Eine Gefahr für das tägliche Brod
[341] Eine Gefahr für das tägliche Brod. Vor einigen Monaten sandte die Firma Heeremans und Comp. in Rotterdam an verschiedene Mühlenbesitzer in der Provinz Hannover Proben von Kunstmehl. Die Begleitschreiben, die mit den Proben zur Versendung kamen, waren in holländischer Sprache verfaßt, und bei jeder Offerte befanden sich zwei Muster in folgender Weise bezeichnet: „Kunstmehl Nr. 1“ und „Kunstmehl Nr. 2“. Die Verwendbarkeit der eingesandten Waare fand in dem Empfehlungsschreiben wohlweislich keine Erwähnung; man hatte der Einsicht der Mühlenbesitzer das Vertrauen geschenkt, die richtige Verwendung sofort zu errathen, und so glaube ich den Lesern dieses Artikels dasselbe Vertrauen schenken zu dürfen.
Da jedoch die fraglichen Proben von Kunstmehl in ihrer äußeren Beschaffenheit eine täuschende Aehnlichkeit mit Kornmehl zeigten, womit [342] wir das tägliche Brod backen, das für die Ernährung unseres Organismus so wichtig und unentbehrlich ist, so hielt ich es aus einem naheliegenden Grunde für nicht uninteressant, das künstliche Mehl auf seinen Nährwerth zu prüfen. Diese Untersuchung ergab das Resultat, daß nicht der geringste Werth für die Ernährung in dem fraglichen Kunstproducte vorhanden war, denn die mikroskopische und chemische Prüfung ließ beide Muster des Kunstmehls in unzweideutiger Weise als ungeglühten, schwefelsauren Kalk erkennen, dem wohl kein Physiologe eine ernährende Kraft zuschreiben dürfte.
Von Kornmehl oder einer anderen organischen Substanz war nichts darin zu entdecken, und die beiden Muster unterschieden sich nur in Betreff der Feinheit und Farbe. „Kunstmehl Nr. 1“ war sehr fein und schneeweiß, und „Kunstmehl Nr. 2“ besaß bei etwas gröberer Beschaffenheit einen schwach gelblichen Schein.
Besonders beachtenswerth ist der billige Preis des künstlichen anorganischen Mehles im Vergleiche zum Kornmehle. Hundert Kilo Kunstmehl Nr. 1 kosten ab Rotterdam acht Mark fünfzig Pfennige, und dasselbe Quantum von Nr. 2 sieben Mark fünfzig Pfennige. Hiermit vergleiche man die Preise von Roggen- und Weizenmehl, die drei- und viermal so hoch sind, und man wird begreifen, welcher Vortheil erzielt wird, wenn aus Versehen oder aus einer anderen Ursache das Kunstmehl sich mit dem Kornmehle zusammenbegiebt und dann als reines Mehl verkauft wird.
Vielleicht haben wir es hier mit dem nämlichen Kunstmehle zu thun, das vor nicht gar langer Zeit von Holland aus in die Rheinprovinz eingeführt wurde und nun seine Wanderung nach dem Norden angetreten hat, um dort sein Heil oder Unheil zu versuchen.
Es ist nicht anzunehmen, daß derartige Mustersendungen von Kunstmehl sich auf einzelne Provinzen Deutschlands beschränken werden. Man wird sie überall zu verbreiten suchen, und es wird sich dieses Mehl, das nur zur Beschwerung des Magens beiträgt und den Nahrungsgehalt unseres Brodes herabsetzt, doch hier und da Eingang verschaffen.
Es erscheint daher geboten, das Publicum zu warnen, beim Ankauf von Mehl vorsichtig zu sein, zumal auch noch ein anderer Feind im Anzuge ist, der mit seinen gewichtigen, unverdaulichen Massen ebenfalls das tägliche Brod zu verderben sucht. Ich meine den pulverisirten Schwerspath, der sich vorzugsweise in elsässer und französischen Mehlsorten gezeigt hat. In Altbaiern sollen derartig gefälschte Mehle massenhaft zum Verkauf gekommen sein, und haben dort die Districts- und Ortspolizeibehörden bereits Weisung erhalten, Prüfungen vornehmen zu lassen und etwaige Fälschungen des Mehles sofort zur Anzeige zu bringen.
Es ist ein beklagenswerthes Zeichen der Zeit, daß die Verfälschungen der Genuß- und Nahrungsmittel immer mehr um sich greifen. Man fälscht das Mehl, die Milch, die Butter, den Thee, den Kaffee, den Essig, den Pfeffer, den Zimmt und manches Andere, und nur in einigen Städten Deutschlands haben die Magistrate Gesundheitsämter zur Ueberwachung des Handels mit Nahrungsmitteln errichtet.
Es ist die höchste Zeit, daß diesem Unwesen der Nahrungsfälschungen ein Ziel gesetzt wird und die Consumenten vor Betrügereien geschützt werden, da sie außer Stande sind, sich überall selbst davor zu schützen; denn nicht Jeder ist in der Lage, eine chemische oder mikroskopische Prüfung vornehmen zu können oder für die Untersuchung der täglichen Bedürfnisse an Genuß- und Nahrungsstoffen Geld zu opfern.