Ein merkwürdiges Ereignis beim Untergang der „Titanic“

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Ein merkwürdiges Ereignis beim Untergang der „Titanic“
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 7, S. 216–218
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Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[216] Ein merkwürdiges Ereignis beim Untergang der „Titanic“. – Die Titanickatastrophe spielte bei einer Verhandlung, die im August 1912 vor einem New Yorker Gericht stattfand, eine eigenartige Rolle. Selten dürfte ein Wiederaufnahmeverfahren auf Grund so sensationeller neuer Tatsachen erfolgt sein wie im Falle Westport.

William Westport war bis zum Jahre 1904 zweiter Kassierer des Bankhauses Lennepp & Co. in New York. Am 2. März 1904 verschwanden aus dem Tresor dieser Firma, die zumeist kleinere Geschäftsleute als Kunden hatte, 43.000 Dollar in Banknoten. Der Verdacht fiel sofort auf den zweiten Kassierer, der zuerst morgens ins Geschäft gekommen war und es bald darauf wieder verlassen hatte, um, wie er nachher vor Gericht erklärte, einen privaten Eilbrief vom nächsten Postamt aus bestellen zu lassen. Bei der nachfolgenden Untersuchung ergab sich allerdings die Richtigkeit dieser Behauptung, trotzdem waren die Geschworenen aber der Meinung, daß Westport den Weg nach der Post gleichzeitig dazu benützt habe, seinen Raub irgendwo in der Nähe in Sicherheit zu bringen. Und so sehr er auch seine Unschuld beteuerte, verurteilte man ihn lediglich auf Grund eines Indizienbeweises zu fünf Jahren Kerker. Die gestohlene Summe wurde jedoch trotz der eifrigsten Nachforschungen nicht wieder aufgefunden.

Einer der Zeugen in diesem Prozeß, der vielleicht am günstigsten über Westports Charakter ausgesagt hatte, war Mac Allan, der erste Kassierer von Lennepp & Co. Als Westport dann nach Verbüßung der Strafe im Herbst 1910 entlassen wurde, war Allan es wieder, der dem alten Bekannten das nötige Geld vorstreckte, damit dieser sich drüben in England eine neue Existenz gründen könne. Doch Westports Lebensmut hatte die jahrelange Gefängnishaft so vollständig gelähmt, daß er in London immer tiefer sank und schließlich auf Ersuchen der englischen Behörden von dem amerikanischen Konsulat wieder nach Amerika abgeschoben werden mußte. Als [217] Zwischendeckpassagier trat er auf der „Titanic“ die Rückreise an, ohne zu ahnen, daß sich unter den Kajütpassagieren des Riesendampfers auch jener Mac Allan befand, der ihm gerade in seiner schwersten Zeit so treu zur Seite gestanden und von dem er seither nichts mehr gehört hatte.

Die Vorsehung sollte die beiden Männer doch noch ein letztes Mal sich Auge in Auge gegenübertreten lassen. Als nach dem Anprall der „Titanic“ gegen den Eisberg sich jene furchtbaren Szenen am Deck des sinkenden Kolosses abspielten, gelang es Westport, sich an einem Tau in einen der schon überfüllten Kutter hinabzulassen, obwohl man ihn durch unsanfte Stöße und Schläge mit den Rudern daran zu hindern suchte. Schließlich fand er doch noch ein Plätzchen, und gleich darauf machte das Boot auch von dem Schiffe los.

Da, im letzten Augenblick, schwang sich noch ein Mann an demselben Tau, das der glücklich geborgene Westport vorher benützt hatte, über die Reling des bereits ganz schief liegenden Dampfers. Als er merkte, daß der Kutter eben abstoßen wollte, ließ er verzweifelt das Tau fahren und stürzte so aus acht Meter Höhe mitten zwischen die dichtgedrängt sitzenden Bootsinsassen, wobei er auf den Kopf eines jungen Mädchens so hart aufprallte, daß er dieses nicht ungefährlich verletzte und sich selbst mehrere Rippen eindrückte. Nur auf Bitten der übrigen Frauen behielt man den halb ohnmächtigen und vor Schmerzen laut stöhnenden Menschen ebenfalls in dem Rettungsboot.

Wie der „New York Herald“, der über diesen dramatischen Kriminalfall eingehend berichtete, weiter erzählt, erkannte Westport dann bei Tagesanbruch in dem bereits mit dem Tode ringenden Manne seinen früheren Freund Mac Allan wieder und nahm sich nun seiner an, so gut er es unter den schwierigen Verhältnissen vermochte. Allan, dessen Lunge offenbar schwer beschädigt war, da bei ihm stets erneute, immer heftigere Blutstürze erfolgten, lag, von Fieberschauern geschüttelt, auf dem Boden des Bootes ausgestreckt und schaute unverwandt mit schon halb umflortem Blick in das von all den Schicksalsschlägen früh gealterte und abgehärmte Gesicht Westports, der neben ihm kauerte und ihm immer [218] wieder etwas mit Branntwein vermischtes Wasser einzuflößen suchte.

Da, als eben die Sonne über dem Horizont auftauchte, richtete der Sterbende sich mit einem Ruck auf. Große Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und seine Züge verzerrte der Beginn des Todeskampfes in schrecklichster Weise. Und doch besaß er noch die Energie, den Führer des Bootes, den Ingenieur Webster, herbeizuwinken und vernehmlich genug für diesen und die in der Nähe befindlichen Personen mit brechender Stimme ein erschütterndes Geständnis abzulegen, in dem er sich als den wahren Täter jenes Diebstahls bei der Firma Lennepp & Co. bekannte und zugleich den so schmählich verratenen Freund flehentlich um Verzeihung bat. Danach verlor er das Bewußtsein und starb wenige Minuten später, nachdem er auf diese Weise sein Gewissen endlich entlastet hatte.

Die Schiffbrüchigen wurden noch an demselben Tage von dem Dampfer „Canadian“ aufgenommen und nach New York gebracht. Hier beschwor Ingenieur Webster und vier weitere Männer den Inhalt des Geständnisses Mac Allans, der seit drei Jahren ein selbständiges Bankgeschäft in New York betrieb, woraufhin von Amts wegen in dem Prozeß gegen William Westport das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wurde, das denn auch mit der Kassierung des ersten Urteils und der völligen Freisprechung Westports endete. Dieser, von Lennepp & Co. als Kassierer wiedereingestellt, erhielt außerdem vom Staate eine Entschädigung von 40.000 Dollar für die unschuldig verbüßte Kerkerstrafe zugebilligt und dürfte wohl der einzige der Überlebenden der Titanickatastrophe sein, der sich dankbar daran erinnert, daß eine gütige Vorsehung ihn gerade auf dieses Schiff geführt hatte.

W. K.