Eine Entführung

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Autor: Hedwig von Schreibershofen
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Titel: Eine Entführung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 652–659
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[652]
Eine Entführung.
Novellette von H. von Schreibershofen.
Mit Illustrationen von Arthur Kampf.

Das Fest in den schönen Räumen der Kommandantur näherte sich seinem Ende, die zahllosen Wachskerzen waren tief heruntergebrannt, die letzte Quadrille wurde getanzt. Dann neigten sich die gepuderten Köpfe der Damen und ihrer Kavaliere noch einmal gegeneinander, die Reifröcke rauschten, die Fächer klapperten, und die Rufe nach den Wagen und Sänften klangen durch den weiten Hof.

Frau Gräfin Schwichard ließ sich im Garderobezimmer den Pelz um ihre vollen, noch immer schönen Schultern hängen. Neben ihr stand die schlanke, zierliche Gestalt ihrer Tochter Armgart, ebenfalls in einen weiten, warmen Pelzmantel gehüllt, aus dem sich ihr reizender Kopf wie eine Wunderblume emporhob. Das hoch aufgebaute, gepuderte Haar war mit Rosen geschmückt, unter den feingezeichneten Augenbrauen leuchteten dunkelblaue Augen in sanftem Feuer und um den schön geschwungenen Mund spielte ein träumerisches, unendlich liebliches Lächeln. Sie schien ganz das Gegenteil ihrer stolzen, energischen Mutter, doch hätte ein scharfer Beobachter wohl die Aehnlichkeit in einzelnen Zügen herausgefunden. Namentlich jetzt, wo das junge Mädchen alle Willenskraft aufwandt, um die sie beherrschende innere Erregung äußerlich zu bemeistern. Der schönste junge Kavalier der Gesellschaft, der soeben in der letzten Quadrille ihr Partner gewesen, hatte gleich beim Beginn derselben ihre Hand leise gedrückt, den Blick seiner glänzenden braunen Augen tief in die ihren gesenkt und, während sie sich eine feierliche Reverenz machten, in hastigem Flüstern gefragt, ob sie seinen Vorschlag in Erwägung gezogen habe. In ihrer Verwirrung hatte Armgart sich nach der falschen Seite gewendet, aber noch Zeit gefunden, ihr heftig errötetes Köpfchen zu schütteln. Bei nochmaliger Begegnung in den Windungen der Quadrille hatte sie ihm ebenso eilig und leise bedeutet, sie wolle die Hoffnung auf ihrer Frau Mutter Einwilligung noch nicht ganz aufgeben, worauf er mit heißem Flehen im Blick versetzte, er werde heute wie immer auf das Zeichen warten, es sei alles vorbereitet. Wie hatte ihr Herz aufgejauchzt und doch so angstvoll gebebt bei seinen Worten! Ach, stände der schöne Mann ihr nur gleich an Familie und Vermögen …

Eine Bewegung ihrer Mutter entriß sie ihren Träumen. Ein gebieterischer Wink der Gräfin scheuchte den Lakaien hinaus, und die stattliche Dame machte eine halbe Wendung nach ihrer Tochter hin, anstatt nach der Thüre zu, hinter welcher General von Hoppestedt, der Stadtkommandant, auf sie wartete, um sie an seiner Hand die Treppe hinabzuführen.

„Sie haben die letzte Quadrille wieder in Unordnung und Ihren Tänzer dadurch in die größte Verlegenheit gebracht,“ redete die Gräfin französisch auf die Tochter ein. „Eine Komtesse Schwichard darf sich solcher Zerstreutheiten nicht schuldig machen, denn aller Augen sind auf sie gerichtet. Ihre Erziehung, Armgart, ermüdet mich, ich werde sie andern Händen anvertrauen! Morgen um 11 Uhr werden Sie bereit sein, meinen Vetter, den Grafen Trosche zu empfangen, der Ihre Hand für seinen Sohn erbeten hat. Ich habe eingewilligt, die Sache ist abgemacht.

Die Gräfin verließ das Zimmer, ohne ihre Tochter anzusehen.

Komtesse Armgart blickte sich wie geistesabwesend um. In ihren Augen lag eine stumme Verzweiflung, ihr Pelz beengte sie zum Ersticken. Sie riß ihn auf, sah sich um – da fiel ihr Blick auf den Spiegel, aus dem ihr bleiches Antlitz fast entstellt heraussah. Auf ihrem Haar schwankten die Rosen – – beim Anblick dieser Blumen kehrte die Farbe in ihre jäh erblaßten Wangen zurück, sie richtete sich gewaltsam auf, ihr Ansatz erhielt einen anderen, sehr entschiedenen Zug, und langsam ließ sie einen ihrer Handschuhe zur Erde gleiten. Dann löste sie geschickt eine Rose aus dem Haar und ging hinaus. Draußen hob sie die Rose zweimal empor an ihre Lippen, ließ sie darauf fallen und eilte ihrer würde voll am Arme des Generals vorwärts schreitenden Frau Mutter hastig nach, so hastig, daß sie auf die Schleppe der Gräfin trat – ein peinlicher Zufall, der einen Aufenthalt verursachte. Armgart entschuldigte ihre Ungeschicklichkeit, doch die Mutter würdigte sie keiner Antwort. Erst als die Komtesse wegen des zurückgelassenen Handschuhs nochmals umkehrte und eine abermalige Verzögerung entstand, konnte die Gräfin einige scharfe Worte nicht unterdrücken. Denn um einer [653] allgemeinen Verwirrung unter den vorfahrenden Equipagen vorzubeugen, mußten die beiden Damen nun warten, bis fast alle Wagen oder Sänften ihre Insassen hinweggeführt hatten.

Frau Gräfin Schwichard war derartiges nicht gewöhnt. Sie pflegte als letzte zu kommen und zuerst wieder zu gehen. Wie eine hergelaufene Abenteurerin so im Vorsaale stehen und warten müssen, das war ihr bisher noch nie geschehen! Sie that, als sei ihre Tochter gar nicht vorhanden, aber um Mund und Nase zuckte es bedrohlich. Armgarts Schuldregister schwoll riesengroß an.

Endlich konnten die Damen einsteigen. Die Gräfin drehte während der kurzen Fahrt ihrer Tochter den Rücken zu und verließ nach der Ankunft den Wagen, ohne sich nach ihr umzusehen. Ihr Gesicht hatte einen strengen

harten Ausdruck, als sie in stolzer Haltung, den mit Federn und blitzenden Steinen geschmückten Kopf zurückwerfend, durch den fallenden Schnee dem Schloßportal zuschritt und die Treppe zu ihren Gemächern hinaufstieg.

Sie flößte ihren Leuten immer Furcht ein, heute aber lag ein besonders böser Zug auf ihrem Gesichte – die sieben dienenden Frauen hatten eine schlimme Stunde durchzumachen. Sprach sie auch wenig, so waren ihre zornigen, verächtlichen Blicke und ungeduldigen Bewegungen hinreichend beredt und ausdrucksvoll.

Endlich wurden die Frauen entlassen und die Gräfin sah befriedigt in den großen venetianischen Spiegel. Ein roter seidener Schlafrock umgab ihre Figur, den Kopf bedeckte ein Turban von türkischem Stoff und um den Hals lag ein feines, gesticktes, linnenes Tuch, von einer Diamantnadel zusammengehalten. Sie ließ sich in einen Sessel fallen, kreuzte die mit gefütterten Hausschuhen bekleideten Füße und erteilte den Befehl, Komtesse Armgart zu rufen.

Es war spät, vielleicht schlief die junge Dame schon, jedenfalls lag sie bereits unter der warmen Federdecke – dann mußte sie eben wieder aufstehen, sich ankleiden und frisieren lassen! Das konnte eine geraume Weile dauern, deshalb wartete die Gräfin ziemlich geduldig. Verschieben wollte sie die Unterredung nicht! Morgen mußte Armgart wissen, wie sie sich als zukünftige Gräfin Trosche zu verhalten habe. In angenehmster Klarheit breitete sich Armgarts Zukunft vor ihrer Mutter Blick aus.

Und mochte Armgart dann Verwirrung in Mennettis Quadrillen und in den Herzen anrichten, das war hernach Sache ihres Gemahls!

Die Gräfin versank – ein höchst seltenes Ereignis – für einige Zeit in Jugenderinnerungen. Hatte sie nicht auch durch ein Lächeln oder einen kalten abweisenden Blick oft genug die Quadrillen in Unordnung gebracht und ihrem Tänzer die Fassung geraubt?

Mit einem leisen Seufzer kehrte sie in die Gegenwart zurück, wunderte sich mit einer Regung von Ungeduld, wo Armgart bleibe, und ergriff die Handglocke auf dem Tische.

Die Kammerfrau erschien so schnell, daß die Vermutung nahelag, sie habe vor der Thüre auf das Glockenzeichen gewartet.

„Komtesse Armgart?“ fragte die Gräfin kurz. Die Kammerfrau antwortete nicht, sondern machte der hinter ihr stehenden Kammerjungfer der Komtesse ein Zeichen, näherzukommen, was diese scheu und zögernd that.

„Was soll das! Was will Sie Meiern? Ist die Komtesse krank?“ fragte die Gräfin scharf.

Die Jungfer kam noch näher und flüsterte einige Worte. „Unmöglich! Sie holt sofort die Komtesse!“ war der Gräfin Entgegnung, von einer sehr entschiedenen Handbewegung begleitet. Doch der Befehl der erzürnten Herrin fand dieses eine Mal keine Beachtung. Die Jungfer wechselte einen Blick mit der Kammerfrau und zuckte die Achseln. Die Gräfin sah es und winkte den Frauen, näherzukommen, indem sie ruhiger sagte.

„Sie hat wohl geträumt, Meiern! Die Komtesse ist an meiner Seite im Wagen hergefahren und nach mir ausgestiegen.

Aber die Jungfer schüttelte den Kopf und wiederholte ihre Meldung. Die Komtesse mochte vielleicht mit eingestiegen sein, war aber jedenfalls nicht wieder mit ausgestiegen.

Die Kammerfrau wagte die Bemerkung, Komteßchen sei am Ende im Wagen eingeschlafen und mit diesem in die Remise geschoben worden.

Die Gräfin sah sie starr an, schickte dann die Meiern hin, um nachzusehen, und blieb einen Augenblick wortlos, man könnte fast sagen, zusammengesunken in ihrem roten Schlafrocke vor dem großen Spiegel sitzen. Ihr Antlitz war ungewöhnlich bleich und erregt. Kaum zeigte aber das Zuschlagen der großen Hofthüre an, daß die Jungfer den ihr gewordenen Auftrag ausführte, so blickte sie auf. Die Kammerfrau stand noch da. „Hast du etwas zu melden, Lotte?“

Die Kammerfrau nickte. „Gnädigste Komtesse haben zweimal heimlich geschrieben. Es ward ihr offenbar schwer, solches von ihrer jungen Herrin berichten zu müssen.

Die Gräfin runzelte die Stirn. „Geschrieben? Das ist sehr bös! An wen? Und wer hat die Briefe –“

„Komtesse geruhten die Schreiben selbst mitzunehmen.“

„Wann?“

„Freitags.“

Jeden Freitag fand eine Vorstellung der französischen Truppe statt, wozu sich auch die Nachbarschaft des Städtchens einfand. Wie nicht anders zu erwarten, war Komtesse Armgart von Bewunderern umschwärmt. Welchem galten ihre Billets?

„Gestern fand die Meiern dieses im Strickbeutel von Komtesse.“

Die Gräfin nahm der Kammerfrau ein abgerissenes Stückchen Papier aus der Hand, auf dem „Paul“ geschrieben stand.

Jetzt kehrte die Jungfer zurück und berichtete, die Komtesse sei nicht im Wagen. Natürlich nicht! Die Gräfin hatte es überhaupt gar nicht erwartet.

Nach kurzer Zeit ward es in dem großen Hause wieder lebendig.

Die Lakaien und der Kutscher wurden heraufbefohlen. Der letztere hatte nichts gesehen und ward sofort wieder entlassen, um möglichst schnell abermals anzuspannen. Auch die Lakaien [654] wollten nichts gesehen haben, doch ihre Herrin ließ nicht ab mit Fragen. Sie erfuhr nach und nach, es sei nicht unmöglich, daß die Komtesse, indes die Gräfin den Wagen verlassen, auf der andern Seite hinausgeschlüpft sei. Es fielen Andeutungen von starken Armen, die sie aufgenommen und auf denen sie im Schneegestöber verschwunden sei – – denn es schneite ja. Es schneite so stark, daß der Schnee zweifellos alle verräterischen Spuren getilgt, aber auch jedes rasche Vorwärtskommen verhindert oder doch erschwert haben müsse.

Das erfuhr die Gräfin, nur von dem Mitgefühle ihrer Leute für Armgart wie von der absichtlichen Zögerung, das Verschwinden der Komtesse zu melden, erfuhr die stolze Frau nichts. Auch hätte die Meiern viel von der Angst ihrer jungen Herrin vor der Verlobung mit dem ungeliebten Vetter berichten, sowie Aufschluß über das Zeichen mit der Rose erteilen können. Das Stückchen Papier war bedeutend größer gewesen, aber die Jungfer schwieg auch

davon, denn sie hing an Armgart und wünschte ihr Gutes.

Der Wagen fuhr vor und die Gräfin hatte aufs neue Toilette gemacht. In ihrer Erregung war ihr die auffallende Langsamkeit ihrer Leute entgangen, sie hatte zu viel zu überlegen. Als sie einstieg, befahl sie. „Nach der Kommandantur!“ Die Sache vertuschen zu wollen, lag ihr ganz fern. Ihr beleidigter Stolz verlangte Genugthuung, einerlei auf wessen Kosten!

Es währte lange, bis sie wieder vor dem General stand, der sehr verdrießlich und gar nicht mehr der liebenswürdige aufopfernde Wirt vom Abend war. Es läßt sich niemand gern im ersten Schlummer stören. Und als die Gräfin ohne irgend welche Erklärung nur zu wissen verlangte, welcher der Kavaliere vom gestrigen Ball mit Vornamen Paul heiße, sah er sie wütend an und schrie zornig.

„Haben Sie mich bloß deshalb aus dem Bette holen lassen?“

„Allein deshalb,“ versetzte sie mit eisiger Ruhe und blickte ihn gelassen an. „Ich muß wissen, wer dieser Paul ist –“ sie zeigte ihm das Papierstückchen – „und Sie müssen es ebenfalls wissen, damit Sie ihn verfolgen lassen können, ihn und meine Tochter Armgart, welche er in dieser Nacht entführt hat.“

„Den Teufel hat er!“ schrie der Kommandant, was aus so aufrichtigem Herzen kam, daß die Gräfin es gern verzieh.

Aber wer hieß Paul?

Der General besann sich vergebens. Doch was der Herr General nicht wußte, war der Frau Generalin bekannt, welche der Beratung zugezogen ward.

„Paul!“ rief sie aus, und ihre Gedanken eilten zu ihren Töchtern, die ahnungslos schliefen, zu ihren Nichten und deren Freundinnen, die samt und sonders für den Namen Paul schwärmten. „Paul – das muß Barringten sein!“

„Barringten!“ wiederholte die Gräfin und ihre Gestalt schien zu wachsen, ihr Kopf hob sich stolz. „Er hat nichts, er ist nichts – ihm gebe ich meine Tochter nie!“

„Aber er hat sie schon“, bemerkte der General und erfrischte sich sehr bedächtig mit einer Prise.

Die Gräfin warf ihm einen zornigen Blick zu. „Wir werden sie ihm wieder abnehmen!“

Dazu wurden denn schleunigst alle Anstalten getroffen. Doch bis das Husarenpikett endlich wirklich dem flüchtigen Paare auf der Spur war, verging eine geraume Zeit. Und sehr bald fand sich zwar der Wagen, der die Liebenden der Stadt entführt hatte, sie selbst aber hatten die Reise zu Pferde fortgesetzt und sich der preußischen Grenze zugewendet.


Der Festungskommandant von Magdeburg saß mit seiner Frau beim Frühstück. Eine kräftige Mehlsuppe dampfte auf dem Tische, vor dem eine Reihe Kinder stand, stramm und erwartungsvoll. In damaliger Zeit wagten die Kinder nicht, sich in Gegenwart der Eltern beim Essen zu setzen.

Der Kommandant, mit Zopf und gepuderten Seitenlocken, hoch heraufreichenden Gamaschen und einem alten Uniformsrock der aus Sparsamkeit als Hausrock verwendet wurde, schien äußerst verdrießlich. Noch niemals, seit er seinem König diente, war er so unzufrieden mit ihm gewesen. Der König ward alt, die Leute hatten recht, wenn sie ihn den „Alten Fritz“ nannten. Bisher hatte der selbst bejahrte Offizier, der alle Kriege des Königs mitgemacht, das nicht zugeben wollen es, mußte aber wohl etwas daran sein.

Eine königlich preußische Festung ist keine Korrektionsanstalt für liederliche Weibsbilder, brummte er immer wieder vor sich hin, denn mit dem frühen Morgen war ihm ein Befehl seines allergnädigsten Königs zugegangen, wonach die Komtesse Armgart Schwichard nebst ihrem Galan aufzuspüren und in die Citadelle festzusetzen sei. „Weibspersonen gehören in keine Citadelle,“ sagte er ingrimmig, aber gegen einen Befehl Seiner Majestät gab es kein Auflehnen.

Die Gräfin hatte sich ohne Zeitverlust an des Königs von Preußen Majestät gewendet, mit der Bitte, die ungehorsame, entlaufene Komtesse Tochter ergreifen und einsperren lassen zu wollen. Solches hatte Seine Majestät huldreichst gewährt, denn Ungehorsam in jeder Form war ihm ein Greuel, und die Komtesse Tochter schien dem hohen Herrn einer gewöhnlichen Landstreicherin sehr ähnlich zu sein.

Noch ehe die Morgensuppe ganz ausgelöffelt war, kam die Meldung, besagte Personen seien festgenommen und ständen im Hofe. Hastig ward der Dreispitz aufgestülpt, ein anderer Rock angezogen, ein Rohrstock mit mächtiger Krücke in die Hand genommen, und so stieg der Gestrenge hinab, indes seine Gattin oben zum Küchenfenster hinausschaute.

Gerade unterhalb des Fensters standen ein junger Herr und eine Dame aneinander geschmiegt. Die Dame trug einen kostbaren Pelz, doch war er beschmutzt und arg zerrissen. Ihr Kopf war nur mit einem Tuche verhüllt und die Füße kaum bekleidet. Auch des jungen Herrn Anzug war sehr verwahrlost, aber dennoch machten beide einen vornehmen Eindruck und hielten sich stolz und aufrecht. Auch schienen sie weder entmutigt noch niedergeschlagen. Als der alte Offizier der Dame mit rauhem Ton befahl, den Arm ihres Galans loszulassen, rief sie sehr entschieden aus: „Wir lassen uns nicht trennen! Wir gehören zusammen.“

Daraufhin legte der junge Mann einen Arm um sie und zog mit der andern Hand seinen kurzen Galanteriedegen. Sein [655] schönes kühnes Antlitz mit den blitzenden brennenden Augen war deutlich zu sehen, und die Dame im Küchenfenster meinte bei sich, es sei schwer, zu entscheiden, wer von den beiden schöner und anmutiger sei.

Der Widerstand des jungen Herrn war im Nu gebrochen. Die Komtesse fing nun an zu bitten, weinte auch beweglich, doch weder ihre Thränen noch ihre flehenden Worte rührten das harte Herz des alten Kriegers. Er hatte seine Ordre und handelte danach. Selbst gegen seine eigene Tochter wäre er nicht schwach geworden.

Man legte dem jungen Manne Fesseln an, und unter dem kläglichen Geschrei des gräflichen Fräuleins ward jedes in ein besonderes Gewahrsam geführt.

Doch bei dem Versuche ihres Verlobten, sich gegen die bewaffnete Macht aufzulehnen, hatte sich der Pelz der Komtesse verschoben gehabt und dem scharfen Blick der Zuschauerin im Küchenfenster war nicht entgangen, daß die Toilette der Flüchtigen einer Erneuerung dringend bedurfte.

„Davon steht nichts in meiner Instruktion, sagte der strenge Befehlshaber der Festung auf die Vorstellung seiner Frau.

„Aber es ist auch nicht verboten,“ antwortete sie, und daraufhin durfte sie die Gefangene besuchen und das Notwendige für die bezweckte Hilfe mitnehmen.

Der Kommandant ging aber auch mit, er traute den Weibern nicht. „Ich lasse mir keine Flausen vormachen,“ sagte er kurz.

„Wenn die Demoiselle sich entführen lassen wollte, hätte sie wenigstens vorher für anständige Kleidertasche sorgen können,“ polterte er dann, als er vor Armgart stand, worauf sie in Thränen ausbrach und vor Scham hätte in die Erde kriechen mögen.

Stolz und energisch sah Komtesse Armgart nicht mehr aus, wie ein betrübtes, unglückliches Kind stand sie mit niedergeschlagenen Augen vor dem gestrengen Festungskommandanten. Von Schluchzen unterbrochen erzählte sie, daß nur ihrer Mutter plötzliche Bestimmung, sie solle ihren Vetter heiraten, sie in die Entführung habe einwilligen lassen. Sie habe es nicht gewollt, aber die Bestürzung, der Schreck –“

„Bleibt immer Desertion und Insubordination und überall straffällig,“ versetzte der Kommandant, aber seine Stimme klang weniger streng und er wandte nichts ein gegen die Versuche seiner Frau, die Weinende zu trösten, selbst als die ältere Hoffnungen auf eine glücklichere Zukunft aussprach.

Dennoch wurden die beiden Verbrecher strenge bayonniert. Einige geringe Erleichterungen wußte die mitleidige Frau ihrem Eheherrn für die Komtesse abzuschmeicheln, doch dem Entführer ward nicht die kleinste Vergünstigung zu teil.

Aber Barringten ließ sich ebensowenig zu einer Verzichterklärung herbei als Armgart ihre Einwilligung zu einer Verbindung mit ihrem Vetter gab. Und vorher sollten sich ihnen die Festungsthore nicht wieder aufthun, das war der feste Wille der Gräfin, die sich zornig fragte, woher ihre Tochter solchen Starrkopf habe.

„Niemals verzeihe ich ihr,“ erklärte sie entrüstet ihrem Vetter dem Grafen Trosche, „Sie muß strenger gehalten werden, Brot und Wasser sind das Rechte für solche ehrvergessene Person. Nicht eher darf sie mir wieder vor Augen kommen, bis sie eingewilligt hat, Euern Sohn, Herr Vetter, zu ehelichen.“

Da sah der Herr Vetter die Erzürnte mit feinem Lächeln an, erhob sich und machte ihr eine tiefe Verbeugung.

„So kann ich endlich auf den Zweck meines Besuches kommen. Wir ziehen unter obwaltenden Umständen unsere Bewerbung zurück und bitten um Erlaubnis, unserer liebwerten Base, Komtesse Armgart, eine neue Equipage als Hochzeitsangebinde verehren zu dürfen. Es möchte die andere auf der etwas übereilten Reise nach Magdeburg doch vielleicht gelitten haben. Wir haben den Wagen schon bestellt und das Allianzwappen derer von Schwichard und Barringten darauf malen lassen. Wir beklagen den Irrtum, in dem wir uns befunden – ohne unsere Schuld, seine Stimme klang etwas schärfer, als er hinzusetzte. „und der uns leider alle in eine schiefe Lage gebracht hat, aus der unserer Frau Cousine gesundes Gefühl hoffentlich den einzig richtigen Ausweg finden wird.

Mit sehr ernstem durchdringenden Blicke empfahl sich Graf Trosche und überließ die Gräfin ihren sehr unbequemen peinlichen Gedanken.

„Nein, ich will es nicht,“ sagte sie aufgebracht in allerschlechtester Laune. Und ihre Stimmung sollte noch schlimmer werden.

[656] Der Festungskommandant von Magdeburg hatte sich zu einem Schreiben an die Gräfin aufgerafft. Mit steifen, kaum leserlichen Krakelfüßen beschwerte er sich über die eines alten Soldaten ganz unwürdige Aufgabe, ein Liebespaar zu bewachen. Ein solches Geseufze und Gejammere gehöre nicht in eine Festung, die überhaupt nicht zur Internierung weggelaufener Töchter eingerichtet sei. Und sintemalen dem Unterzeichneten ganz übel und wehleidig von dem Gewinsel werde, habe er angeordnet, den Galan und die Komtesse unter strenger militärischer Bewachung täglich zwei Stunden zusammen spazieren zu lassen. Auf dem Festungswalle könnten sie, ohne Belästigung anderer, ihre Herzen erleichtern, so daß das unerträgliche Geklage ein Ende habe. Wozu solle schließlich solches Einsperren und Gestöhne dienen? Geheiratet müsse doch werden, wie jeder sehe; je eher desto besser! Unterzeichneter habe solche seine Ansicht ganz submissest dem Könige, Sr. Majestät Friedrich II., unterbreitet, was er hiermit der Frau Gräfin Schwichard zu wissen thue.



Da ward der Gräfin klar, es sei nicht allezeit wohlgethan, sich fremder Hilfe zum Ordnen von Familienangelegenheiten zu bedienen. Jetzt war nicht mehr ihr Wille, sondern der des Königs von Preußen maßgebend, der nach Gutdünken über seine Gefangenen verfügen konnte. Und zum erstenmal in ihrem Leben beschlich die stolze, herrschsüchtige Frau der Gedanke, sie habe übereilt, ja falsch gehandelt. Ein Ausspruch ihrer seligen Großmutter, einer gar klugen feinen Dame, fiel ihr ein, den sie von ihr gehört, als sie sich einst besonders stolz und hoffärtig gezeigt: „Wer den Kopf allezeit hoch trägt, tritt in die Pfützen und fällt über die Steine auf seinem Wege.“ Ihr war, als habe sie beides gethan.

Die Gemahlin des Festungskommandanten von Magdeburg aber war ungemein vergnügt über ihres Eheherrn Schreiben, doch wie viel davon auf ihren Einfluß kam, hat sie als kluge Frau niemals verraten.

Und Friedrich II. mußte seines Kommandanten Vorstellungen wohl für begründet erachten, denn er erließ den Befehl, der Sache ein Ende zu machen:

„Doch nicht mit Sang und Klang, die sich nicht schicken würden, sondern mit geziemendem Ernste, und möchte der leichtfertigen Demoiselle dabei noch eine Lektion erteilt werden – welcher Art, sei dem Ermessen des Kommandanten anheim gegeben!“

„So kann der Geschichte also endlich ein Ende gemacht werde, ich habe sie auch verhenkert satt!“ rief der Kommandant aus.

Nach einer Stunde schon erfuhr Komtesse Armgart, was er gesagt.

Was für ein Ende meinte er?

Vergebens hoffte die Komtesse auf einen Besuch ihrer mütterlichen Freundin, von welcher sie eine Aufklärung erwartete, sie kam nicht. Das sie bedienende Mädchen schüttelte mit ängstlicher Miene den Kopf und wollte keine Auskunft geben, flüsterte aber endlich, der Kommandant habe jeden Besuch strenge untersagt und ausgerufen, die unzeitige Milde müsse jetzt aufhören!

Es legte sich wie ein Alp auf Armgarts Herz, und als auch der tägliche gemeinschaftliche Spaziergang ausfiel, wußte sie sich vor Angst kaum zu fassen.

Drei ganze Tage lang durfte sie ihre Zelle nicht verlassen, erst am vierten Tage erschien die Wache wieder und machte ihr ein Zeichen, mitzugehen.

„Die Demoiselle soll ihn noch einmal sehen,“ sagte der Soldat ganz leise, und Armgart bemerkte ein Zucken in seinem Gesichte, bei dem ihr Herz stelle zu stehen drohte.

Ihn noch einmal sehen! … Eine Flut entsetzlicher Bilder und grauenvoller Vorstellungen stürmten über sie dahin, Was konnte das bedeuten? Ihn noch einmal sehen! …

Mit wankenden Knieen folgte sie ihrem Führer. Auf dem Festungswalle, wo grünes Laub und Vogelgezwitscher schon den Frühling verkündeten, wartete ihrer der Geliebte, ebenfalls von einem Soldaten begleitet.

Auch er sah bleich und erregt aus, verbeugte sich aber zierlich, faßte ihre Hand mit seinen Fingerspitzen, führte sie an seine Lippem und fragte zärtlich nach dem Befinden der Komtesse, deren holdes Lächeln ihm drei lange Tage gefehlt und diese zu einer bangen, traurigen Nacht dadurch gewandelt habe.

Die junge Dame antwortete mit schicklicher Verneigung, dankte für die allzu gütige Besorgnis, die sich in der Frage nach ihrem Befinden ausspreche, und – drückte die Hand auf ihr Herz, sich zaghaft umblickend. Die beiden Grenadiere hatten sich etwas entfernt. Da teilte Armgart ihrem Geliebten mit fliegendem Atem die Worte des Kommandanten wie des Soldaten mit.

„So ist meine Ahnung richtig, ich fühlte es,“ sagte er mit jähem Zusammenschauern und erzählte Armgart von einem Besuche des Geistlichen, der sich lange mit ihm über seine Familie und Jugend unterhalten hatte. „Er wollte mich vorbereiten – man wird mich erschießen.“

Starr vor Entsetzen blickte Armgart ihn an, dann warf sie sich ihm an die Brust. Sie dachte nicht daran, wer sie sehen könnte, was man darüber sagen werde, die anerzogene, steife Förmlichkeit ward von dem mächtigen Gefühl hinweggeschwemmt. „Erst müssen sie mich töten, ich lasse dich nicht!“

Mit leidenschaftlichen Beteuerungen versicherten sie sich ihrer Liebe und hielten sich noch umschlungen, als die Wache herbeikam, sie zu trennen und wieder hinwegzuführen.

„Warum schon jetzt. Gönnt uns die kurze Frist,“ bat Barringten und preßte Armgarts schmale Gestalt an sich.

„Ich verlasse dich nicht, ich will mit dir sterbem. Ich gehe nicht mit, ich bleibe hier,“ erklärte Armgart und wies die Leute hinweg.

Die beiden Grenadiere waren anscheinend unschlüssig, was sie bei dieser neuen Schwierigkeit zu thun hätten. Endlich begab sich einer zum Kommandanten, indes der andere zur Bewachung der Liebenden zurückblieb.

Nicht lange, so kam der Kommandant eilig herbei, den Dreispitz verkehrt auf dem Kopfe, den langen Säbel rasselnd [658] hinter sich herschleppend, das Gesicht vor Zorn und Aufregung gerötet. Bei dem Anblicke des Liebespaares, das ihm mit der Erklärung entgegentrat, sie wollten gemeinschaftlich in den Tod gehen, sich aber nicht wieder trennen, brach er in ein grimmiges Hohngelächter aus. Dann erleichterte er sein Herz durch einige derbe Flüche und Verwünschungen auf alle verrückten Liebesleute. „Meinethalben,“ sagte er zuletzt. „Ob sie diese letzte Stunde noch zusammen sitzen oder jedes für sich, kann mir einerlei sein. Aendern thut es nun nichts mehr, es geht doch zu Ende. Er gab der Wache einen Wink und ging hinweg.

Stumm hielten sich die beiden Unglücklichen umfangen, denen die letzten Worte des Kommandanten jede Hoffnung genommen … War ihr Verbrechen in der That so groß, sollte es wirklich zu Ende mit ihnen sein? In Armgart erwachte noch einmal die Liebe zum Leben. Ihr junges Herz wollte an die furchtbare Wendung

nicht glauben. Doch ein Blick auf Barringtens Antlitz erstickte den Zweifel; er hatte keine Hoffnung mehr, das sah sie.

Schon oftmals war ihm der Gedanke gekommen, man werde ihn eines Tages einfach verschwinden lassen, um Armgart gefügig zu machen. Und war er mit seiner Liebe nicht ihr Unglück geworden? Er empfand jetzt sein Unrecht, sie zu der Flucht beredet zu haben, und meinte, nur durch seinen Tod es sühnen und die Geliebte dem Leben zurückgeben zu können. Er wollte leiden, doch sie mußte noch glücklich werden! Er warf sich ihr zu Füßen, preßte ihre Hände an seine Lippen und beschwor sie, sich nach seinem Tode dem Willen ihrer Mutter zu fügen. „Ich sterbe ruhig, so ich Euch geborgen und glücklich weiß!“

„Ich soll glücklich sein – ohne dich, nachdem ich dich in den Tod getrieben?“ rief sie mit einem Entsetzen aus, das ihn ebenso hoch beglückte wie tief betrübte.

Immer wieder bat er sie, ihm das Scheiden nicht so zu erschweren, und währenddem verstrich die Stunde mit unbegreiflicher Schnelle. War es wirklich schon so spät? Dort erschien der Kommandant wieder, in großer Uniform, mit frisch gepuderten Locken, alles so neu, als gelte es eine Parade vor Sr. Majestät! Und es galt ja auch einer ernsten, ach, der ernstesten Stunde des Lebens! Das zeigte seine feierliche, trübe Miene, mit der er auf das junge Paar zuschritt.

Noch einmal hielt er der Komtesse Armgart ihr Unrecht vor und fragte sie, ob sie sich nicht dem Willen ihrer Mutter fügen wolle. „Ueberleg sich die Demoiselle, wie viel Schönes und Angenehmes Ihr das Leben noch bieten könnte!“ Barringten vereinte seine Bitten mit den Vorstellungen des alten Offiziers, der ihn dafür mit einem sehr wohlwollenden Blick belohnte. „Die Demoiselle hört, daß der Herr Junker selbst dafür wäre. Ich meine, seine Gründe sind sehr beachtenswert.“

In den Augen des jungen Fräuleins funkelte es, wie wenn die Sonne auf Tautropfen scheint. Sie legte ihre Hände gefaltet auf ihre Brust und neigte sich etwas vor dem Kommandanten. „In der Todesstunde darf man ungescheut die Wahrheit sagen und bekennen, wie es einem ums Herz ist, nicht wahr? Seht, auch meine Todesstunde ist gekommen und deshalb kann ich es Euch sagen! Ich habe meine Frau Mutter hintergangen und mein Vaterhaus heimlich verlassen, um meinem Herzallerliebsten zu folgen, weil er mir teurer als alles andere war. Könnte ich nun ihn wieder verlassen, so wäre ich mit Fug und Recht Eurer Obhut übergeben und müßte mich zu denen zählen, welche das Sonnenlicht zu scheuen haben! Ich meinte, ihm folgen und anhangen zu sollen so lange uns Gott beisammen ließe – soll ich nun anders denken, weil uns die Menschen auseinander reißen? Er soll um meinetwillen sein Leben lassen und ich ihm nicht einmal die Treue halten, auf die er doch gewiß ein Recht hat? Das Leben hat keine Rosen mehr für mich, so ich allein wandeln müßte, und ich will tausendmal lieber mit meinem herzigen Schatz in den Tod gehen, als an eines andern Seite leben! So es Euch gefällt, bitte ich nur, uns bis zuletzt nicht trennen zu wollen. Auch sage ich Euch noch meinen Dank für Eurer Frauen Güte und Erbarmen! Vielleicht wird es Euch einst freuen, zu wissen, daß ich ohne Groll gegen Euch aus dem Leben scheide!“ Damit reichte die Komtesse dem Kommandanten ihre Hand.

„Aus diesem Leben!“ versetzte er mit einer Rührung, der er vergeblich durch verschiedene Prisen Herr zu werden versuchte. „Die Demoiselle ist ein gutes, tapferes Kind, Seine Majestät selbst müßte seine Freude daran haben. Es wäre Ihr ein besseres Los zu gönnen gewesen, aber es geschieht nichts ohne Absicht. Er fuhr sich mit dem Aermelaufschlag über die Augen. „Sind die Demoiselle und der Junker auf alles vorbereitet?“ fragte er dann mit ernstem forschendem Blick. Blaß, aber ruhig versicherten die Liebenden, auf alles gefaßt zu sein. Barringten ließ sich auf ein Knie nieder, bat Armgart, ihm zu verzeihen, daß seine heiße Liebe, die er dennoch nicht bereuen könne, ihr zum Unglück geworden sei, doch sie hob ihn schnell empor. Mit einem Aufblick zum Himmel erklärte sie nochmals laut und feierlich, sie sterbe gern mit ihm, da das Leben sie nicht vereinigen wolle. Schwere Thränen rannen über ihre bleichen Wangen, aber ihre Stimme klang fest, ihre Worte deutlich, ihre Lippen zuckten nicht, indes Barringten aufschluchzte.

„Das halte der Teufel länger aus!“ rief der Kommandant, trat zwischen sie und ergriff Armgarts Hand, die er durch seinen Arm zog.

„Machen Sie es kurz,“ bat sie beklommen, winkte noch einmal ihrem Geliebten zu und wendete den Blick entschlossen ab.

„So kurz wie möglich,“ versetzte der alte Haudegen mit heiserem Ton, machte dem jungen Mann ein Zeichen, ihnen zu folgen, und ging mit starken Schritten in das Innere der Festung zurück. Erst vor der Kapelle blieb er stehen und ließ Barringten mit den beiden Grenadieren herankommen. Dann räusperte er sich laut [659] Die Thür der Kapelle öffnete sich. Die Gemahlin des Kommandanten trat heraus, ergriff den Arm Barringtens und stellte sich mit ihm hinter ihrem Eheherrn und dem Fräulein auf. Der Kommandant verhinderte jede weitere Verständigung, indem er rauh und kurz sagte. „Folgt uns, Ihr sollt hier noch einmal beten, bereitet Euch dazu vor!“

Die beiden jungen Leute wurden schon vom Geistlichen, der vor dem Altar stand, erwartet. Seite an Seite durften sie niederknien und ihre Hände suchten sich zu gegenseitigem Trost.

Der Geistliche erhob seine Stimme. Doch wie seltsam, wie wunderlich sprach er! Die Knienden blickten verwirrt auf. Hörten sie nicht recht, träumten sie? Sollte das eine Vorbereitungsrede zum Tode sein, oder verstanden sie ihre Muttersprache nicht mehr!

„Willst du, Paul – und willst du, Armgart –“ …

Ja, ja – sie wollten! Sie wollten, wenn nicht für das Leben, so doch im Tode zusammengehören! Jetzt konnte sie ja nichts wieder trennen, die Gott selbst hier zusammenfügte …

Aber konnte es denn sein, daß man ihren sehnlichsten Herzenswunsch erfüllte, nur um sie zu verhöhnen, ihnen zu zeigen, wie köstlich das Leben sein könne? Bot man ihnen wirklich den vollen Kelch nur, um ihn den dürstenden Lippen gleich wieder zu entziehen? War solche Grausamkeit möglich, denkbar? …

Heißes Zagen und Bangen, wildes Fürchten und Hoffen regte sich in Armgart, ein Taumel ergriff sie, in dem ihre Sinne zu schwinden drohten. Barringtens Hände waren eiskalt, auch er zitterte, sein Blick lag fest auf dem Antlitz des Predigers, als wollte er ihr Geschick darin lesen.

Und im Dunkel der Pfeiler regte sich’s leise. Als die Hand des Geistlichen die Häupter des jungen Paares zum Schluß segnend berührte, da tauchte es aus dem Schatten auf und kam näher. Hätte der kühnste Traum solches für möglich gehalten? …

Am Arme des Vetters erschien Frau Gräfin Schwichard. Und Graf Trosche ging auf Armgart zu, brachte ihr seine aufrichtigsten Glückwünsche zu ihrer Vermählung dar, hoffte, sie habe ihm seinen Irrtum verziehen, der – hm! den er beklage – nein, er sei erfreut, Zeuge dieses schönen, erhebenden Abschlusses einer immerhin etwas verworrenen Angelegenheit gewesen zu sein! Dann ergriff er die Hände des jungen Paares, führte es zur Gräfin, und als Armgart vor dieser laut aufweinend niederkniete und um Verzeihung flehte, zog er sich mit zufriedenem Lächeln zurück, bis er zwischen dem Geistlichen und dem Kommandanten stand. Aufmerksam beobachtete er von dort seine Frau Cousine, die sich seine Begleitung hierher hatte gefallen lassen müssen.

Es wetterleuchtete in den Augen der stolzen Frau und ward ihr schwer, sich zu bezwingen; der Zorn gegen den unerwünschten Schwiegersohn ließ sich auch jetzt noch nicht leicht unterdrücken. Doch endlich hob sie Tochter und Schwiegersohn auf und reichte ihnen ihre Hände zum Kuß. „Wer den Tod nicht scheut, um seiner Liebe treu zu bleiben, hat wohl das Recht, dieser Liebe leben zu dürfen,“ sagte sie laut. „Haben Sie auch sehr eigenmächtig gehandelt, so habe ich mich doch nun davon überzeugt, daß die Frau von Barringten den Schwichards niemals Unehre machen wird. Daß ich meine Einwilligung nicht zu bereuen habe, sei Ihre Aufgabe, Herr Schwiegersohn.“

„Und wer da behauptet, der Alte Fritz wisse nicht mit widerspenstigen Frauenzimmern umzuspringen, den fordre ich vor meine Klinge,“ sagte der Kommandant seelenvergnügt zu seiner Frau, während er dem Wagen nachsah, der die Gräfin nebst ihrem Vetter und dem jungen Ehepaar hinwegführte.



Blätter und Blüten.

Das Kaiser Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck in Koblenz. (Zu dem Bilde S. 645.) Nach dem Tode Kaiser Wilhelms I beschloß der Rheinische Provinziallandtag dem heimgegangenen Herrscher ein Denkmal in der Rheinprovinz zu errichten. Da über die Wahl des Ortes eine Einigung nicht erzielt werden konnte, wurde die Entscheidung darüber dem Kaiser überlassen, und dieser bestimmte durch die Kabinettsordre vom 16. März 1891 „das Deutsche Eck zu Koblenz“, eine Landzunge zwischen Rhein und Mosel, als Standort des geplanten Denkmals. Bei dem hierauf erlassenen Preisausschreiben erhielt der Entwurf von Architekt Bruno Schmitz und Bildhauer Emil Hundrieser den ersten Preis, und man schritt zur Ausführung des monumentalen Baues, der am 31. August unter feierlichem Gepränge im Beisein Kaiser Wilhelms II enthüllt wurde. Das großartige Denkmal besteht aus dem Mittelbau mit einer die Figurengruppe tragenden Pfeilerhalle und einem Säulengang, der den Mittelbau umgiebt. Der Kaiser, der in Generalsuniform zu Pferde dargestellt ist, hält in der rechten Hand den Marschallstab, der Genius, der ihn begleitet, trägt die Kaiserkrone. Die Figurengruppe ist annähend 14 m hoch und die Helmspitze des Kaisers erhebt sich etwa 36 m über das umgebende Gelände. Im Friese des Hauptgesimses des Mittelbaues sind die mahnenden Worte Max von Schenkendorffs eingemeißelt: „Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn Ihr einig seid und treu.“

Unsere Abbildung zeigt das Denkmal nach der Enthüllung. Im Vordergrunde fließt der Rhein, neben dem Denkmal rechts sehen wir das Kaiserzelt, links erhebt sich das bekränzte ehemalige Deutsche Ordenshaus; im Hintergrunde schimmert die Mosel hervor und weiter hinten baut sich das Bild der Stadt auf, überragt von hohen Kirchtürmen. *      

Der Drache im Dienste der Wissenschaft. Die Meteorologie, welche bisher zur Erforschung der Witterungsfaktoren in bedeutenden, von Bergerhebungen nicht beeinflußten Höhen nur das Mittel der kostspieligen Ballons besaß, fängt jetzt an, zu diesem Zwecke sich der Luftdrachen zu bedienen. In Amerika hat W. Eddy, vom Blue Hill Observatorium aus, Drachen von besonderer Größe und Konstruktion steigen lassen, die über 1000 m Höhe erreichten und mittels eines mit hinaufgezogenen Instrumentenkorbes schöne meteorologische Daten ermittelten. Freilich hat es einige Zeit gedauert, bis das neue Verfahren seine Kinderkrankheiten überstand. Die Windstärken sind beim Durchmessen verschiedener Höhenschichten sehr wechselnd. Wandte man nun leichte Drachen an, die selbst bei schwachem Winde stiegen, so hatten stärkere Windstöße immer Neigung, sie zu zerbrechen. Große und kräftige Drachen dagegen blieben bei flauem Wind gern liegen; trat dann aber oben einmal ein ordentlicher Stoß ein, so gab es mitunter einen Knall, die Leine riß und Drachen nebst Instrumenten waren auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn man nicht gelegentlich ihre Scherben auf den Feldern fand. Jetzt wendet man meist mehrere, ja bis zu sechs Drachen an, die übereinander an derselben Schnur befestigt werden. Jeder einzelne hat Festigkeit genug, starken Windstößen zu widerstehen, alle zusammen aber entwickeln eine so bedeutende Tragkraft, daß sie einschließlich der haltenden Leine schon mehr als einen halben Centner gehoben haben. Als Leine wird meistens Klavierdraht verwendet, wovon ein ganzes Kilometer erst 3½ kg wiegt und noch nicht 2 Mark kostet. Mit diesen Mitteln gelang es auf Blue Hill schon vor mehr als Jahresfrist, Drachen, die mit ihren Instrumenten 1½ kg wogen, 1200 m hoch in die Luft zu senden, was bei der Anwendung von Fesselballons schon beträchtliche Kosten verursacht. Zum Einziehen solcher Drachen gehört übrigens schon eine ziemliche Kraft, da sie einzeln einen Zug von 10 bis 15 kg ausüben und meist zu mehreren übereinander angewandt werden. Das Einbrechen kalter oder warmer Witterung wurde von solchen Drachen mitunter 6 bis 12 Stunden früher angezeigt, als es am Boden zu spüren war. Mittlerweile wurden die Instrumente noch weiter vervollkommnet und am 8. Oktober 1896 erlebte der Urheber des Verfahrens den Triumph, ein System von 9 Drachen, die an einem Draht zogen und einen Beobachtungsapparat trugen, volle 2800 m sich erheben zu sehen. Die Drachen hatten eine Gesamtfläche von 16 Quadratmetern und trugen während des Versuches ein Stahldrahtgewicht von 23 kg. Das sind glänzende Erfolge, denn sie ermöglichen es, von allen größeren Wetterwarten aus nahezu kostenlos häufige Beobachtungen in Höhen von 1000 bis 2000 m zu machen, was für die Erforschung der meteorologischen Verhältnisse unabsehbaren Nutzen bringen muß. Aber hiermit noch nicht zufrieden, haben neuerdings Hargrave in Amerika und Powel in England Versuche gemacht, die Tragkraft der Drachenflieger sogar dem Menschen dienstbar zu machen. Der Apparat des Lieutenant Powel von der schottischen Garde besteht aus fünf sechseckigen, an einer Leine übereinander befestigten Drachen, mit denen er sich im Christchurchpark zu Ipswich etwa 15 m hoch heben ließ. Ueber dem Korb, in welchem der Beobachter saß und der an dem untersten Drachen hing, war zur Sicherung bei einem Unglücksfall ein Fallschirm angebracht. Die Versuche Hargraves wurden mit einem Apparat von anderer Form angestellt, scheinen aber noch nicht soweit wie diejenigen des Schotten vorgeschritten zu sein. Bw.     

Burghausen. (Zu dem Bilde S. 657.) Zu den schönsten und anziehendsten Landschaften im Deutschen Reiche zählt sicherlich das Thal der Salzach von der prangenden Bischofsstadt Salzburg ab bis zur Einmündung des Flusses in den gewaltigen Inn und die allgemeine Stimme bezeichnet als seine reizendste Perle das altehrwürdige Schloß der bayrische Herzöge, Burghausen, mit dem zu seinen Füßen sich auf schmaler Thalsohle an den Burgberg anschmiegenden und von ihm behüteten, betriebsamen Städtlein gleichen Namens. Und doch, wie wenige unter den vielen Tausenden von Wanderern, die alljährlich, nach den Reizen schöner Gegenden verlangend, die Gauen des Vaterlandes durchpilgern, setzen ihren Fuß dorthin in den weltverlorenen Winkel an den Ostmarken Bayerns? In der That, bis vor kurzem konnte er noch als weltverloren gelten, doch dies ist nicht mehr der Fall. In den letzten Jahren wurde eine Bahn von der Station Freilassing vor Salzburgs Thoren bis Tittmoning gebaut, und seit wenigen Monaten wurde auch die untere Strecke des Salzachthales durch eine Schienenstraße eröffnet, die von dem Städtchen Mühldorf nach Burghausen herüberführt. Schon einmal (in Nr. 12 des Jahrgangs 1895) wurden in Bild