Ein neuer Tenor im Werden
[112] Ein neuer Tenor im Werden. In Kiel, in einem öffentlichen
Biergarten, sitzen vorigen Sommer eines Abends Handwerksgesellen zusammen
– zechend, singend. Ein Student – der Name ist unwesentlich –
sieht zum Fenster seiner Bude heraus, das in diesen Garten führt, und
hört zu – gedankenlos, gedankenvoll. Der Chorus schweigt eine Weile
und eine wunderbar klangvolle und kräftige Tenorstimme hebt ein Solo
an. Unser Studio, ein musikalisch gebildeter, musikverständiger Geist, lauscht
aufmerksamer und als der Tenor geendet, giebt er gesungene Antwort.
Dies Hin- und Wiedersingen wird eine Zeit lang fortgesetzt, bis schließlich
der Musensohn, enthusiasmirt von der Stimme des Handwerksgesellen, in
den Garten hinunterläuft, den Tenorsänger zu begrüßen. Einige Tage
danach wird unser Handwerker, ein Bäckergesell Namens Wilhelm Krüger
aus dem Mecklenburg-Strelitz’schen Städtchen Friedland, allwo sein Vater
Ausrufer war (vielleicht davon die Stimme und der Umfang?), zum Commandanten
von Kiel entboten, dort in einer Gesellschaft zu singen. Staunen
und Bewunderung und der in der Erregung des augenblicklichen
Genusses ausgesprochene Entschluß, für den Mann und seine Stimme
etwas zu thun, waren auch hier allgemein. indessen, wie das so geht,
man ist angeregt und verspricht, am Morgen danach denkt man nüchterner
und vergißt. So auch hier wieder einmal. Unser Tenorbesitzer
verläßt Kiel und wandert weiter. In Schwaan, einem Städtchen in
Mecklenburg-Schwerin, tritt er in Arbeit und auch in den dortigen Liederkranz.
Der Dirigent desselben erkennt bald den Werth dieser Tenorstimme,
lauscht, horcht, prüft, läßt noch andere prüfen – und ist schließlich überzeugt,
ein Phänomen entdeckt zu haben. Er theilt seine Wahrnehmung
dem Bäckergesellen mit. Dieser erzählt sein Kieler Erlebniß. – „Schreiben
sie an ihren Landesherrn,“ resolvirt der Schwaaner Dirigent und
giebt ihm ein Zeugniß über Werth und Bildungsfähigkeit seiner Stimme
schwarz auf weiß. „Kommen Sie sofort nach Neustrelitz,“ läßt der
Großherzog respondiren. Krüger kommt. Zwei fürstliche Capellmeister
nehmen ihn in die Presse. Beide Herren können sich, wie das ja am Ende
so natürlich ist, nicht einigen. Der eine meint entschieden: Ja – der
Andere macht allerlei Einwendungen, schwankt und zuckt die Achseln.
„Nach Hamburg zu Wurda[WS 1] mit dem Ausrufersohn!“ entscheidet Serenissimus. –
Der alte Wurda[WS 2] im Verein mit den stimmverständigsten
Koryphäen Hamburg’s hört, prüft – fünf Wochen lang. Entscheidung. „Tenorstimme
von kolossaler Stärke, prachtvollstem Timbre und riesenhaftem Umfang.
Der Ausbildung unbedingt fähig und würdig.“ – Mit diesem
Attest kommt Krüger nach Neustrelitz zurück um nunmehr auf großherzogliche
Kosten vier Jahre auf dem Conservatorium zu Würzburg seine Stimme
in die Schule nehmen zu lassen. Wie es heißt, soll er in der Höhe noch
zwei Töne mehr haben (Brust), als Herr Wachtel. – Glück zu, Landsmann!
Nous verrons! C. Sp.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Warda, vergl.: Berichtigung (Die Gartenlaube 1869/11)
- ↑ Vorlage: Warda