Ein deutscher Liebesgott
Ein deutscher Liebesgott.
Es ist nun entschieden: ich nehme meinen Abschied!“ sprach Doktor Ehrlich, Bibliothekar an jener mitteldeutschen Universität, welche jedem flotten Burschen, der dort sein Gaudeamus sang, ins Herz gewachsen bleibt, bis ihn die Erde hat.
Von einer Reise zurückkehrend, zu der er die Osterferien benutzt hatte, trat er mit diesen Worten in seine freundliche Parterrewohnung.
Am Fenster erhob sich ein junges Mädchen von hoher Gestalt, legte die große Serviette, an der sie das schadhaft gewordene alte Tulpenmuster ausbesserte, auf das Nähtischchen und schritt ruhig von dem erhöhten Platz herab. Sie nahm dem blassen Mann, dem das grau gemischte Haar so nervös um das Haupt starrte, den Hut, die Handtasche und den Regenschirm ab. Ihr Antlitz, weiß und rosig angehaucht wie eine Apfelblüthe, zeigte einen Ausdruck von Spannung. „Willst Du wirklich Deinen Büchern Lebewohl sagen?“
Eifrig antwortete er: „Ja, ich verlasse meine lieben alten Schwarten, bevor sie mir das letzte Restchen Augenlicht rauben, die Lunge gänzlich verstäuben. Ich habe nun fünfunddreißig Jahre nach Kräften der Wissenschaft gedient, in den feuchten Gewölben der Archive, wo die Weisheit vergangener Jahrhunderte sich verwandelt, daß niemand mehr ergründen kann, ob er ein Stück Braunkohle in der Hand hält oder eine Urschrift des Heliand oder ein Urthel, welches befiehlt, einem armen Wilddiebe die Haut vom Leibe zu ziehen; habe den Arsenik eingeathmet, der die alten Papiere zwar vor Mäusen und Würmern schützt, aber die Archivare umbringt; bin für die Studenten, die lieben frischen Burschen, bis auf die höchsten Bücherbretter hinaufgeklettert und um verlegter Pergamentblätter willen beinahe verrückt geworden. Ich glaube, ich kann nun ohne Gewissensbisse meine Pension verzehren.“
Nachdem der pflichttreue deutsche Gelehrte diese Rede gehalten hatte, um seine Gewissensbisse endgültig niederzuwerfen, athmete er tief auf.
Das junge Mädchen schien irgend einem Gedanken nachzuhängen. Leise wie für sich sprach sie: „So scheiden wir auch von den Handschriften der Minnesänger.“
„Auch von diesen,“ nickte er ernst. – „Und ich weiß bereits,“ fuhr er fort, „wo ich mich zur Ruhe setze.“
„Nicht hier?“ fragte sie überrascht.
„Nein, wir ziehen nach Tannenroda,“ erwiderte ihr Vater mit leise bebender Stimme. „Wenn das Alter naht, kommt die Sehnsucht nach der Stätte, wo die Kindheit uns verfloß. Es ist die erste Station auf dem Heimweg. Ich bin nicht an den Rhein dem Frühling entgegengereist; ich war an dem Ort, von dem unsere Familie ausgegangen ist. Es war schön droben. Natürlich lag noch viel Schnee im Gebirge. Die Schlucht des Purzel-Männchens war gänzlich davon erfüllt.“
Er wartete auf Antwort. Aber sein Töchterlein schwieg und sah träumerisch zum Fenster hinaus. Er folgte ihrem Blick. Sollten die Studenten sie fesseln, die da, mit Verbindungsbändern und Cereviskäppchen geschmückt, vorüber schlenderten und durch ihre Kneifer hereinspähten? Ach nein! Des Mädchens Blick ging über sie hinweg ins Blaue des Himmels hinein.
„Sif!“ rief er sie an. „Ich habe das Haus meiner Vorväter gekauft für ein Spottgeld; denke Dir, für achttausend Mark, sammt dem großen Hofraum und dem Gärtchen, darin auch noch die alte Mooshütte steht.“
„Wir bekommen ein eigenes altes Haus?“ fragte das junge Mädchen wie erwachend.
„Ja, liebe Sif,“ antwortete der Vater. „Die Fenster bestehen noch aus Butzenscheiben, die altersgrauen Balkenknäufe tragen Schnitzereien, und auf dem Giebel kreischt eine Wetterfahne mit der Jahreszahl 1580. Es giebt freilich mancherlei daran zu restaurieren; aber der Schwumprich wird uns beistehen.“
„Der Schwumprich?“ fragte die Tochter verwundert.
„Kommt von Schwämmen her, mit denen die Familie seit unvordenklichen Zeiten gehandelt hat,“ belehrte sie der Vater. „Das Volk hat seine eigene Art, neue Worte zu bilden, kann einem Grimm, einem Hildebrand etwas aufzuknacken geben. Ich habe auch ein Mädchen gemiethet, natürlich ‚für alles‘. Sie heißt Hulda und geht barfuß. Aurora und Rosamunde trugen Strümpfe. Aber der Name Hulda ist altdeutsch und paßt zu der altnordischen Sif.“ Und er strich liebkosend über die langen blonden Zöpfe seiner Tochter, die fast bis auf den Saum ihres Kleides herabhingen. Wenn diese starken Flechten gelöst waren, dann mochte das junge Mädchen wohl der goldhaarigen Göttin der alten Germanen gleichen.
„Nun sage unserem Hausdrachen, der Köchin, den Dienst auf,“ ordnete er an. „Melde auch der Frau Professor, daß ich genöthigt bin, die Wohnung zu kündigen. Ich will mein Gesuch um Pensionirung aufsetzen.“
Er kam nicht dazu. Zuerst tönte Sifs ruhige Stimme aus der Küche und darauf Geklirr von herumgeworfenem Geschirr: die Antwort der Köchin. Dann hörte er droben rasche Schritte hin- und hergehen: die Frau Professor eilte zu ihrem Gatten, ihm die Neuigkeit zu verkündigen. Nun, vor dem war er sicher; der saß über seinem neuesten Geschichtswerk.
Er tauchte die Feder ein.
Aber jetzt rauschte ein stattliches Gewand die Treppe hernieder. Die Frau Professor, die Besitzerin des Hauses, in welchem der Bibliothekar Ehrlich seit vielen Jahren zur Miethe wohnte, die der mutterlosen Sif stets eine gütige Beratherin gewesen war, trat ein. Sie schlug die Hände zusammen. „Nach Tannenroda? In das kleine Nest auf den Wald? Haben Sie das wohl bedacht?“
Er steckte ergebungsvoll die Feder hinter das Ohr und geleitete sie nach dem Sofa. „Ja wohl! Es giebt dort balsamische Luft, klares Bergwasser, eine herrliche Natur.“
„Ach, was hilft das einem jungen Mädchen!“ redete sie auf ihn ein. „Sie könnten ja dort eine Sommerfrische machen und wiederkommen. Was soll die arme Sif im Winter in Tannenroda? Da giebt es keine Traubenbälle, und sie kann doch nicht in der Schenke tanzen.“
„Sie hat sich nie viel aus dem Tanzen gemacht,“ sagte Doktor Ehrlich ruhig.
„Aber sie könnte eine Partie hier finden,“ sprach die Frau Professor mit schwerer Betonung.
Er lächelte. „Sif besitzt kein nennenswerthes Vermögen; da heirathen die Mädchen heutzutage nicht. Oder soll ich mit ihr ausziehen, einen jungen Gelbschnabel fangen, dessen Eltern dem armen verlebten Mädchen alle Schmach anthun, um sie abzuschütteln? Der es dann selbst bereut und, wenn sie sich ein halbes Jahrzehnt als Studentenbraut hingegrämt hat, die Verbindung auflöst? Gehorsamster Diener, meine Herren!“ unterbrach er sich und grüßte durch das Fenster die abermals gassenbreit vorüberziehenden Studenten, von denen vorzüglich einer mit einem blonden Bärtchen unternehmend hereinguckte. „Nein, liebe Frau Professor, da mag sie sich lieber bald zu einer vernünftigen alten Jungfer ausbilden.“
Die Dame saß ganz starr da. „Sie reden wie ein Rabenvater!“
Er wurde eifrig. „Ich meine es besser als die Mütter, die ihre Töchter zu Hausfrauen erziehen ohne Aussicht, ihnen diesen Wirkungskreis eröffnen zu können. Wozu den armen Mädchen [367] diese Enttäuschung bereiten, sie der Verbitterung preisgeben? Sie werden glücklicher sein, wenn sie sich bald damit bescheiden, ihr Leben einsam zu führen.“
„Aber sie ist so jung,“ bat die Frau Professor vor.
„Und ich werde alt,“ sprach er gewichtig. „Ich konnte erst spät daran denken, mich zu verloben, nach zehnjähriger Brautschaft erst verheirathen. Es wird Zeit, daß ich mein einziges Kind versorge. Schätze zu sammeln vermag ein deutscher Bücherwurm nicht. Aber in Tannenroda können wir einfach leben; ich vermag die Zinsen unseres kleinen Kapitals zurückzulegen, ein Dach über den Kopf dafür zu schaffen, eine Kuh in den Stall, ein Stück Wiese, ein Stück Kartoffelland. Das ist mehr werth als ein Dutzend Cotillonsträußchen auf den Traubenbällen.“
„Kartoffeln bauen, Kühe melken? Entsetzlich!“ klagte die Dame. „Warum haben Sie sie nicht ausbilden lassen zu einer Lehrerin oder irgend etwas Aehnlichem?“
Er zuckte die Achseln. „Zu einer Lehrerin? Lebende Sprachen sind da die Hauptsache, und über dem Französischen ist sie eingeschlafen. Ja! Mittelhochdeutsch lernte sie von selbst, wie auch bei unseren kleinen Reisen alle Dialekte. Sie hat ein sehr feines Gefühl für die Unterschiede zwischen denselben. Am liebsten betete sie als Kind das gothische Vaterunser: ‚Atta unsar, thu in himinam‘. Für weibliche Handarbeiten? Sie war niemals dazu zu bringen, eine Tasche aus Sammet und Seide zur Aufbewahrung eines Wischlappens zu verfertigen; aber gesponnen hat sie von ihrem fünften Jahre an. Auch zur Stütze der Hausfrau, wie man die Haushälterin jetzt nennt, paßt sie nicht. Sie kocht zwar, aber es macht ihr Spaß, den Topf auf dem alten Dreifuß in das Herdfeuer zu setzen. Sie ist eben vierhundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen,“ schloß er ganz ergebungsvoll.
Die Frau Professor schüttelte den Kopf. „Sie müssen in dem entlegenen Waldort auf alle Annehmlichkeiten verzichten, welche das moderne Leben mit sich bringt,“ warnte sie.
Er lachte gutmüthig. „Zum Beispiel auf die neuesten Kohlenöfen? Ich kehre mit Freuden zu meinen guten alten Kachelöfen mit ihren harzigen Scheiten zurück. Oder auf die wie ein Pulverfaß explodirenden Petroleumlampen? Ich sage Ihnen, die Erfinder unserer Zeit sind vom lieben Gott mit keiner Nase versehen worden; um ihre Werke herum riecht es immer, als statte Beelzebub eine Visite ab.“
Er drückte der würdigen Frau Professor dankbar die Hand für alle gutgemeinten Einwürfe. Dann ging sie, das Herz voll tiefen Mitleides für die arme Sif. –
Diese hatte sich einstweilen auf ihren Lieblingsplatz zurückgezogen. Das war ein Stück alte Stadtmauer, die den Hof abschloß. Auf zerbröckelten Stufen stieg man zu dem bemoosten Bollwerk empor. Als Kind hatte sie das Stachelbeerbüschchen geplündert, das aus einer Spalte herausgrünte und eben jetzt wieder verheißungsvoll mit Blüthenglöckchen behangen war. Dann in späteren Jahren, als ihres Vaters Liebhaberei für die deutsche Vergangenheit ihr jeden alten Thurm mit seinem blasenden Wächter bevölkerte; stellte sie Betrachtungen an, welch ein wehrhafter Mann wohl dereinst hinter dem tiefen Einschnitt der Zinnen gestanden haben möchte in Krebs und Sturmhaube, mit Armbrust oder langem Feuerrohr gewaffnet.
An ihrem sechzehnten Geburtstage wurde ihr die Offenbarung bescheert, wie sie sich denselben zu denken habe. Sie war eben in ihr neues blaßblaues Kleid, das Geschenk ihres Vaters, geschlüpft und hinaus in den geräumigen Hof spaziert, damit auch die übrigen Hausbewohner den Putz bewundern konnten, da tönte über die Mauer von fernher kriegerische Musik, die sich gleichsam auf rollendem Hufschlag wiegte. Sie schallte näher und näher.
„Sie kommen!“ rief das Stubenmädchen der Frau Professor der Köchin im Parterre zu, die eben den Geburtstagsbraten spickte.
„Wer denn?“ fragte die.
Das Stubenmädchen tippte an die Stirn, als könnte solche Frage nur eine gänzlich mit Dummheit Geschlagene thun. „Na, wer wird denn kommen?“
Der Köchin ging ein Licht auf. „Ach so! Soldaten! Sie ziehen durch ins Manöver.“
Und nun liefen beide Mädchen, daß sie die Pantöffelchen verloren, und stürmten zum alten Ausfallpförtchen hinaus an die vorüberführende Chaussee.
Sif aber flog das Steintreppchen empor auf ihren Luginsland.
Die Kesselpauken dröhnten, die Trompeten schmetterten beim Zuge durch die Stadt. Immer mächtiger würde das Getön und das Gerassel. Die Mauer begann zu beben bei dem Anrücken der gepanzerten Reiter. Sahen sie nicht in den blitzenden Harnischen und Helmen aus, als sprengten sie gerade aus dem Mittelalter hervor?
Geblendet, entzückt schaute Sif auf das prächtige Schauspiel, weit hatte sie sich vorgebogen, daß die schweren Zöpfe über den Zinnenrand hinweg sich schlängelten.
Da sah der eine Kürassier herüber. Welch schönes dunkles Gesicht schaute unter dem Helm hervor! Wie mannhaft kleidete ihn der braune Vollbart! Wie prächtig stimmte der weiße Rock, der gelbe Kragen dazu! Blondinen haben immer eine kleine Schwäche für brünette Männer, und Sif mochte die gezwirbelten Bärtchen der Studenten nicht leiden.
Einen Augenblick sahen beide sich an. Dann lachte er und rief mit lauter Stimme herüber:
„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“
Sie wunderte sich nicht über die mittelhochdeutsche Anrede; sie zog sich nicht scheu zurück; sie bemerkte kaum das Lachen in den sonngebräunten Gesichtern der andern Reiter. Sie war für einen Augenblick der Gegenwart entrückt.
Da ertönte ein schneidiges Kommandowort. Der Reiter nahm sein starkes Pferd zusammen und setzte es in Trab. Das holde Bild aus der romantischen Vergangenheit zerrann; die Wirklichkeit der nüchternsten aller Zeitepochen trat wieder in ihr Recht. Sif stand nicht auf dem Söller ihrer väterlichen Burg, sondern in der Lücke einer zerfallenen Stadtmauer; keine blühende Linde spendete süßen Duft, ein Beerbüschchen griff mit spitzen Stacheln in ihr Kleid. Und wo war der Ritter, der jahrelang sonder anderen Dank als einen holden Blick der Dame diente? Dort zog er hin, der Dienstpflicht zu genügen, die das Vaterland von ihm heischte.
Aber er hatte doch mittelhochdeutsch gesprochen! Und warum nicht? Die jungen Professoren und Dozenten steckten ja alle auch im Waffenrock. Wer wußte, welches Licht der Wissenschaft es war, das eben ihren Augen entschwand und sich nicht ein einziges Mal mehr nach ihr umblicken durfte.
Ein Zeitraum von drei Jahren lag zwischen jenem Morgen und heut. Sie hatte immer gehofft, ihn einmal wiederzusehen. Oft kamen junge Gelehrte, um die Bibliothek zu benutzen, welche besonders reich an Handschriften der Minnesänger war. Dann schaute sie auf die abgegebenen Visitenkarten, ob nicht außer denn Doktor- oder Professortitel zu lesen war: Reservelieutenant bei den Kürassieren.
Sif schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie hatte sie nur träumen können, unter den Millionen Soldaten den einen Wehrmann zufällig wieder zu finden?
Sie seufzte lächelnd. Es war nur ein flüchtiges Traumbild, ein zerfließendes Nebelwölkchen gewesen, wie das, welches dort drüben in weiter Ferne die Berge umwebte, die nun ihre Heimath werden sollten.
Ihre Augen blieben daran haften. Jene hohe Kuppe schaute auf Tannenroda herab. In ihrem geheimnißvollen blauen Duftschleier barg sich die kleine deutsche Märchengestalt, die das Glück ihrer frühesten Kindheit gewesen war: das Purzelmännchen. Sie meinte noch die sanfte Stimme zu hören, die ihr davon im Einschlafen gesprochen hatte. Dann schüttelte sie das blonde Haupt noch einmal. Was alles doch sich in dem Kopf zusammenfinden konnte in so kurzer Frist: ein schöner großer Kürassier und ein kleiner Berggeist! Was hatten die mit einander zu schaffen?
Die Zeit bis zum Umzug ging schnell hin unter Verabschiedungen von Büchern und Menschen. Dann kam die Trennung von dem Grabe der früh verstorbenen Gattin des Doktor Ehrlich. Er stand mit Sif davor und empfahl der Fichte, die er dem Kind des Gebirges darauf gepflanzt hatte, treue Hut. Zuletzt brachten die Studenten das Abschiedsständchen. Sif sang ruhig mit ihrer tiefen Stimme das Gaudeamus nach. Sie war nicht traurig. An den Studenten gefiel ihr nur der alterthümliche Wichs: hohe Stiefel, Schärpe und Rapier.
[368] Als der festliche Zug sich auflöste, intonirte der eifrige Pflastertreter mit dem blonden gezwirbelten Bärtchen ärgerlich ein Liedchen von einem ledernen Herrn Papa. Sif achtete nicht darauf, und der lederne Sänger hatte es auch schnell vergessen; denn an der Straßenecke küßte er ein rothwangiges Dienstmädchen nolens volens ab.
Zum Entsetzen der Frau Professor wies der Bibliothekar den angerathenen Packer zurück. Ueber die Möbelwagen lachte er. „Die Gebäude fallen rückwärts herab, wenn es an das Steigen geht. Wir ziehen in altmodischer Weise um.“
Er bestellte bei dem Holzhändler in Tannenroda die Wagen mit den berggewohnten Gespannen. Darauf wurden nach altem Brauch die Möbel in Heu und Stroh gedackt. Selbst der wacklige Küchenschemel mußte mitfahren. „Man jagt auch keinen treuen Hund vor die Thür,“ sagte der Bibliothekar. Unter „Hüh!“ und „Hott!“ zogen die mit Planen überspannten Gefährte zum Stadtthor hinaus.
An einem frischen Maimorgen bestiegen Vater und Tochter eine kleine Chaise, die ebenfalls von dem Holzhändler geschickt wurde. „Was hilft es, mit der Eisenbahn das Gebirge zu umkreisen? Einmal muß doch hinauf gekraxelt werden. Also lieber gleich den geraden Weg eingeschlagen! Wir reisen auch auf altmodische Weise,“ sagte vergnügt der Bibliothekar, drückte die graue Reisemütze über die Stirn, und fort ging’s durch die noch stillen, schlafenden Straßen hinaus, dem Gebirg zu.
Ja, es war das altmodische Reisen, wo eine Pappel stundenlang das Ziel der Augen blieb; wo es schien, als käme man, niemals der Bergkette näher; wo die Mittagsstation nach dem Bedürfniß der Pferde gewählt wurde, die Reisenden an Schinken und Wurst, die für die Ewigkeit geräuchert waren, sich genügen lassen mußten; wo aber auch die pflügenden Bauern auf den Feldern für eine kurze Spanne Zeit nahe traten mit ihren schwieligen Händen, wo Veilchenduft plötzlich durch den Wagen strich, der Lerchenjubel aus den Lüften herein schallte.
Endlich ging es in die Waldthäler hinein. Der Boden hob sich. Statt der weiß blühenden Schlehenbüsche kauerte Wachholder am Rand des Weges. Gleich Säulenreihen standen die Fichten zu beiden Seiten; wie Speerspitzen ragten ihre Gipfel in den blauen Himmel. Zuweilen traten sie auseinander und gaben den Blick frei auf einen Eisenhammer mit glühendem Feuerherzen oder eine Sägemühle, die emsig an einem schäumenden Bach die langen Fichtenstämme zerschnitt in weiß leuchtende Bretter zu Wiegen und Särgen.
Einmal kam es durch den Wald herangebraust wie die wilde Jagd. Ein Hirsch brach durch die Fichten und jagte über den Weg waldein. Sif war erschrocken, aber ihr Vater rief begeistert: „Welch glückverheißender Angang! Und sieh! Dort geht auch ein Jägersmann, wie sich’s in dem Wald gehört. Er ist der junge Forstgehilfe aus Tannenroda. Ich glaube gar, er pflückt Vergißmeinnicht am Bach. Da ist’s kein Wunder, wenn die Hirsche auf der Landstraße spazieren gehen.“
Die Sonne neigte sich schon, als das Wägelchen um eine Waldecke bog und Tannenroda vor ihnen lag.
In dieser Höhe erschien das Thal flach; es war nur eine Einsenkung zwischen den Gebirgskuppen. Aber die scheinbar niedrigen Hügel, welche den Wiesenplan mit ihren Nadelbäumen umgrenzten, führten drunten stolze Bergesnamen. Nur ein Haupt erhob sich höher. Majestätisch fluthete sein schwarzgrüner Tannenmantel bis herab in die Wiese. Eingebettet in das junge, von Maßliebchen durchflochtene Gras lag ein stiller Wasserspiegel. Eine tiefe Schlucht zog sich vom Gipfel des Berges herab. Bläulicher Nebel webte schon darinnen; aber der Gipfel war umstrahlt von dem feurigen Abendroth.
„Das ist die Brandkuppe,“ sagte der Bibliothekar, „eine uralte Opferstätte. Noch heute zündet das Volk, wenn es ein Fest feiern will, dort ein Feuer an, wie sonst zu seiner Götter Ehren. Und das ist der Heidenteich, wo unsere Vorfahren getauft worden sind, wo ihnen ihr Irrglaube abgewaschen wurde. Nur ein kleiner Götze hat sich nicht so schnell bezwingen lassen; weißt Du? unser tapferes Purzelmännchen! Das trieb noch in meiner Jugend sein spukhaftes Wesen in der Schlucht dort. Es wohnte in einem alten Baumstumpf an dem abschüssigen Weg und erhob von jedem, der sich im Wald etwas geholt hatte, seine Abgabe; eine handvoll Beeren, Harz, Tannenzapfen mußten ihm in den hohlen Stamm geworfen werden. Wer es vergaß, der purzelte in der steilen Schlucht hin, und sein eingeheimstes Gut verlief sich in Heide und Moos. Darum heißt der Waldort der ‚Purzel‘. Meine Mutter hat noch pünktlich den Brauch geübt, wenn sie Erdbeeren suchte, um Ihren Schatz, den jungen Jägerburschen, zu treffen.“
Der Wagen rumpelte in den Marktflecken hinein. Ein schäumender Bach rauschte ihnen entgegen an der bemoosten Mühle vorüber. In seinen klaren Wellen standen barfüßige Kinder und hoben vorsichtig die Kiesel auf, um nach schnellenden Steinbeißern zu haschen, unbekümmert darum, daß ihre rosigen Gliederchen überall aus den groben Röcklein schauten. Das Kleinste trug nur einen Aermel als Zeichen, daß es nicht unter die wilden Völkerschaften zu rechnen sei. Sie schauten zu den Reisenden auf, indem sie die Hände schützend über die blinzelnden Augen, das zusammengezogene Näschen hielten.
„Grüß Gott!“ riefen sie insgesammt.
Graue schindelgedeckte Häuser, aus denen nur hier und da ein höheres altersdunkles Ziegeldach aufragte, reihten sich aneinander. Aber überall guckten lustige dunkeläugige Gesichter aus den Fenstern, welche rings umhangen waren mit kleinen Vogelbauern, aus Fichtenholz geschnitzt, in denen grüne und rothe Kreuzschnäbel ihre Kletterkunststücke machten.
Nun kam der breite, aber niedrige Kirchthurm, welcher sich klüglich, der Winterstürme gewärtig, duckte. In seinen Schutz geschmiegt, stand die Pfarre. Unter den sprossenden Hollunderbäumen, welche die Thür überwölbten, komplimentirte sich eben ein ältlicher breitschulteriger Herr heraus. Die Frau Pfarrerin, deren ganzes Gesicht freudig glänzte, ein junges Mädchen mit verdrießlich hängender kirschrother Unterlippe und einer unternehmend emporstrebenden grünen Schleife am hochgethürmten schwarzen Haarschöpfchen, sahen ihm nach.
„Der Herr Apotheker,“ sagte der Bibliothekar und nahm die Mütze ab, als der Wagen an dem Herrn vorüber fuhr.
„G’horschamer Diener,“ erwiderte dieser den Gruß, während er die heiße Stirn mit großem buntseidenen Tuch kühlte.
„Sieh!“ rief der Bibliothekar, „das dort ist unser Haus, wo meine Mutter als Mädchen und dann als Witwe lebte. Das Hirschgeweih über der Thür hat mein Vater erbeutet und – potztausend! – eine Guirlande hängt daran. Da steht auch die Hulda!“
Der Wagen hielt vor einem Haus, grau, wie altes Fichtenholz sich färbt. Der hohe Giebel ragte in den klaren Abendhimmel hinein. Von den ausgetretenen Steinstufen, die zu der rundbogigen Hauspforte führten, sprang flink ein zierliches nußbraunes Mädchen herab, das zwar keine Strümpfe, aber dafür ein buntes Kopftuch mit mächtiger Schleife über der Stirn trug.
„Grüß Gott!“ rief sie, und ihre Stimme klang so weich und singend, als habe sie den Ton einem Waldvöglein abgelauscht.
Vor dem Nachbarhaus, das ein Ladenfenster hatte, stand ein junger kräftiger Mann. An der Art, wie sein schwarzer Schnauzbart empor gedreht war, gleich denen der Offiziere in der Universitätsstadt, und an der Haltung, in welcher er grüßte, den Daumen an der Hosennaht, war zu erkennen, daß er den blauen Rock erst vor kurzer Zeit ausgezogen hatte.
„Das ist der Schwumprich,“ erklärte der Bibliothekar seiner Tochter.
Der Schwumprich wäre wohl den neuen Nachbarn gern zu Hilfe geeilt; aber Hulda warf ihm über die Schulter ein kurzes: „Das ist meine Sache!“ zu, vor dem er zurückwich.
Sie stellte auch trotz ihrer zierlichen Gestalt den alten Herrn kräftig auf seine eingeschlafenen Beine, führte ihn in das Haus und eilte dann zu Sif zurück, die sich unter Kistchen, Schachteln und Taschen hervor arbeitete. Die Kleine bepackte sich bis unter die stumpfe, aber hübsche Nase; die nackten schmalen Füße flogen die Stufen auf und ab; dabei hafteten ihre Augen zutraulich und schüchtern zugleich an Sif wie die einer jungen Drossel.
Als Sif beim Eintritt in das Haus ihr freundlich die Hand bot, glühten ihre Wangen gleich blühenden Fichtenzäpfchen. Sorgfältig geleitete sie ihr Fräulein die weißgescheuerte Wendeltreppe hinauf in die Stube.
Dort sah es schon wohnlich aus. Hulda hatte von den vorher angelangten Gepäckwagen, die im weiten Hofraum ausgespannt standen, den nothwendigsten Hausrath abladen lassen und untergebracht. Der Bibliothekar saß seelenvergnügt in seinem gewohnten Großvaterstuhl.
[370] Hulda war schon wieder unten am Wagen. „Eil’ dich, Hannickel! Sonst hält die Chaise morgen früh noch an unserer Thür,“ sprach sie zum Kutscher, der durch seinen Mantel, ein Erbstück von Anno Eins her mit fünf Kragen, noch unbehilflicher geworden war.
„Das sind unsere Koffer,“ wandte sie sich hochfahrend an den Schwumprich, der es nicht lassen konnte, die Stricke loszuschnüren; „aber ich erlaube Dir, sie abzuladen. Dem Herrn wird’s nicht auf ein paar Pfennige ankommen, wenn Du sie doch gern verdienen willst. Wir sind nicht so.“
Der Schwumprich war feuerroth geworden; aber er faßte doch einen Koffer an. Sie griff nach der andern Handhabe und hielt ruhig fest, als ihm die seine in der Erregung entglitt.
„Die Männer sind einmal ungeschickt,“ sagte sie geringschätzig.
Als alles Gepäck herein geschafft war, händigte sie dem Kutscher einen Thaler aus, den ihr der Herr zu diesem Behufe anvertraut hatte. „Wir können es,“ sagte sie selbstbewußt.
Der Schwumprich wollte auch stolz sein und sein Trinkgeld nicht nehmen; aber sie trieb ihm den Hochmuth aus. „Du darfst Dir durch solches Gethu unsere Kundschaft nicht verschlagen.“
Da warf er einen Blick auf seine Cichorienpäckchen und Essigflaschen im Ladenfenster und steckte sein Fünfzigpfennigstück ein. Aber er blieb roth bis unter seine dicken schwarzen im Militärschnitt gehaltenen Haare.
Während der Bibliothekar sein Abendpfeifchen rauchte, wandelte Sif durch das ganze Haus, schaute durch die Dachluke nach der Wetterfahne und besichtigte die eiserne Kellerthür, wie man solche in früheren Zeiten anzubringen pflegte, um bei Feuersbrünsten die Schätze des Hauses da unten bergen zu können.
Als sie durch den Hausflur ging, sah sie Hulda in der geöffneten Pforte stehen. Wie war das Gesichtchen, welches ihr das Profil zuwandte, verändert! Wie kummervoll bewölkt erschien die gebräunte Stirn! Wie schmerzlich zuckte der Mund! Die nußbraunen Augen folgten irgend einem Vorgang so gespannt, daß sie Sif nicht gewahrten. Diese trat in die Unterstube an das Fenster.
Da ging der Schwumprich draußen vorüber neben einer stattlichen Frauensperson, die nicht mehr jung, aber recht gut gekleidet war und vorzüglich moderne Hackenschuhe und blau geringelte Strümpfe trug. Sie schwatzten zusammen, wie Pärchen thun, „die mit einander gehen“; so wird unter dem einfachen Völkchen der Zustand zwischen Liebelei und Verlobung genannt.
Jetzt flog mit lautem Krach die Hausthür zu.
Bei Sif tagte es. Sie ging hinaus zu Hulda. „Wer ist das Mädchen, mit dem der Schwumprich spazieren geht?“
„Die lange Lale,“ preßte Hulda heraus. „Eigentlich heißt sie Eulalia und ist die Wirthschafterin des Apothekers. Ich kann sie nicht ausstehen, gerade die nicht. Wie sie die Beine wirft!“ und sie sah auf ihre kleinen nackten Füße scheu herab.
Sif lächelte. „Komm, ich will Dir etwas schenken.“ Sie öffnete einen ihrer Koffer. „Da, wähle Dir von den Strümpfen aus, welche Du magst. Du brauchst Dich nicht davor zu fürchten. Zieh die rothen an! So! Und nun schlüpfe hier in meine alten Schnallenschuhe.“
Hulda stand athemlos. „Ach, wenn es doch noch etwas zu holen gäbe! Etwas in der Apotheke! Für einen Pfennig Räucherkerzchen.“
Sif nickte lachend. „Nun, so hole wenigstens für zehn Pfennig.“
Sie sah ihr nach, wie sie keck an dem Paar vorüber schritt, daß ihr weiter, mit bunten Kattunstreifen besetzter Rock sich schwenkte. Sie schien die beiden gar nicht zu bemerken.
Desto aufmerksamer wurden diese. Als sie auf die Apotheke zusteuerte, vor welcher als Schild ein Mohr stand, schlugen sie einen rascheren Schritt an, der immer schneller wurde, je länger Hulda hinter dem Mohrenbilde verweilte.
Jetzt kam sie heraus, die Düte so hochmüthig in der Hand haltend, als habe sie mit ihrem Einkauf die Apotheke vor dem Bankerott gerettet. An dem Paar schwenkte sie vorüber, als sei es Luft.
Ganz verblüfft standen beide, und der Schwumprich sah ihr nach, die Augen starr auf die rothen Strümpfe und die Schnallenschuhe gerichtet, während er den Bart nach der verkehrten Seite drehte.
Trotz ihres Triumphes aber wischte Hulda sich mit der blauen Schürze verstohlen eine Thräne aus den Augen, während sie „gute Nacht“ wünschte.
Als sie mit dem kleinen Oellämpchen schon unter der Thür stand, sagte sie, wieder schüchtern lächelnd: „Merken Sie sich, was Sie träumen, Fräulein! Der erste Traum unter einem neuen Balken geht in Erfüllung.“
„Nun, was hast Du hier geträumt, Hulda?“ fragte Sif.
Aber diese sah verschämt zur Seite, schüttelte den Kopf und erwiderte dann: „Daß ich hier im Dienst Glück haben würde. Und das trifft ja auch ein. Ich danke Ihnen vielmals, Fräulein.“
Sif lag mit offenen Augen in ihrer alterthümlichen Bettstatt.
Durch die runden Fensterscheibchen schimmerten die Sterne; denn die Vorhänge waren noch eingepackt.
Das arme Ding, das sich in den Schwumprich verliebt hatte, that ihr leid. Der nahm gewiß die andere mit den großen goldenen Ohrglocken.
Hatte der Vater doch recht, wenn er sagte: „Bildet Euch bald von Anfang an zu alten Jungfern aus!“? Fast schien es so. Aber wo blieb dann das Glück, das eine heimliche Stimme ihr verhieß, seit – ach! sie wollte ja nicht mehr an den geharnischten Reiter und die „sueze Juncfrouwe“ denken.
Allmählich verdämmerten Sterne, Butzenscheiben und arme liebende Mädchen, die in blaue Schürzen weinten.
Dann sah sie durch eine Mauerlücke hinaus ins Weite. Thürme tauchten auf, hohe Zinnen, Häuser mit Erkern; schönes altes Geräth umgab sie und – da stand auch der stattliche Mann mit dem braunen Vollbart. Aber er trug keinen Harnisch, sondern ein schwarzes Sammetwams wie der Doktor Faust, und er redete in mittelhochdeutscher Sprache so schnell, daß in ihrem Ohr nur die weichen Laute haften blieben, die mit ihrem „tiu, tiu“ wie der Sang der Vöglein klangen, der gestern abend noch aus der Schlucht herüber schallte.
Endlich schnitt der helle Ruf einer Amsel den Faden der Rede jäh ab.
Sif rieb sich die Augen, in die das Morgenlicht schien. Die Amsel sang draußen im Hof auf dem Haselbusch weiter.
Schade! dachte Sif. Wenn ich auch nichts verstand, es war doch so schön.
„Langschläferin!“ rief ihr Vater durch das weite Schlüsselloch. „Ich habe schon gefrühstückt: Milch, in welcher der Löffel steht, so rahmig ist sie. Und dazu riecht es wie frisches Brot. Natürlich hat ein jedes Anwesen sein eigenes Backhaus. Hulda zieht eben die dampfenden Laibe aus dem Ofen. Sie sind so groß wie die Mühlsteine und mit Kreuzchen gepiept, daß die Heinzelmänner sie nicht benaschen können. Das ist ein Leben wie im deutschen Märchen.“
Als Sif aus ihrer Schlafkammer kam, fand sie alles in angemessener Thätigkeit. Hulda handelte für den Herrn um eine schöne rothe Kuh und zwackte richtig noch zwanzig Mark ab. Der Schwumprich mühte sich, die auf den schiefen Böden wackelnden Möbel durch verschiedenartige Klötzchen festzustellen, und ihr Vater kühlte seinen Daumen, den er mit der Geschicklichkeit der Gelehrten statt des Nagels auf den Kopf getroffen hatte.
„Nun, der Schwumprich wird schon allein fertig werden,“ tröstete er sich.
Der Schwumprich mußte der Helfer in allen Nöthen sein. Bald sollte er die alten Dielen anstreichen, bald eine Holzverkleidung oder ein Geschirrbrett festschlagen und bepinseln. Von früh bis spät hatte er im Haus des Bibliothekars zu schaffen. Aber die Farbe holte er freilich in der Apotheke, und sein Schnapsfläschchen war dann stets mit goldgelbem Likör gefüllt.
Dafür konnte er den Mund nicht aufthun, ohne von der Hulda etwas auf die Kappe zu bekommen. „Daß der Herr Bibliothekar so viel auf die alte Hauslaterne hält,“ raunte er einmal ihr zu. „Schmiedeeisen! In Blei gefaßte Scheibchen! Es giebt so prächtige Lampen jetzt. Wie Sonnen strahlen sie.“
Sie stemmte den Arm in die Seite und erwiderte wegwerfend: „Alle Tage was Neues! Das mag bei Euch Soldaten so sein. Aber wir studierten Leute sind anders gesinnt. Wir halten an dem fest, was wir einmal haben.“
Er duckte sich und putzte weiter an der Laterne.
„Soll denn wirklich in dem Kessel gekocht werden, den ich an die Kette über dem Herd habe hängen müssen?“ fragte er ein andermal. „Es giebt jetzt so schöne eiserne Kochherde.“
[371] „Dafür kommt alles in diesen Kessel, was die Herrschaft bezahlt, und nicht in eine gewisse Schürzentasche mit einer gelben Schleife,“ zischte sie wie ein Schlänglein, das auf den Schwanz getreten worden ist.
Er hing den Kopf. Die gelbe Schleife auf Eulaliens Schürze war ihm selber fatal gewesen; er konnte es nicht anders sagen.
Endlich stand jedes Ding an seinem rechten Platz: in der Studierstube die Bücherbretter mit den seltenen Werken des Hausherrn; in den Kammern die Betten, dem kalten Bergklima gemäß hoch aufgestapelt.
Der Schwumprich that die letzte Arbeit: er steckte die geschnitzten Kienspäne in den eisernen Halter unter dem breit vorspringenden Küchenschornstein. Dann empfing er seine Bezahlung und ging mit strammem Gruß, von welchem Hulda keine Notiz nahm.
„So schlecht darfst Du ihn doch nicht behandeln,“ mahnte Sif. „Dazu hast Du kein Recht.“
Hulda sah sie starr an. „Kein Recht?“ und in dem flackernden Kienspanlicht, das zum Versuch angezündet war, sah ihr bräunliches Gesichtchen wieder unsäglich traurig aus. „Kein Recht? Er ist ja mein alter Schatz!“ setzte sie mit zitternder Stimme hinzu. Und nun brach der lang verhaltene Jammer los. „Er nannte mich schon sein Schätzchen, als wir beide noch in die Schule gingen. Dann haben wir mit einander Johanni auf der Brandkuppe getanzt, im Winter in der Spinnstube zusammen gesessen; ich habe niemals gedacht, daß es anders sein könnte. Er hatte den Handel mit Schwämmen und Beeren; da half ich ihm, denn seine Großmutter, die ihm die Wirthschaft macht, ist schon lange schwächlich. Hab mir manchmal die Lunge ausgeschwatzt, um die gelben Eierschwämme ein paar Pfennige billiger von den Kindern zu bekommen, habe mir die Füße wund gelaufen, damit die bestellten Morcheln beschafft wurden. Dann kam er unters Militär. Mein Stiefvater wanderte mit meiner Mutter und den Stiefgeschwistern nach Amerika aus. Ich blieb hier und wartete auf ihn. Im Wald, beim Flachsbau und Heumachen giebt’s immer Arbeit. Jeden Pfennig hatte ich von jeher zusammen gehalten, weil ich nicht gar zu lumpig in sein Haus kommen wollte. Jede geschenkte Kaude Flachs spann ich, oft in der Nacht bei Mondenschein auf meinem kalten Bodenkämmerchen. Ich ließ ein Stück Leinwand weben. Wie freute ich mich, als ich am Heidenteich die Bleichpflöcke einschlug und auch wie die anderen Mädchen meine Leinwand bleichte! Schneeweiß, Fräulein, ist sie geworden. Ich schaffte mir ein Bett, bin, wie es einem ordentlichen Mädchen ziemt, um eine Feder über sieben Zäune gesprungen. Ein schönes gemachtes Bett, Fräulein. Ich habe das Meinige. Und seiner alten Großmutter habe ich auch redlich beigestanden. Endlich kam er wieder.“ Sie schluchzte auf. Dann sprach sie stockend weiter: „Drunten in der Festung als Offiziersbursche war ihm in den Kopf gesetzt worden, ein junger Mann müsse eine reiche Frau heirathen. Da ging er nach der Lale, und ich vermiethete mich an den Herrn.“
Damit sie die Qual vor Augen hat, dachte Sif kopfschüttelnd. „Aber die Lale ist doch wohl älter als er?“ fragte sie theilnehmend.
„Freilich,“ antwortete Hulda; „sie wollte eigentlich auch nicht den Schwumprich, sie dachte an den Apotheker. Und der wollte sie auch zuerst. Die hätten ganz gut zusammen gepaßt. Aber da kam die Tochter vom Herrn Pfarrer aus der Benehme in der Stadt zurück, und nun will der Apotheker das junge Blut, und die Frau Pfarrerin sähe es auch gern, weil er reich ist. Zwanzig tausend Mark soll er haben.“
„So heirathet der Apotheker des Pfarrers Töchterlein?’’ fragte Sif.
„Nein!“ erwiderte Hulda. „Das Mariechen will nicht. Die mag den jungen Forstgehilfen gut leiden, der jetzt beim Herrn Förster ist. Aber den will die Frau Pfarrerin nicht, weil er an eine Heirath noch lange nicht denken kann.“ Sie seufzte, trocknete einmal wieder die Augen an der blauen Schürze und ging auf den Hof, um der Kuh einen Arm voll blumigen Grases zu bringen.
Sif saß und starrte in die wabernde Flamme hinein.
In dem kleinen Ort, aus dem jeden Morgen die Hirten tutend ihre Kuhherden führten, wo Gänse und Enten auf dem durch die Straßen fließenden Bach schwammen und die Leute am liebsten in der offenen Hausthür Toilette machten, führte ein halbes Dutzend Menschen ein Stück auf wie – sie mußte lachen – ein Mosersches Lustspiel. Ob’s freilich so herzlich fröhlich endigte? Ja, ja, die Ausbildung zur alten Jungfer hatte ihre Berechtigung; aber ob hier der passende Platz zu einer ungestörten Vorbereitung war? Sie schüttelte das schöne Haupt.
[384]
Doktor Ehrlich schwamm wie ein Fisch im Wasser in der alten
Heimath. Laut pries er, daß hier sich alles erhalten habe, was
der praktische Doktor Luther in seiner Erklärung der vierten Bitte
zum täglichen Brot rechnete: Haus und Hof, fromm Gesinde, gute
Freunde, getreue Nachbarn und dergleichen. Er lobte die alte
Weisheit, die das Volk bewahrte. Hatte ihm doch sein frühster
Schulkamerad, der Harzscharrer, pfiffig anvertraut, daß er sein
Erspartes in einem Strumpf versteckt halte, und der Bibliothekar
spann einen fröhlichen Gedankenfaden von diesem alten Strumpf
zu des Deutschen Reiches Juliusthurm in Spandau, der im Grunde
ganz dasselbe war: der Behälter für den Nothpfennig.
Er fand für seine Liebhaberei, die vaterländische Alterthumskunde, ein weites Feld; denn hierher war noch niemand gekommen, der in Feuersteinsplittern Urmesser, in Scherbenbrocken Urnenüberreste entdeckte. Er stiftete einen Verein für diesen Zweig der Wissenschaft, und in der Honoratiorenstube der Schenke – einem alten Sichelhammer – belehrte er die Würdenträger von Tannenroda über die Schönheit eines kleinen verrosteten Gegenstandes, der auf der alten Opferstätte, der Brandkuppe, gefunden worden war, und in welchem er eine Bronzesichel erkannte, mit der die Priester dereinst die Mistelzweige geschnitten hatten.
Selbst als die lustigen Waldleute ihm darauf anonym einen großen alten Schlüssel schickten mit der Bezeichnung, daß er von der Pforte zum Paradiese stamme, verlor er die gute Laune nicht. Er putzte ihn, freute sich über seine Riesengestalt und sinnierte darüber, welch schweres Stücklein es gewesen sein mochte für einen Ehemann, dieses Ungethüm seiner Frau Gesponsin wegzustehlen.
Steckenpferde machen nicht nur kleine Kinder glücklich. – –
Mit der großen stillen Bergnatur fühlte Sif sich schnell vertraut. Stundenlang streifte sie durch das Thal, sah auf der Wiese den Blumen zu, wie sie unter den Sonnenstrahlen die Blätterchen entfalteten, auf dem Heidenteich den Wellen, die unter dem Hauch der Maienlüfte im silberglänzenden Zuge daher kamen und wieder zurücksanken; sie lauschte dem Lied der Lerche, die aus den lichtgrünen Flachs- und Hafersaaten aufstieg, und dem leisen eintönigen Ruf der kleinen Unke im Geröhricht. Oder sie saß still unter den alten Tannen auf der Brandkuppe, deren mächtige Stämme weißes Moos bedeckte, in deren Wipfeln es wunderbar rauschte, bald lauter wie fernes Meeresbrausen, bald ersterbend wie das letzte Säuseln des einschlafenden Windes. Sie schaute hinaus über die Berge in das von blauem Duft verschleierte Land hinein. Wo war das Glück zu finden, dessen Ahnung in ihrer Seele lag? Dort, in der Ferne, wo der Himmel mit der Erde verschwamm?
Und sie träumte, während das Abendroth leise verglomm, der geharnischte Mann zöge vorüber, und sie hörte die Worte:
„So sueze juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“
Aber die Gestalt wurde immer schattenhafter, die Stimme klang immer verwehter. Ein Schemen ist nicht festzuhalten, sagte sie sich; und doch konnte sie der Wehmuth nicht Herr werden, als verliere sie etwas, was sie wirklich besessen habe.
Sie war nie ganz allein im Wald. In der Schlucht des Purzelmännchens regte sich fast immer ein geheimnißvolles Leben. Hatte die alte Frau, die Tannenzapfen sammelte, recht, da sie sagte: „Dort ist’s nicht geheuer“?
Einmal schallte es wie ein Kuß herauf, und zwischen den Baumstämmen schimmerte ein grüner Kragen. Die Vereinigung dieser beiden Entdeckungen überraschte Sif, die feurige Verehrerin des „Freischütz“, nicht; aber daß das rosenrothe Kleid von des Pfarrers Töchterlein gleich darauf davon flog, erregte doch ihr Nachdenken. Ein andermal wurde Gezänk drunten laut. Eulalia fuhr gegen den Apotheker los, der mit jungen Kräuterweibern länger geschwatzt hatte, als die Bestellung von goldgelben Arnikablumen nöthig machte.
Zu Himmelfahrt, da der Abend schon nahte, der mit Tanz gefeiert werden sollte, hörte sie eifrige Spatenstiche in der Schlucht. Grub jemand eine der heilkräftigen Pflanzen, die dort in üppiger Fülle wuchsen? Sollte eine Krankheit verbüßt werden? Nein; das war ja Huldas buntes Kopftuch. Die Kleine hielt eine Zaunrübe in der Hand, schnitt ein Scheibchen ab und steckte es in den Schuh, indem sie laut mit ihrem singenden Stimmchen sprach:
„Körfchenswurzel in meinem Schuh,
Ihr Junggesellen, lauft mir zu.“
Sie bestrebte sich ernstlich, den Schwumprich für heute abend zu behexen. Es war wirklich nicht geheuer dort unten.
Als Sif ihrem Vater davon erzählte, lachte er. „So ist’s immer dort gewesen. Alles Liebesvolk hat sich hingeflüchtet. Der Purzelmann ist ein kleiner deutscher Amor. Schade, daß er verloren ging. Bei den jetzigen berechneten Heirathen könnten wir ihn brauchen; aber nicht einmal sein Baumstumpf ist mehr da, sogar der alte Weg verwachsen und nicht wieder zu finden.“
[386] „Ich werde einmal danach suchen,“ sagte Sif. „Wir könnten neben der Mooshütte im Garten solch alten Knorren brauchen. Man stellt Blumen darauf und pflanzt Epheu darum an. Die Ecke sieht so kahl aus.“ –
Am andern Tag machte sich Sif auf zu ihrer Entdeckungsreise.
„Gehen Sie nicht allein zur Mittagsstunde in den Wald!“ sagte Hulda. „Es ist nicht ohne, daß davor von erfahrenen Leuten gewarnt wird.“
„Willst Du allein zaubern?“ neckte Sif.
Da wurde Hulda dunkelroth und lief in die Küche.
Draußen waltete Mittagsruhe. Das Glöckchen, das geläutet hatte, schlug zum letztenmal an. Die Arbeiter zogen von den Wiesen und Feldern fort, Hacke und Harke auf den Schultern; sogar die Tannenzapfenfrau verließ den Wald und ging heimwärts.
„Können Sie mir nicht sagen, liebe Frau Nachbarin, in welchem Wurzelstock das Purzelmännchen haust?“ fragte Sif.
Das alte krumme Weiblein, das selbst wie ein vertrocknetes Würzelchen aussah, schüttelte den Kopf. „Das werden Sie nicht finden, Fräulein. Seitdem die Menschen alles so abgesucht haben im Wald und so viele Wege hinein gemacht, hat es sich verkrochen wie ein gescheuchtes Eichkätzchen.“ Sie buckelte mit ihrem Korb dem Ort zu, und nun herrschte tiefe Stille weit und breit.
Die Sonne schien heiß auf die Nadelbäume; die jungen Triebe hingen wie zarte Fingerchen matt an den dunklen Zweigen. Bläuliche Nebel webten in der Tiefe des Waldes. Der Duft der harzenden Fichten erfüllte die Luft.
Tiefe Stille herrschte. Auch der Wind schlief, und die gefiederten Waldsänger hielten ihre Mittagsruhe.
Nur weit, weit her tönte der sanfte Ruf des Pfingstvogels, „wie ein melodisches mittelhochdeutsches Wort“, dachte Sif.
Sie ging nicht den gewohnten Pfad. Mitten in die Waldschlucht hinein brach sie sich durch verwachsenes Fichtengeäst Bahn. Sie kam nur mühsam vorwärts. Netzartig überflochten die Baumwurzeln die steinige Erde; bald strauchelte der Fuß auf glatten dürren Nadeln, bald versank er in tiefem Moos, bald netzte ihn ein Quellchen, das aus dem Geklüft, überschattet von riesigen Farnkräutern, rieselte.
Da – plötzlich – wich der Boden unter ihr. Sie glitt hinab und stürzte in duftenden Waldmeister und blühende Preißelbeeren. Sie war zuerst so erschrocken, daß sie aufzustehen vergaß. Nur langsam sammelte sie ihre Gedanken wieder.
Dann aber sprang sie rasch auf die Füße.
War es möglich? Vor ihr erhob sich ein mächtiger fast vermoderter Baumstumpf, dessen Stamm von Moos bewachsen war, während seine Wurzeln gleich gebleichten Gebeinen über den felsigen Boden liefen. Wo sie stand, vermochte man noch im Gestein die Spuren des früheren Weges als verwachsene Geleise zu schauen, und daß die Klippe vorhanden war, an welcher einst das Purzelmännchen die Leute stürzen ließ, das hatte sie eben selbst erfahren. Gewiß! Sie befand sich bei dem Baum des kleinen Berggeistes.
Sie lachte hell auf, daß er mit seinem uralten Schabernack sich selbst verrathen hatte.
Athemlos kam sie zu Haus an und verkündete ihren Fund. –
Die Erwerbung des Baumstumpfes machte keine Schwierigkeiten. Solche Wurzelstöcke wurden verkauft; und der Bibliothekar ließ eines Tages die einstige Wohnung des Purzelmännchens ausgraben und in sein Heim schaffen.
Dort stellte Sif den morschen Stamm neben der braunen Mooshütte auf und bekleidete die dürren Wurzeln mit Epheu.
„Ob wohl noch etwas von den Opfergaben darin steckt?“ sagte sie, und ihre weißen Hände begannen in der Höhlung zu suchen. Dürre Nadeln, graue Flechten förderte sie zu Tage; auch eine ganze Schwammfamilie.
Aber was war das? Hatte der Baum einen Kern wie eine Nuß? Es ließ sich tief drinnen etwas hin und her schieben.
Sie rief Hulda zu Hilfe, und beide Mädchen enthoben dem hohlen Stamme einen Klumpen, schwer wie Eisen.
Ganz verdutzt standen sie davor.
Da bröckelte modriges Holz und Erde ab, und ein kleines schwarzes Aermchen ragte heraus.
Beide Mädchen schrieen laut auf: „Der Purzelmann!“
Ueber dem Holzzaun des Nachbarhauses erschien der Kopf des Schwumprichs, in der Hausthür der Bibliothekar.
„Schwumprich!“ war wie in allen Nöthen sein erstes Wort, worauf dieser mit raschem Turnerschwung im Hofe stand.
„Unter den Röhrbrunnen mit dem Purzelmann,“ kommandierte der Bibliothekar, athemlos vor Aufregung.
„Sehr woll!“ erwiderte der Schwumprich.
In den Steintrog kugelte der Fund und färbte das klare Wasser schwarz wie ein schmutziger Junge.
Hulda und der Schwumprich arbeiteten unverdrossen. Bis an die Ellbogen staken sie mit den Armen im Wasser und wuschen an dem Purzelmann herum, von dem bereits das Köpfchen aus der Erdkruste guckte. Und je länger sie wuschen, desto eifriger wurden sie.
„Au! das ist meine Hand, nicht das Bein des Purzelmanns!“ rief sie.
„Au! das bin ich, den Du gekratzt hast, nicht der Purzelmann,“ entgegnete er.
Aber sie ließen doch nicht von ihrer Thätigkeit ab.
Der Schwumprich sah ganz unternehmend aus, und er wagte auch wieder, Hulda gegenüber den Mund aufzuthun. „Also ist doch etwas an dem, was von dem Purzelmann erzählt wird. Dort unten sagten sie, derlei Dinge wären Aberglaube.“
„Dort unten,“ erwiderte Hulda nachdrücklich, „halten sie viel für Aberglauben, was wir hier heilig gehalten haben.“
Er duckte sich, faßte aber doch wieder Muth und raunte ihr zu: „Weißt Du noch, wie wir Konfirmanden an unserem Einsegnungstage in die Schlucht spazieren gingen und Veilchen suchten? Du tratest auf das lange Kleid, das sie Dir auf Zuwachs gemacht hatten, und fielst hin, und ich fing Dich auf. Die andern schrieen: ‚Oho! Der Schwumprich hat sich schon ein Schätzchen angeschafft.‘“
Sie las Moos und Nadeln aus dem breiten offenen Koboldmäulchen. „Ich hab’ schon daran denken müssen,“ sagte sie ganz leise.
Und er neigte seinen schwarzen Kopf noch viel tiefer zu ihr herab, und Hulda schlug endlich die braunen krausen Wimpern gar nicht mehr auf.
Sif wagte nicht, sie zu stören; aber ihr Vater stellte die Sache richtig. „Nein, das ist nicht die Hauptsache, daß Ihr im trüben Wasser herumfischt und Euch sogar kratzt. Dem Purzelmann müßt Ihr die Erde abkratzen und ihn tüchtig bürsten.“
Da fuhren tief drunten in dem frischen Bergwasser zwei Paar arbeitsgewohnter Hände auseinander.
Nach langer Mühe entstieg der Findling seinem Bade.
Es war ein schnurriges Bild: eine kleine hockende Koboldgestalt von schwärzlichem Erz mit ausgestreckten Händchen, weit aufgethanem Mund und hohlem Leib.
„Der hat geraucht,“ entschied der Bibliothekar. „Feuer her!“
Aber es war ein schwieriges Experiment, dasselbe in dem kleinen Götzen zum Brennen zu bringen. Endlich rauchte er zu Mund und Nase heraus wie ein alter Knasterbart.
Gleich einem Lauffeuer ging die Kunde von dem aufgefundenen Purzelmann durch Tannenroda. Alles kam in Aufregung. Eine Sitzung des Ortsvorstandes wurde gehalten und, da die Purzelschlucht zur Gemeindewaldung gehörte, dem Finder der Fund zugebilligt. Der Bibliothekar und Sif hatten den ganzen Tag zu thun, um die Neugierigen zu dem Purzelmann zu führen, dem der Schwumprich einen mit Tannengrün verzierten erhöhten Platz errichtet hatte, wie ihn das unten in der Festung für geehrte Häupter gelehrt worden war.
„Sind das durchtriebene Burschen gewesen, diese Heiden,“ bemerkte kopfschüttelnd der Pfarrer; „solchen Dampf den Leuten vorzumachen!“
Der Bibliothekar gerieth in Eifer und nahm die alten heidnischen Gebräuche in Schutz.
„O Himmel, Herr Bibliothekar!“ flötete die Frau Pfarrerin, „wie können Sie die heidnische Abgötterei vertheidigen? Unsere Vorfahren müssen schrecklich im Dunklen getappt haben, ehe das Evangelium der Liebe verkündet ward.“
„Ach, von der Liebe haben sie ganz lichtvolle und gesunde Begriffe gehabt,“ brummte der Bibliothekar. „Der Purzelmann wenigstens führte immer die Leute zusammen, wie sie nach Art, Alter und Leibesbeschaffenheit zu einander paßten.“
Die Frau Pfarrerin hüstelte und lächelte sauersüß, während der junge Forstgehilfe und Mariechen hinter dem Rücken der anderen zusammen flüsterten und lachten. Sie hatten ihre besonderen Erinnerungen an den Purzelmann und seine Schlucht.
[387] „G’horschamer Diener!“ tönte es vom Eingang her. Der Apotheker trat herein, ihm folgte Eulalia, und hinter ihnen drückte Hulda mit fester Hand die Thür ins Schloß.
„Wir kommen in geschäftlicher Angelegenheit,“ sagte der Apotheker, seine Gemeinschaft mit Eulalia erklärend, zur Frau Pfarrerin, was diese mit einem empfindlichen Gesicht erwiderte. Er machte dem jungen Paar seine Verbeugung; Mariechen hing den Kirschenmund heraus und der Forstgehilfe strich seine blonden Locken aufstutzig empor. In seiner Verlegenheit flüchtete der Apotheker zum Purzelmann, der lustig auf die zwiespältige Versammlung zu seinen Füßen herabgrinste. „Aus welchem Erz besteht der Kerl nur? Ob man nicht ein Stückchen einschmelzen und chemisch untersuchen könnte?“
Der Bibliothekar breitete beide Hände schützend über sein Kleinod aus. „Nur kein unberufenes Experiment, mein lieber Herr Apotheker! Unser Purzelmann hat nicht verdient, wie der Bel zu Babel behandelt zu werden. Er war kein so großer Herr, daß er Menschenfresser wurde; er rauchte nur, um die nöthige Ehrfurcht zu erwecken.“
„Ach, Herr Bibliothekar,“ kam Eulalia ihrem Herrn zu Hilfe, „es fällt dem Herrn Apotheker gar nicht ein, solch eine brotlose Kunst auszuüben. Ich habe dem Herrn gerathen, ein Bild vom Purzelmann, der doch eine große Berühmtheit ist, auf die Etikette von unserem Heidelbeerwein machen zu lassen. ‚Purzelmann-Heidelbeerwein‘ zeigt so gut etwas Apartes an wie ‚Hochheimer Domdechant‘. Und auf so etwas fallen die Leute immer herein. Es wird dieses Jahr eine so reiche Ernte; da könnten Sie einen schönen Schnitt machen,“ schloß sie, dem Apotheker sich zuwendend.
Der war froh, daß er auf dem festen Grund und Boden eines Geschäftes ankam, während die rosenrothe Benebelung, die ihn seither umfangen hatte, verflog, als hätte der rauchende Koboldsmund hineingeblasen. Er schmunzelte verlegen. „Sie sind ein verflixt schlaues Frauenzimmer, Eulalia. Ich werde einen Porzellanmaler aus der Fabrik drunten kommen lassen. Der soll ihn abzeichnen.“ Und er klopfte die kluge Haushälterin auf die Schulter.
Dann zog alles paarweise ab.
Der Pfarrer führte seine Gattin, die einzige Unzufriedene. Dann kamen der Apotheker und Eulalia, seit langer Zeit zum erstenmal einträchtig durch die Spekulation mit dem Purzelmannwein. Endlich der grüne Kragen und das rosige Pfarrerstöchterchen.
Als die goldenen Ohrglocken an der Küche vorüber läuteten, versteckte sich der Schwumprich hinter den Herd. Seit er den Purzelmann gebadet hatte, war er jeden Tag mit einer Ware daselbst zu finden.
Hulda warf einen verächtlichen Blick in seinen Schlupfwinkel und sagte: „Wenn ich der Kaiser wäre, ich ließe alles Weibsvolk einexerzieren, denn in der Courage sind wir Euch über.“
Dann verweigerte sie den Kauf der angebotenen Steinpilze. „Sie sind so bröckelig wie Eure Herzen,“ sagte sie.
Gleich einem begossenen Pudel schlich der ehemalige Flügelmann davon.
Sif hatte die Gäste, der ländlichen Sitte gemäß, bis an die Hausthüre geleitet und schaute ihnen nach. Sie hatte alles gesehen und gehört und dachte: Wenn Väterchen sich nur nicht getäuscht und statt eines Altjungfernhäuschens ein altdeutsches Heirathsbureau eingerichtet hat! – – –
Mit dem Ruhestand des Bibliothekars war es seit Auffindung des alten Erzgebildes vorüber. Er grübelte und forschte Tag und Nacht über dasselbe nach. Für seine Annahme, daß es kleine Gaugötzen gegeben hatte, sprachen viele Beispiele. Der Crodo auf der Harzburg! Freilich wurde neuerer Zeit behauptet, daß sein eherner Altar ein Altar der Kaiserin Theophania gewesen sei. Aber was wurde denn jetzt nicht angezweifelt? Zweitens: der Püstrich von der Rothenburg in der güldenen Au! Nur alte Nörgler sagten, es sei der Fuß eines Taufbeckens. Drittens: der Götze Doß im Voigtlande, von dem der treuherzige Dorfbewohner seinem gelehrten König Johann anvertraute, derselbe stamme aus der „kartholischen Heidenzeit“ – eine Mittheilung, auf welche dieser mit einem feinen Lächeln antwortete.
Der Bibliothekar trug alles zusammen, was er von dem Kultus des Purzelmännchens wußte; vornehmlich der Gebrauch aller Liebesleute, gerade dorthin ihre Zuflucht zu nehmen, diente ihm als Wegweiser. Er kombinierte, konjekturierte, stellte gewagte Hypothesen auf. Sein Steckenpferd wuchs ihm allmählich über den Kopf. Er bildete endlich auf wissenschaftlicher Grundlage einen kleinen Amor aus dem Purzelmann heraus.
Die Studierlampe mit dem grünen Schirm wurde ebenfalls dem Ruhestand entrissen. Der alte Bücherwurm schrieb eine Studie über den Fund. Wer einmal mit der Feder hinter dem Ohr auf die Welt gekommen ist, wird sie sein Lebtag nicht los. Der Aufsatz wurde in einer Zeitschrift abgedruckt, aber von den gelehrten Forschern sehr gelassen aufgenommen.
Ihrer Ansicht nach war der Fund eine fratzenhafte Figur aus dem Mittelalter, die Sage Ueberbleibsel von einem herabgekommenen Waldgott. Liebesleute, hieß es, wären immer in verborgenen Winkeln zusammen gekommen, nicht auf weithin sichtbaren Berggipfeln und freien Gemeindeplätzen.
Der alte Herr ärgerte sich und zitterte bei jeder neuen Sendung unter Kreuzband, die ihm eine Widerlegung brachte. Er kämpfte wie ein Löwe für seinen deutschen Amor, aber er vermochte nicht, seine Widersacher zu überzeugen. Da kam ihm wie eine Erlösung der Gedanke, seinen Findling auf die Ausstellung zu senden, welche das große Museum für deutsche Alterthümer im August veranstaltete. Dort sollte der Purzelmann wohl zu Ehren kommen. Und er wollte ihn selbst hinbegleiten, die nöthige Anleitung zum Rauchen geben, persönlich ihn dem Vorstand empfehlen.
Die Zeit drängte. Eine Anfrage beim Direktor des Museums wurde kurz, aber bejahend beantwortet. Nun traf der Bibliothekar alle Vorbereitungen.
Schon sollte der kleine Purzelmann in das mit duftendem Waldheu ausgepolsterte Kistchen gesetzt werden, – da entglitt er den aufgeregt zitternden Händen des Bibliothekars und fiel ihm mit aller Wucht seines Erzkörperchens auf die Füße.
Ein Aufschrei – der Gelehrte humpelte nach seinem Stuhl und brach dort zusammen.
Der alte Dorfarzt wurde gerufen.
„Helfen Sie mir schnell, bester Doktor!“ bat der Patient.
Der verordnete ruhig Pflaster, Umschläge und Stilleliegen.
„Kann ich übermorgen reisen? Ich muß fort!“ rief der Bibliothekar verzweiflungsvoll.
„In vier Wochen,“ war die gelassene Antwort.
„Da ist ja die Ausstellung vorüber,“ stöhnte der Daniedergeschlagene.
Der Arzt zuckte die Achseln und ging.
Es war still in der Stube. Am Fenster saß Sif und zupfte Charpie; auf dem Schmerzenslager sann und grübelte ihr Vater vor sich hin.
„Sif!“ tönte es endlich gepreßt von ihm her.
„Ja, Vater!“ Sie eilte zu ihm.
„Es hilft nichts! Du mußt an meiner Stelle reisen,“ stöhnte er. „Sonst wird der Purzelmann in eine Ecke gesteckt, und zum Rauchen bringt ihn niemand. Das ist zu mühselig. Ich bin ein zerschlagener Mann, und Du bist ein resolutes Mädchen. Also reise!“
Sif ließ ein wenig erschrocken ihre Zöpfe durch die Finger laufen. Als sie aber die Sorge und Unruhe in ihres Vaters Zügen sah, sprach sie entschlossen: „Wie Du willst, armes Väterchen. Wann meinst Du, daß ich reisen soll?“
„Am liebsten morgen früh,“ antwortete ihr Vater. „Du kommst abends dort an; am andern Tag giebst Du den Purzelmann ab und am dritten Tag kannst Du wieder hier sein. Der Direktor des Museums ist benachrichtigt. Mein Name wird Dir schnell Eingang verschaffen, aber der beste Passepartout ist der Purzelmann.“
Sif warf einen zweifelvollen Blick auf den kleinen Götzen.
„Vergiß nicht, ein paar Wachholderzweige mitzunehmen,“ fuhr ihr Vater fort, „daß es beim Rauchen den richtigen Geruch giebt. Was solche kleine Kunstgriffe thun, hat man bei den Meiningern gesehen. Du mußt das Experiment dem Direktor zeigen.“
„Ach, Vater,“ sagte Sif erröthend, „schickt sich das alles einem fremden Herrn gegenüber?“
Er wurde ungeduldig. „Bei uns Gelehrten, liebes Kind, gilt vor allen Dingen das Wort: dem Reinen ist alles rein.“
Da legte Sif ihre Charpie zusammen und packte ein zur Reise.
Hulda und der Schwumprich gelobten, den Herrn zu hüten wie ihren Augapfel, und beim Holzhändler lief der Kutscher mit Theereimer und Kragenmantel, um die junge Herrschaft und den alten Purzelmann nach der Eisenbahn hinabzufahren.
[398]
Am andern Morgen stand Sif mit einer kleinen Handtasche und einem Kistchen, das sie in der Gepäckexpedition wägen ließ, auf der nächsten Station der Gebirgsbahn. Sie war sehr schön in ihrem blauen Kleide, über das die langen Zöpfe schwer herabfielen, mit den dänischen Handschuhen und dem grauen Schleier, den sie um das rosig angehauchte Gesicht gesteckt hatte.
Schon setzte sie einen Fuß in das Damencoupé, sah nur noch einmal nach dem Gepäckwagen zurück, auf welchem ihr weißes Kistchen schwankte. Da schien es ihr, als sei etwas an dem Deckel zerbrochen, und bedachtsam, wie sie war, trat sie wieder auf den Perron, um ihr Gepäckstück in Augenschein zu nehmen.
Richtig! Der Deckel war eingeknickt, und der kleine Götze schaute mit seinem runzeligen Gesicht heraus.
So durfte sie ihn nicht fahren lassen; wie leicht konnte der Kopf abgestoßen werden! Zum Ausbessern der Kiste war keine Zeit. Es blieb nichts anderes übrig: Sif mußte den Purzelmann aus dem Kistchen heben und mit in das Coupé nehmen wie die arme Prinzessin den verwunschenen Froschprinzen in ihre Kemenate.
Das Nächste war, daß die das Damencoupé mitbewohnenden Kinder ein Zetergeschrei erhoben und die Mütter sich darüber empörten. Sif setzte ihren Schutzbefohlenen in die Fensterecke neben sich. Dann stellte die Milchflasche die Ruhe wieder her.
Andere Heimsuchungen traten an sie heran. Die Passagiere, die auf den Stationen am Waggon vorüber gingen, blieben stehen und lachten. An jeder Haltestelle bildete sich ein Auflauf vor dem Coupé. Man schaute nach dem lächerlichen Fratzenbild und dem schönen jungen Mädchen mit den langen goldenen Zöpfen.
Daß sie angesehen wurde, daran war sie gewöhnt; sie hätte nicht schön und nicht die Tochter einer Universität sein müssen. Aber heute meinte sie doch, die männliche Jugend treibe es damit zu weit. Sie war froh, als die Lokomotive mit lautem Pfiff in einen langen Tunnel einfuhr, dessen Dunkelheit sie gegen alle neugierigen Blicke schützte.
Da sie wieder heraus kam, schien die Sonne wärmer, hatten die Bergformen ihre Schroffheit verloren und sanken endlich in freundliche Thäler hinein. Ein Marterl stand am Weg. Durch Aehrenfelder zog ein Bittgang, Bauern in kurzen mit großen Metallknöpfen besetzten Tuchjacken, Frauen in unendlich weiten Röcken und Schuhen, welche an die befiederten Füßchen der Latschhühner erinnerten. Und als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wo die Wagen gewechselt wurden, da tönte es lockend: „A Bier, a Würstel?“ Die Figuren der Schaffner waren runder, der Dialekt weicher, die Dienstbeflissenheit zutraulicher; der Betrieb ging aus dem beflügelten Tempo in ein behagliches über. Auf a bissel Zeit kam’s halt nit an.
Aber trotz der Gemüthlichkeit nahm Sif mit Herzklopfen den Reisegefährten auf den Arm und stieg aus.
Sie hatte richtig geahnt. Ein Zug lachender Menschen schloß sich ihr an. Kinder liefen nach und schrieen: „Was is’n des für a Fratz, für a sakrament’scher?“
Sie mußte an einer Gruppe junger eleganter Herren vorübergehen. Die ganze Haltung, die mächtigen lang ausgezogenen Schnauzbärte ließen erkennen, daß sie vornehmen Kavallerieregimentern angehörten. Lachend musterten sie den wunderlichen Aufzug.
Als aber ein paar flegelhafte Burschen Sif bedrängten, an den langen Zöpfen zupften, trat der eine Herr dazwischen. Mit einem einzigen Blick wies er die Zudringlichen zurück; ein „Platz da!“ im schneidigen norddeutschen Dialekt gesprochen, und es bildete sich eine Gasse vor ihnen. Noch einmal überflog sein Auge mit zweifelvollem Ausdruck die Gestalt des jungen Mädchens, das, von dunkler Röthe übergossen, vor ihm stand. Aber er mußte ein wohlbewanderter Frauenkenner sein: seine Haltung und Miene kehrten sofort zu harmloser Höflichkeit zurück.
„Darf ich den Vorzug haben, Sie über das Geleise zu geleiten, meine Gnädigste?“ fragte er achtungsvoll grüßend.
Und da sie mit der ihr eigenen anmuthigen Würde dankend das Haupt neigte, fuhr er fort: „Gestatten Sie, daß ich Ihr Handgepäck trage!“
Sie überließ ihm ihre Reisetasche, während sich ihr Arm noch fester um den Purzelmann schloß.
„Gnädiges Fräulein haben sich einen wunderlichen Reisemarschall gewählt,“ sagte er mit herzlichem Lachen, daß seine weißen Zähne unter dem blonden Schnurrbart blitzten, indem er für Sif einen Weg durch das Gedränge bahnte. „Er freilich ist sehr zu beneiden.“
Sie seufzte. „Es ist eine Merkwürdigkeit, die ich auf die Ausstellung bringe.“
„Wo ist eine Ausstellung?“ fragte er.
„Im großen deutschen Museum,“ erwiderte sie. „Mein Vater ist krank, und so muß ich das Götzenbild dahin besorgen.“
„Aha, ein deutscher Gelehrter!“ sagte der junge Herr mit einem Ton, der ausdrückte: Nur ein solcher ist imstande, eine derartige Dummheit zu begehen. „Also eine Ausstellung ist dort? Nun, von unserem Bad aus kann man diese besuchen. Ich werde mich freuen, den kleinen alten Herrn wiederzusehen. Werden auch Sie sich längere Zeit dort aufhalten?“
„Bis ich den Purzelmann auf einem guten Platz untergebracht habe.“
Die blauen Augen des Offiziers blitzten vor Uebermuth auf bei dem Namen. „Einen so guten Platz, wie er jetzt hat, bekommt er nicht wieder,“ sagte er mit chevaleresker Verbeugung.
Sif stieg ein. Der Herr reichte ihr die Reisetasche nach. Sie dankte aufrichtig. Dann trat er grüßend unter seine Gefährten zurück.
„Ist es eine Walküre, die nach Baireuth fährt?“ fragte der eine lachend.
„Famose Zöpfe! Schönes Weib oder Mädchen!“ rief der andere. „Aber gar nicht chic.“
Der Offizier mit dem blonden Schnurrbart warf noch einen Blick hinüber. „Dafür sehr stilvoll,“ sagte er.
Sif hatte sich wie erlöst zurückgelehnt. Es ist gut, dachte sie, daß ich zu einem alten Museumsdirektor reise, wenn er auch etwas griesgrämlich ist.
Nun wollte sie sich’s bequem machen. Sie lehnte sich in die Ecke und schlummerte ein. Da wurde der Name der Stadt, wo die Ausstellung stattfand, laut in ihr Ohr geschrieen. Sie fuhr empor, vermochte aber nicht, sich gleich zu besinnen.
Da war ja ihr erster Traum in Tannenroda wieder. Hohe Thürme ragten in den Himmel, die Abendsonne glitzerte auf ihren Knäufen und Wetterhähnen. Zinnige altersgraue Mauern stiegen empor, von Epheu überwuchert; und darüber lugten spitze Giebel, hohe Schornsteine. Aber sie hatte doch die Augen geöffnet und sah das alles wirklich, und der Schaffner rief jetzt den Namen noch einmal ihr zu und befahl, auszusteigen. Ganz verwirrt nahm sie ihren Purzelmann auf den Arm, Handtasche und Schirm in die andere Hand und ging dem Droschkenplatz zu.
„Das Fräulein fahrt halt doch in das Hotel dem Museum gegenüber,“ sagte mit verständnißvollem Blick auf den Götzen ein Kutscher, der seinen Hut und den Pferdekopf mit Nelken besteckt hatte. Er trug den Purzelmann so vorsichtig, wie sich’s ziemte, in den Wagen, und fort ging’s.
Sif war wie im Traum. Niemand lachte über ihren Begleiter; es wurde ja noch vieles andere wunderliche Gezeug abgeladen. Ein ganzer Haufen Lastträger plagte sich mit einer endlos langen Feldschlange ab, deren Mund Engelsköpfchen zierten, während andere ein kunstvoll geschnitztes Faß fortschroteten, dem ein derber Trinkspruch um das Spundloch gemalt war.
Lange hallte in dem Thorthurm das Rasseln des Wagens, und dann that sich eine Straße auf mit Erkern, Thürmchen und einer gothischen Kirche als Hintergrund. Es war Sif, als komme sie in ihre wahre Heimath. Träume sie denn wirklich nicht? Ach nein; da schritten Damen mit hochgepufften Rückseiten vorüber; aus dem Hotel stürzten befrackte Kellner, um Sif und ihren altdeutschen Liebesgott in Empfang zu nehmen, und es schwirrte um sie von Omelettes aux confitures und Filet de boeuf.
[399] Als am nächsten Tag die Pforte des Museums geöffnet wurde, wandelte Sif, ihren kleinen Götzen auf dem Arm, hinüber.
Mit klopfendem Herzen betrat sie die Vorhalle, welche durch ihr Kreuzgewölbe, die feierlich hohen Spitzbogenfenster daran erinnerte, daß das Gebäude einst ein Kloster gewesen war. Viele Menschen liefen geschäftig durcheinander.
„Gehen Sie nur immer diese Galerie entlang und klopfen Sie dort an die letzte Thür,“ sagte der von allen Seiten in Anspruch genommene Portier zu ihr, als sie nach dem Herrn Direktor Steffen fragte.
Sif klopfte bescheiden an. Drinnen fiel ein Stuhl um; gewiß ein dreibeiniger Schemel, dachte sie. Sie kannte diese wackelige Sorte, für welche die alten Herren eine Vorliebe hatten.
Es wurde ein Fluch gemurmelt und die Thür aufgerissen. Ein junger Mann von kräftiger Gestalt mit einem mächtigen braunen Vollbart blickte, ärgerlich über die Störung, mit zornig zusammen gezogenen Augenbrauen heraus. „Was giebt’s?“ rief er mürrisch in die Galerie hinein. Dann verstummte er, und die Augenbrauen begannen sich zu glätten, seine Augen vergrößerten sich sichtlich.
Wie ein altdeutsches Bild stand das junge Mädchen in dem Thürbogen. Das schlichte schwarze Hütchen ohne die modische emporragende Spitze umrahmte ihr ruhiges Gesicht gleich einer altdeutschen Haube; von dem dunkelblauen Kleid hoben sich die goldenen Zöpfe ab. Dabei umschwebte die hohe Gestalt eine herbe Jungfräulichkeit; ein reiner kühler Hauch schien von ihr auszugehen – wie von einer Holbeinschen Madonna, meinte er.
Und auch Sif schwieg und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Da stand er leibhaftig vor ihr, den sie so lange im Geist gesehen, bis sein Bild in der dahin rollenden Zeit allmählich zu verblassen begonnen hatte. Er war es, aber im schwarzen Sammetrock wie der Doktor Faust. Sie erwartete jeden Augenblick, daß er anheben werde: „Sueze Juncfrouwe, nach was stehet iuwer Sinn?“
Aber er sprach ganz alltäglich, wenn auch jetzt höflicher als vorhin: „Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich möchte den Herrn Direktor Erwin Steffen sprechen,“ antwortete Sif mit stockender Stimme.
„Der bin ich. Was bringen Sie?“ fragte der junge Mann.
Sif wurde noch verwirrter. Sie hatte sich auf einen alten weißhaarigen Gelehrten vorbereitet, und nun war der Kürassier ihrer Träume, der übermüthige Minnesänger das Licht der Wissenschaft, an das ihr Vater sie gesendet hatte. Mühsam faßte sie sich. „Ich habe den Auftrag,“ sprach sie und trat mit sanfter Entschlossenheit in das Gemach, „Ihnen von meinem Vater, dem Bibliothekar Ehrlich, hier das aufgefundene Götzenbild zu überbringen für die Ausstellung.“
Der Direktor nahm ihr die kleine Koboldsgestalt ab.
„Ein Tableau wie die heilige Familie,“ ließ eine naseweise Stimme hinter dem Paar sich vernehmen.
Aus dem Seitengemach drängte eine Schar junger Männer herein, mit neugierigen Blicken das junge Paar musternd, das sich so feierlich mit dem kleinen Erzbild trug. Es waren Schüler des Direktors, Beamte des Museums, bei der Ausstellung beschäftigte Architekten. „Statt schnudderige Reden zu führen,“ sagte der Direktor scharf, „rubrizieren Sie lieber den Beitrag für die Ausstellung. Es ist der vielbesprochene Purzelmann.“
„Der Purzelmann?“ „Ach, der neu entdeckte Amor!“ „Ist’s wahr, daß er rauchen kann?“ „Schnell eine Cigarre her!“ tönte es durcheinander.
Sif hielt die Hände schützend über ihn. „Wenn Sie trockenes Wellenholz haben, soll er sofort rauchen.“
Da stopfte einer schon Reisig in den Purzelmann; von allen Seiten bliesen sie auf ihn ein. Rauch schnob er ihnen dafür in die Augen.
Sif sah hilfeflehend den Direktor an. Sie begegnete seinen großen grauen fest auf sie gerichteten Augen.
Er fuhr auf. „Ruhe, meine Herren! Vielleicht wäre Fräulein Ehrlich so gütig, uns das Experiment zu zeigen.“
Sif zog die Handschuhe aus und befreite ihren kleinen Götzen von seiner Ueberladung mit Brennmaterial.
Als die junge Schar wieder hilfreich ihr beistehen wollte, trieb sie ein strenger Blick des Direktors zurück. Er selbst bildete die Barriere zwischen dem ruhig hantirenden schönen Mädchen und dem muthwilligen Volk.
Nachdem sie als letzte Feuerung ein paar Wachholderzweiglein ihrem Täschchen entnommen und in das weit geöffnete Mäulchen gesteckt hatte, begann sie, in das Ohr des Purzelmanns zu blasen.
Wie sie neben dem kleinen Kerl stand, die langen seidigen Wimpern gesenkt, die Lippen an das schwarze Köpfchen geschmiegt, sah es aus, als flüstere sie ihm etwas zu.
Ganz versunken in das wunderbare Bild stand der Direktor. Da hörte er leise hinter sich einen der Architekten sagen: „Ich wollte, jetzt wäre ich der Purzelmann.“ Er drehte sich mit strafendem Blick herum. Als er wieder hinsah, hatte Sif sich aufgerichtet, und der Purzelmann dampfte behaglich.
Die andern umdrängten sie wieder. „Fräulein, wenn Sie so gut mit altem Geräth umgehen können, verstehen Sie vielleicht auch das kostbare Spinnrad wieder in Gang zu bringen, welches uns eingeliefert worden ist. Es ist nicht entzwei und will doch nicht vorwärts.“
„Spinnen verstehe ich,“ erwiderte Sif. „Zeigen Sie mir das Rad!“
Der Direktor bot ihr den Arm, und nun ging es im fröhlichen Zuge nach dem Saal, der den Hausrath enthielt.
Es war ein kostbar mit Perlmutter ausgelegtes Spinnrad. Noch bauschte sich feiner Flachs unter dem verblaßten Wockenband, an silbernem Kettchen hing das Häkchen zum Einziehen des Fadens, der Netzbecher zeigte ein gemaltes Vergißmeinnicht. Wer konnte sagen, an wen dieses Blümchen hatte erinnern sollen?
Sif nahm Platz davor und sah mit kunstverständigem Blick das Spinnrad an. „Die Schnur ist zu scharf gespannt; sie kreuzt sich nicht zwischen Spule und Rad. Es muß auch geölt werden. Wollen Sie Wasser in den Netzbecher besorgen? Wer ist so freundlich, beim Knüpfen des Kreuzknotens in die Schnur den Finger darauf zu drücken?“
„Ich!“ „Ich!“ riefen alle zugleich.
Aber der Direktor stand schon mit gerunzelten Brauen neben dem Rad. „Oel ist drüben bei den alten Harnischen, Wasser drunten am Brunnen zu holen,“ befahl er, und seine schöne kräftige Hand legte Beschlag auf das Rad.
Sie beugten sich beide darüber, während Sif den künstlichen Knoten knüpfte. Er drückte fest auf die feine Schnur; ihre rosigen Fingerspitzen schürzten sie geschickt.
So hatte vielleicht schon vor vielen vielen Jahren ein gefälliger Ehemann seiner Hausfrau geholfen, und sie ihm dann mit einem Kuß gelohnt.
Jetzt richteten sich beide auf, und beide waren mit hoher Röthe übergossen. Die Gehilfen kamen wieder herein geplatzt.
Endlich war Sif fertig mit ihrer Arbeit. Sie setzte den Fuß auf das Trittbrett und das Rad in Schwung. Es schnurrte gehorsam, als habe es nur auf die richtige Hand gewartet. Mit sichtlicher Freude spann das junge Mädchen. Sie saß vor einem mit bunten Glasmalereien ausgefüllten Fenster, den Kopf der Arbeit zugeneigt. Wie die schön geformten Arme anmuthig den Faden auszogen, die weißen Hände in den Netzbecher tauchten, der schmale Fuß in leisem raschen Tritt das mit zierlichen Glöckchen behangene Rad gedankenschnell sich schwingen ließ, da war es, als halte der ganze Museumsvorstand den Athem an.
An der Thür trippelte schon lange der Diener herum. „Aber Herr Direktor,“ rief er kläglich, „draußen wartet ein ganzer Schwarm mit Waffen und Geräth und Gott weiß was noch.“
Der Direktor richtete sich auf. „Wir müssen an unser Tagewerk gehen.“ Und seine junge Schar abkommandierend, fuhr er fort: „Herr Bauführer, besorgen Sie für den Purzelmann ein festes Piedestal! In die zweite Abtheilung, Saal X, bringen Sie ihn neben den Gipsabguß der sogenannten Wölfin, eigentlich Bärin Karls des Großen in Aachen, und numerieren Sie ihn. Sie, Herr Archivar, wollen sogleich eine Quittung für Fräulein Ehrlich über den eingelieferten Gegenstand schreiben. Und Sie, Herr Sekretär, begleiten mich in das Anmeldezimmer.“
Dann wandte er sich an Sif, die ihre Handschuhe wieder anzog und nach dem Schirmchen griff. „Wollen Sie Ihren Schützling auf seinem Platze sehen, so schenken Sie dem Museum heute nachmittag noch einmal Ihren Besuch. Ich möchte Ihnen auch gern unsere Sammlungen zeigen. Sie müssen für Ihre gütige Hilfe eine kleine Gegenleistung annehmen. Fünf Uhr wird der rechte Zeitpunkt sein, wenn es Ihnen gefällig ist.“ –
[400] In einer glückseligen Stimmung kam Sif in ihr Gastzimmerchen zurück. Den Purzelmann hatte sie glücklich untergebracht, den Helden ihrer Träume wiedergefunden.
Ihr zartes Diner flößte dem Kellner Bedenken ein. Es giebt im Mädchenleben Augenblicke, wo ein eingemachtes Veilchen als das einzig mögliche Nahrungsmittel erscheint.
Dann streifte sie durch die Straßen, welche das Entzücken aller Maler sind, und fand sich doch immer wieder vor der grauen Museumsmauer. In den hohen alten Kirchen lauschte sie auf die schlagenden Glocken, die hier so mächtig dröhnten, als schlügen sie die Ewigkeit, nicht diese kurze arme Zeitlichkeit. Sie vernahm nichts, als daß es noch nicht fünf Uhr war.
Endlich kam die Stunde, in der sie wieder die steinerne Wendeltreppe hinauf stieg, deren Stufen von den Sandalen weltentsagender Mönche ausgetreten worden waren. Wie zu Haus kam sie sich hier schon vor. Der alte Diener grüßte sie ganz vertraut, und mit sichtlicher Spannung flogen die Blicke des Direktors ihr entgegen, als sie die Thür mit dem letzten Glockenschlag öffnete.
Durch das noch nicht geordnete Wirrsal von Kuriositäten und Kunstgegenständen in den Vorgemächern führte er sie in das Museum ein. Ja, dort stand ihr Purzelmann auf hohem Sockel; es dünkte sie, so lustig habe er noch nie gegrinst. Sie nickte ihm lächelnd zu und schritt mit ihrem Führer in die tiefen hallenden Gänge hinein. Es war ein Wandelgang, wie ihn Sif noch nicht erlebt hatte. Sie meinte, ihr schöner Traum gehe gänzlich in Erfüllung. Alles sah sie vertraut an, selbst im dunklen Kreuzgang die Grabsteine mit den verwitterten altersgrauen Ritterbildern. Und auch der stattliche dunkelbärtige Mann neben ihr war ihr kein Fremder. Zu ihm gehörte all das Geräth, das sie umgab, ob er ein rundes goldenes Regenbogenschüsselein vorsichtig in der Hand hielt, um ihr diese winzige älteste Goldmünze der Germanen zu zeigen, oder ob er ein mächtiges Tintenfaß mit zierlicher Schnitzarbeit vor ihr aufpflanzte.
Unermüdlich beantwortete er ihre Fragen. Und wenn sie ihn anschaute, dann begegnete sie einem Blick, der halb forschend, halb träumerisch auf sie sich richtete und zu fragen schien: Haben wir uns nicht schon lange gekannt? Sind wir uns in einem früheren Dasein begegnet? Sie empfand ein schalkhaftes Vergnügen über diesen Blick. Er, der Mann, hatte die flüchtige Begegnung an der Stadtmauer vergessen.
Als er sie vor einer Rüstung auf das Plattnerzeichen aufmerksam machte, fragte sie ihn: „Haben die Kürassiere nicht denselben Brustharnisch?“
Er nickte. „Sie sind das letzte Restchen Mittelalter, das sich trotz aller Angriffe im Kriegerstand noch erhalten hat. Aber über kurz oder lang wird auch dieses verschwinden.“
„Schade!“ seufzte Sif. „Es sieht so schön aus.“
Er blickte sie überrascht an. Dann fragte er etwas verdrossen: „Haben Sie in Tannenroda Gelegenheit, Kürassiere zu bewundern?“
Sie lächelte auch, ein wenig hinterhaltig. „Nein; nur einmal im Leben sah ich sie durch unseren früheren Wohnort ziehen in der Manöverzeit. Haben Sie nicht auch bei den Kürassieren gedient?“
„Ja!“ antwortete er kurz.
„Bei denen mit gelben Kragen?“
Er verbeugte sich. „Ich bin neugierig,“ setzte er mit einer kleinen Empfindlichkeit in der Stimme hinzu, „ob ich noch einmal einer Dame begegnen werde, die mich nicht nach meiner militärischen Charge, nach irgend einem Knopf oder Stern fragt.“
Sie schwieg erschreckt. Er glaubte, sie theile die weibliche Schwäche für zweierlei Tuch; eine Erinnerung kam ihm nicht. Einen Augenblick war es, als streiche ein kalter Hauch über sie hin. Aber sie vergaß den niederschlagenden Eindruck; denn er öffnete jetzt ein Gemach aus dem sechzehnten Jahrhundert.
Auf dem Gemälde gerade gegenüber saß ruhig die Madonna mit den Engeln wie eine deutsche Mutter unter ihren vielen Kindern, denen sie Jahrmarktstrompeten und Maultrommeln gekauft hat. Das Lichtweibchen, das von der Decke hing, war nach einer Zeichnung von Dürer gearbeitet, ein herziges Ding mit dem guten altdeutschen Gesichtchen, dem hübschen bunten Kleid, dem Hirschgeweih als Flügel und dem behaglichen Karpfenschweif, mit dem es durch die Luft ruderte und den Appetit nach Fisch erweckte.
Sif stand entzückt. „Wie müssen die Menschen sich damals zufrieden gefühlt haben, daß sie jedem Geräth bis zum Bierkrug herab diesen Ausdruck der Behaglichkeit gegeben haben!“
„Ja!“ antwortete er, „glücklicher als wir sind sie gewiß gewesen; denn sie waren vor allem harmloser. Wir modernen Menschen können uns der Rührung nicht erwehren gegenüber der treuherzigen Naivetät, die das alte Geräth auszuhauchen scheint. Aber es wird uns auch klar dabei, wie tief die Kluft ist, die unsere reflektierende Generation von jenen längst dahingegangenen Geschlechtern trennt, und daß wir nichts mehr mit ihnen gemein haben.“
Sif sah erstaunt zu ihm auf. „Ich fühle mich im Gegentheil heimisch unter allen diesen Dingen, als wären sie längst mein Eigenthum. Diese schlichte Mutter Gottes steht meinem Herzen näher als die herrlichste italienische Madonna. Das ist Art von unserer Art; das sind wir selbst, wie wir immer waren, immer bleiben werden, wenn auch äußerlich unser Leben sich wandeln möge der Zeit gemäß, in welcher wir unsere Erdenwallfahrt zu vollbringen haben.“
Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er, indem sein Blick ihren ruhigen Augen auswich: „Die Veränderung unseres Lebens ist nicht nur eine äußerliche. Die Nothwendigkeit, im Kampf ums Dasein schnell die vorteilhafte Chance zu benutzen, hat uns auch innerlich verwandelt. Sinnige Gemüther, die sich nicht nur in ihre Arbeit, sondern auch in das eigene Gemüth versenken, werden jetzt bei Seite geschoben. Wer hätte noch Muße, sich mit sich zu beschäftigen, zu fragen: Bist Du Deiner Natur, den Traditionen Deiner Familie, Deines Volkes treu?“
„Bedarf es dazu der Muße?“ entgegnete sie gelassen. „Wir brauchen uns nicht um unser Selbst zu bekümmern. Es entwickelt sich ohne unser Zuthun und bleibt immer seiner ererbten Art treu, wie der Flachs immer dieselbe zarte blaublühende Pflanze bleibt, der Chemiker möge die Erde mischen, wie er will; wie die Eiche nur langsam ihren mächtigen Stamm bildet, und wenn die Forstgelehrten auch Tag und Nacht rechnen, wie bald derselbe nutzbar gemacht werden kann. Und es ist gut so. Denn in einer Zeit, in welcher der Deutsche von seiner Art ließe, möchte ich nicht leben. Das würde dann wirklich der Untergang für uns sein.“
„Sie haben idealistische Ansichten,“ erwiderte er. „Das kommt davon, daß Sie in Tannenroda so abgeschnitten von der Welt sind.“
Woher kam diese Gereiztheit in seinem Ton? Sie sah ihn verwundert an, aber er blickte mit zusammengezogenen Brauen über sie hinweg. Sie sann einen Augenblick nach. Dann meinte sie, den Grund seiner Verstimmung errathen zu haben. „Es ist freilich vermessen,“ sagte sie langsam, „daß ein einfaches Mädchen deutsches Wesen gegen den Direktor des deutschen Museums vertheidigt. Vermessen? Nein, verkehrt!“ schloß sie hell auflachend.
Der starke Mann zuckte zusammen wie ein nervöses Mädchen. Aber sie fuhr mild zuredend fort: „Sie müssen mir meine vielleicht etwas zu weit gehende Vorliebe für den Brauch und die Art unserer Altvordern zu gute halten. Sie, Großstädter, wissen nicht, wie lieb und traut auch jetzt noch uns das schlichte Leben, das unsere Vorväter führten, anmuthen kann. Sie haben niemals wie ich in einem alten Hause gewohnt, in dem Generationen Ihrer Familie geboren wurden und starben. Da giebt es keine mit Einsturz drohenden Hängeböden, keine Kisten statt der Speisekammern, keine dunklen Küchen, sondern einen großen hohen Boden, aus dessen Luke man nach allen vier Windrichtungen schaut, kühle Vorrathsräume und einen Herd, auf welchem für eine vielköpfige Familie gekocht werden kann.“ Sie erzählte eifrig mit leuchtenden Augen von ihrem Haus. Ein Lächeln trat allmählich auf seine Lippen.
„Ich soll nicht wissen, wie es sich in einem alten Haus wohnt?“ erwiderte er. „Wie viel einer Hausfrau der weite Boden zum Trocknen der Wäsche, der geräumige Herd werth ist? Hab’ ich doch in der alten Pfarre meine Kindheit verlebt, in welcher durch länger als ein Jahrhundert ein Steffen dem andern gefolgt war! Hielt doch noch meine selige Mutter so große Stücke auf ihre kühle Speisekammer mit den vielen Büchsen voll eingemachter Früchte aus dem Pfarrgarten! – Wie uns doch so manches im Lauf der Zeit entfällt,“ fuhr er sinnend fort, „und dann steht es plötzlich vor uns lebendig, als wären wir gestern erst von ihm geschieden. Jetzt sehe ich meine Mutter deutlich vor mir, wie sie in großer weißer Schürze den frisch aufgerollten Kuchen mit Herzkirschen bestreute; ich sehe meinen Vater im schwarzen Sammetkäppchen und weißen Halstuch auf seinem mit Leder beschlagenen Stuhl sitzen und höre seine Strafpredigt, weil [402] ich einem dicken Folianten das Fell abgezogen hatte, das eigentlich ein altes Pergament mit einem Minnelied war.“
„Sie haben selbst ein Minnelied aufgefunden?“ rief Sif.
„Interessiren Sie sich für die mittelalterliche Litteratur?“ fragte er lebhaft.
Sie nickte zutraulich. „Das waren schöne Stunden, in denen ich mit der Manesseschen Liedersammlung auf meinem alten Mauerthürmchen saß und von den tiefen Herzenswunden las, welche die ‚wohlgethanen Frouwen‘ den Sängern zugefügt hatten. Ich glaubte damals den leichtlebigen Poeten alles aufs Wort und hätte doch heraus lesen können, daß bei ihnen eine Aventiure die andere verdrängte.“ Sie schaute wieder mit dem hinterhaltigen Lächeln zu ihm auf, das ihm ein Räthsel schien.
Er sah sie fragend an; aber er fand keinen Aufschluß. Dann sagte er: „Ich will Ihnen doch das Minnelied zeigen, dessen Entdeckung es eigentlich war, die mich auf meinen Berufsweg wies.“
Er führte sie an einen Glaskasten, in welchem Pergamentstreifen sorgfältig an einander gefügt waren, und begann mit unbefangener Stimme zu lesen:
„Fahl Haar lang,
Kehle blank.“
Da stockte er; ein warmes Roth stieg ihm allmählich bis unter die dicken Haarwellen. Ein Gemurmel von einem rosenfarbenen Mund, der ihn im Herzen verwundet haben sollte, verlor sich in dem dunklen Vollbart. Aber als er, sich zusammennehmend, die Zeilen las:
„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“
fuhr er plötzlich empor und schaute sie an.
An dem Aufleuchten seiner Augen erkannte Sif, daß ihm jetzt die kleine Begegnung aus dem Manöver wieder eingefallen war.
Er that einen Schritt auf sie zu; auf seinen Lippen schwebte ein Wort –
Im selben Augenblick rief es von[WS 1] der Thür her: „Herr Direktor!“
Athemlos eilten seine jungen Gehilfen herbei, die ihm vorhin neidisch nachgeblickt hatten. „Fräulein Ellen Arion bringt den Tafelaufsatz.“ Sie sahen ihn boshaft lachend an.
Er fuhr erschrocken auf. Ein Ausdruck von Verwirrung trat in seine Züge. Doch er faßte sich und, sich umwendend, sprach er zu Sif: „Sie werden ein Prachtstück aus der Zeit der Renaissance bewundern können.“ Der Zusatz: „Ich freue mich, daß es sich so trifft,“ klang etwas gezwungen.
Sif folgte ihm unbefangen nach der Eingangshalle. Dort hatte sich ein vollständiger Aufzug eingefunden. Den Mittelpunkt bildete eine junge Dame, eine zierliche Gestalt mit klugem, scharf geschnittenen Gesicht und dunklen mandelförmigen Augen von entschieden orientalischem Typus. Ihre Gesellschafterin, unfehlbar eine Engländerin der Haltung und Kleidung nach, erschien wie ein steifer Schatten hinter ihr. Zwei Diener in prächtiger Livree mit echten Domestikengesichtern trugen ein schön gearbeitetes großes Futteral, und neben denselben stand in schwarzer Kleidung ein kleiner Herr mit ebenfalls jüdischen Zügen und dem Ausdruck und Benehmen eines untergeordneten, aber allmächtigen Beamten.
Es fiel Sif doch auf, wie tief der Direktor sich plötzlich verbeugen konnte, wie er so ganz erfüllt von Dankbarkeit war, als die junge Dame zuvorkommend, aber ganz selbstbewußt lächelnd ihren Beitrag zur Ausstellung anmeldete. Bei der Ankunft des Purzelmanns hatte der Direktor Steffen sich doch sehr wie ein Gnadenspendender benommen.
Freilich, als der kleine schwarze Herr das Futteral öffnete und nun mit großer Sorgfalt den Inhalt heraushob, stand auch Sif geblendet. Ein hoher Pokal von herrlichster Arbeit stellte sich dar. „Von Wenzel Jamnitzer,“ erklärte ihr der kleine Herr herablassend.
„Vielleicht eine Hochzeitsgabe; denn der Bügel, der sich über dem Deckel erbebt, trägt ein Allianzwappen,“ warf nachlässig die junge Dame hin.
„Von Brillanten eingefaßt,“ vervollständigte der kleine Herr.
„Die Goldschmiedearbeit ist unfehlbar vom Jamnitzer,“ sagte der Direktor in etwas unsicher erregtem Tone. „Aber welcher Künstler den eigentlichen Körper des Pokals aus Elfenbein gearbeitet hat, ist noch nicht festgestellt. Dagegen trifft die Vermuthung des gnädigen Fräuleins zu;“ er neigte sich verbindlich vor der zierlichen jungen Dame. „Der Pokal ist sicherlich für eine Hochzeit bestimmt gewesen. Diese Seite zeigt den Hymen mit der Fackel, jene einen Amor mit Pfeil und Bogen.“
„Merkwürdig,“ sagte der Architekt in beißendem Tone, „lauter Liebesgötter ziehen heute hier ein.“ Und auf den befremdet fragenden Blick der jungen Dame setzte er hinzu: „Das Fräulein hier hat einen deutschen Amor gebracht.“ Und er deutete nach dem nächsten Saal, wo der kleine Götze hockte.
Fräulein Arion wandte den Kopf so heftig über die Schulter nach Sif, daß der Perlenknopf des Ohrringes sich in der Achselschleife verfing.
Der zungenfertige Architekt fuhr fort: „Nun fehlt nur noch der Eros, den der Herr Direktor auf der Akropolis auszugraben wünscht, sobald das Glück ihm günstig ist.“
Wieder lächelten die jungen Leute, und über Fräulein Arions Gesicht flog ein feines Roth. Sif aber kam sich wie verrathen vor. Sie verstand die Anspielungen nicht; der Direktor erschien ihr plötzlich als das, was er für sie war: ein wildfremder Mann.
Ihre weibliche Würde, der Stolz der Gelehrtentochter regten sich in ihr. Sie hob das Haupt.
Der Direktor erschrak. „Ach, ich habe vergessen – der Drang der Geschäfte – Verzeihung, meine Damen! Fräulein Ehrlich, Tochter eines berühmten Alterthumsforschers; Fräulein Arion, Tochter unseres Mäcens, des Herrn Kommerzienrathes Arion,“ stellte er vor.
Die beiden Mädchen verneigten sich gegen einander, Ellen Arion mit jenem kurzen Knixchen, das unsere immer eilfertige Zeit sogar in der Gesellschaft vorgeschrieben hat, Sif im Stil einer Thusnelda; aber dabei drang aus den schwarzen mandelförmigen Augen ein orientalisch feindseliger Blick, während Sif mit einem germanisch hochmüthigen antwortete. So mochte dereinst ein Germanenweib auf die Römerin geschaut haben, die ihr den reckenhaften Gatten zu rauben begehrte.
Dann warf Ellen einen goldenen Kneifer auf das hochgetragene Näschen und musterte das Götzenbild.
Sif wurde es heiß und kalt. So boshaft hatte der Purzelmann noch nie gegrinst. Oder erschien er ihr nur so gräulich neben dem pausbäckigen Amor auf dem Pokal, dem reizenden Burschen, welchem der Rosenkranz tief über die Augen gedrückt war?
„Der schwarze Bub ein deutscher Liebesgott?“ fragte Ellen, und in ihrem Lachen bebte eine leise Erregung. „Er sieht nicht aus, als könne er eine große Leidenschaft erwecken.“
„Mit der Leidenschaft hat die deutsche Liebe nichts zu schaffen,“ erwiderte Sif beleidigt.
„Das wäre ein Armutszeugniß,“ warf Ellen scheinbar neckend hin. „Meinen Sie, der Deutsche sei zu phlegmatischer Natur, als daß er sich zu einer richtigen Leidenschaft aufraffen könnte?“
„Die Liebe bei den germanischen Stämmen,“ entgegnete Sif, „gipfelt nicht in der Leidenschaft. Sie vertieft sich und wird zur Innigkeit; sie verklärt sich in der Treue.“
Ellen sah Sif unsicher an. Sie sprach fünf lebende Sprachen; aber diese Rede hatte sie doch nicht ganz verstanden. Es zuckte um die feinen Lippen wie leiser Spott und in den Augen lag etwas wie Verwunderung und Staunen. Eine kleine Pause entstand, in welcher der Direktor einen zitternden Seufzer ausstieß. Unterdrücktes Kichern seiner jungen Gehilfen antwortete darauf.
Der kleine Mann, der Herr Moses genannt wurde, brachte die Angelegenheit wieder in Fluß. In geschäftlichem Tone sprach er: „Das Gemach für die Gegenstände aus Edelmetall erachten wir für die Nacht wohlverwahrt. Während der Ausstellungszeit aber wird der Herr Kommerzienrath für den Tag eine zuverlässige Persönlichkeit seines Hauses hier stationiren, damit nicht ein Schaden dem Tafelaufsatz zugefügt werden kann. Mit einem scharfen Instrument läßt sich leicht einer der Diamanten ausbrechen oder das mit Rubinen besetzte Einhorn, welches über das Wappen hinaus ragt. Und das Ding hat fünfmalhunderttausend Mark gekostet. Nun, placiren Sie es gefälligst!“
Die Diener nahmen den Pokal auf. Der Direktor führte Ellen, mit einer verbindlichen Handbewegung zum Vortritt einladend, Herr Moses blieb dem Prunkstück zur Seite wie dessen Kammerherr; die jungen Leute folgten.
So ging der Zug davon, ohne daß Sif weiter beachtet wurde.
[422]
Sif war wie betäubt, als sie so plötzlich allein dastand. Noch sah sie, wie Ellen, an dem Purzelmann vorüberschreitend, zu demselben aufschaute mit einem Lachen, welches die blendenden Reihen ihrer Perlenzähnchen blitzen ließ. Dann flatterte die breite maisfarbige Moireeschärpe davon.
Sie wandte sich wie zu einem Leidensgefährten zum Purzelmann. Sie hätte ihn am liebsten wieder mitgenommen. Armes Kerlchen! Wie wird es Dir ergehen! Die Thränen, die ihr in die Augen traten, schrieb sie dem Mitleiden mit dem Götzen zu. Er aber grinste vergnügt auf sie herab. Dann ging sie.
Ehe die Thür hinter ihr zufiel, sah sie aus der Tiefe des Museums den Direktor heraneilen, die Augen verstört nach ihr gerichtet. Aber sie drückte die eisenbeschlagene Pforte fest zu und schritt dann rasch die Stufen hinab, die vor ihr schon so oft Menschenfüße begangen hatten, die auch hinter sich gelassen hatten, was des Lebens Glück genannt wird.
Als sie ihren Stubenschlüssel im Hotel verlangte, fragte der Kellner mit einem aufmerksamen Blick in ihr blasses Gesicht, ob sie auf ihrem Zimmer zu soupiren wünsche. Sie nickte und bestellte Thee. Dann stieg sie in ihr viertes Stockwerk hinauf, müde, als sei sie plötzlich um ein Jahrzehnt gealtert. Aus dem Fenster sah sie, wie der Wagen der jungen Dame von dem Kutscher langsam im regelrechten Bogen über den Platz geführt wurde. Jetzt winkte ein Diener in der Museumspforte. Der Landauer fuhr vor. Fräulein Arion erschien mit ihrem Gefolge, der Direktor an ihrer Seite.
Sif flüchtete schnell in den Hintergrund des Zimmers. Sein erster Blick war über die Front des Hotels geflogen. Er hob Ellen in den Wagen, trat mit einer Verbeugung zurück. Der Landauer rollte davon. Abermals spähte sein Blick herüber, ehe er langsam die Stufen wieder hinauf stieg. Noch einmal sah er sich um, dann verschwand er in der Thür.
Der Kellner hatte unterdessen den Theetisch hergerichtet. „Lassen Sie alles hier stehen!“ befahl Sif. „Ich wünsche, nicht wieder gestört zu werden. Punkt vier Uhr wollen Sie wecken, Rechnung und Frühstück und einen Platz im Hotelwagen bereit halten. Mit dem Fünfuhrzug reise ich ab.“
„Sehr wohl!“ Er verschwand, und Sif verschloß hinter ihm die Thür. Sie wollte auch für keine Botschaft mehr erreichbar sein. Nein, sie wollte nichts mehr von ihm wissen!
Und gleich darauf saß sie hinter dem Vorhang, um hinüberzuspähen nach der Thür, hinter welcher er weilte.
Jetzt endlich verließ er das Museum. Er stand auf dem Platz und schaute herüber, that einige Schritte, wie unschlüssig, wandte sich wieder, während er seine Handschuhe zuknöpfte, und ging endlich stracks auf das Hotel zu. Sie meinte vor Herzklopfen ersticken zu müssen. Im nächsten Augenblick erwartete sie das Pochen des Kellners zu vernehmen. Aber es blieb still. Hatte der dienstbare Geist gemeldet, daß sie nicht mehr zu sprechen war?
Sie lugte, gedeckt von der Gardine, hinab. Es dämmerte schon stark; aber sie hätte den Fortgehenden ganz gut erkennen können. Er ging nicht. Ach, er aß vielleicht zu Abend unten im Speisesaal, glaubte, sie würde auch ihr Abendbrot dort verzehren, und er wollte ganz kollegialisch mit ihr soupiren.
Würde er eine solche Voraussetzung auch Fräulein Arion gegenüber sich gestatten? Nein, o nein! Eine heiße Röthe schoß in ihr Gesicht. Und was hatte sie gethan, um so ohne Achtung behandelt zu werden? Sie war, der eigenen Würde trauend, allein hierher gefahren, hatte einen Wunsch und Auftrag ihres kranken Vaters erfüllt.
Mit hastigen Schritten ging sie in dem engen Zimmerchen hin und her. Die Zurücksetzung, die sie erfahren hatte, brannte bis in ihr Herz hinein. Vergeblich zeigte ihr die Erinnerung sein Bild, wie er sichtbar geängstigt ihr nacheilte.
Nein, sie wollte ihn nicht wieder sehen! Und dabei lugte sie doch hinab auf die Straße, wo die Gaslaternen Tageshelle verbreiteten, daß man die kommenden und gehenden Gäste deutlich erkennen konnte. Die Hünengestalt wurde nicht sichtbar.
Endlich verstummte der Tageslärm. Die Lichter, die in den langen Häuserreihen nach und nach aufgeleuchtet waren, verlöschten ebenso allmählich wieder. Die letzten Gäste gingen nach Haus. Sie hörte das Zuschlagen der großen Hotelthür. Unter dem Gewimmel von dunklen Gestalten mochte er sich mit verloren haben, wie die Menschen sich eben im Leben aus den Augen kommen.
Durch das klaffende Fenster wehte schon frische Morgenluft, und jenseit der steilen Dächer, über die sie hinweg sehen konnte, graute am Himmel der erste matte Tagesschimmer. In ein paar Stunden ging es heim.
Heim! Sie athmete tief auf bei dem Gedanken.
Und sie wollte nicht wieder fort von Tannenroda. Ihr Vater hatte doch recht. Dort droben in der Einsamkeit gewöhnte man sich leichter an den Gedanken, allein durch das Leben zu gehen. All das schöne Geräth, das sie hier entzückt hatte, es war geschaffen, um glückliche Familienkreise mit Behagen zu umgeben. Sie besaß keinen Theil daran. Das gegenseitige Sichverstehen, die Uebereinstimmung mit einem andern Menschen, die sie hier zum erstenmal gefunden zu haben glaubte, sie führten nur zum Heil bei gleicher Lebensstellung. Der berühmte Direktor und die reiche junge Dame fanden von selbst sofort das richtige Verhalten gegen einander, während sie wie das Mädchen in dem Märchen von der Frau Holle alle vorkommende Arbeit that und dann gleich Aschenbrödel im Winkel sitzen gelassen wurde.
Sie stellte die Tellerchen, von denen sie ab und zu einen Bissen genommen hatte, auf dem Theebrett zusammen. Dann machte sie Toilette zur Nacht, aber es ging langsam damit von statten. Denn während sie die langen Zöpfe flocht, mußte sie an den Flachs denken, den sie unter seinen Augen gesponnen hatte. Der herbe Dnft des letzten Wachholderzweigleins, das sie aus der Kleidertasche schüttelte, versenkte sie in wehmüthige Träumerei; sie meinte den warmen Blick zu fühlen, den er auf sie heftete, während sie das Feuer in dem Götzenbild anzündete.
Sie packte ihre kleine Handtasche wieder und seufzte: „O, hätte ich nie diese Reise unternommen! Da wäre mir die Erinnerung an den geharnischten Reiter geblieben als schönes Traumbild meiner Jugend, und ich hätte in der Einsamkeit meines Lebens doch eine lichte Erinnerung gehabt. Nun ist alles zerstört und verzerrt, daß ich das ganze Ereigniß aus meinem Leben tilgen möchte.“ Voll heißen Schmerzes drückte sie das Schloß zu. –
Zur richtigen Stunde fuhr der Hotelwagen vor. Sif warf noch einen Blick hinüber auf die hohen schmalen Fenster des Museums, dann rollte sie wieder der Eisenbahn zu.
Als sie am Schalter stand und ihr Billet bezahlte, griff plötzlich eine Hand nach der Reisetasche und eine gedämpfte Stimme sprach: „Erlauben Sie mir, wenigstens im letzten Augenblick meine Pflicht gegen den Gast üben zu dürfen.“
Es ging ihr wie ein Schlag durch alle Glieder; aber sie ließ die Tasche nicht los und trat zurück. Obgleich von Purpurröthe übergossen, sprach sie mit fester Stimme: „Ich danke. Sie haben keine Verbindlichkeit gegen mich zu erfüllen. Ich kam ja nur als Bote, dessen Pflicht es ist, das ihm übergebene Packet richtig abzuliefern.“
Er sah sie tief erschrocken an. „Sie haben sich so viel bemüht,“ stotterte er.
Je bestürzter er erschien, je mehr fand Sif ihr Gleichgewicht wieder. „Für meinen Vater,“ sagte sie kühl.
Er verlor gänzlich die Fassung. Das anspruchslose Mädchen entpuppte sich plötzlich als herbe stolze Frau. Er wagte nicht, an das alte deutsche Spinnrad zu erinnern, das sie wieder in Gang gebracht, auch ohne daß es ihr Vater gewünscht hatte, über das sie gemeinsam die Häupter geneigt, an dem sie vereint den unzerreißbaren Kreuzknoten geknüpft hatten.
Er folgte ihr in den Wartesalon.
„Ich versuchte gestern abend noch, Ihnen meine Entschuldigung zu bringen,“ begann er aufs neue; „aber der Kellner sagte mir, daß Sie nicht gestört zu werden wünschten.“ Er wollte lächeln und erzählen, daß der Kellner ihm vorwurfsvoll gesagt habe, wenn die Damen aus dem Museum kämen, wäre Schlaf das einzige Rettungsmittel für sie. Aber auch der Scherz erstarb, das Lächeln verging ihm, so fremd sah sie ihn darüber an, daß es etwas zu entschuldigen geben sollte.
[423] Scharfes Läuten kündigte den Zug an. Sie ging, er folgte ihr und stand mit abgezogenem Hut am Coupé.
Die Insassinnen desselben sahen sie respektvoll an. Wer mochte die Dame sein, der ein so stattlicher Mann so demüthig das Geleit gab?
Kühl grüßte sie zurück. Heute hatte sie in ihrem tief verletzten Stolz ihn hinabgedrückt auf die Stelle, die er ihr gestern überlassen hatte: die des untergeordneten Gefolges.
Einen Augenblick sah er noch das edel geschnittene Profil, den stolz geschürzten Mund. Dann brauste der Zug davon. Todtenblaß sah er ihm nach. Endlich wandte er sich um und ging langsam nach dem Museum. Es war zwar noch eine frühe Stunde; aber die Geschäfte drängten; übermorgen schon begann die Ausstellung.
Die eingesandten Gegenstände häuften sich. Bei der Rubrizirung der Alterthümer waren oft ernstliche wissenschaftliche Prüfungen nöthig und noch öfter Korrespondenzen mit Einsendern, die über den ihren Schätzen angewiesenen Platz haderten. Erwin Steffen zeigte auch jetzt die unermüdliche Arbeitskraft und Pflichttreue, die dem gebildeten deutschen Mittelstand von alters her eigen gewesen ist. Aber seine jungen Gehilfen wunderten sich, daß der sonst selbst im ärgsten Tumult so besonnene ruhige Mann jetzt nervös wurde, wenn es galt, die Echtheit eines Wurmstiches in einem zermürbten Betpult festzustellen oder tausend kleine Thonstücke als zu einer Graburne zusammengehörig zu erkennen. – –
„Herr Direktor,“ tönte gegen Abend die Stimme des Architekten in den Saal X hinein, „Herr Kommerzienrath Arion und Fräulein Tochter sind angekommen und wollen den Platz besichtigen, der ihrem Tafelaufsatz angewiesen worden ist. – Ja, wo ist er denn?“
Ellen schritt in ihrer leichten eleganten Art herein, die zum Abbrechen dünne Taille von einem Westchen aus golddurchwirktem türkischen Stoff umspannt, in der kleinen von mattfarbigem Seidengewebe umschlossenen Hand einen Spitzenschirm haltend, dessen Griff ein Hufeisen bildete, aus Silber zierlich gearbeitet, mit goldenen Nägeln versehen.
„Gnädiges Fräulein, er ist verschwunden,“ rief der Architekt klatschesfroh; „eben stand er noch vor dem Purzelmann.“
Ellen war betroffen. Was fand er nur an dem lächerlichen Fratz, den das Riesenweib aus dem deutschen Urwald gebracht hat? Und warum verschwand er wie von der Erde verschlungen in dem Augenblick, als sie das Museum ihres Besuches würdigte? Das war sonderbar. Sie warf dem Götzen einen ärgerlichen Blick zu.
Der grinste ganz huldvoll dagegen, als wollte er sagen: „Ich nehme es nicht übel; Liebesgötter sind gegen Launen abgehärtet.“
Vor dem kostbaren Pokal redete indessen der kleine Moses auf den Kommerzienrath ein. „Soll mir einer sagen, was ’ne Sach’ ist. Der Direktor müßte dastehen, den Hut in der Hand, schon wegen des Pokals, den wir mit Lebensgefahr hier ausstellen. Statt dessen läßt er Sie allein hier herum stehen.“
„Ach Moses, lassen Sie das,“ wehrte der Kommerzienrath, ein stattlicher Herr mit Diamantknöpfen im Chemisette, ab. „Wer mich mit Steinen wirft, den werfe ich mit Brot.“
„Aber Fräulein Ellen braucht sich ihm nicht zu dem Brot an den Hals zu werfen,“ erwiderte giftig das Faktotum.
„Moses, Sie sind unverschämt!“ rügte der Kommerzienrath in klagendem Tone.
„Ich bin nicht unverschämt,“ widersprach der kleine Moses, und seine klugen Augen blitzten energisch. „Aber der Direktor ist unverschämt, daß er mit dem sauer verdienten Geld des Herrn Kommerzienraths will in der Welt herumfahren und den Griechen helfen, ihre alten Steine ausgraben. Herr Kommerzienrath, dieses Geschäft wird nicht groß geschrieben.“
Der Kommerzienrath wand sich in Verzweiflung. „Aber Ellen will es einmal, und ich kann ihr nichts abschlagen!“ seufzte der weichherzige Mann.
„Warum will es Fräulein Ellen?“ fuhr Moses fort. „Weil hier der Direktor des Museums ein großes Thier ist, und weil die Ausstellung ihn hinstellt gleich einem Generalfeldmarschall. Wenn der Schwindel vorbei ist, kräht kein Hahn mehr nach ihm.“
Ellen schritt herein. „Ich möchte nach Hause fahren. Meine Migräne.“ Voll zärtlicher Sorgfalt geleitete sie der Vater hinweg, und Moses nahm, hebräische Worte in den Bart murmelnd, die wie eine Verwünschung klangen, wieder Platz auf seinem Wachtposten.
Endlich war die Eröffnung der Ausstellung erfolgt. Regierungskommissar und Direktor hatten hochinteressante Reden gehalten, und von morgens bis abends strömten die Besucher durch das hohe Portal ein und aus.
In einer Mittagsstunde, als eben der Zug von dem benachbarten Bade her die Stadt passirt hatte, schritt ein junger eleganter Herr mit einem mächtigen blonden Schnurrbart in die gewölbte feuerfeste Halle herein, wo die Arbeiten aus Edelmetallen ausgestellt waren. Sein Blick wurde natürlich von dem Pokal zuerst angezogen. Er trat heran und ein Ausdruck von Ueberraschung flog über seine Züge, da er ihn näher besichtigte. Er sah in dem Katalog nach, schüttelte den Kopf und schaute sich um, als suche er jemand, der Aufschluß geben könnte.
Moses, der jeden Ankömmling scharf beobachtete, kam herbei. „Wünschen Sie etwas?“ fragte er zuvorkommend.
Der Herr tippte auf eines der Wappen. „Können Sie mir sagen, woher der Pokal stammt? Das Einhorn führe auch ich. Sehen Sie?“ Und er zog seine Uhr hervor, die dasselbe Wappen trug.
Moses verbeugte sich tief. Er hatte mit raschem Blick die Grafenkrone entdeckt, die darüber gravirt war. „Der Pokal,“ berichtete er, „wurde vom Herrn Kommerzienrath Arion für fünfhunderttausend Mark gekauft von einer adeligen Familie.“ Er zuckte die Achseln. „Sie hatte vielleicht Unglück gehabt,“ setzte er zartsinnig hinzu.
Der junge Herr lachte. „Wenn sich eine Familie solche Becher anschafft und dann auch vielleicht noch recht oft austrinkt, kann es leicht kommen, daß Wein, Pokal und Familie zum Teufel gehen. Aber fünfhunderttausend Mark? Der Herr Kommerzienrath muß ein reicher Mann sein.“
Moses nickte und zwinkerte bejahend. „Eine Laune seiner einzigen Tochter mit solchem Sümmchen zu befriedigen, ist ihm eine Kleinigkeit. Fräulein Ellen Arion ist eine Dame von feinem Geschmack. Sie war eben noch hier und besichtigt nun die anderen Säle.“
Der Blick des jungen Herrn ging über den kleinen Moses hinweg in die von Fremden belebten Räume. Er grüßte freundlich und doch auf eine Weise, welche den Abstand zwischen dem Grafen und dem kleinen Moses entschieden festhielt, und ging raschen Schrittes in die Säle hinein.
Wie allmorgendlich so auch heute hatte des Direktors erster Weg dem kleinen Götzenbild gegolten. Der Mensch, der etwas Theueres verloren hat, weiht gern seinen Tag damit ein, daß er ein Andenken an das Geschiedene in die Hand nimmt, einen Blick hinüber wirft auf den Lieblingsplatz oder die letzte Ruhestätte desselben.
Und ebenso unabänderlich richtete Ellen ihren Weg dahin, aber nicht in wehmüthigem Schmerz, sondern in immer prickelnderer Empfindlichkeit und Empörung. Während sie in ihrem eleganten Landauer nach dem Museum fuhr, stieg schon heiß die Frage in ihrem Herzen auf: wird er heute wieder vor der geschmacklosen Figur stehen?
Sie ließ ihre Gesellschafterin bei einem Evangelienbuch aus dem elften Jahrhundert zurück und wandte sich dem Saal mit den Denkmalen aus der vorchristlichen Zeit zu.
Ja! Sie erkannte die Hünengestalt schon von weitem. Er stand abermals da. Die winzigen Fußspitzchen stachen förmlich in die alte graue Halle hinein und das Lachen klang scharf, mit dem sie fragte: „Können Sie sich noch immer nicht von dem schwarzen Amor trennen?“
Erwin Steffen fuhr erschrocken herum. „Gnädiges Fräulein –“
Im selben Augenblick klappte von der anderen Seite elastischer Männerschritt über die Steinfliesen heran und eine frische lachende Stimme sprach: „Wahrhaftig, da droben steht das kleine Scheusal!“
Beide wandten sich betroffen nach dem Sprechenden um.
„Herr Doktor Steffen!“ rief dieser nach einem Blick in des Direktors etwas verwirrtes Gesicht. „Ist’s möglich? Mein Lieutenant vom letzten Manöver. Der Name auf dem Katalog kam mir gleich bekannt vor. Aber wie viele Steffen giebt es nicht, und wie viele Lieutenants hat man gehabt!“ Er schüttelte ihm die Hand.
„Herr Rittmeister!“ rief Steffen, sichtlich erfreut. „Was führt Sie hierher? Sie waren doch kein Freund von Alterthümern?“
Der andere lachte. „Der dort führt mich her.“ Und er deutete auf den Purzelmann. „Aber nun – bitte –“ kam er einer neuen Frage, die dem Direktor auf der Zunge zu schweben [424] schien, zuvor, „wollen Sie mich der Dame vorstellen, die Sie ja, wie es scheint, kennen.“
„Herr Rittmeister, Graf Rossel von Rosselsprung-Steinklipp – Fräulein Arion,“ kam Steffen der Aufforderung nach.
So unbefangen die Miene war, mit welcher der Rittmeister sich verbeugte, – es traf das junge Mädchen doch ein prüfender Blick. Ja, diese pikante Schönheit war ganz chic. Ihre feine, kaum mittelgroße Gestalt erschien sehr graziös in dem schwarzen Promenadenanzug, welcher an den Aermeln und zwischen den lose flatternden langen Rockbahnen ein feuerrothes Unterkleid zeigte. Das energisch geschnittene schmale Gesicht schaute unter einem Hütchen hervor, auf welchem ein Strauß rother Federn keck emporstieg.
„Ich habe soeben das Prachtstück der Ausstellung bewundert, das mit Ihnen, meine Gnädigste, eingezogen ist,“ sprach er, und es klang eine leise Schmeichelei in dem Ton.
Sie antwortete mit dem nachlässig gesprochenen Alltagswort: „Es freut mich, daß der Pokal Ihren Beifall findet.“ Dann wandte sie sich lebhaft zum Direktor und fuhr fort: „Ich werde Ihnen ewig dankbar dafür bleiben, daß Sie uns auf dieses Kunstwerk aufmerksam gemacht und den Ankauf vermittelt haben. Ich kann mich nicht satt daran sehen.“
Der Direktor verbeugte sich stumm. Statt seiner antwortete Graf Rossel: „Damen haben immer eine Schwäche für Gold, Diamanten und Rubinen.“
Sie hob hochmüthig das feine Kinn. Ihre Augen streiften ihn mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen: eine echte Offiziersidee. Dann richtete sie wieder ihre Rede an den Direktor. „Wenn ich bei diesem Pokal an etwas Goldenes denke, so ist es das Gesetz des goldenen Schnittes, welches der Jamnitzer mit echt künstlerischer Strenge eingehalten hat. Wie der Deckel, der Pokal, der Fuß zu einander in einem wohl abgewogenen Verhältniß stehen, das ist immer wieder eine Freude zu schauen.“
Sie wartete vergeblich auf Antwort. Der Direktor schien ihre ästhetische Aeußerung nicht gehört zu haben. Er wendete sich an den Rittmeister und fragte: „Wie sind Sie zu der Bekanntschaft mit dem kleinen Erzbild, Purzelmann genannt, gekommen?“
Der Rittmeister sah seinen ehemaligen, so querfeldein redenden Lieutenant scharf an und erwiderte dann lächelnd: „Durch eine schöne blonde Dame.“
„Wie denn das?“ fragte Steffen sichtlich gespannt.
Die Augen des Grafen Rossel blitzten ihn muthwillig an. „Sind Sie eifersüchtig, bester Herr Doktor?“
Eine glühende Röthe schoß in Steffens Gesicht. Zugleich knisterte die schwere schwarze Seide von Ellens Robe, nur leise zwar, aber dem feinen Ohr des Weltmannes ganz vernehmbar.
Er strich sich lächelnd den mächtigen blonden Schnauzbart, wie er zu thun pflegte, wenn er bei Rekognoszirungen mit den scharfen Augen die Positionen überblickte und Gedanken in ihm tagten, wie dieselben etwa genommen werden könnten.
Ohne weiter der raschelnden Seide und der rothen Stirn des Direktors Beachtung zu schenken, sagte er mit seiner kräftigen Stimme, die schallend das Gewölbe füllte und alle beengende Schwüle zu zerstreuen schien: „Die Sache ist nicht der Rede werth. Ich geleitete die junge Dame, die unvorsichtigerweise ohne Kammerjungfer reiste, aus einem Coupé in das andere, da ungezogene Jungen sie um dieses kleinen schwarzen Burschen willen behelligten. Finden Sie auch bei ihm das wohlabwägende Gesetz des goldenen Schnittes beobachtet, mein gnädigstes Fräulein?“ wandte er sich wieder Ellen zu.
Es schien ihm, als habe sich das Gesichtchen unter dem wallenden Federbusch verfinstert. Und jetzt brach es mit unmuthigem Lachen erregt über die schmalen rothen Lippen: „O, der ist abstoßend, kalt, hart! Wie alles, was uns vom Norden kommt.“
„Alles?“ fragte er übermüthig lachend und wandte ihr mit einer leichten Bewegung das Gesicht zu.
Seine herrlich geschnittenen Züge, die feurigen Augen, der liebenswürdige Ausdruck des Mundes schlugen ihr Urtheil in die Flucht. Und so ruhig sie auch dastand in der Haltung der vornehmen Dame, ihr Blick konnte nicht ganz die leise Befangenheit verbergen, die sie in diesem Augenblick empfand.
Graf Rossel war ein ritterlicher Mann; er half ihr über die kleine Klippe hinweg, indem er fröhlich schwadronnirte: „Das ist eine riesige Beleidigung. Herr Doktor, die dürfen wir uns nicht bieten lassen! Ja, wohin ist er? Eben stand er doch noch da?“
Wie oft hatte Ellen diese Worte in den letzten Tagen hören müssen, wenn sie das Museum besuchte. Aber Graf Rossel ließ ihr keine Zeit, sich abermals über dieselben zu ärgern. Rasch und unbefangen fuhr er fort: „Ein netter Mann, dieser Doktor Steffen, nobler Kerl! War auch im Rrrrement gern gesehen. Niemand merkte ihm an, daß er nur Reserveoffizier war. Wahrhaftig nicht! – Und in seinem Fach eine Autorität! Von jedem alten Knopf ist er imstande, die Lebensgeschichte zu erzählen.“
Er lachte laut, und auch sie mußte lächeln. Ihre schlimme Laune verflog unter seiner Rede, sie wußte selbst nicht, warum. Es war ihr, als wichen während derselben die beiden Menschen, durch die sie sich so schwer gekränkt und gedemüthigt fühlte, aus ihrer Sphäre; als höbe eine starke Hand sie über die Zurücksetzungen, die sie in der letzten Zeit erfahren hatte, hinweg und stellte sie auf einen schönen erhabenen Platz, wo dieselben sie nicht mehr erreichen konnten.
„O,“ antwortete sie einlenkend und schmeichelnd, „Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Ich meine, der Preuße ist so in der Disziplin und Subordination aufgegangen, daß er auch seiner Phantasie eine stramme Dressur geben will. Was er schafft, kommt ihm nicht unmittelbar aus dem Herzen; er grübelt’s im Kopf aus und darum spricht es auch wieder nur zu unserem Verstand, während das Herz kalt bleibt. Bei den Werken unserer Künstler dagegen meine ich immer, sie haben eine Thräne, einen warmen Händedruck, ein herzfrohes Lachen, einen Jauchzer hinein geschmolzen. Und das ist’s, was freut und rührt.“
„Und Sie glauben, der norddeutsche Liebesgott wisse nichts von allen diesen schönen Dingen?“ fragte er, förmlich sprühend vor Uebermuth. „Sie halten ihn für einen so langweiligen Patron? Von diesem Irrthum müssen Sie bekehrt werden, es koste, was es wolle.“
„Ich bin gespannt, zu erfahren, wie Sie das auszuführen gedenken,“ antwortete sie scherzhaft herausfordernd.
„Ah, der ‚Preuße‘ ist ja gewöhnt, zu“ – er hielt einen Augenblick inne – „zu vertheidigen,“ vollendete er dann.
Da schaute sie ihn mit einem koketten Augenaufschlag an und sagte lächelnd: „Wenn er nicht gerade attackirt.“
Und wie er den Schelmenblick auffing und erwiderte, da bildete sich eine unsichtbare Brücke, auf welcher plötzlich die Gedanken beider sich zusammenfanden; und sie vergaßen, daß sie eine andere und einen andern hier im ehrwürdigen Museum gesucht hatten.
„Die Attacke der Schönheit gegenüber ist verzeihlich,“ erwiderte er mit tiefer Verbeugung.
„Sie ist nur dann entschuldigt, wenn sie glückt,“ antwortete sie, mit ihrem Fächer spielend. „Das Erobern ist gar nicht leicht.“
„Am schwersten ist das Festhalten,“ sagte er und sah ihr in die Augen.
Ihr Gesichtchen färbte sich mit zartem Rosa unter seinem Blick „O, das versteht der Preuße am besten,“ erwiderte sie leise.
Vereint verließen sie heiter plaudernd den kleinen Götzen, der dem jungen Paar auf den Höhen des Lebens mit demselben lustigen Grinsen nachschaute wie der barfüßigen Magd und ihrem Schwämme suchenden Schatz. Er ist einmal ein unverbesserlicher Demokrat.
Sie schweiften zusammen durch die Säle. Und es war sonderbar. Während Ellen neben dem jungen Grafen herschritt, dachte sie gar nicht daran, sich mit dem schwierigen Verständniß eines byzantinischen dürren Heiligenbildes zu mühen. Mit herablassender Miene hörte sie den jungen Architekten an, der ihr von einem Bauplan des Direktors sprach, verhieß dann gütevoll einen Beitrag ihres Papas und befahl, daß an verschiedenen verkäuflichen Kostbarkeiten ihr Name als derjenige der nunmehrigen Eigenthümerin vermerkt werde.
„Es ist eine hübsche Stellung für eine Dame,“ lobte sie Graf Rossel, „als Mäcenin Künste und Wissenschaften zu fördern. So nützen die verschiedenen Stände auch einander. Die Künstler etcetera finden die Unterstützung, welche sie brauchen, die liebenswürdige Gönnerin den künstlerischen Schmuck des Lebens, der ihrem feinen Geschmack unentbehrlich ist.“
Sichtbar von seinen Worten geschmeichelt, flatterte Ellen an allen Merkwürdigkeiten und Kunstwerken vorüber wie einer der zierlichen schwarz und rothen Schmetterlinge, die auch nur an den Blumenkelchen nippen und die schwere Honigtracht den fleißigen Bienen überlassen.
[438]
Mit vollkommen hergestelltem Selbstgefühl, in heiterster Laune verließ Ellen das Museum. Graf Rossel geleitete sie zu ihrem Wagen.
Während der Diener davon eilte, die Gesellschafterin herbei zu rufen, sprach er: „Ich erinnere mich, daß in unserer Familienchronik Aufzeichnungen über die Entstehungsgeschichte des Pokals vorhanden sind. Wenn dieselben Sie interessiren, will ich die betreffenden Stellen ausziehen lassen.“
„O sehr, sehr gütig!“ antwortete sie und drückte die feinen Finger wie zu einer Dankesbetheuerung gegen einander.
„Und würden Sie gestatten, daß ich Ihnen die Aufzeichnungen überbringe?“
„Wird Papa und mir eine große Ehre sein.“
Er legte ihr den schwarz und roth schillernden seidenen Staubmantel um die Schultern und hob sie in den Wagen. „Also darf ich sagen: ‚Auf Wiedersehen!‘ mein gnädiges Fräulein?“
„Auf Wiedersehen!“ wiederholte sie ganz süß und lieblich. Dann fuhr sie davon. Graf Rossel sah dem Wagen nach. Eine schöne Schildjungfrau Wodans hatte er gesucht, eine pikante Dame Kobold gefunden. Nachdenklich ging er nach seinem Hotel zurück.
Er war ein vorzüglicher, aber flotter Offizier, der in stetem Kampfe mit den unbändigsten Pferden und den unverschämtesten Wucherern lebte. Einmal hatte er schon vor der Aussicht gestanden, „schwimmen“ zu müssen, wie der technische Ausdruck für „nach Amerika auswandern“ lautet; denn seine Familie hatte keinen Antheil mehr an dem Preis für den alten Familienpokal [439] gehabt. Das Vermögen des alten Arion würde ihn für immer von den verfluchten Kravattenfabrikanten und von der Sorge um lahmende Pferde befreien. Und was schadete es, wenn die Schätze in dem eisernen Geldschrank mobil gemacht wurden? Das viele Geld mußte ins Rollen gebracht werden, was doch einmal seine Bestimmung war.
Und die kleine Ellen? Na! die würde das Regiment nicht durch schief getretene Absätze verunzieren. Sie hatte ein ganz reizendes Füßchen. Und wie sie gewandt die Spitze nahm, als er ihre über gelehrten Krimskrams erhabene Stellung andeutete, so gewandt wie seine „Maggie“ bei guter Führung die Hindernisse auf der Rennbahn! Und die entzückende Schelmerei! Wie sie auswich und dann doch so gern sich fangen ließ! Er strich vergnügt seinen Schnurrbart. Sie war eine allerliebste kleine Hexe! –
Während das junge Paar zum Ausgang des Museums heraustrat, war der Kommerzienrath zum Eingang hereingekommen und stand jetzt vor Moses.
„Ich sage Ihnen, Herr Kommerzienrath,“ sprach dieser, „ein Graf und ein Bild von einem Mann. Wie viele Herren ‚Von‘ und Barone sich schon um Fräulein Ellen bemüht haben – ein Graf ist noch nicht darunter gewesen; das ist immer was Apartes. Und er hat mich gefragt nach Fräulein Ellen. Nicht direkt! Sondern wie wir fragen nach einem Papier, über das wir uns erst unterrichten wollen, ehe wir es kaufen.“
„Ach Moses,“ klagte der Kommerzienrath, „quälen Sie mich nicht. Sie wissen, ich will Ellens Gefühlen keinen Zwang anthun. Sie ist eine Seele von einem Mädchen. Man kann in sie sehen wie in einen goldenen Kelch.“
Moses ließ sich nicht irremachen. „Das wird auch für den Herrn Grafen ein Segen sein, wenn er in seine Gemahlin sehen kann wie in einen goldenen Kelch. Gerechter Gott! Auf der einen Seite ein schöner stolzer Herr mit einer Grafenkrone und einem Wappen, das auch Ihr Tafelaufsatz trägt, als sei er für ihn bestellt, ein Herr, der für gewöhnlich gewiß in einer Uniform steckt, und zwar in einer vornehmen – das sieht man an seinem Schnurrbart; und auf der andern Seite ein simpler Federfuchser mit einem Bauernnamen, der beim höchsten Staat es nur zu einem Schwalbenschwanz und einer Angströhre bringt!“
Er verstummte; Steffen kam mit seiner jungen Schar vorüber.
„Herr Direktor!“ rief ihn der Kommerzienrath an, „wann wird die Besprechung des Pokales, die Sie haben schreiben wollen im ‚Anzeiger für das Museum‘ gedruckt?“
„Ich selbst habe leider augenblicklich keine Zeit,“ entschuldigte sich Steffen, vorüber schreitend, „und habe das Referat meinem Vertreter übertragen. Ich muß zunächst eine Abhandlung über den Purzelmann vollenden.“ Er verschwand.
Der Kommerzienrath verstummte vor Erstaunen.
Der junge Architekt trat hinzu. „Dieser Purzelmann,“ erklärte er, „besitzt nämlich die Eigenschaft, alle Leute zu bezaubern, die mit ihm in Berührung kommen. Unseren Direktor hat er förmlich hypnotisirt.“ Auch er eilte davon.
Moses verdrehte die Augen. „Ein Mann, der einen mit Diamanten und Rubinen besetzten Pokal einem alten Oelgötzen nachsetzt! Na, was ich mir dafür kaufe!“
In der Heimath des kleinen Götzen erwartete man allstündlich das Eintreffen der Nachricht, der Purzelmann habe die Welt erobert. Daß er der Mittelpunkt der Ausstellung sei, daran glaubte jeglicher Einwohner von Tannenroda.
Wenn der alte Postbote am Dienstag oder Freitag über die Brücke aus Fichtenstämmen nach dem Ehrlichschen Haus hinüber schritt, dann kam eiligst der Bibliothekar ihm entgegen und griff erregt nach den Anzeigeblättern, welche das Museum herausgab.
Heute langten zwei Exemplare an; das eine trug Sifs Adresse in einer schönen großen Männerschrift. Ueber ihr Gesicht flog eine leichte Blässe beim Anblick derselben. Dann ging sie schweigend mit dem Blatt in den Garten.
Hulda hatte den Kopf aus der Küche gesteckt, wo sie mit dem Schwumprich um Preißelbeeren handelte. Sie sah Sif bedenklich nach. Wenn die Leute beim Empfang der Postsachen blaß werden, das hat etwas zu bedeuten. Wer hatte nur ihrem guten Fräulein etwas gethan? Natürlich war es ein Mann. Nur diese schrieben solche barbarische Buchstaben.
„Was sind das für Beeren? Da sind ja unreife dazwischen!“ fuhr sie den messenden Schwumprich an.
„Aber Hulda, nur eine einzige!“ bat er vor.
„Wenn man Euch Männern nicht gleich den Daumen aufs Auge drückt, kommt Ihr aus Rand und Band. – Und nennst Du das reell messen? Wenn Du knickerst, kann ich Dir nicht versprechen, daß wir Dir die Lieferungen an die vornehmen Professoren drunten verschaffen.“
Er gab eilig ein paar Händevoll zu. Dann flüsterte er. „Sag’ einmal, hat das Fräulein wohl einen Liebsten drunten gelassen? Einen Studenten? Sie ist gar zu traurig und blaß.“
„Ach nein!“ wehrte Hulda ab. „Sie war im Anfang ganz vergnügt, als sie herauf kam.“
Er sah bedenklich drein. „Es ist gerade, als sehnte sie sich nach dem Purzelmann.“
Da sah ihn Hulda mit langem Blick an und sagte kopfschüttelnd: „Die Männer sind doch alle ganz erschrecklich dumm.“
Er fuhr auf. „Seitdem der Purzelmann fort ist, ist kein Auskommen mehr mit Dir.“
„Wie mit Dir nichts los war, bevor wir ihn gefunden hatten,“ zankte sie dagegen. Dann trennten sie sich patzig.
In das altersbraune Mooshüttchen hatte Sif sich bisher stets mit den Blättern zurückgezogen. Hier konnte sie dieselben durchlesen, ohne daß jemand sie störte. Ihre Augen konnten an dem ach! so schönen Namen Erwin Steffen hängen, und ihr Vater rief nicht dazwischen: „Auf der ersten Seite steht etwas Interessantes.“
Heute erst recht flüchtete sie dahin, das Blatt mit der Aufschrift ihres Namens an sich gedrückt. Sif breitete mit bebenden Fingern das Blatt aus und las: „Der Purzelmann. Von Erwin Steffen.“
Ihr Herz stockte. Sie begann zu lesen, und jedes Wort traf sie wie ein elektrischer Schlag. Die wissenschaftliche Beleuchtung des Fundes war schon mit sichtlicher Parteinahme für denselben geschrieben; aber die Hauptsache war die Abschweifung auf die Liebe, welche der kleine Gott vertreten sollte. Er schilderte diese mit den Worten, die Sif zu der Besitzerin des elfenbeinernen Amors gesprochen hatte. Das deutsche Weib, welches er als Ideal aufstellte: schön, frisch, stark, von strenger Sitte, in allen häuslichen Arbeiten bewandert, hilfreich, erkannte Sif mit aufjubelndem Herzen als ein Bildniß ihrer selbst. Er hatte doch ihre demüthige Hilfeleistung nicht vergessen; er würdigte sie weit über Verdienst.
Selig faltete sie die Hände. Wieder und wieder las sie den Aufsatz, bis die Dämmerung die Buchstaben verschleierte. Dann überflog sie flüchtig die kleinen Notizen. Plötzlich blieben ihre Augen an einer Stelle haften. Da stand als zweiter Aufsatz, mit einem Winkelmaß als Chiffre, eine Besprechung des Pokales. Der Schluß lautete: „Das Prachtstück wird seiner ehemaligen Bestimmung zurückgegeben werden und in kurzem auf einer Hochzeitstafel prangen.“
Das Blatt rauschte und knisterte zu Boden; es wurde todtenstill im Mooshüttchen. – –
Der Bibliothekar rief aus der Hofpforte nach Sif; aber nichts regte sich. Nur das Heimchen im nahen Backhaus ließ sein eintöniges Gezirp hören. Er meinte, sie sei spazieren gegangen, und begab sich wieder in seine Stube zu der Ehrenrettung des Purzelmannes.
Die Nacht war längst hereingebrochen, als Hulda Sif auffand.
Das treue Mädchen hatte den gutmüthig zurückgekehrten Schatz an die Ofenröhre gestellt, daß er die Kartoffelschnitzchen für das Abendbrot zur rechten Zeit wendete, und die junge Herrin gesucht.
Mit gewaltsamer Fassung erhob sich Sif. Gott sei Dank! Es war finster, und kein Licht außer Huldas Küchenlämpchen zu sehen.
Sif ging mit abgewandtem Gesicht vorüber ist ihre Kammer und schloß hinter sich die Thüre.
Als der Vater am anderen Morgen mit seinem dicken Brief an den Direktor zu Sif kam und fragte, ob sie ihm nicht auch ein freundliches Wort für den alten Herrn Kollegen auftragen wolle, da sie ihn doch persönlich kenne, erklärte sie entschieden, das verbiete die weibliche Würde.
Er zuckte die Achseln. Lieber Gott! Solch guter gelehrter Mann in Schlafrock und Filzsocken würde der weiblichen Würde nicht zu nahe treten.
Der Brief des Bibliothekars ging ab. Einen Gruß von Sif enthielt er nicht. – – –
Und dann wurde es still zwischen der „suezen Juncfrouwe“ und dem mittelhochdeutsch redenden geharnischten Reiter.
[440] Desto lauter fochten andere um den Purzelmann. Alle Fachblätter waren in Aufruhr. Steffen hatte zu sehr an blaue Augen, statt an gelehrte blaue Brillen gedacht. Er sollte sich blamirt haben mit seinem Essay. Der Streit hallte bis nach Tannenroda. In der Honoratiorenstube des Sichelhammers war von nichts anderem die Rede. Der junge Forstkandidat glaubte an den Amor, der Apotheker hoffte auf ihn wegen seiner neuen Heidelbeerweinetikette.
Man berieth, ob man eine Erklärung loslassen solle. Aber der Schulze entschied mit der alten Bauernweisheit: „Wem die tolle Kuh gehört, der packe sie am Schwanz. Das ist der Herr Bibliothekar, der den Purzelmann erfunden hat.“
Der that das Seinige, schrieb dickleibige Aufsätze und schickte sie an alle ihm zugänglichen Zeitschriften ein, stand dem „alten Herrn Kollegen“ mit gelehrten Auseinandersetzungen bei, ertrug standhaft die scharfen Widerlegungen, den Spott, der wie immer die Hypnotisirten traf, und vertrieb die Lose der Ausstellungslotterie, deren Gewinnste aus Nachbildungen alten Geschirres bestanden.
Endlich erstarb der Streit an der Unbedeutendheit des Gegenstandes; aber der alte Optimist nahm das auf als Sieg seiner guten Sache. – – –
So kam der Herbst allmählich ins Gebirge. Welkes Laub gab es wenig in den Nadelwäldern; das Moos grünte in der feuchten kühlen Luft noch frischer. Aber Nebel umhüllten die Brandkuppe; in der Schlucht „brauten die Hirsche Thee.“
An einem kalten Novembertag kam der Purzelmann zurück, als fege ihn der Herbststurm herein. Ohne Sang und Klang, wie eine Beerenkiste beim Schwumprich, wurde er bei dem Bibliothekar abgeladen.
„Der Purzelmann ist wieder da,“ rief dieser athemlos vor Freude, als käme der verlorene Sohn heim. „Wo ist der Schwumprich mit Hammer und Zange?“ Und das Klopfen und Auspacken begann.
„Da ist unser Gewinnst: eine Kopie der alten Lebkuchenform,“ verkündete der alte Herr.
„Ach, welch schöner Reitersmann!“ rief Hulda. Sif warf einen finsteren Blick auf den geharnischten Reiter.
Der Bibliothekar wickelte den Purzelmann aus seinem Strohbett und löste vorsichtig die Papierhüllen ab.
Nicht genug Zärtlichkeit konnte der Vater dem altdeutschen Liebesgott erweisen. Und wie hatte der seines Amtes bei ihr gewaltet! – Sif dachte mit Wehmuth daran.
Hulda glättete die Zeitungsbogen und nahm sie mit sich zum Anzünden des Herdfeuers.
„Das muß eine Pracht gewesen sein,“ rief sie Sif zu, die an der Küchenthür vorbeiging. Und sie studirte eifrig weiter in dem Blatt.
„Was meinst Du?“ fragte Sif.
„Die prächtige Hochzeit. Da ist das Tageblatt aus der Stadt, wo das Fräulein war. Das beschreibt die Festtafel mit dem Pokal. Haben Sie den auch gesehen?“
Ob Sif ihn gesehen hatte! Sie konnte plötzlich nicht weiter kommen. Und halb betäubt sank sie auf den alten treuen Küchenschemel. Hulda hielt das Blatt ihr vor das Gesicht. Ja! was war denn das? Sie las noch einmal, sie wischte sich die Augen, sie starrte darauf nieder: es blieb die Vermählung des Grafen Rossel von Rosselsprung-Steinklipp mit Fräulein Ellen Arion.
Sif stützte das Haupt in die zitternden Hände und ließ Hulda lesen von dem Polterabend, den der Direktor seinem ehemaligen Rittmeister mit feinem Geschmack veranstaltet hatte; von dem Gipsabguß des Purzelmannes, der dabei paradirt hatte, weil ohne ihn der Bräutigam nie zu der Braut gekommen wäre.
Dann schlich sie hinauf. –
Auf seinem Ehrenplatz thronte wieder der kleine Götze. Sie warf einen vergebenden Blick auf das runzlige Gesichtchen. „Du hast Deine Pflicht gethan; aber in mir war der Stolz größer als die Liebe.“ Jetzt stellte alles sich ihr anders dar. Sie sah Steffen, wie er ihr nacheilte; sie hörte seine stockende Stimme am letzten Morgen; sie las zwischen den Zeilen des Aufsatzes. Immer hatte Liebe zu ihr gesprochen; aber diese war nicht von ihr verstanden worden. Und nun hatte sie ihn für immer von sich gescheucht. Nur die Erinnerung blieb ihr.
Es war einmal ihre Bestimmung, daß die Liebe, die Krone des Lebens, wie ein Schatten an ihr vorüber gehen sollte. Das erste Sehen: ein flüchtiger Augenblick; das erste Sprechen, die Offenbarung, daß sie zu einander gehörten: ein paar rasch hinschwindende Stunden. Und Sif neigte das Haupt wie draußen im Garten die letzte weiße Aster, vom scharfen Reif getroffen.
Es wurde Winter. Auf diesen Höhen schüttelt Frau Holle ihr Bett ganz anders als drunten in der Ebene. Von den kleinen Häusern dicht am Wald kam die Mär, die Leute hätten aus den Schornsteinen steigen müssen. Die Kinder, nur in ihren groben Hemdchen, hopsten wie die Frösche in die weißen Flaumen, die über ihnen zusammenschlugen. Das schadete ihnen nichts; denn gleich ging es dann hinter den heißen Kachelofen.
„Das sind die russischen Bäder der Waldleute!“ rief der Bibliothekar. „Glückliche Kinder! Ihnen werden nicht erst Strümpfe, dann Stiefel, dann Gamaschen, dann Höschen angezogen. Kein Muff ist in acht zu nehmen, wie im Sommer kein Kate Greenwayhut, der so beflissen die Sonne auf die aufgestülpte Nase herableitet. Fessellos liegen sie der alten Mutter Natur an der Brust, die sie einmal tüchtig mit Schnee abreibt, einmal ihnen bis ins Herz hinein Wärme gießt, unbekümmert darum, ob in der Haut ein Sommersprößchen aufkeimt.“
Sif ging still ihren Weg wie bisher. Nur wunderte sich ihr Vater, daß sie nicht mehr gerne spann.
Einmal wollte er sie dazu bereden, weil das Schnurren des Rades gut zu dem Knacken der Scheite im Ofen stimmte. Aber sie sagte sanft: „Es ist genug Leinwand für das Altjungferhäuschen vorräthig, um ein halbes Jahrhundert damit zu wirthschaften.“
Der Weg in den Wald war durch Schneewälle verbaut, das Mooshüttchen trug eine Haube aus weißem Flaum. Sif mußte sich in der Dämmerung mit dem Platz am Fenster begnügen.
Das letzte Abendroth schien durch die runden Scheibchen; von dem rosigen Grunde hoben sich die Gebilde ab, die der Frost mit zartem Finger darauf zeichnete. Da sah sie die Mauerzinnen mit dem Stachelbeerbüschchen zwischen allerhand großem Gekräut aufragen, und sie meinte die heitere Stimme sprechen zu hören: „Sueze Juncfrouwe“. Und dort ragten die Spitzen der alten Thürme in die Luft, wie sie damals ihren Augen erschienen waren, als er todtenbleich am Coupé stand. Der geliebte Schatten, der sie von ihrem Eintritt in die Jugend an begleitet hatte, schwebte an ihrer Seele vorüber. Das war ihr Theil am Glück.
Draußen aber knirschte ein elastischer Schritt über den Schnee. Der junge Forstgehilfe, die Flinte übergehangen, eilte vorüber. Er kam aus dem Wald, wo er die Futterplätze des Wildes mit Heu hatte versehen lassen; und trotz der grimmigen Kälte scheute er auf dem Heimgang nach der Försterei den Umweg an der Pfarre vorbei nicht. Und richtig! Mariechen stand an dem erleuchteten Fenster; der Schattenriß zeigte das hohe nickende Schöpfchen.
Und jetzt erklang Schellengeläut. Der Apotheker fuhr mit seinem wohlgenährten Schimmel die brave Eulalia vorüber, die ihm zu einem guten Geschäft gerathen hatte; beide waren, wenn nicht ein Herz und eine Seele, so doch ein Pelzmantel und ein Fußsack.
Unten aber aus der warmen Küche tönte Huldas schnappende Weise; ihre Spule war wieder einmal voll gesponnen. Des Schwumprichs Zither schwirrte dazwischen, und das Pärchen sang so einträchtig wie ein Paar Drosseln, die zu Neste tragen:
„Du, du liegst mir im Herzen.“
Ein leiser Seufzer hauchte durch Sifs stilles Zimmer: „Glückliche Menschen!“ – – –
Endlich war der kürzeste Tag, die längste Nacht herangekommen.
„Diesmal wird Sonnenwende richtig gefeiert von dem ganzen Ort auf dem großen Tanzboden des Sichelhammers,“ erklärte der Bibliothekar eines Abends in der Honoratiorenstube.
Und alt und jung, hoch und niedrig stimmte ein.
„Wir schlachten den Jul-Eber!“ fuhr er fort.
„Ach lieber gar, Herr Bibliothekar,“ sagte der Schulze. „Ein appetitliches Wurstschweinchen wird geschlachtet. Das giebt gute Braten.“
„Der Herr Forstgehilfe besorgt die Fichte, die wir zu Ehren der Sonnenwende anzünden.“
„Mit tausend Freuden, Herr Bibliothekar.“
„Wir zünden die Lichter an zur Feier der Geburt unseres Heilandes,“ verbesserte sanft der Pfarrer.
Der Bibliothekar gerieth in Eifer. „Bei unseren Voreltern erinnerten die brennenden Kerzen der Tanne an die Wiederkehr [442] des Sonnenlichtes, bei uns an den Aufgang des göttlichen Lichtes, das die Erde mit eitel Liebe zu erfüllen bestrebt ist. Ob der Lichterbaum nun einst in der Methhalle stand zur Feier der Sonnenwende, ob heute in der Familienstube zur heiligen Weihnacht, immer tönt von ihm der Gruß: ‚Ich verkündige Euch große Freude.‘ – Und unter der Tanne raucht diesmal der auferstandene Purzelmann.“
„Aber der ist gar ein heidnisches Götzenbild,“ mahnte der Pfarrer.
„Er war der Beschützer der echten deutschen Liebe,“ trat der Bibliothekar für den kleinen Götzen ein. „Als solchem gebührt ihm ein Ehrenplatz bei einem deutschen Fest.“
Der Pfarrer wollte noch einmal gegen diese wunderliche Christfeier Einspruch erheben. Aber die treuherzigen Augen des jungen Forstgehilfen sahen ihn flehend an, und er meinte die Worte seines Töchterleins zu hören, die jetzt früh und spät in sein Ohr klangen: „Ach, gebt es doch zu! Wir haben uns so lieb; wir wollen warten; wir können uns einschränken; wir sind noch so jung.“ So schwieg er denn.
Triumphirend kehrte Doktor Ehrlich nach Hause zurück.
„Hulda!“
„Herr Bibliothekar!“
„Es werden runde Gebildbrote gebacken zu Ehren des runden Sonnengesichtes, das sich uns nun wieder zuwendet.“
Hulda schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Die Christwecken müssen länglich sein; das ist auch viel besser theilbar.“
„Schwumprich!“
„Zu Befehl!“
„Die Lichtchen für die Tanne gießen wir selbst. Schicken Sie nur die bunten gemalten Dingerchen wieder fort. Das Wachs wird vom Bienenvater drunten im Thal geholt; solche selbstgemachten Lichter riechen wie eitel Honig und sitzen so fest auf den Zweigen wie die Reiterchen, während die modernen Lichter vor Verfälschung nicht einmal ordentlich kleben.“
„Ja woll, Herr Bibliothekar!“
„Und Du, Sif,“ wandte er sich an diese, „bäckst die Pfefferkuchen in der gewonnenen Form: lauter Reiter mit goldenen Helmen und silbernen Harnischen.“
„Ja, Väterchen,“ flüsterte Sif mit versagender Stimme. Wie kann sich doch das schönste Fest in eitel Traurigkeit verwandeln!
Endlich waren alle feierlichen Vorbereitungen getroffen, der große Tanzboden des Sichelhammers mit Tannenreis und Moos geschmückt. Die Gesellschaft stand im Kreis, und – es war wunderbar! – alles paarweise: der Apotheker und Eulalia neben der dampfenden Punschterrine, der Forstgehilfe und das Pfarrerstöchterlein hinter der Tanne, unter der Thürguirlande Hulda und der Schwumprich.
Jetzt flammten alle die gelben Wachslichtchen. Und nun wurde es still wie immer in den ersten Minuten, wenn die Tanne brennt, als töne es wirklich von ihr herab:
„Ich verkündige Euch große Freude!“
Durch die kleinen Scheiben strahlte das Licht weit hinaus in das Dunkel. Ein einsamer Wanderer fing es auf und folgte ihm nach. Tönte auch in ihm der Gruß wieder: Ich verkündige Euch große Freude?
Kinder flogen noch in ihren flachen Schlittchen über den Weg. Sie hatten die schönste Bahn; denn sie fuhren von den Dachfirsten ihrer verschneiten Heimstätten herab.
„Warum sind die meisten Häuser dunkel? Und was ist das dort für ein großes Gebäude, das so hell erleuchtet ist?“ fragte der Wanderer.
„Das ist der Sichelhammer; und dort raucht unser Purzelmann,“ riefen die Kinder stolz. „Fräulein Sif zündet ihn eben an.“
Ja, Sif zündete ihn wieder an. Das Herz wollte ihr brechen, als sie die Wachholderzweiglein durch den kleinen Mund schob und nun ihre Lippen an das Oehrchen des Purzelmannes schmiegte – ganz so wie damals! Sie vergaß den Tanzboden des Sichelhammers, all die getreuen Nachbarn und guten Freunde. Sie meinte, in der gewölbten Halle des Museums zu stehen, sie meinte, seinen Blick auf sich ruhen zu fühlen – wie damals an dem glückseligsten Tag ihres Lebens. Thränen drangen in ihre Augen. Sie mochte nicht aufsehen, damit die Täuschung dauere.
Der kleine Götze dampfte sie wie zuredend an; sie mußte sich endlich doch aufrichten. Aber durch Thränen und Dampf sieht sie noch immer die großen grauen Augen auf sich gerichtet.
Da – neben dem von Moos umwundenen Sockel des kleinen Götzen steht er leibhaftig. Und jetzt tritt er langsam zu ihr heran. Er neigt sich ihr zu und spricht in gedämpftem Tone: „In der Nacht, die unserem Volke heilig war von Uranfang an, ruhte aller Kampf. Sollte nicht auch für mich da ein Wort der Vergebung gesprochen werden können?“
Sif senkte demüthig das Haupt. „Ich allein habe um ein solches zu bitten,“ sagte sie mit leiser bebender Stimme.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich war schuldig.“ Er atmete tief auf wie einer, der eine schwere Last endlich von der Seele gewälzt hat. Und ohne auf ihre abwehrende Bewegung zu achten, fuhr er fort: „Es war ein strenges, aber gerechtes Verhängniß, daß ich mir selbst die Strafe bereitete, während die Erkenntniß meiner Irrthümer und Fehler in mir zu tagen begann. Ich, der Angehörige des deutschen sonst allezeit vernünftig genügsamen Gelehrtenstandes, strebte nach der Verbindung mit einem reichen Mädchen. Und warum? Weil mir Schliemanns Ruhm nicht Ruhe ließ. Ich wünschte, auch Ausgrabungen zu machen in Griechenland, ich, der Direktor des deutschen Museums. Und zu diesem Zweck wollte ich die Tochter des orientalischen Stammes heirathen, die Ellen hieß, und deren Vater seinen einst so hoch geehrten Namen Aaron in den griechischen Arion gewandelt hatte. Ich wollte ein feudales Haus bauen, anstatt es belehrend zu schildern; ich wünschte, selbst die schönen Geräthe zu besitzen, die ich den Künstlern und Kunsthandwerkern zu Nutz und Frommen ihres Berufes zugänglich machen sollte; ich wünschte, einen Eros auszugraben, und erstickte die deutsche Liebe in meinem Herzen.
Da kamen Sie! Und gottlob! Ich hatte meine Natur noch nicht ganz zu verderben vermocht, wie ich auch daran herum gestümpert hatte; sie war besser und stärker als mein Wille. Das Gerüst von Berechnungen, das ich künstlich aufgestellt hatte, brach zusammen, und ich wurde noch gewürdigt, eine richtige Liebe zu empfinden. Es war der demüthigendste Augenblick meines Lebens, als ich zwischen Ihnen und Fräulein Arion stand. Und ich blieb, wie alle gründlichen Gelehrten, in dieser Schwierigkeit stecken, über die der gewandte ritterliche Graf Rossel so leicht hinwegglitt. Und das geschah mir recht. Warum war der Schuster nicht bei seinem Leisten geblieben? Bei ehrlicher Arbeit, bei einfachen Ansprüchen an eine gemüthliche Häuslichkeit und dem Ruf eines gewissenhaften Forschers auf den erwählten Gebieten?
Aber ich habe gebüßt und gesühnt. Und nun beschwöre ich Sie, Sif, bei Ihrem kleinen Liebesgott, der da so freundlich lacht – verzeihen Sie mir!“
Sie legte ihre Hand, unter Thränen lächelnd, in die seine, und er flüsterte ihr zu:
„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin, – ahi!“
Hand in Hand gingen sie zu dem Bibliothekar – und baten um seinen Segen.
Das starre Staunen der Versammlung löste sich in hellen Jubel auf.
Des Bibliothekars Verwunderung über den jungen Kollegen und unerwarteten Schwiegersohn ging im allgemeinen Tumult unter, bis plötzlich auf der andern Seite des Saales abermals ein junges Paar knieend um den elterlichen Segen flehte, Pfarrers Mariechen und ihr Forstmann, und nun die ganze Gesellschaft dorthin sich wandte, um zuzusehen, wie die Frau Pfarrerin sich mit Würde in ihr Schicksal fand.
Da trat mit dem ersten Glase Punsch der Bibliothekar vor den Purzelmann und sprach:
„Das bringe ich Dir, mein kleiner Gott! Du hast die klugen Menschen, die an Dir zweifelten, Deine Macht fühlen lassen, hast sie ohne Barmherzigkeit mit der alten einfältigen deutschen Liebe beglückt – sie mochten wollen oder nicht. Du hast gezeigt, daß es trotz aller neuen Weisheit bei der alten Thorheit bleibt, und daß das thörichte Herz immer wieder dem unfehlbaren Einmaleins ein Schnippchen zu schlagen vermag!
Und nun tanzt einen deutschen Ringelreihen um den braven kleinen Mann!“
Die Dorfmusik fiel ein, und im fröhlichen Reigen drückte jeder glückliche Bräutigam seine Liebste aus Herz.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: von von