig wußte, daß er sich darauf verlassen könne. Der Kellner ging und der Doctor sann darüber nach, ob es wohl angemessen sei, sich der Schwester seines Freundes vorzustellen und derselben über ihren Bruder die thunliche Auskunft zu geben. Er stellte sich mannigfache Gründe dafür auf, daß er dies thun müsse. Wieder aber sagte ihm sein demokratischer Stolz, daß sich diese Dame doch eigentlich recht hochmüthig benommen habe. Er wollte daher schließlich so wenig wie möglich mit ihr zu thun haben, war aber doch sehr begierig zu erfahren, warum sie hier sei und ihren gehaßten Bruder so lebhaft erwartet habe. Er sah also mit um so größerer Spannung der Ankunft seines Freundes entgegen, den er mit dem noch vor Beginn des Concerts eintreffenden Bahnzuge erwartete.

Inzwischen schrieb er in das Fremdenbuch: „Professor Monz aus Frankfurt.“

„Wünschen Sie auch ein Billet für das Concert, Herr Doctor?“ fragte Joseph.

„Gewiß, zwei! Das heißt, wenn der Graf kommt,“ und [499] Ludwig theilte dem Kellner rasch mit, wie er den Grafen plötzlich vermißt habe, als der Zug von jener Station abgefahren sei.

„Er wird gewiß bald nachkommen,“ meinte der Kellner und ging, den Doctor in sehr bewegter Träumerei zurück lassend.

Lange Zeit träumte dieser vor sich hin. Dann wollte er rasch hinaus zur Eisenbahn, dem sicher zu erwartenden Freunde entgegen. Aber da kam der Wagen des Hotels schon von dort zurück, Fremde mit ihm, Droschken ihm nach, doch der Graf blieb aus. Ludwig wurde immer unruhiger. Und was nun mit sich selbst und der Zeit anfangen? Der eigentliche Hauptzweck, das Concert, war ihm doch verleidet. Dann dachte er aber daran, ob die Gräfin hingehen werde. Und es wäre ihm sehr interessant, psychologisch interessant, zu beobachten, wie eine solche Frau solche Kunst aufnähme.

Kurz, Doctor Ludwig ging in das Concert, wenn auch nicht fröhlich. Er sah recht aufmerksam umher, und wir können nicht verschweigen, daß er nach der stolzen Gräfin ausschaute. Plötzlich sah er sie und bemerkte, daß auch sie aufmerksam umherschaute, und – er wußte selbst nicht recht, warum, – glaubte, daß dies ihm gelte. Jetzt hatte ihr Auge ihn gefunden, aber in demselben Moment wurde ihr Blick spöttisch kalt, ja feindselig, und stolz und hochmüthig schaute die junge Frau herab aus ihrer Loge auf ihn und das Publicum. Auf einmal war die Gräfin verschwunden und dem Doctor wurde es peinlich einsam und gedrückt zu Muthe. Spurlos zog die Musik an Ludwig’s sonst so empfänglichem Geiste vorüber. Fast schämte er sich dessen und er ging fort, ging nach Hause. Rasch einige Zeitungen durchflogen, ein Glas Wein hinuntergejagt, dann auf sein Zimmer, wo er noch lange ziemlich heftig auf- und niederschritt. Mit großer Spannung sah er dem nächsten Morgen, d. h. der Ankunft des Grafen entgegen, und seine Gedanken irrten von dem Freunde immer wieder hin zu der stolzen Gräfin. Diese aber wohnte gerade unter ihm, und während sie selber auf dem weichen Teppich ihres Salons heftig auf- und niederschritt, verwünschte sie jene Tritte, die über ihr so lange und so laut das Zimmer durchmaßen. Sie klingelte.

„Wer wohnt über mir?“ fragte die Gräfin ärgerlich den ihrem Ruf gehorchenden Kellner.

„Herr Professor Monz!“ war die Antwort.

„So? Der!“ sagte sie mit einem herben, kühlen Ton, indem sie eine artig entlassende Handbewegung machte. – Als der Doctor am andern Morgen die Klingel zog, erschien Joseph recht bedenklich, indem er eine Zeitung zwischen den Fingern drehte.

„Der Graf ist doch angekommen?“ rief ihm der Doctor schon in der Thür entgegen. Joseph zuckte die Achseln und reichte dem Fragenden die noch druckfeuchte Zeitung betreten hin. Der Doctor las rasch, gleich vorn die erste telegraphische Depesche: „Der bekannte demokratische Graf Leopold von Bernting ist gestern in E. verhaftet. Gründe noch unbekannt. Allgemeines Aufsehen.“

Ludwig wurde blaß, er war bestürzt und tief bewegt. Joseph sah ihn theilnahmsvoll und erwartend an. Der Doctor sammelte sich und sagte entschlossen:

„Ich gehe zu seinem Gesandten. Er wird, er muß mich hören.“

Bald war der Doctor angezogen und eilte unter beginnendem Regen dem Hotel des –schen Gesandten zu. Es lag dicht neben dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten. Wer aber beschreibt sein freudiges Erstaunen, als er aus dem weiten Gitterthor des Vorhofes den Grafen hervortreten sah!

„Leu!“ diesen alten Burschennamen rief er mit dem alten, freudigen Humor jener Zeit dem Freunde zu und eilte ihm entgegen.

„Setz’ Dich derweil da in meinen Wagen und warte, ich hab’ hier noch zu thun!“ antwortete der Graf, lustig mit der Hand winkend, bog rasch ein in den Vorhof des daneben liegenden Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten und war verschwunden. Ludwig schaute still lachend und in freudigster Bewegung ihm nach, dann begab er sich eilig nach dem bezeichneten Wagen des Grafen, denn es regnete bereits stark. Er öffnete den Schlag und – sah die Gräfin von Timmelskirch vor sich. In demselben Augenblick trat Wilhelm, der Diener, an die andere Seite des Wagens und rapportirte:

„Excellenz sind noch nicht zu sprechen.“

Die Gräfin hörte das mit einem zornigen Blick auf den Diener, machte eine heftige Bewegung mit Hand und Fuß und sagte: „Nach Hause!“ dann blickte sie erstaunt den Doctor an, der noch mit einem Fuß auf dem Tritt des Wagens stand, in sichtlicher Befangenheit eine feine Verbeugung machte und ein sehr überraschtes: „Entschuldigen Sie, Frau Gräfin!“ mit einem glänzenden Blick begleitete.

Um zunächst das plötzliche Erscheinen des Grafen vor dem Gesandtschaftshotel und dann dieses eigenthümliche Zusammentreffen zu erklären, müssen wir in unserer Erzählung etwas zurückgehen.

In der kleinen Zwischenstation W., wo unsere Freunde den Dampfwagen bestiegen hatten, wo Doctor Ludwig, wenigstens steckbrieflich, gekannt war und wo von der benachbarten großstaatlichen Polizeibehörde die Erinnerung an ihn immer neu aufgefrischt wurde, in dieser sonst so harmlos aussehenden Zwischenstation war dem Polizeiamtmann in E. telegraphirt worden, daß Doctor Ludwig mit nächstem Zuge dort ankomme und im Coupé Nr. 807 sitze. Wir kennen die Folgen dieses Telegramms. Nachdem es sich herausgestellt, daß es nicht der Gesuchte war, den man verhaftet hatte, war der Graf natürlich sofort entlassen worden und mit dem ersten Frühzug nach D. abgereist. Um die lästige Sache mit einem Male abzumachen und dann wieder ganz frei zu sein, war er einer erhaltenen Weisung auch stricte gefolgt und gleich von der Eisenbahn aus in das Gesandtschaftshotel gefahren. Er war hier schon durch ein Telegramm aus seiner Hauptstadt angemeldet, wurde also auch ausnahmsweise zu so früher Zeit angenommen und erhielt den freundschaftlichen Rath, sich sogleich noch zum Minister des Auswärtigen zu begeben, damit von diesem aus alle noch irgend möglichen Unannehmlichkeiten abgewehrt würden.

Graf Leopold hatte mit dem Wagen, den der Freund benutzen sollte, den Wagen gemeint, der ihn von der Eisenbahn hergebracht und der neben anderem unscheinbaren Fuhrwerk in der Nähe stand. Seine eigene Equipage hatte er selbst gar nicht bemerkt. In dieser aber war die Gräfin zu dem Gesandtschaftshotel gefahren, nachdem auch sie jenes Telegramm in der Zeitung gelesen hatte, das die Verhaftung ihres Bruders anzeigte. Der Gesandte aber, der sich ihres Namens nicht mehr entsinnen mochte, hatte sie nicht angenommen. Der Graf, der durch einen besonderen Eingang in das vertraute Privatboudoir des Gesandten eingetreten und davon gegangen war, hatte eben so wenig seinen Diener Wilhelm wie dieser ihn bemerkt. Und Wilhelm, wie der Kutscher August, richteten sich ganz nach der Weisung, die sie durch den Kellner Joseph erhalten: sie kannten den Doctor nicht, als dieser zu dem Wagen herantrat, ja, Wilhelm bog absichtlich zu der anderen Seite des Wagens hin, um desto ungenirter den Freund seines Herrn ignoriren zu können.

Auf diese Weise gestaltete sich das eigenthümliche Zusammentreffen des Doctors mit der Gräfin. Als Ludwig die Gräfin im Wagen erblickte, glaubte er sofort, daß dieselbe schon mit ihrem Bruder hierhergefahren sei, und da derselbe ihn so ohne Weiteres in diesen Wagen gewiesen, nahm er an, daß die Gräfin auch bereits über den Freund ihres Bruders orientirt sei. Er war daher nicht wenig betreten, als die Gräfin auf seine artige Begrüßung und Entschuldigung ihn mit herrischem Tone fragte: „Wer sind Sie?“

Seine Verlegenheit dauerte indeß nur einen Moment: an dem Tone der Gräfin gewann er sofort wieder seine feste Haltung; „Das wissen Sie ja schon, Frau Gräfin!“ antwortete er mit kalter Ruhe.

Die Gräfin verstand seine Worte, als ob er wisse, daß sie nach ihm geforscht und dadurch erfahren habe, daß er der Professor Monz sei. Das brachte sie in Verlegenheit, die ihren Ton nur noch herber machte.

„Was wollen Sie denn in diesem Wagen?“ fragte sie herrisch.

„Meinen Freund erwarten, wenn Sie es gütigst gestatten wollen,“ antwortete Ludwig gelassen.

Die Gräfin sah ihn einen Augenblick verdutzt an; schon im nächsten Augenblick aber sagte sie scharf: „Ihren Freund? Warum thun Sie das nicht draußen?“

„Weil’s regnet,“ entgegnetc Ludwig mit einer Verbeugung, bei unerschütterlichem Gleichmuth. Die Gräfin war so verblüfft, daß sie unwillkürlich einen Blick ins Freie warf und den Doctor dann so ansah, als ob sie sagen wollte: „Ja, das ist wahr.“ In demselben Augenblick aber dachte sie auch daran, ob der Mann wohl bei Sinnen sei. Doch nein! Er stand so [500] stolz, so fest da vor ihr; er sah sie so klar, so geistvoll, ja so dominirend an. Es war derselbe Mann, der ihr schon bei dem ersten Anblick auf der Eisenbahn so aufgefallen war; derselbe Mann, der ihr dann vor dem Hotel, zuletzt im Concert einen immer tieferen Eindruck gemacht katte. Und was konnte diesen Mann zu ihrem Wagen führen? Da mußte doch ein besonderes Räthsel, ein eigenthümliches Mißverständniß obwalten. Dieses Räthsel wollte sie ergründen, und rasch entschlossen sagte sie mit einer leichten Handbewegung, den edlen Kopf ein wenig aufwerfend, in leicht befehlendem Ton: „So steigen Sie ein!“

„Ich danke Ihnen verbindlichst,“ sagte Ludwig mit kalter Artigkeit, stieg ruhig ein und setzte sich mit feiner, zurückgezogener Haltung der Gräfin gegenüber. In seinem Innern aber sah es wahrlich nicht so ruhig aus: Fuß an Fuß, Aug in Aug sah er die Frau vor sich, die ihn immer tiefer bewegt und erregt. Er fühlte die Lust in sich, dieser stolzen Frau mit der ganzen Männlichkeit seines Wesens entgegenzutreten, und war fest entschlossen, der Aristokratin nicht zu weichen. So saßen sich die Beiden seltsam gegenüber in seliger Feindschaft; ein Jedes kampfbegierig.

Die Gräfin lehnte sich in die seidnen Wagenkissen fest zurück, und vornehm und mit einem Anflug von Ironie fragte sie:

„Werden Sie es denn nun für der Mühe werth halten, mir zu sagen, weshalb Sie sich hier zudrängen? Auf wen Sie warten?“ Natürlich staunte der Doctor über diese Fragen; die Gräfin dann noch mehr über die Antwort, die er gab.

„Dann sind Sie also nicht Professor Monz, sondern jedenfalls der Doctor Ludwig ?“

„Das bin ich.“

„Also auch der Verführer meines Bruders!“ warf die Gräfin heftig zurück und fuhr dann fort in wachsender Leidenschaft: „Und Sie treiben sich umher unter falschen Namen und lassen sich von Andern vertreten, wenn die Gefahr herantritt. O pfui, wie feige! Aber so sind sie Alle, Alle, die sie die Welt reformiren, geknechtete Menschen befreien wollen und doch nicht den Muth haben, ein Großes, Entscheidendes zu thun! Phrasenhelden, Feiglinge sind sie Alle, und da, wo ich bewundern möchte, kann ich nur verachten!“

Ludwig war blaß geworden vor innerem Zorn, ja vor Empörung; nicht allein für sich, sondern auch für seine ganze Partei; für die Sache, die er vertrat, von der er so groß dachte. So Etwas hatte er einem Weibe gegenüber noch nie empfunden.

„Sie mißbrauchen die unantastbare Stellung, die Ihr Geschlecht Ihnen einräumt, Frau Gräfin,“ sprach er mit gepreßter Stimme, während in seinem Auge ein stiller Ingrimm leuchtete. „Wären Sie ein Mann – so –“

„Und was dann?“ fragte die Gräfin, indem sie sich fest emporrichtete und die Arme übereinander schlug.

„Dann würde ich das thun, was Männer unter sich zu thun pflegen, wenn sie sich nicht prügeln und auch nicht die Polizei zu Hülfe rufen wollen. Man hat da so gewisse kleine blanke Röhren, mit kleinen blauen Kugeln drin, die auf zehn Schritt Distance oft eine recht schöne Wirkung machen. Das ist aber freilich nichts für Frauen, namentlich nicht für so hochgeborene Frauen.“

[513] Die Gräfin sah den Doctor plötzlich mit fast wilder Freude an. Eine eigenthümliche Lust bebte durch ihr ganzes Wesen, ein seltsamer Uebermuth ergriff sie.

„Ich verzichte auf jede Ausnahmestellung, die mein Geschlecht mir geben soll.“ sprach sie schnell, „ich erkenne gar keine solche an. Ich nehme es für ein Zeichen der Verachtung, wenn Sie eine solche mir unterstellen wollen, und um Ihnen die Sache zu erleichtern, um Ihnen auch den Beweis zu geben, daß ich keine Verachtung verdiene, werde ich mich – und ich darf das mit vollem Rechte – werde ich mich als beleidigt betrachten und selbst die von Ihnen bezeichnete Forderung stellen. Wehe aber Ihnen, wenn Sie mir die Genugthuung verweigern! Ich würde Sie für den erbärmlichsten Feigling halten und Sie als solchen behandeln, überall, wo ich Sie fände.“

Da wallte auch in dem Doctor eine übermüthige Kampflust auf. „Nun, wahrhaftig!“ entgegnete er, „an mir soll’s nicht fehlen, Frau Gräfin, wenn Sie wirklich –“

„Ihr Wort darauf!“ Sie hielt ihm energisch die Hand entgegen.

„Mein Wort darauf,“ damit legte er seine Hand fast feierlich in die dargebotene, und sie schauten sich einander wie triumphirend an. Sie schienen gar keine Idee von dem schweren Ernst, gar keinen Blick für das Ueberspannte ihrer ganzen Situation zu haben. Sie waren wie große Kinder, ein Jedes glaubte, es handle sich hier um die Ehre seiner Partei, und ein Jedes brannte darnach, dem vor ihm sitzenden Gegenstand seiner Liebe und seines Hasses mit der Waffe gegenüberzutreten.

In diesem Augenblicke riß Wilhelm den Schlag auf und der Graf stürzte an den Wagen hin, die nach ihm ausgestreckten Hände seiner Schwester heftig erfassend und mit Staunen und Spannung zu ihr aufschauend. Wilhelm hatte den Grafen bemerkt, als derselbe aus dem Ministerium gekommen war und sich nach seinem Wagen umsah. Unwillkürlich war ihm ein Freudenruf entfahren, in einem Nu war er von seinem Sitze ab- und zum Grafen hingesprungen. Dieser hatte in demselben Augenblick höchlichst verwundert seine Equipage bemerkt, jetzt rief Wilhelm ihm zu, daß die Frau Gräfin Schwester in dem Wagen sitze. Tiefbewegt von widerstrebenden Gefühlen eilte der Graf seiner Schwester entgegen, da erblickte er auch den Doctor; das war ihm ein gutes, liebes Zeichen, er wußte nicht gleich, für was; aber es machte ihn wieder leicht und heiter, und noch halb auf dem Tritt, halb im Wagen stehend, umfaßte er die Schwester und dann den Freund in liebevollster und liebenswürdigster Heiterkeit. Beide hatten sich einen verständigenden Blick zugeworfen, als der Graf erschienen war; dieser Blick mahnte Verschwiegenheit. und die Mahnung half ihnen hinweg über die Spannung des Augenblicks. Indeß setzte das Gebahren des Grafen sie doch in eine gewisse Verlegenheit. Der Doctor hielt es für angemessen, die Geschwister allein zu lassen, allein nach so langer Trennung, nach so unerwartetem Wiedersehen. Der Graf bat zwar herzlich. daß er bleiben, mit in’s Hotel zurückfahren möge, allein Ludwig lehnte es ab. Die Gräfin sagte kein Wort dazu, und mit einem „Auf baldiges Wiedersehen„“ stieg der Doctor aus und gab dem Kutscher ein Zeichen zum Weiterfahren. Der Graf sah seine Schwester fragend an, der Blick, den sie dem Aussteigenden nachwarf, hatte etwas so Eigenthümliches und der Ausdruck ihres Gesichtes selbst war mit einem Male so verändert, daß Bernting keine Lösung für das Räthsel hatte.




4.

Die Grafin war in Madrid plötzlich Wittwe geworden. Sie war eher nach Deutschland zurückgekehrt, als die Zeitungen von dem Todesfall ihres Gemahls berichten konnten. In der Hauptstadt ihrer ursprünglichen Heimath hatte sie zunächst nach ihrem Bruder gefragt und ohne sich halten zu lassen, war sie ihm nach D. nachgeeilt und dort angekommen, als Bernting eben zu seinem Freunde gereist war. Dies erzählte sie ihm noch im Wagen, dazu auch ihren gestrigen Gang zur Eisenbahn, ihre heutige Fahrt zum Gesandtschaftshotel. Aber kein Wort von dem Doctor und kein Wort auch von der Wandlung in ihrem Wesen. Warum sie gerade ihn so sehnsuchtsvoll gesucht, so liebevoll erwartete, gerade ihn, dem sie früher sich fast feindlich gezeigt, um den sie dann nie wieder sich gekümmert hatte, so fragte sich der Graf, während er die Schwester aus dem Wagen hob und diese ihn bat, sie auf kurze Zeit allein zu lassen. Die Einsamkeit, wenn auch nur auf eine Viertelstunde, war ihr jetzt Bedürfniß. Der Bruder ließ sie gewähren, und nun gingen alte und neue Vergangenheit, Gegenwart und nächste Zukunft mit tausendfachen Erinnerungen und Schmerzen an ihr vorüber, und all die heftigen Widersprüche in ihrem Wesen regten sich, die verschiedenartigen Geister und Dämonen, die sich von früh an in ihr gestritten.

Sie war Aristokratin durch und durch, aber sie hatte Sympathie für das Volk. Nur das vornehme, reiche Bürgerthum war ihr [514] zuwider, jenes staatliche Mittelding, wie überhaupt jedes Mittelding. Dabei sah sie aber auch täglich mehr und mehr die Zerklüftung und Zerfahrenheit, das Hohle, Lügenhafte und Verbrecherische in ihren eigenen Kreisen und in ihrer nächsten Umgebung. Sie wußte oft gar nicht, wohin sie schauen solle, was sie glauben, hoffen und denken dürfe. Sie war eben nach vielen Seiten hin ein Wesen zwiespältiger Art, das nur wenige erkannten und begriffen, sie wurde darum wenig geliebt, desto mehr aber mit scheuer Strenge oder leichtfertiger Gleichgültigkeit betrachtet und behandelt. Sie hatte die höchsten Ideen von der Ehe in sich getragen und sie wurde eine standesgemäß gekaufte und verkaufte Frau, ehe sie eigentlich recht wußte, was eine Frau bedeute, ehe sie Besinnung genug gewonnen, sich solcher Schmach zu entziehen. Und als sie derselben verfallen, oder vielmehr, als sie zum Bewußtsein derselben gekommen war und in fremdem Lande ohne irgend einen Freund und Helfer ganz einsam und verlassen an der Seite ihres kalten, frivolen, egoistischen Käufers und Despoten stand, da hielt sie dieser mit hundertfachen Netzen und Banden der Arglist und der Formen, der Gewalt und des Gesetzes so fest umstrickt, daß all ihr Stolz und ihr starker Wille, all ihr Schmerz und Zorn, all ihr Flehen und Drohen vergeblich waren.

Erst als sie der jähe Tod ihres Gatten freigemacht hatte, fühlte sie sich leben, sich selbst wiedergegeben. Das Leben sollte nun ihr gehören, ihrem Triebe gehorchen. Frei wollte sie sein, wie das Element, stolz sich erheben nach so langer Schmach, über die Welt hinwandeln mit all dem Hohn, unter dem sie selbst so lange gelitten hatte; bitter verachten, was nicht groß und stolz war wie die Seele, die sie einst der Welt entgegengetragen hatte. Aber sie wollte auch handeln, Schönes und Segensvolles oder Kühnes, Großes thun. Und lieben, so recht aus tiefstem, vollstem Herzen lieben, doch nur einen ganzen, vollen, freien Mann, der anders war, als alle die, welche sie bis jetzt gekannt hatte. Besser, edler, größer aber als sie Alle war ihr Bruder immer gewesen, wenn er auch für jenes Halbe und Falbe gewirkt hatte, was ihr als Lüge und Feigheit so verächtlich erschien. So drängte es sie mit unwiderstehlicher Macht hin zu diesem Bruder, als könne sie an seiner Seite irgend ein Schönes oder Kühnes vollführen, an seinem Herzen die Liebe finden, die sie so sehnsuchtsvoll suchte. Zugleich wollte sie mit unerbittlicher Strenge die Männer prüfen, die ihren Bruder umgaben, die ihn abwendig gemacht hatten von seinem angestammten absoluten Königthum und dem Wappenschild seiner Ahnen, jene lügnerischen Halbgeister, die, wie sie meinte, der Zeit und dem Volke nach beiden Seiten hin des Lebens Nerv durchschnitten, aus streng gehorsamen Unterthanen lügenhafte Phrasenmenschen geschaffen und ihnen die Kraft geraubt hatten, wahrhaft freie Bürger zu sein und sein zu wollen.

Der gefährlichste unter ihnen war, das wußte sie, der nächste Freund ihres Bruders, Doctor Ludwig, denn sie hatte auch in der Fremde sein Wirken so genau wie möglich verfolgt, sie hatte sich ihn in allen möglichen Erscheinungen gedacht, sie hatte versucht, sich ihn aus ihren allerersten Jugenderinnerungen als ihren Landsmann vorzustellen, sie hatte einen ganz eigenthümlichen Zorn auf ihn, ein ganz seltsames Mißtrauen gegen ihn; sie sah mit dem gespanntesten Interesse ihm entgegen, und sie wollte ihn erdrücken mit der Wucht ihres Stolzes und Hohnes.

Mit solchen Gedanken und Vorsätzen kam die Gräfin Mathilde von Timmelskirch nach D., fuhr sie ihrem Bruder entgegen, lernte sie den Doctor Ludwig kennen, um an ihn die merkwürdige Forderung zu richten. „Kann es, darf es denn nun wirklich sein, das Unerhörte, das fast Unnatürliche?“ fragte sie sich, als sie allein in ihrem Zimmer war. „Es soll, es muß, es wird sein!“ fuhr sie trotzig fort, die Hand ballend. „Und was ist denn unnatürlich daran? Nichts anderes, als die Furcht und die Feigheit, die kleinliche, erbärmliche Form, die es als unnatürlich erscheinen läßt. Ich verachte solchen Schein. Ich will ein Beispiel geben, daß ein Weib nicht beleidigen soll, wo es nicht auch Genugthuung zu geben bereit und befähigt ist. Ihm bin ich das schuldig und ich müßte mich sehr täuschen, oder er ist stark und bedeutend genug, sein Wort mir zu halten. Es soll der Prüfstein seiner Art sein, ob er es thut. Und wenn er – ha!“ Ihr Auge blitzte, wie eine Siegesgöttin stand sie da. „Doch mein Bruder,“ warf sie sich, plötzlich wieder nachdenklich, ein, „was wird er dazu sagen? Er wird es nicht dulden. Nein! nein! Das wäre Feigheit! Wie kann mein Bruder es wehren? Er muß es dulden und er wird es, oder er ist nicht der, den ich in ihm erwarte, der er sein kann, sein soll. Ja, soll!“

Wieder sann sie leise nach, den Kopf sanft gebeugt, und ihr Auge erglänzte mild und seelenvoll. Da klopfte es leise an; sie wußte, daß es ihr Bruder Leopold war, und öffnete ihm die Thür. Liebend, glücklich weinend und träumend lag sie an seiner Brust, und dann erzählte und erklärte sie ihm, anfangs scheu und gepreßt, dann immer freier, rascher und feuriger, Alles, was soeben an ihrer Seele vorübergezogen war, was ihr Sinne, Herz und Geist so mächtig bewegt hatte. Der Bruder horchte auf, jetzt war er wort- und rathlos; er konnte das seltsame Wesen nur fester und fester in seine Arme schließen und konnte nur mit Bangen des Freundes gedenken, der plötzlich so wundersam schrecklich in das Leben seiner Schwester getreten und von dieser in ihr eigenes Schicksal hineingerissen worden war.




5.

In so tiefem Ernste hatten die Freunde noch nie zusammen gesessen; so schwer umwölkt waren nie ihre Stirnen gewesen, als jetzt, am Abend des verhängnißvollen Tages, wo sie auf dem Zimmer des Doctors das unerhörte Duell besprachen, welches zwischen der Gräfin und dem Doctor stattfinden sollte. Die Gräfin bestand mit fast fanatischem Eifer darauf. Sie hatte mit leidenschaftlicher Hast es dem Grafen zur Pflicht des Bruders, des Freundes, des Cavaliers gemacht, ihr Secundant zu sein und ihre Forderung dem Doctor zu überbringen. Sie hatte diesen an sein fest und feierlich gegebenes Wort und an seinen Handschlag erinnern lassen. Sie hatte mit der siegenden Gewalt kühner Gedanken und begeisterungsvoller Beredsamkeit die mannigfachen Bitten und Gründe, Betheuerungen und Beschwörungen ihres Bruders wenigstens zum Schweigen gebracht und mit dem Schlimmsten gedroht, wenn man sie zurückweise. Das Alles hatte der Graf seinem Freunde mitgetheilt, natürlich auch nicht verfehlt, ihm dies Außergewöhnliche aus dem Geständnisse zu erklären, welches die Gräfin ihrem Brnder an dem denkwürdigen Morgen gemacht hatte. Ludwig hatte schweigend zugehört und dann einfach und bestimmt gesagt: „Ich habe ihr mein Wort gegeben und wenn sie’s verlangt, so halte ich’s.“ Damit trat das, was bisher gleichsam nur wie eine Idee vorgeschwebt hatte, schon mehr und mehr in das Gebiet der Thatsache ein. Wie nach einer unsicheren Hoffnung haschend, fragte jetzt der Graf: „Sollte sie uns aber nur auf die Probe stellen wollen? Nicht schon zufrieden sein, wenn dieselbe bestanden würde?“

„Das glaube ich nicht,“ antwortete Ludwig.

„Ja, ja, ich meine auch, daß Du Recht hast. Aber würde sie nicht vielleicht erschreckt zurückweichen, wenn der wirkliche, volle Ernst der Sache an sie heranträte?“

„Das glaube ich noch viel weniger.“

„Hm, hm! Und daß wir sie anführten, eine kleine Komödie mit dem Pistol arrangirten –“

„Das wäre unser Aller unwürdig.“

„Freilich, freilich! Es war auch nur so ein Gedanke, den mir die schmerzlichste Rathlosigkeit eingab.“

Der Graf sprang auf und ging sinnend mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab. Doctor Ludwig beobachtete jeden seiner Schritte, ohne es zu wissen, in tiefes Nachdenken verloren. Nach und nach wurde sein Auge freier, seine Stirn entwölkte sich.

„Ich glaube, mein Freund, Du nimmst die allerdings sehr ernste Sache doch zu ernst,“ sagte er, „oder vielmehr, wie soll ich mich nur ausdrücken? nun, zu unnatürlich und zu unglückselig. Nach Allem, was ich von dem merkwürdigen Charakter Deiner Schwester jetzt weiß und verstehe, glaube ich, daß hier ein bedeutsamer Krankheitsproceß nur seinen ganz natürlichen Verlauf nimmt und durch eine entscheidende Krise der schönsten Lösung entgegengehen kann.“

„Ich verstehe Dich und muß Dir im Allgemeinen Recht geben. Aber die Krise selbst?“

„Die Krise selbst muß das Duell sein. Es kann ein Klärungs- und Läuterungsproceß ihrer Seele, ein befreiendes Moment ihrer ganzen Vergangenheit werden. Es giebt Wesen, bei denen das Ungemeine oft das Natürlichste ist. Und Deine Schwester ist solch ein Wesen.“

„Leider, leider! Doch es kann ja wirklich zu einer glücklichen, heilbringenden Krise führen. Aber – ach, es kann ja auch schrecklich werden!“

[515] „Für sie kaum schlimmer, als es ist. Was wäre für sie ein Leben, wie sie jetzt es führt? Was wäre ihr der Tod, bei solchem Leben?“

„Aber Du!“

„Warum soll ich nicht mein Leben daransetzen, ein solches Geschöpf gerettet zu sehen?“

„Aber sie könnte doch niemals glücklich sein, wenn sie Dich tödtete!“

„Das wäre dann ihre Sache.“

„Und Du könntest es doch auch nicht sein, wenn Du sie –“

„Wer fragt dabei nach mir! Und muß es denn gleich gestorben sein? Ah, bah! Es trifft und stirbt sich nicht so leicht. Und dann: es hat nun einmal ‚der Götter Wille‘ ein Ungemeines uns aufgelegt, seltsame Geschicke für uns heraufbeschworen. Wir sind also auch keine gewöhnlichen Menschen, darum laß uns das Ungewöhnliche wie unseres Gleichen ansehen und behandeln. Wahrhaftig es ist ja am Ende auch nicht der Mühe werth, immer so im Train des Alltagslebens umherzukreisen und zuletzt im Dunst des Werkeltags zu zerstäuben. Und ist es Unsinn, so wollen wir den Unsinn mit Methode begehen.“

Eine merkwürdige Mischung von schmerzlicher Ironie und Begeisterung lag in der ganzen Art und Weise, wie der Doctor sprach. Sein Freund hatte den sonst so ruhigen, phrasenlosen Mann noch nie so gesehen, desto hinreißender, ja imponirend, erschien er ihm jetzt. Er gab sich ihm ganz hin und übermüthig rief er aus:

„So sei’s denn gewagt! Und auf die Kniee der Götter lege ich den Ausgang.“

Er eilte zu seiner Schwester und rief ihr entgegen: „Der Doctor nimmt Deine Forderung an! Im vollsten, wahrsten Ernst nimmt er sie an!“ setzte er mahnend und warnend in strengem Tone hinzu. Ihre Augen flammten auf, dann wurde sie plötzlich blaß und schaute vor sich hin, bis auf einmal ein heißes Roth ihr Antlitz färbte.

„So bin ich noch nie verstanden, noch nie geehrt worden,“ antwortete sie mit strahlendem Blick. „Und wer das vermag, der ist bedeutender, als ich jemals einen Menschen kannte. Ich habe ihm Unrecht gethan – er ist doch ein großer Charakter.“

„Bei Gott, das ist er!“ rief der Graf freudig bewegt aus; er hoffte, daß die Schwester ihr Vorhaben aufgeben würde. „Und nun,“ fuhr er fort, „solltest Du ihm auch die Hand reichen zur Versöhnung und –“

„Wenn’s geschehen ist,“ entgegnete sie kalt und stolz, „und wir uns die Hände noch reichen können, gewiß! Aber nicht eher.“

„Verstehe mich und ihn nicht falsch,“ antwortete der Graf, „es war nur so ein Augenblick von Hoffnung, der mir entgegenflog, daß Du Dich eines Andern besonnen. Du sollst Deinen Willen haben, ganz und gar, und dann komme über Dich, was kommen mag.“

„Es komme!“ sprach sie gelassen und reichte ihm die Hand. „Aber nun sorge auch, daß es bald geschieht. So rasch wie möglich.“

„Gewiß! Es sind indessen doch noch mancherlei Bedenken – –“

„Was für Bedenken?“

„Formen, Vorsichtsmaßregeln, Secundanten, Unparteiischer, Wundarzt. Das Alles will sehr erwogen, will doppelt vorsichtig behandelt sein.“

„Ist das Alles nothwendig? Warum sind nicht wir Drei genug? Warum kannst Du nicht Secundant für uns Beide und zugleich Unparteiischer sein? Wir verlassen uns Beide auf Dich, daß Du treu und wie ein Ehrenmann die Sache führst. Das Uebrige ist unsere Sache. Hat man nicht Beispiele, daß es auch so erledigt wurde?“

„Möglich!“

„Nun also! Drum ohne Säumen. Auch ihm wird’s so wohl genehm sein. Eiligst denn, schon morgen! Morgen früh!“

„Aber der Arzt, und doch auch wohl weibliche Hülfe; für den Fall, daß Du selbst getroffen – –“

Sie erröthete einen Augenblick und schlug die Augen nieder; nicht aus Furcht, sondern in Züchtigkeit der Frau. Dann aber sah sie wieder auf und sagte:

„Wir wollen’s erst abwarten, ob solche Hülfe nöthig ist, und sollte wirklich gelitten sein, ei, dann will ich doch lieber mehr und länger leiden, als durch so peinigende Vorkehrungen mich auf ein Schlimmes vorbereiten.“

„Nun, es paßt das eben zu Deiner ganzen Art, zu Deiner – Deiner Extravaganz, und auch hierin muß ich Dir nachgeben.“

„Es wird das Beste sein, Bruder; desto eher werde ich wieder ruhig, laß mich allenfalls noch sagen: gescheidt und vernünftig werden. Doch vorausgesetzt, besteht Dein Freund auf einen Arzt, so füge ich mich.“

„Er würde es nur Deinetwegen.“

„Dann ist’s schon gut! Und nun – auf morgen!“

„Auf morgen! Wirst Du bis dahin noch Deine Angelegenheiten ordnen? Papiere – Briefe.“

„Nein! nein! Ich will nichts thun, als das erwarten, was kommt.“

„Du hättest eine Heldin werden können, während Du jetzt nur – – Gute Nacht, Schwester!“

„Eine Thörin bist! Nicht wahr? O ja, das ist’s! Und deshalb recht bald! Recht bald! Gute Nacht!“

Mit einem schweren Seufzer trennten sich die Geschwister.

Als der Graf seinem Freunde mittheilte, was die Gegnerin wünsche, sprach dieser halblaut: „Ich bin mit Allem zufrieden. Am liebsten sogleich, spätestens morgen in der Frühe.“




6.

Am anderen Morgen in der Frühe hielten zwei Wagen vor einem dichten Gehölz, die Equipage des Grafen und ein Wagen des Hotels Driburg. In jenem saßen der Graf und seine Schwester; in diesem saß Doctor Ludwig. Man hatte im Hotel vorgegeben, eine große Spazierfahrt auf unbestimmte Zeit und Länge machen und unterwegs noch einige Freunde aufnehmen zu wollen. Die Wagen folgten sich in mäßiger Entfernung. An dem Eingang zu dem Gehölz stieg zuerst der Graf aus, eine Pistolencassette vorsichtig unter dem langen Sommermantel verbergend. Bald war die Schwester an seiner Seite, und schweigend, wie sie im Wagen gesessen, gingen sie in den Wald. Gleich darauf folgte ihnen der Doctor. Den Kutschern war die Weisung gegeben, hier zu warten, bis die Herrschaften von ihrem beabsichtigten Waldgang zurückkehren würden. Der Graf kannte den Platz, wo schon manche Kämpfer sich gegenüber gestanden hatten. Er war weit und hell und lag doch dicht umbuscht und einsam da. Als der Platz erreicht war, stellte der Graf seine Cassette auf eine kleine bemooste Steinplatte und wandte sich dem herantretenden Doctor zu. Ebenso die Gräfin. Es gab eine stumme, ernste Begrüßung und einzelne Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Wipfel auf bleiche Wangen. Ringsum war es still. Der Graf öffnete den Kasten und lud die Pistolen. Die beiden Gegner folgten unwillkürlich jeder seiner Bewegungen, standen aber fest und ruhig da. Der Graf maß zehn Schritt Barrière ab und deutete den Gegnern durch Zeichen ihre Plätze an. Dann faßte er mit der Rechten die Pistolen an, warf ein Taschentuch darüber und schritt zum Doctor hin, die Schafte der Pistolen zur Wahl ihm vorhaltend. Der Doctor ergriff ohne Wahl den ersten Schaft, den seine Finger berührten; den zweiten bot der Graf jetzt seiner Schwester dar. Sie faßte ihn an wie einen Stein, den man ohne Nachdenken aufhebt und fortwirft.

Nun standen alle Drei wieder regungslos, und noch immer war es grabesstill rings umher. Aber der Zeitpunkt war da, wo der Graf in seiner Eigenschaft als Unparteiischer noch den üblichen Vermittelungsversuch anstellen mußte. In diesem Augenblick war es ihm, als wenn er plötzlich aus einem somnambülen Zustande erwache. Er sah in der ganzen Situation, worin er sich mit Freund und Schwester befand, das schauerlich komische Spiel einer überreizten Phantasie, zugleich eine sündhaft thörichte Frivolität. Es wirbelte ihm vor den Sinnen; waren es denn wirklich Freund und Schwester, waren es wirklich vernünftige, selbstbewußte Wesen, die er vor sich sah? Und doch, sie waren es! Wie standen sie so sicher und ruhig, so klar und stolz da vor ihm! Es gab keinen andern Ausweg, das Entsetzliche mußte geschehen. In ruhiger Form vollzog er darum nach beiden Seiten hin seine Pflicht als Vermittler. Umsonst!

„Ich kenne nur den einen Weg der Ausgleichung: die vollständigste Bitte um Verzeihung und die unzweideutigste Bekennung begangenen Unrechts von Seiten meines Gegners,“ antwortete die Gräfin.

„Ich habe mein Wort gegeben, mich der Forderung meiner Gegnerin zu stellen, und ohne dies Wort zurückzubekommen, muß ich es halten,“ antwortete der Doctor.

„Und Du wirst dieses Wort nicht zurückgeben?“ wandte sich der Graf an seine Schwester.

„Wenn er es nicht verlangt: Nein!“

[516] „Und Du verlangst es nicht?“ fragte der Graf den Doctor.

„Wie könnte ich das, ohne uns Beide mit Verachtung zu strafen!“

„Du willst auch jene Bitte und Erklärung nicht stellen?“

„Für mich – o ja! Aber ich darf es nicht für sie. Es wäre eine zu große Demüthigung für die Dame selbst.“

„Gewiß! Und das ist groß gedacht!“ rief die Gräfin begeistert aus.

„An Eure Plätze!“ befahl der Graf. Die Gegner stellten sich auf.

„Richtung!“ Wie angewurzelt standen Beide und ihre emporgehobenen Pistolenläufe blitzten im Sonnenstrahl über die bleichen Gesichter. Auf einmal wies die Gräfin mit der Hand nach der Richtung, wo ihr Bruder stand, und rief ein tönendes „Halt!“ Dann schritt sie mit sicherer Ruhe dem Doctor entgegen und fragte den Erstaunten mit gelassener Festigkeit: „Würden Sie unbedingt auf mich schießen, wie auf jeden anderen Gegner? Ihr Ehrenwort!“

„Auf mein Ehrenwort – Ja!“ entgegnete der Doctor mit kalter Ruhe. Sie zuckte leise zusammen und trat unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück, doch blieb ihr Auge auf seinem Antlitz haften, während sie sprach: „Also doch! Aus Haß?“ frug sie rasch.

„O nein! Wahrlich nein!“ erwiderte der Doctor mit bewegtem Ton, und indem er der Gegnerin etwas näher trat und seine heißen Blicke aus sie richtete, sprach er mit erhobener Stimme: „Ich thät’s aus Achtung, aus Mitleid und in Hoffnung für Sie. Eine Donquixoterie mag es sein; ich will sie ihretwegen gern begehen: aber es darf keine possenhafte Komödie werden; das wäre unser Beider nicht werth. Entweder – oder!“

Die Gräfin sah den Sprecher mit wunderbarem Glanz in ihren Augen an. Dann wiederholte sie halblaut:

„Entweder – oder … Aber wenn Sie mich tödteten?“ fragte sie heftig.

„Dann haben Sie selbst es gewollt. Ich konnte, durfte nicht anders. Ich würde unglücklich sein für mein Leben, aber ich würde mir keine Schuld, wenigstens keine Blutschuld vorwerfen.“

„Aber wenn ich Sie tödtete?“

„Ich habe mein Leben leider schon an nichtigere Dinge gesetzt als daran, ein Wesen wie Sie sich selbst, der Welt und wer weiß noch welch’ Schönem und Großem zu retten oder wiederzugeben, und ich sollte meinen, das wäre schon des Preises werth.“

Wie von einem großen Entschluß verklärt, so stand die Gräfin jetzt vor dem Doctor.

„Sie müssen Ihr Leben an ein viel Höheres setzen,“ sprach sie, „an die volle und wahrhaftige, an die höchste Freiheit des Vaterlandes und der Menschheit. Und zu diesem erhabenen Berufe reiche ich Ihnen meine Hand als Parteigenossin dar!“ Sie streckte dem Doctor ihre Hand entgegen mit der Sicherheit einer Siegerin und Herrscherin. Der Doctor erbebte wie elektrisch berührt und schon zuckte seine Hand der dargebotenen entgegen, aber im nächsten Moment stand er wieder ruhig da und sprach, wenn auch mit tiefer Bewegung, so doch fest und klar:

„Die Regung, welche Ihre Hand uns darbietet, Frau Gräfin, deutet eine schöne Seele an. Aber eine Regung darf nicht bestimmend sein für so unendlich wichtigen Entschluß und eine edle Seele bildet noch keinen Charakter. Wenigstens keinen solchen, wie die Nation ihn verlangen muß. Diese schöne Regung steht auch noch im Widerspruch mit der ganzen Haltung, mit der Sie uns ihre Hand anbieten. Sie thun das mit dem triumphirenden Gefühl einer aufopfernden, herabsteigenden Güte, mit dem stolzen Bewußtsein, das Füllhorn unendlicher Gnade über uns auszuschütten, uns einen glorreichen Beweis Ihres freien Willens zu geben. Das Alles aber kann das Volk nicht brauchen. Erst wenn Sie durch die wahrhaftige Menschenliebe zur Liebe des Individuums, durch die wahrhaftige Demuth zum wahrhaftigen Stolze gelangt sind, erst wenn Sie darauf sich stolz fühlen, als Tochter der Nation und als Genossin der Partei anerkannt und gewürdigt zu werden – erst dann, wenn die eben empfundene schöne Regung ein Festes, Dauerndes und Ihre edle Seele zu einem Charakter geworden ist: erst dann kann die Partei Ihre Hand annehmen. Aber nicht eher.“

Unbeschreibbar war es, was in diesem Augenblick durch das Herz der Gräfin stürmte. Alle die verschiedenen Elemente und Leidenschaften, die so lange in ihr gekämpft, schienen mit einem Male in ihr aufgestanden zu sein zum heftigsten Kampfe.

Staunend hatte Bernting der ganzen Scene gelauscht und harrte nun bange der Krise, die aus dem seltsamen Begebniß hervorgehen mußte. Finsterer als je, zogen sich die Brauen der Gräfin zusammen; dichter als je deckten die Wimpern den Glanz ihrer Augen; stolzer, strenger als je warf sie den Kopf zurück und die Hand empor, und indem sie ausrief: „Zur Sache!“ schritt sie mit gehobener Pistole wieder zurück zu dem ihr angewiesenen Stand. Der Doctor schloß rasch und fest die Augen, drängte einen aufsteigenden schweren Seufzer zurück und trat auf seinen Platz. Und wieder ertönte durch die Grabesstille das schauerliche Wort: „Richtung!“ Und wieder blitzten die emporgewendeten Läufe im zitternden Strahl der Sonne den bleichen Gesichtern entgegen. Da aber ließ die Gräfin ihre Pistole fallen und trat zu dem Doctor heran.

„Es wäre grausam,“ sprach sie in heiterer Klarheit, „wenn ich Sie zwingen wollte, Ihr Wort zu halten, zwingen wollte, auf einen Menschen, auf ein Weib, auf mich zu schießen. Es wäre erbärmlich, wenn ich nicht lieber den Verdacht der Furcht und Feigheit auf mich laden, nicht lieber lächerlich erscheinen wollte, als auf meinen Willen zu bestehen. Ich will doch lieber ein Weib als eine Amazone sein und ich will Ihnen gern bekennen: Sie haben mich bezwungen, mich beschämt. Sie haben mich furchtbar erschüttert, mir unbeschreibbar wehe gethan, aber Sie haben mich auch gekräftigt, erhoben und beglückt und mir den Weg und das Ziel gezeigt, den zu wandeln und das zu erreichen nun die Aufgabe meines Gebens sein soll. Ich werde lernen so zu lieben, so demüthig zu sein, wie es werth ist Ihrer und der großen Sache, die Sie vertreten. Und bis dahin – Ihr Freunde – seid auch meine Freunde – meine Führer und Berather!“ Sie streckte nach links und rechts ihre Hände aus, anzuschauen wie eine holde Göttin, die ihre trauten Gaben liebevoll ausstreut. Rasch ergriffen Bruder und Freund die dargebotenen Hände und küßten sie, ehrerbietig und bewegt. Der Doctor war fast erschrocken vor der Seligkeit, die da plötzlich vor ihm aufging, es war ihm, als müsse er vor der so herrlichen Erscheinung leise sein Knie beugen, und inbrünstig um Verzeihung bitten für das, was er ihr angethan. Natürlich that er’s nicht, aber sein Auge sprach es aus und der Blick der Gräfin verstand diese Sprache, und sie erröthete und wandte sich ab zu ihrem Bruder, der sie in seine Arme schloß. Da glitt auch über des Doctors Antlitz ein schönes Roth, das schönste, welches wohl je ein Antlitz schmücken kann, und ein eigenthümliches Lächeln über sie Alle, als der Graf die Pistolen wieder in die Cassette legte und dieselbe verschloß. Es geschah schweigend, und schweigend gingen die Freunde durch das Gehölz ihren Wagen zu.


Der Doctor reiste noch an demselben Morgen zurück nach seiner kleinen Residenz. Vor der so verhängnißvoll gewordenen Zwischenstelle E. verließ er die Eisenbahn und fuhr durch neutrales Gebiet mit der Post. Diese rasche Abreise nach so schön geschlossenem Frieden und nach so herrlich gewonnenen Beziehungen möchte für Viele befremdend sein. Die drei Betheiligten aber fanden es, Jeder nach seiner Weise, so ganz natürlich, so ganz sich von selbst verstehend, daß gar nichts weiter darüber gesprochen wurde, daß Entschluß und Ausführung nur Eins waren und man zwar gut und herzlich, doch wie nach einer lang vorbereiteten Absprache sich trennte.

Der Doctor fühlte sich jedoch schon bald immer einsamer und schwermüthiger, und nur die zeitweiligen Besuche und Briefe des Grafen und der Gräfin konnten ihn auf kurze Zeit jener Stimmung entreißen. Man will indessen bemerkt haben, daß diese Briefe und Besuche sich mehren und mehren, immer rascher hintereinander folgen. Ebenso will man wissen, daß der Doctor immer glücklicher ist und daß die Gräfin immer einfacher wird, immer milder und liebevoller die Welt und die Menschen betrachtet und behandelt. Endlich will man bemerkt haben, daß die Gräfin ihre ganze Kraft und Thätigkeit den höchsten Interessen des Vaterlandes widmet und daß der Doctor bereits die Ueberzeugung hat, daß sie ein Charakter geworden und würdig sei, die große Aufgabe der Zeit mit lösen zu helfen.