Ein chinesischer Schulmeister auf dem Throne

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein chinesischer Schulmeister auf dem Throne
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 524
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[524]

Ein chinesischer Schulmeister auf dem Throne.

Von O. Henne am Rhyn.

Daß die wirklichen Ereignisse oft merkwürdiger, überraschender, ja sogar phantastischer sind als die in Romanen geschilderten, ist schon vielfach nachgewiesen worden; aus der neuesten Zeit aber ließe sich kaum ein Beispiel auffinden, das auffallendere und auf weite Kreise wirksamere Schicksalswechsel zur Anschauung brächte, als die erschütternde Tragödie, welche vor nunmehr zwanzig Jahren das „Reich der Mitte“ durchtobte.

Die meisten Reiche uralter Cultur sind vom Erdboden verschwunden. Die Hieroglyphen des Landes am Nil und die Keilschriften desjenigen am Tigris und Euphrat zeugen nur noch von einer längst dahingegangenen Herrlichkeit; lediglich die bizarren einsilbigen Wortzeichen der Gefilde des Hoang-ho und Yangtsekjang werden noch immer von Sterblichen im Verkehr des täglichen Lebens verwendet. Noch steht es da, in ungeschwächter Macht und Ausdehnung, das „Reich der Mitte“ (Tschung-kue) oder „was unter dem Himmel liegst“ (Thjang-hja), wie es seine Angehörigen abwechselnd nennen (nicht aber: das „himmlische Reich“, was ein bloßes Mißverständniß für den zweiten jener Namen ist). Freilich, nicht Alles ist mehr, wie es ehedem war, selbst dort, in dem conservativsten aller Reiche, das in so vielem das Gegentheil von dem thut, was wir thun. Bei uns ist der Ehrenplatz rechts, dort links, bei uns trauert man in schwarz, dort in weiß, bei uns ist der Zopf ein überwundener Standpunkt, dort ist er – eine Neuerung! Und gerade diese erinnert uns an die großen Veränderungen, die mit dem „Reiche der Mitte“ vor sich gegangen sind. Es sind nicht mehr die echten Angehörigen des Landes China (wie wir es mit unserer Aussprache der englischen Schreibart seines indischen Namens Tschina nennen, der wieder von der Dynastie Tschin herkommt, unter welcher das Land in Indien näher bekannt wurde), es sind nicht mehr die „schwarzhaarigen Leute“, wie sie sich ehedem mit Stolz nannten, die sich selbst regieren oder von einem geborenen Landsmann regiert werden. Die weltberühmte chinesische Mauer, welche der blutige Eroberer, der vandalische Zerstörer der alten Literatur Chinas, Schi-hoang-ti (d. h. erhabener Kaiser), ein Zeitgenosse Hannibal’s und Scipio’s, zum Schutze des Landes gegen die Einbrüche der Mongolen errichtet hatte, – die kolossale Landesfeste erfüllte ihren Zweck nicht auf die Dauer. Zweimal wurde China von Hochasien her erobert, einmal unter einem Enkel des wilden Dschingischan, Kubilai, dem Gönner des kühnen venetianischen Reisenden Marco Polo, und das zweite Mal von den Mandschus zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, welchem damals im fernen Osten ein beinahe ebenso langer hartnäckiger Widerstand der echten Chinesen gegen die Fremdherrschaft zur Seite ging, der sie aber endlich erlagen. Seitdem ist ihnen von den Siegern der Zopf aufgezwungen, der zur Nationaltracht der Letzteren gehörte.

Gegen diese Fremdherrschaft bestand schon längst Mißstimmung unter gewissen Theilen des chinesischen Volkes. Geheime Gesellschaften, wie sie in China seit sehr langer Zeit üblich sind, agitirten gegen dieselbe. Einem ernsten Conflicte trieben jedoch die Verhältnisse erst nach dem Frieden von Nanking zu, welcher 1842 dem verhängnißvollen Opiumkriege mit England ein Ende gemacht hatte. Zum ersten Male in Chinas mehrtausendjähriger Geschichte war der „Sohn des Himmels“, der Kaiser, genöthigt gewesen, eine feindliche Macht als gleichberechtigt anzuerkennen und mit ihr Verträge abzuschließen, statt ihre Huldigungen zu empfangen, was man in China als die Pflicht aller Staaten der Welt betrachtete. Die damit an den Tag gelegte Schwäche der Mandschu-Dynastie gegenüber den Europäern machte unter den Chinesen sehr böses Blut. Zuerst wandte sich die Erbitterung derselben gegen die Europäer, namentlich in Kuangtong (Kanton), wo blutige Excesse vorfielen und wiederholt Engländer ermordet wurden. Aber die verderblichen Folgen des Krieges, die durch diesen und die an England zu zahlende Entschädigung herbeigeführte Finanznoth, das verzweifelte Mittel des Stellenverkaufes, zu dem der Kaiser Taokuang griff, ebenso aus Verzweiflung eingeführte Geldstrafen, die Einstellung der früher an Nothleidende verabreichten Unterstützungen, die Entlassung eines Theils der Truppen, die dann sengend und mordend das Land durchschweiften, das Ueberhandnehmen von Land- und Seeräuberbanden, – alles das trug dazu bei, das Ansehen der Mandschu-Regierung völlig zu untergraben und die Macht der geheimen Gesellschaften zu stärken. Es blitzten überall Empörungen auf, und als der Kaiser 1850 gestorben war und sein Sohn Hien-fung sich der immer drohender emporsteigenden Gefahr nicht gewachsen zeigte, erhob sich, von zahlreichen Rebellenhaufen unterstützt, bereits ein Prätendent, der von der letzten rein chinesischen Dynastie Ming abzustammen behauptete.

Die Organisation und Leitung des Aufstandes fielen jedoch in andere Hände. In einem Dorfe der Umgebung von Kanton lebte ein Schulmeister, Namens Hung-siu-tsuen, welcher in seiner Jugend (er war 1813 geboren) das Vieh gehütet hatte und später sich lange ohne Erfolg bemühte, bei den Staatsprüfungen den ersten Grad der Gelehrsamkeit zu erlangen. Während er sich 1837 zu diesem Zwecke wieder einmal in Kanton aufhielt, theilte ihm ein zum protestantischen Missionär gewordener Landsmann Auszüge aus dem Alten und Neuen Testament mit. In einer Krankheit, die seine verfehlten Hoffnungen ihm zugezogen, hatte er Visionen und wollte dieselben nach seiner Genesung durch die Bibel bestätigt finden. Er beschloß, sein Vaterland zu dem wahren Gotte zurückzuführen, den es in alter Zeit unter dem Bilde des Himmels (Thjan) verehrt hatte. Er taufte sich selbst und zog predigend umher, mit ihm ein College ähnlichen Schicksals, Fung-yung-san. Sie lasen den Leuten auf dem Felde beim Viehhüten aus der Bibel vor, und es sammelten sich Gemeinden um sie, welche sich rasch verbreiteten. Die Gläubigen zerstörten die Götzenbilder und hatten in ihren Versammlungen Verzückungen. Hung faßte sofort nach dem Tode des Kaisers Tao-kuang den Plan, die Mandschus zu stürzen. Er verband sich mit einem gewissen Yang-sin-tsing, der die politische und militärische Leitung der Rebellen übernahm, während er selbst die höchste geistliche Würde bekleidete.

Die Organisation der Insurgenten war rein communistisch; alle lieferten ihr Vermögen in die gemeinsame Kriegscasse ab. Die Tai-ping, wie sie sich nach ihrem ersten Hauptsitze, einem Kreise der Provinz Kuang-si nannten, standen bald gerüstet den kaiserlichen Truppen gegenüber und zeigten sich ihnen gewachsen. Hung, der sich „himmlischer Fürst“ und „jüngerer Bruder Christi“ betitelte, erließ Manifeste, in denen er sich (1851) zum Herrn des Reichs erklärte und die Mandschus und Götzendiener auszurotten befahl.

In einer solchen Kundgebung proclamirte er sich endlich auch als Kaiser und ernannte seinen Bruder zum Hülfskönig und seine fünf hervorragendsten Anhänger zu „Königen des Nordens, Ostens, Westens und Südens“ (Yang und Fung befanden sich natürlich unter ihnen). Das Heer des Rebellenkaisers zählte etwa 16,000 Mann; in seinen Proclamationen aber prahlte er mit „neun Armeen“! Alle Tai-ping schnitten sich die Zöpfe ab als Zeichen des Aufstandes gegen die Mandschus und ließen das Haar wachsen. In merkwürdigem, unaufhaltsamem Siegeszuge drangen sie nordwärts, und am 19. März 1853 eroberten sie Nanking, die „südliche Residenz“ des Reichs der Mitte, welches elf Jahre lang ihre Hauptstadt sein sollte. Daß sie aber diesen Erfolg überschätzten und es untertießen, sich sofort nach Peking, der „nördlichen Residenz“ zu wenden, was ihnen im damaligen Siegesrausche, bei einer inzwischen erlangten Stärke von wenigstens 160,000 Mann und bei der vollständigen Demoralisation der Kaiserlichen leicht gewesen wäre, – das war ihr Unglück.

Hung umgab sich in seiner neuen Residenz mit einem glänzenden Hofe und einer Menge Frauen, beschäftigte sich daneben eifrig mit theologischen Fragen, schloß sich vom Volke ab und überließ die Regierung ganz seinen fünf „Königen“. Diesen fehlte es aber an Bildung und Erfahrung und sogar an Energie. Die Tai-ping machten nicht nur keine Furtschritte mehr, sondern ein Heer, das sie nach dem Norden sandten und vor welchem der Kaiser und Hof in Peking erzitterte, ließ sich von den Kaiserlichen, denen mongolische Nomaden, angebliche Nachkommen Dschingischan’s, zu Hülfe kamen, einschließen und mußte froh sein, sich zurückschlagen zu können. So verloren die Tai-ping nach und nach auch ihre bisherigen Eroberungen, da sie dieselben nicht besetzt hielten, und behaupteten nur Nanking und dessen nächste Umgebung auf die Dauer. Hung [526] aber, der sich als „Kaiser“ Tien-wang (himmlischer Fürst) nannte, bewies nicht nur seine völlige Unfähigkeit, sondern verfiel geradezu in Wahnsinn, nahm für seine Person eine eigentliche Vergötterung in Anspruch und ließ sich den „zweiten Sohn Gottes“ und den „Herrn der ganzen Welt“ nennen.

Während so die Tai-ping in Unthätigkeit versanken, erhielten sie eine Concurrenz in den bereits genannten Anhängern der Dynastie Ming, die der alten geheimen Gesellschaft des „Dreifaltigkeitsbundes“ angehörten, sich im Herbst 1853 der Stadt Schanghai bemächtigten und sie anderthalb Jahre lang behaupteten, aber dann den Kaiserlichen weichen mußten, welche die Stadt für ihren Abfall in grausamster und blutigster Weise bestraften.

Gleiches geschah in Amoi, welches die Dreifaltigkeitsbündler sechs Monate lang besetzt hatten. Diese Leute theilten die christlichen Anläufe der Tai-ping nicht und wurden daher von ihnen ebenso angefeindet wie die Kaiserlichen, was alles die Zustände in dem zerrütteten Reiche in noch höherem Grade verschlimmerte. Die Heere aller drei Parteien bestanden beinahe durchweg aus dem niedrigsten Gesindel, und es läßt sich demzufolge denken, was das Land unter ihren „Operationen“, die nicht mehr Kriegs-, sondern blos noch Raubzüge waren und nur Verwüstung und alle möglichen Gräuel im Gefolge hatten, leiden mußte. Das chinesische Volk hatte früher nur den Mandschus geflucht, jetzt fluchte es auch den Tai-ping und den Dreifaltigkeitlern.

Das nunmehrige Treiben der Tai-ping stand im schreiendsten Widerspruche zu ihrer Lehre, welche Hung in einem selbstverfaßten Buche dargelegt hatte und welche von trefflichen moralischen Grundsätzen überfloß. Sie war ein Gemisch aus der auf der reinsten Sittenlehre beruhenden altchinesischen Religion vor ihrer Entartung zum Götzendienst und einem großentheils mißverstandenen Christenthum. Die mosaischen „zehn Gebote“ wurden als Grundlage dieser Lehre anerkannt; aber Christus wurde nicht als Gott, sondern, wenn auch Gottes Sohn genannt, nur als der erhabenste Mensch betrachtet; nach ihm kam indessen gleich der neue Kaiser der Tai-ping. Nach der altchinesischen Lehre konnte nur der Kaiser, der „Sohn des Himmels“, den höchsten Gott, dessen Hülle der Himmel war, anbeten; die Tai-ping erlaubten dieses jedem Menschen und verbannten die Verehrung der unzähligen Geister, welche im alten China die Vermittler zwischen Gott und Menschen waren. Gleich den alten Chinesen bedurften sie keiner Priester und hatten auch keine Tempel, sondern versammelten sich, wo es war, zu Gebet und Andacht, wobei die Schrift ausgelegt wurde; am Hofe that Tien-wang das letztere selbst.

Den Gläubigen war das Rauchen sowohl des Tabaks als des Opiums verboten; ersteres wurde mit Bambushieben, letzteres sogar mit dem Tode bestraft. Die Gütergemeinschaft wurde beibehalten, und in Nanking selbst herrschte die größte Ordnung und strengste Mannszucht und dabei Frohsinn und Heiterkeit. Da aber Alle Soldaten waren, hörten Handel und Gewerbe auf und man bezog die Bedürfnisse von den in die Stadt kommenden Landleuten; das Geld dazu war natürlich geraubt. So hatten die Tai-ping als große Räuberbande viele Aehnlichkeit mit den Arabern unter Mohammed und den ersten Chalifen, während ihr religiös gefärbter Militarismus an die Puritaner unter Cromwell und ihre Religionsmengerei, verbunden mit bürgerlicher Ordnung, an die Mormonen erinnerte.

Nachdem jedoch Tien-wang durch seinen Selbstvergötterungswahn den Verstand verloren, entartete die ganze Bewegung. Es griffen confuse und mystische, ja geradezu verrückte Ideen über die Dreieinigkeit, über die Maria, über die Erbsünde und Erlösung Platz, und der Rebellenkaiser behauptete sogar, den Himmel besucht zu haben! Dabei aber versank er in Ueppigkeit und Schwelgerei und wurde immer mehr zum blutdürstigen Despoten; die geringsten Fehler seiner Untergebenen ahndete er mit dem Tode, die größeren mit grausamen Qualen. Merkwürdiger Weise aber empörten sich die Bedrückten nicht gegen ihn, sondern blieben ihm bis zum Untergange ihrer Sache mit Gut und Blut ergeben. Nur sein Freund Yang, der „Ostkönig“, Obergeneral und eigentlicher Regent, arbeitete im Geheimen an seinem Sturze und suchte ihn in Verzückungen zu überbieten, worin er soweit ging, sich für ein Organ des „himmlischen Vaters“ auszugeben, was der Rebellenkaiser in seinem Wahnsinn soweit anerkannte, daß er von ihm Verweise über sein Verhalten hinnahm und Besserung versprach! Ja, Yang erhielt für seine Zusprüche den Titel des „Trösters“ und „heiligen Geistes“, sein Name wurde in den Litaneien an die Stelle des letzteren gesetzt und seiner Lobpreisung gleich auch diejenige der vier übrigen „Könige“ beigefügt, welche als „Regenmacher, Wolkensammler, Donnerer und Blitzschleuderer“ betitelt wurden, womit also die angeblichen Neu-Christen glücklich wieder bei dem rohen Schamanismus der Vorfahren ihres Volkes angekommen waren. Daß Tien-wang selbst nicht in die Litanei kam, ist offenbar nur den Ränken Yang´s zuzuschreiben, welcher sich nach und nach der Regierung so vollständig bemächtigte, daß der Glaube um sich griff, der Kaiser wäre gestorben.

Endlich aber ermannte sich der Letztere und ließ 1856 den Yang und alle seine Anhänger ermorden. Damit hatten jedoch die Tai-ping ihren einzigen fähigen Feldherrn verloren, und die Folge war, daß die Kaiserlichen wieder Erfolge gewannen und wiederholt Nanking belagern konnten. Daß sie nicht mehr erreichten, hatte seinen Grund in dem unaufhörlichen Auftauchen der Rebellenschaaren, welche mit den Tai-ping mehr oder weniger in Verbindung standen und die Mandschus nicht zur Erholung kommen ließen. Das ganze Reich war zerrüttet, und so oft eine Partei siegte, verhängte sie furchtbare Blutgerichte über die Gegner. In Kanton wurden angeblich 70,000 Rebellen hingerichtet! Das Land war, soweit der Krieg raste, das heißt in elf von den achtzehn Provinzen des eigentlichen China, eine Wüste, Millionenstädte, die sonst in höchster Blüthe standen, lagen in Trümmern und boten wilden Thieren Zuflucht dar. Das Volk hungerte und verzweifelte; denn wo die Tai-ping hinkamen, preßten sie alle waffenfähigen Männer zum Kriegsdienste und jagten alle anderen Personen in’s Elend. Gefangene köpften sie, Spione marterten sie zu Tode; Gnade gab es keine. Grundsätze aber beherrschten die Soldaten der Rebellen so wenig mehr, daß sie die Zöpfe nicht mehr abschnitten, sondern nur aufbanden, um je nach Bedürfniß zu den Kaiserlichen überlaufen zu können.

Dies Alles aber störte den Tien-wang in seinem Irrsinne nicht; er erließ wahnwitzige Proclamationen, nicht um die Noth des Landes zu heilen, sondern um seine Göttlichkeit zu betonen (er selbst war jetzt „heiliger Geist“) und den Mord Yang’s zu beschönigen, als wäre derselbe, „vom Unglück ereilt, zum himmlischen Vater zurückgekehrt“. Selbst für seinen zehnjährigen Sohn setzte er göttliche Verehrung durch; ja derselbe erließ besondere Edicte und beteiligte sich an den Staatsgeschäften.

Den größten Einfluß am Hofe der Rebellen übte seit 1858 Hung-Dschin, ein Verwandter des „Kaisers“, als erster Minister mit dem Titel „Schildkönig“ aus. Obschon von Missionären besser als sein Vetter im Christentume unterrichtet, ließ er sich bald von dessen Blutdurst anstecken und mordete unbedenklich. Tien-wang selbst kümmerte sich in seinem Stumpfsinne weder um die Siege noch um die Niederlagen seiner Partei. Für ihn handelten, statt der nun todten Könige der vier Weltgegenden, neue fähigere Generale, welche als „Heldenkönig“, „treuer König“ etc. betitelt waren und manche Erfolge errangen, sodaß es zeitweise, namentlich 1859 und noch mehr 1860, als zugleich die Engländer und Franzosen Peking demüthigten, mit den Mandschus herzlich schlecht stand. Schanghai widerstand den Rebellen 1860 nur, weil es von Engländern und Franzosen besetzt war, welche nun auch die Rebellen ebenso jämmerlich zusammenschossen, wie die Mandschus. Dennoch führten die Tai-ping eine hochfahrende Sprache gegen die Europäer und betrachteten sie fortwährend als „Barbaren“, die ihrem „Kaiser“ Gehorsam schuldeten!

Längst war es den Europäern in China klar, welch Geistes Kinder diese Leute waren. Nur einige Missionäre glaubten noch im Ernste an ein aufrichtiges Christenthum der Rebellen. Ein solcher war der Engländer Roberts, welcher dem Tien-wang, als dieser noch ein obscurer Mensch und noch kein Gott war, Unterricht ertheilt hatte. Von ihm eingeladen, begab er sich 1860 nach Nanking, erhielt eine hohe Stelle am Hofe und trug das gelbe Kleid der Tai-ping und eine goldgestickte Krone; da er aber als Christ die Göttlichkeit des Usurpators nicht anerkennen konnte, fiel er in Ungnade. Er wurde gründlich enttäuscht und lieferte seinen Landsleuten ein nichts weniger als schmeichelhaftes Bild von den traurigen Zuständen an dem possenhaften Hofe des Gottkaisers. Er wurde dafür 1862 von Hung-Dschin mit dem Tode bedroht und mißhandelt und sein Diener vor seinen Augen erschlagen, dessen Kopf der „König“ und „Minister“ mit Füßen trat! Erst nachdem er bei dem irrsinnigen und verschlossenen ehemaligen [527] Zögling kein Recht gefunden, verließ Roberts den Herd blutigen Wahnes, welchen Leute ohne alle Bildung beherrschten, die so weit gingen, Chinas berühmtestes Bauwerk, den weltbekanten Porcellanthurm, zu zerstören!

Nachdem der zweite englisch- (diesmal auch französisch-) chinesische Krieg 1860 durch die Verträge von Peking beendigt worden, fanden es die europäischen Sieger in ihrem Interesse, der chinesischen Regierung zur endlichen Niederwerfung des Tai-ping-Aufstandes, dem sie allein nicht beikommen konnte, behülflich zu sein, denn ihr Handel litt durch den innern Krieg, und Hoffnung auf einen Sieg der Rebellen war längst keine mehr vorhanden. Es wurde 1862 ein Heer gegen die letzteren in Bewegung gesetzt, das aus englischen und britisch-indischen Truppen, englischen und französischen Seeleuten und einem angeworbenen chinesischen Corps unter europäischen und amerikanischen Officieren bestand. Das Heer hatte aber keine so leichte Arbeit, wie man wohl gehofft hatte. Es wurde im Mai von den Tai-ping unter dem „treuen König“ Tschun-wang so empfindlich geschlagen, daß es von 7000 Mann kaum 2000 am Leben behielt. Die Verbündeten verstärkten sich nun, die kaiserlichen Chinesen kamen ihnen mit 40,000 Mann zu Hülfe, und nun gelang die Einnahme von Ningpo. Noch lange jedoch wechselte das Glück; denn die Europäer und die Chinesen vertrugen sich schlecht, und dem angeworbenen Corps fehlte es an Mannszucht.

Da trat 1863 ein Mann an die Spitze des letzteren, der jetzt, während diese Zeilen erscheinen, wiederum in fernen Landen, aber unter ungünstigeren Umständen, die Sache seiner Landsleute zu retten sucht. Major Gordon, der sich schon im Krimkriege ausgezeichnet, der den letzten Krieg in China mitgemacht, dann das Land bereist hatte und die Chinesen gründlich kannte, und der jetzt wieder im heißen Sudan von Feinden umringt ist, stellte die fehlende Disciplin her. Aber auch die Tai-ping hatten viele europäische, amerikanische und indische Abenteurer und Ueberläufer in ihren Schaaren, denen sie aber schlechte Behandlung angedeihen ließen. Gordon verstand es, sie unschädlich zu machen, indem er sie bewog, zu ihm überzutreten. Ihm vorzüglich ist die Abkürzung des Rebellionskrieges zu verdanken, der endlich im Jahre 1864 ausathmete.

Es ging mit den Tai-ping immer mehr bergab; bald besaßen sie nichts mehr, als die Stadt Nanking, die seit elf Jahren als ihre Hauptstadt Tien-king, das heißt Himmelsresidenz, genannt wurde.

Jetzt aber nahte die kurze und doch allzu lange Herrlichkeit ihrem tragische Schlußacte. Die kaiserlichen Mandschu-Chinesen wollten in ihrer Klugheit und in ihrem Mißtrauen gegen die Europäer denselben allein besorgen; der Mohr hatte seine Pflicht gethan und konnte nun gehen, – Gordon und seine Schaar wurden verabschiedet; zur Anerkennung seiner Dienste erhielt er den Sternenorden, ein Banner und die gelbseidene Jacke – die höchsten chinesischen Ehrenzeichen.

Tschun-wang, der letzte Feldherr der Rebellen, ihr bester Mann und ihr Geschichtschreiber zugleich, war noch in die „Himmelsresidenz“ gelangt, ehe sie von den Kaiserlichen eingeschlossen wurde. Sie litt bereits große Noth. Tien-wang, immer noch unempfindlich gegen die Wechselfälle seiner Sache, hatte nur für seine religiösen Grillen Sinn und betrachtete sich bis zum letzten Augenblicke als incarnirten Gott und Herrn der Welt; bis zuletzt aber auch blieb er wollüstig und grausam zugleich, und aus dem Harem, in den er sich eingeschlossen, kamen nur Blutbefehle, wobei Hung-Dschin seinen Herrn noch zu übertreffen suchte, indem er die hungernde Bevölkerung vollends ausplünderte. Aber noch bevor das Ende seiner Sache eintrat, ging der Schulmeister auf dem usurpirten Throne, angeblich indem er Gift nahm, aus der Welt. Am 19. Juli 1864 fiel die Stadt in die Hände der Kaiserlichen; Tschun-wang, tapfer kämpfend, übergab den kaiserlichen Palast den Flammen und rettete den jungen „Kaiser“ Hung-fu-tien, der wenige Tage den Scheinthron besessen hatte. Sie Beide, sowie Hung-Dschin, der Minister, entkamen, wurden aber eingeholt und enthauptet. Umsonst hatte der tapfere Feldherr gehofft, durch seine im Kerker geschriebene Lebensgeschichte sein Leben zu retten. Den Leichnam des alten Rebellenkaisers und „Gottessohnes“ fand man im Palastgarten nothdürftig eingescharrt, ein gelbes Seidenkleid und grauer Schnurrbart kennzeichneten ihn. - Was die Schrecknisse des Krieges noch von Nanking übrig gelassen, vernichtete Tschun-wang's Flammenmeer; die stolze Stadt blieb noch lange ein Trümmerhaufen. – Soweit hatte es politisch-religiöser Fanatismus gebracht! Zäh und unzerstörbar aber muß eine Cultur sein, die solche Stürme überdauert, wie sie das „Reich der Mitte“ erlebt hat, und die sicher noch lange und oft wiederkehren werden.