Ein thüringischer Wunderdoctor des vorigen Jahrhunderts

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Autor: Ludwig Storch
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Titel: Ein thüringischer Wunderdoctor des vorigen Jahrhunderts
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 462–464
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein thüringischer Wunderdoctor des vorigen Jahrhunderts.

Es ist eine ausgemachte Thatsache, daß Aber- und Wunderglaube in den Köpfen der Gebirgsbewohner fester sitzen, als in denen der Leute im flachen Lande. Halten sich doch dicke Nebel auch am längsten in den tiefen Waldgründen der Gebirge auf. Sonst schien es, als sollten Wahrsager, Zauberer, Wunderdoctoren, noch mehr aber die Individuen weiblichen Geschlechts, welche in derlei gesuchten Artikeln machten, in den schönen deutschen Bergländern gar nicht aussterben; die Popularisirung der Wissenschaften und das dadurch bewirkte Eindringen von richtigen Kenntnissen und vernünftigem Denken in die untersten Schichten der Bevölkerung scheinen doch endlich dem uralten, wunderlichen Götzendienst den Garaus machen zu wollen. Die meisten Dictate des Aberglaubens sind inzwischen Ueberreste eines altdeutschen Heidenthums, das aus einer kindlichen, d. h. poetisch schönen, aber befangenen Anschauung der Natur hervorgegangen war. Im südlichen Thüringen und an den Rändern des Thüringerwaldes lassen sich die Spuren des polytheistischen Cultus noch ganz genau nachweisen, deshalb war aber auch die geistige Lebensluft der Bewohner dieses schönen Gebirges Aberglaube, und deshalb ist auch fast kein anderes deutsches Gebirge so überschwänglich reich an poetischen Volkssagen; sie sind ja Kinder des Wunderglaubens.

Unter den mancherlei Volkstypen, welche der dem menschlichen Bedürfniß zu Hülfe kommende Aberglaube schuf, nehmen die Wunderdoctoren oder Naturärzte beiderlei Geschlechts die erste Stelle ein; denn das ist merkwürdig, daß auf diesem nebelreichen Feld der menschlichen Wirksamkeit immer auch Frauen sich hervorthun und sich gar nicht selten in größern Ruf zu bringen wissen, als die Männer. Auch das muß ein geheimnißvoller Zug unseres Volksthums sein, da uns Tacitus schon Frauen als berühmte Wahrsagerinnen, Priesterinnen und Arztinnen vorführt.

Unsere etwas genaueren Kenntnisse der Verhältnisse des Thüringerwaldes reichten kaum über das 17. Jahrhundert zurück. Da werden aber auch schon Wunderdoctoren erwähnt und im vorigen Jahrhundert gibt es dergleichen in allen Gegenden des Gebirges. Ihr Ruf hat sich zumeist im Munde des Volkes erhalten. Einer der berühmtesten war Johannes Hornschuh, „Vörwerts-Häns“ genannt, in Thal bei Eisenach. Berühmter noch war sein Vorgänger in dieser Gegend und gewissermaßen sein Lehrer, Johannes Dicel in Seebach (kaum 1/2 Stunde von Thal), und gerade über diesen in vieler Hinsicht merkwürdigen Mann haben sich ausführliche schriftliche Aufzeichnungen erhalten und der Volksmund hilft ergänzend nach, so daß wir eine ziemlich genaue ausführliche Anschauung von seiner Persönlichkeit seinen Charakter und seiner naturärztlichen Wirksamkeit erhalten.

Die Zustände und Persönlichkeiten der Art, wie sie im vorigen Jahrhundert existirten, schon jetzt zu den Unmöglichkeiten gehören, weil wissenschaftliche Aufklärung und Polizei ihnen die Lebensader unterbinden, so ist es von allgemeinem Interesse, sie in getreuen Federzeichnungen aufzubewahren. Der Mann, dem wir diese [463] kleine Darstellung widmen, verdient es schon, daß ihn nicht allein die Nachwelt seines Geburtsortes kenne und nenne.

In einer der flachen Thalmulden, welche die Vorberge des nordwestlichen Thüringerwaldes in westlicher und nordwestlicher Richtung nach dem Hörselthale hin bilden, liegen die einzelnen, von Gärten und Feldern umgebenen, meist kleinen und unansehnlichen Häuser des langhingestreckten Dorfes Seebach. Zum Großherzogthume Sachsen-Weimar-Eisenach gehörig, grenzt seine Flur meist an das Herzogthum Gotha. Der berühmte Hörselberg, der jetzt auf allen Theatern spielt, ist nur eine kleine Stunde nördlich davon entfernt. Ruhla liegt kaum so weit westlich. Von der Anhaltestelle Wutha an der thüringischen Eisenbahn zwischen Eisenach und Gotha geht ein rüstiger Fußgänger in einer Stunde über das Dorf Farnrode mit seinem schmucken Schlosse und über den Hof Hucherode nach Seebach, ein grüner, angenehmer Weg, welcher das in geringer Entfernung aufsteigende Gebirge zur Rechten läßt. Die paar hundert Bewohner dieser bescheidenen Hütten treiben Ackerbau, Viehzucht und etwas Obstbau; auch nähren sich manche von Fabrikarbeiten für die Ruhlaer Kaufleute.

Westlich begrenzt der malerisch geformte, mit Buchenwald bepflanzte, in botanischer Hinsicht merkwürdige Wartberg, im Volksmunde „Markberg“ genannt, die Thalfläche.

Die in den benachbarten Thälern in geringer Entfernung von einander liegenden Dörfer Eichrodt, Farnrode und Seebach, der Weiler Wutha und der Hof Hucherode bildeten sonst die burggräflich Kirchberg’sche Herrschaft Farnrode unter der Lehnshoheit der Herzöge von Eisenach. Die Burggrafen von Kirchberg, ein uraltes thüringisches Adelsgeschlecht, dessen verfallenes Stammschloß bei Jena unter dem Namen des „Fuchsthurmes“ bekannt ist, hatten die Herrschaft Farnrode 1461 käuflich an sich gebracht und wohnten fast dritthalb Jahrhunderte dort. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts erbten sie die Hälfte der großen und reichen Grafschaft Sayn am Fuße des Westerwaldes im Fürstenthume Nassau-Weilburg und wohnten in der Hauptstadt derselben, Hachenburg. In Farnrode hatten sie nur noch ihre Kanzlei, ihre Rentkammer und ihr Unterconsistorium, welche die kleine Herrschaft in weltlicher und geistlicher Beziehung regierten.

Aus solchen Miniaturregierungen lassen sich viele Erscheinungen im deutschen Volksleben erklären, welche außerdem unverständlich sein würden. Wenn man das Heute und das Gestern in Deutschland genau kennen und verstehen lernen will, muß man durchaus diese eigenthümliche Zersplitterung der Herrschaft im vorigen Jahrhundert schärfer in’s Auge fassen, als gewöhnlich geschieht. Wer es auf einem Sommerausfluge in den an Natturreizen so reichen und deshalb in der neueren Zeit so stark besuchten nordwestlichen Thüringerwald der Mühe werth hält, einen Abstecher nach Seebach zu machen, der wird dann wohl auf den in der Mitte des flachen Thales am „Glockenhügel“ sich sanft emporziehenden Gottesacker und an die schmucke Kirche mit dem hübschen Thurme treten, und da werden seine Augen auf eine zur Rechten der Kirchthüre eingemauerte Votivtafel von Sandstein fallen, welche folgende Inschrift trägt: „Herren Johannes Dicel, ihrem vormaligen treugesinnten Mitnachbar und unvergeßlichen Wohlthäter, dem edlen Begründer aller hier bestehenden frommen Stiftungen für Kirche, Pfarrei und Schule, dem Erbauer dieses Gotteshauses, als Denkmal unvergänglicher Dankbarkeit geweiht am ersten hundertjährigen Stiftungstage dieser Kirche, den 28. Juni 1836 von der Gemeinde Seebach.“

An der steinernen Kirche hängt die Sacristei als kleiner hölzerner Anbau, worin mehrere werthlose christliche Schildereien zu sehen sind, darunter ein Bild von Bedeutung für den hier besprochenen Mann der es der Sage nach selbst gemalt hat. Es stellt eine Apotheke vor, und der Apotheker ist Christus, dem ein hilfsbedürftiger Käufer gegenüber am Ladentische sitzt. Die Wage zeigt uns in der einen Schale ein Crucifix als Gewicht, in der ändern wird „Absolution“ auf einem Zettel abgewogen, und ein kleiner Sündenbock hat sich unten an die Wagschale geklammert. Die Kasten, Schachteln, Büchsen und Flaschen tragen mystisch-religiöse Inschriften, wie „Geduld, Demuth, Gottesfurcht, Glaube, Liebe, Hoffnung, Friede, schweigsam, bescheiden, holdselig, keusch, gerecht, nüchtern, mäßig, dankbar, aufrichtig, sanftmüthig, mitleidig, freigebig“ etc. Außerdem ist das Bild noch mit passenden Bibelversen geschmückt. Wenn man sich erinnert, daß zu jener Zeit die Gegenden der Wetterau und Nassau der Sitz des tollsten Mysticismus und der Neuinspirirten waren (Berleburg, Büdingen, Nienburg etc.), wo der Sattler Rock seine Rolle spielte, so leitet diese gemalte Apotheke auf die richtige Vermuthung, daß durch die burggräfliche Familie, die von den mystischen Einflüssen in Hachenburg nicht unberührt blieb, ein geistiger Strom in diese einsamen Thäler am westlichen Fuße der Thürmgerwaldberge geleitet wurde und dem frommen Naturarzte zu gutem Gedeihen verhalf.

Im neuerbauten Pfarrhause so wie in der Kirche findet man gar nicht Übel gemalte Oelbilder von Dicel und seiner zweiten Frau, der Angabe nach von ihm selbst gemalt. Auch noch andere religionsgeschichtliche Oelbilder im Pfarrhause sollen von seinem Pinsel herrühren. Auf Verlangen des Besuchers wird der freundliche Pfarrer einige Actenvolumina und andere Schriftstücke aus dem Kirchenarchiv vorlegen, welche Dicel betreffen. In einem derselben erzählen des „hochgebornen Grafen und Herrn[WS 1] Georg Friedrich Burggrafen von Kirchberg, Grafen zu Sayn und Wittgenstein, Herrn zu Farnrode etc. gnädigst verordnete Räthe und Befehlshabern“ die Lebensgeschichte Johannes Dicels und stellen die von demselben gemachten Stiftungen und Legate zusammen, um zu erkennen zu geben, „daß der liebe Gott den Medicum Herrn Doctor Dicel in dem Burggräflich Kirchbergischen Dorfe Seebach zu einem ganz besonderen Werkzeuge seiner Ehre und Verherrlichung seines Namens ausersehen und nach seiner Weisheit ihn ganz wunderbarer Weise mit denen hierzu erforderlichen Eigenschaften ausgerüstet habe.“

Aus diesem Documente, aus den übrigen Schriftstücken, aus dem Kirchenbuche und dem Volksmunde, in welchem ein Mann wie Dicel natürlich noch ziemlich frisch, aber freilich auch schon mit der Glorie der Volkssage geschmückt lebt, ist die folgende kurze Darstellung seines Lebens und Wirkens genommen.

Johannes Dicel, 1676 zu Seebach als der siebente Sohn eines sehr armen, ehrlichen Leinwebers und Tagelöhners geboren, besuchte bis in’s 13. Lebensjahr die Dorfschule und arbeitete bis zum 18. als Leinweber, Drescher, Holzhauer, ging aber dann mit seiner verwittweten Mutter „in den noch immer anhaltenden Kriegs- und theuren Zeiten“ betteln. „Kleinhans“ wurde in seinem 20. Jahre nach dem Tode der Mutter von seinem ältern Bruder „Junghans“, der das elterliche Haus übernommen, ausgewiesen, und zeigte „ohne Rath und That und also in einem höchst betrübten Zustand“ große Lust zur Malerei, zu deren Erlernung ihm die damals regierende Burggräfin von Kirchberg, Magdalene Christine, 60 Thaler schenkte. „Weilen aber vor dieses Geld sich Niemand fande, welcher Ihme darinnen (in der Malerkunst) etwas Tüchtiges zu lernen (lehren) getraute, so ergriff Er vor sich den Pinsel, gienge damit aus und tünchte vor sich im Sommer, im Winter aber halff er denen Leuten dreschen.“ Schon im 21. Jahre heirathete er eine zwölf Jahre ältere Magd, zeugte drei Kinder, und ernährte seine Familie als Tüncher, Maler und Drescher, ja er schaffte sich sogar ein Häuschen für 37 Gulden „Markwehr“.

Seebach hatte ein uralte kleine, baufällig gewordene Kirche, unter dem Wartberge weit ab im Walde gelegen, so daß ihr Besuch im Winter kaum möglich war. Verschiedene Versuch, sich ein neues Gotteshaus zu schaffen, waren der Gemeinde mißglückt. Nun nimmt der 22jährige Kleinhans die Sache in die Hand, und bettelt als „Kirchencollectante“ in Thüringen umher, aber er bringt nicht viel zusammen; auch gestattet ihm sein armer Haushalt nicht, lange auszubleiben, und so wird aus dem Kirchenbau wieder nichts.

Der Volksaberglaube schrieb den siebenten Söhnen eine wunderthätige Heilkraft der Kröpfe mittels Bestreichen und Händeauflegen zu. So wurden denn schon früh dem Kleinhans als gebornem sympathetischem Arzte eine Menge Kröpfiger zugeführt. Ferner wird erzählt, seine Mutter sei eine sogenannte Krämerfrau gewesen, welche für die Aerzte und Apotheker der benachbarten Städte an dem an officiellen Pflanzen reichen Wartberge Kräuter und Wurzeln gesammelt, wobei Ihr Kleinhans geholfen. Dann fiel ihm ein Arzneibuch in die Hand, welches einer seiner Brüder gekauft, um sich selbst vom Krebs zu heilen, und er studirte dasselbe fleißig. Endlich soll er einen jener geheimnißvollen Männer, welche in den Volkssagen und schriftlichen Überlieferungen des Thüringerwaldes und Fichtelgebirges als Venetianer oder „Walen“ auftreten[1], krank im Gebirge gefunden, in sein Haus aufgenommen und für Wartung und Pflege die Bereitung von seltnen Arzneien von demselben erfahren haben. Genug, in seinem 30. Jahre war Kleinhans bereits ein in der Umgegend beliebter „Wunderdoctor“, dessen Arzneien man eine ungemeine Heilkraft zuschrieb.

Der Zulauf, zu ihm machte Aufsehen; die recipirten gelehrten Aerzte in Eisenach und Ruhla legten sich gegen Dicel’s Medicasterei; [464] die herzogl. Regierung in Eisenach erließ auf ihr Anstiften ein Verbot derselben. Natürlich erhöhten diese Maßnahmen nur des schlichten Mannes Ruf. Die massenhaft zuströmenden, bei ihm Hülfe suchenden Menschen zwangen ihn gleichsam, ihnen Arzneien zu verabreichen. Kleinhans bestimmte aus Frömmigkeit, oder aus Klugheit, oder aus beiden zugleich, einen Theil seiner Einnahmen für den Kirchenbau. Nun sah ihm die burggräfliche Kanzlei zu Farnrode erst durch die Finger, dann schützte sie ihn sogar auf heimlichen Befehl der regierenden Burggräfin, Mutter des unmündigen Burggrafen Georg Friedrich, seiner Gönnerin, gegen die Strenge der herzogl. Regierung. Dicel kaufte gute medicinische Bücher, und „fing sogar einen großen Proceß zur Universal-Medicin zu laboriren an“. Die Universalmedicin, die Panacee, der Stein der Weisen! Das war das goldne Ziel aller Laboranten, Medicaster und Aerzte von Theophrastus Paracelsus an, und einstweilen der Nimbus, in welchem sie vor den Augen des Volkes das Haupt steckten. Dicel schlug die rechten Wege ein, um ein berühmter und reicher Mann zu werden. Im Jahre 1712 kaufte er einstweilen in die alte Kirche „zu mehrerer Andacht“ ein kleines Orgelwerk, und damit setzte er sich bei der burggräflichen Regierung den ersten großen Stein in’s Bret.

So sehr nun auch die recipirten Aerzte lärmten und sich beschwerten und es endlich sogar dahin brachten, daß eine militairische Execution von Eisenach nach Seebach geschickt wurde, um Dicel’s Arzneivorrath zu vernichten und „seine Gläser und Büchsen zu zerschlagen“, so hielt doch der burggräfliche Hofrath zu Farnrode die Hand so kräftig über ihm, daß von den Befehlen gegen ihn keiner ausgeführt wurde. Die Sache ist um deshalb so sehr interessant, weil sie einem recht vor Augen führt, wie im Duodezstaat Eisenach ein mikrokosmisches Stätchen Farnrode existirt, dessen burggräfliche Kanzlei allen Befehlen der herzoglichen Regierung spottet. Eben so spottet ja wiederum die herzogliche Regierung des Duodezstaates den Befehlen des Kaisers und des Reiches. Das war im vorigen Jahrhundert die süße staatliche Wirthschaft in Deutschland.

Von nun an stieg der Andrang zu Dicel von Jahr zu Jahr und seine Einnahmen mehrten sich natürlich in gleichem Verhältniß. Aus ganz Thüringen strömten hilfsbedürftige Menschen nach Seedach und der Name des „Seewicher Doctors“ wurde immer berühmter und erschallte sogar über die Grenzen Thüringens hinaus. Und Dicel war nicht nur etwa der Arzt des gemeinen Volkes; die vornehmen Classen suchten seine Hülfe nicht minder und fürstliche Carossen führten ihn an die thüringischen Höfe und Höfchen. Freilich war kein deutsches Land so mit fürstlichen Familien gesegnet, als Thüringen. Wie es im 16. Jahrhunderte unzählige Klöster hatte, so im 18. unzählige Fürstenresidenzen, und da nicht so viele Städte da waren, als fürstliche Häuser, so residirten viele in Dörfern. Diese höchsten und hohen Personen waren in Folge der verkehrten luxuriösen Lebensweise des vorigen Jahrhunderts alle krank, und da ihre Hof- und Leibärzte ihnen nicht helfen konnten, so nahmen sie ihre Zuflucht zu dem berühmten Wunderdoctor in Seebach. Den regierenden, d. h. wüst lebenden Herzog von Eisenach selbst stellte Dicel von einem schweren Gebreste her, nachdem der Fürst alle Arzneien seiner Aerzte vergeblich gebraucht hatte. Auf Betrieb seiner Cousine, der Burggräfin Magdalene Christine, veranlagte der Herzog Diceln, sich von der Medicinalbehörde in Eisenach examiniren zu lassen. „Bei welchem Examine man Ihn dergestalt befanden, daß sogleich das emanirte Verbot in Eisenach aufgehoben wurde, kraft dessen Niemand aus diesem Fürstenthume bei Ihm Arznei holen sollte.“ Dicel erhielt den Titel als „hochfürftlicher Medicus.“

Jetzt stieg die Menge seiner Patienten auf einen noch höhere Zahl; Hunderte strömten Tag für Tag zu Wagen, Roß und Fuß in das kleine Dorf und der „fromme“ Dicel wurde immer reicher. An die Stelle seines alten Häuschens baute er eine große, bequeme Wohnung mit Scheuer und Stallung, kaufte Aecker, Wiesen und Gärten, legte sich eine bedeutende Landwirthschaft zu und lebte auf gutem Fuß. Als in seinem 50. Jahre seine einzige Tochter ohne Leibeserben starb (seine beiden andern Kinder waren klein gestorben), so beschloß er, auf einen bedeutungsvollen Traum hin, all’ sein Hab’ und Gut an die neuzuerbauende Kirche zu wenden und auch die Schule nach Kräften auszustatten. Ueberhaupt träumte der merkwürdige Mann viel und bedeutungsvoll. An Wendepunkten seines Lebens und in kritischen Lagen kam ihm stets ein vielgestaltiger Traum, der ihm Fingerzeige für sein einzuschlagendes Verhalten gab und den er gut zu deuten wußte. Dem erwähnten Documente sind mehrere solcher wunderbaren Träume in Dicel’s eigener Erzählung und mit seiner Auslegung beigefügt. Sie lassen errathen, wie klug dieser Fromme war.

Um diese Zeit malte Dicel die oben besprochene Heilandsapotheke und hing sie in seiner eigenen Apotheke mit einer Sammelbüchse auf. Jeder bei ihm Hülfe Suchende erhielt die Aufforderung, ein Scherflein zum Kirchenbau in die Heilandsbüchse zu legen. Der Ruf seiner Gottseligkeit und daraus entspringenden Heilkraft stieg dadurch bis in’s Fabelhafte. Man opferte ihm, wie man sonst Heiligen geopfert hatte. Er war ein von Vornehm und Gering weit und breit hochgefeierter und fast abgöttisch verehrter Mann. Von seinen Wundercuren weiß die Sage nicht Erhebens genug zu machen. Vorzüglich kettet sie sich an die Heilandsapotheke, so daß es eine allgemeine und feststehende Annahme war, der Heiland komme Nachts selbst zu ihm, hülfe ihm die Arzneien bereiten und gebe ihm bei schwierigen Krankheitsfällen Aufschluß, ob der Patient und womit er zu retten, oder ob er dem Tode verfallen sei.

Im Jahre 1733 bat Dicel die herzogliche Regierung in Eisenach und die burggräfliche Kanzlei in Farnrode um die gnädigste Vergünstigung, den Kirchenbau in Seebach auf seine eigenen Kosten beginnen zu dürfen. Zum Bauplatz hatte er schon einige Jahr früher ein Grundstück erworben. Als der Bau die vorhandenen Gelder aufzehrte, collectirte Dicel in der Umgegend, forderte zur Füllung der Heilandbüchse auf, ging die Herrschaften um Beisteuern an und brachte durch unermüdlichen Eifer genug zusammen, um den Bau nicht stillstehen zu lassen. Auf dem Johannisfeste 1736 wurde die Kirche mit großen Feierlichkeiten eingeweiht und der Mann, der sie eingeweiht hatte, ließ sich (seine Frau war des Jahres vorher gestorben) mit seiner Dienstmagd, die ihm 25 Jahre treu gedient, als erstes Brautpaar in der neuen Kirche einsegnen. Nicht ohne Absicht war diese Doppelfeier auf das Johannisfest verlegt; der Medicus hieß ja Johannes, und er hatte nichts dagegen einzuwenden, als der hochgräfliche Hofprediger seiner Weihpredigt den Bibelvers als Thema zu Grunde gelegt hatte: „Es war ein Mann von Gott gesandt, der hieß Johannes,“ und der Eisenacher Generalsuperintendent ihn in seiner Rede als den „Seebacher Micha“ hinstellte.

Dicel trug nicht nur alle nicht unbeträchtlichen Kosten dieser Feier allein, sondern speiste auch 125 arme fremde Leute auf seine Kosten. Auf sein Nachsuchen wurde vom burggräflichen Unterconsistorium zu Farnrode zum Andenken an dieses Weihefest das Seebacher Kirchweihfest („die Kirmeß“), abweichend von allen Dorfkirmessen im Lande, welche im Herbst gefeiert werden, auf den Dienstag nach dem Johannistage festgesetzt. Die Speisung der Fremden wiederholte Dicel auch in den folgenden Jahren, und er sah es gern, wenn sich recht viele an seinen Tisch setzten, bis endlich ein herkömmlicher Gebrauch daraus wurde. Dies ist der Ursprung der sonst in jener Gegend so berühmten und vielbesuchten „Seebacher Doctorkirmeß“, später auch wohl „Pfarrkirmeß“ genannt, welche jährlich auf wenige Tage in das sonst so stille und einsame Dorf ein merkwürdig bunt bewegtes Leben und fröhliches Treiben brachte. Sie war ein echtes, charakteristisches, thüringisches Volksfest.

Nach Herstellung der Kirche ging Dicel’s Bestreben dahin, sie reich und schön auszustatten; er schmückte Kanzel, Altar und Taufstein, stellte geschnitzte Bilder darin auf, ließ die Orgel bauen und die Glocken gießen. Dann rastete er nicht, bis er durch Anlegung bedeutender Capitale auch eine Pfarrbesoldung beschafft. Und so hatte er die Freude, den ersten Pfarrer selbst in die Kirche führen, dem er sein eigenes Haus zur Amtswohnung bestimmte. Nach seinem Tode wurde es ausschließlich Pfarrhaus und das jetzige neue Pfarrgebäude steht auf der Stelle des alten.

Als der fromme Mann mit Kirche und Pfarre fertig war, wendete er seine Vorsorge der Schule zu.

Es war natürlich, daß Dicel mit der Zeit ein vornehmer Mann wurde, der mit Fürsten und Herren ziemlich vertrauten Verkehr hatte. Das geht aus Briefen hervor, die sich erhalten haben. Besonders schloß ihn der Herzog Ernst August von Weimar, der originellste aller Fürsten, die je ein Land regiert haben, als er Erbe des Fürstenthums Eisenach geworden war, in „Affection.“ Ein eigenhändiger sehr gnädiger Brief war der Begleiter eines vom Herzog selbst erlegten Rehbocks.

Dicel starb 1756 einen Tag vor seinem 82. Geburtstage. Die Doctorkirmeß hat ihren alten Glanz verloren, dem Volke ist der gemüthliche Frohsinn abhanden gekommen. Seine Stiftungen werden aber das Andenken des ungewöhnlichen Mannes erhalten, der Charlatanerie und Frömmigkeit so gut zu verbinden wußte.

Ludw. Storch.
  1. Wir besprechen diese eigenthümliche Erscheinung in einem späteren Artikel.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Herrn Herrn