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Ein weiblicher Moltke

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: G. F.
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Titel: Ein weiblicher Moltke
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 876–877
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[876] Ein weiblicher Moltke. Es ist eine bekannte Thatsache, daß nach der Beendigung des amerikanischen Bruderkrieges zwischen den Nord- und Südstaaten zahllose Gesuche um Entschädigung für erlittene Verluste beim Congreß zu Washington eingereicht, so wie bedeutende Ansprüche auf den Dank des Vaterlandes für patriotische Handlungen von den verschiedensten Personen erhoben wurden. Der merkwürdigste Fall der letzteren Art ist aber ohne Zweifel der, dessen Heldin sich Miß Anna Carroll nennt.

Auch sie macht Anspruch auf den Dank des Vaterlandes, und zwar für nichts Geringeres, als für einen von ihr entworfenen Feldzugsplan, den sie dem Cabinet des Präsidenten Lincoln mitgetheilt hat, und durch dessen Ausführung die Rebellion im Süden auf’s Haupt geschlagen wurde.

Eine Dame und ein Feldzugsplan! so höre ich meine Leser lächelnd ausrufen. Ja wohl, eine Dame, aber eine Amerikanerin! Eine solche, wenn sie sich irgend einem Studium widmet, thut es an ernstem Fleiß und Ausdauer den Männern gleich. Die Dame, von welcher hier die Rede ist, gehört den ersten und vornehmsten Kreisen an. Sie stammt ab von dem berühmten Charles Carroll of Carrollton, Maryland, einem der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, und ist eine geistreiche politische Schriftstellerin von anerkanntem Ruf. Sie ist bekannt durch ihre Menschenfreundlichkeit, welche sie veranlaßte, ihre eigenen Sclaven – denn sie war Sclavenbesitzerin – freizugeben, lange bevor der Krieg ausbrach.

Meine Landsmänninnen würden es vermuthlich viel begreiflicher gefunden haben, wenn besagte Amerikanerin zu den Waffen gegriffen hätte, und als echte Amazone mit in den Krieg gezogen wäre; sie aber griff zur Feder, denn diese geistige Waffe versteht sie besser als jede andere zu führen. Ihr höchstes Streben war seit Ausbruch der Rebellion darauf gerichtet, durch ihre Schriften den Patriotismus ihrer Landsleute zu noch höheren Flammen anzufachen, und schwankende Gemüther für die Sache der Union zu gewinnen. Sie ließ diese Schriften auf eigne Kosten drucken und verbreiten. Und nicht ohne Erfolg! Einer der Senatoren von Washington sagt von ihnen: „sie gehören zu den besten, die überhaupt geschrieben wurden, und übten einen mächtigen Einfluß auf die Gemüther des Volks.“

Dies Alles aber genügte der heißen Vaterlandsliebe unserer Amerikanerin nicht; sie that mehr. Sie bereiste selbst den Südwesten, um sodann mit ihren an Ort und Stelle gesammelten Kenntnissen ihrem Vaterlande zu nützen.

Doch um die Verdienste der Miß Anna Carroll vollkommen würdigen zu können, ist es nöthig, meinen Lesern in wenigen Worten die Lage zu vergegenwärtigen, in welcher sich damals die Nordstaaten Amerika’s befanden.

Im Leben der Völker wie in dem von Individuen kommt eine Krisis, welche ihr Schicksal entscheidet. Solch eine Krisis führten die Jahre 1861 und 1862 für die Vereinigten Staaten herbei. Nach der Schlacht von Bullrun war die Welt darüber im Klaren, daß diese einem zweiten ähnlichen Stoß nicht gewachsen wären. Der ganze Süden war vollständig gerüstet, in Wahrheit ein einziges Kriegslager, während der Norden, gänzlich unvorbereitet, nur fünfundsiebenzigtausend Mann in’s Feld gestellt hatte, um einen Aufruhr von acht Millionen Weißen, die vier Millionen Sclaven in Unterwürfigkeit hielten, zu unterdrücken. Zu diesem Umstand gesellte sich noch die Thatsache, daß der Kriegsschauplatz nicht nur für die meisten der Kämpfer ein völlig neuer unbetretener Boden war, sondern daß auch nur wenige Männer des Nordens überhaupt irgend eine praktische Kenntniß von dem Innern des Südens und seinen Hülfsquellen hatten. Nur in der Theorie stimmten sie überein, daß ihre Armeen auf Kanonenböten den Mississippi hinunter geschifft werden müßten, um sich mit der Blokadeflotte zu vereinigen und auf diese Weise die Rebellion zu erdrücken. Heutzutage ist es Jedem, der jene Feldzüge studirt, klar, daß, wenn man diesen Plan ausgeführt hätte, die Vereinigten Staaten weder der That noch dem Namen nach mehr bestehen würden. Die beiden Ufer des Mississippi waren von fast uneinnehmbaren feindlichen Batterien vertheidigt, und diese würden die Kanonenboote sammt ihrer Mannschaft, wo nicht gänzlich vernichtet, doch jämmerlich zugerichtet haben. Dies neue Mißgeschick aber wäre ausreichend gewesen für England und Frankreich, sofort die conföderirten Staaten anzuerkennen. Dies große nationale Unglück wurde verhindert, nicht durch irgend einen General, sondern durch die Vermittelung einer Frau; und diese Frau war Miß Carroll.

Während sie die Südstaaten bereiste, war sie durch gründliche Forschungen zu der Ueberzeugung gelangt, daß nicht der Mississippi, sondern der Tenesseefluß der eigentliche strategische Schlüssel zum Südwesten sei, und als echte Patriotin behielt sie diese Ueberzeugung nicht für sich, sondern verfaßte eine Denkschrift, worin sie mit gewohntem Scharfsinn alle Nachtheile entwickelte, welche eine Expedition auf dem Mississippi zur Folge haben würde; zugleich aber schlägt sie den Tenesseefluß als Operationslinie vor, und setzt die Vortheile derselben ebenso klar und bündig auseinander. Ja, sie geht sogar so weit, in ihrer Denkschrift mit dürren Worten auszusprechen, daß, wenn die Befehlshaber den Tenessee übersähen und statt seiner den Mississippi wählten, sie ihr Fach nicht verständen. Mit dieser Denkschrift in der Hand [877] und einem angehängten Feldzugsplan begiebt sich die muthige Amerikanerin zu dem damaligen Hülfs-Kriegssecretär der Vereinigten Staaten, Herrn Thomas Scott, und fügt noch mündliche Erläuterungen hinzu. Daß dieser Plan vom Cabinet des Präsidenten Lincoln angenommen und ausgeführt wurde, unterliegt keinem Zweifel. Die Expedition auf dem Mississippi, zu der man sich ernstlich vorbereitete, unterblieb und der Tenesseefluß wurde gewählt. Officiell freilich hat man Miß Carroll dies Zugeständniß nicht gemacht. Der, dessen Zeugniß in dieser Angelegenheit am schwersten wiegen würde, der Präsident Lincoln, ist todt; doch Miß Carroll’s Charakter steht in der öffentlichen Meinung so hoch, daß ihre eigenen Aussagen genügen würden, um ihren Worten Glauben zu schenken. Indessen fehlt es auch an anderen Zeugen nicht; derselbe Thomas A. Scott, dem sie ihre Denkschrift am 30. November 1861 übergeben hatte, bestätigt in einem an den Senator Howard in Washington gerichteten Schreiben vom 24. Juni 1870 nicht allein, daß Miß Carroll ihm in seiner damaligen Eigenschaft als Kriegssecretär jene Denkschrift nebst beigefügtem Feldzugsplan übergeben, sondern auch, daß die Regierung sich denselben angeeignet und seinen Grundgedanken nach ausgeführt habe, wodurch dem Staate Millionen erspart worden seien.

Die ausgezeichneten Dienste, welche die hochherzige Amerikanerin den Vereinigten Staaten geleistet, sind bereits von dem Senat in Washington während der letzten Congreßsitzung anerkannt. Der bevorstehenden bleibt es vorbehalten, dem Dank des Vaterlandes Ausdruck zu geben, worüber auch wir seiner Zeit Bericht erstatten werden.G. F.