Eine Mitternachtsstunde unter den Haberfeldtreibern
Eine Mitternachtsstunde unter Haberfeldtreibern.
„Halt! Werr-r–da!!“ rief uns eine Stimme mark- und beindurchschneidend entgegen, und ohne in der undurchdringlichen Finsterniß einer sternlosen, von dichten Isarnebeln umfangenen Novembernacht auch nur Contouren zu erkennen, hörte ich gleichzeitig das rasche Knacken eines Hahnes und fühlte das kalte Eisen eines Gewehrlaufes mir unsanft auf die Brust gedrückt. Ich war verwirrt. War es Wirklichkeit? War es eine Vision? Waren es die Geister des alten Bieres, das wir in trauter Gesellschaft im Bürgerbräu zu Tölz so reichlich genossen, daß wir erst in später Nachtstunde schwanken Schrittes den Weg nach L. angetreten haben? Tausend Gedanken schossen mir wirr und bunt durch den Kopf.
Erst die Frage: „Woas wöllt’s ös?“ weckte mich aus diesen Betrachtungen und führte mir scharf und klar die Gefährlichkeit meiner Lage vor Augen, doch gaben mir Ton und Anstrich von altbaierischer Gutmüthigkeit, mit dem diese Worte gesprochen wurden, wieder Hoffnung und Muth. Hatten es die kalten Herbstnebel bewirkt, war die Gewehrmündung auf meiner Brust die Ursache davon: gleichviel, die Befangenheit meiner Sinne war geschwunden; mit einer Bestimmtheit, mit einer Verstandesklarheit, als ob ich seit Wochen keinen Tropfen alten Bieres gesehen hätte, sagte ich, daß wir, mein College und ich, eben im Begriffe seien, in unsere Wohnung nach L. zurückzukehren. Ich hatte während dieser Rede den Gewehrlauf erfaßt und ihm eine andere weniger gefährlichere Richtung gegeben. „Koin Schritt vorwärts oder i schieß’!“ war die Antwort auf mein Beginnen.
Mein Freund, ein harmloser Schwabe, wollte einen Discurs anfangen und sich Aufklärung über das Warum und Weshalb unserer Lage verschaffen, aber kein Wort war herauszupressen aus den schweigenden Lippen unseres Gesellschafters, und so blieben wir eine Weile stehen. Ich hatte inzwischen denselben noch immer nicht erkannt; noch immer sah ich in der schwarzen Nacht nur eine noch schwärzere Masse vor uns stehen. Ein paar Mal war mir’s schon, als hörte ich ein fernes Geräusch; ich hielt es jedoch für das Rauschen der Isar. Jetzt konnte ich mich nicht mehr täuschen, es konnte kein Zweifel sein, man hörte durch die lautlose Stille der Nacht deutlich die Schritte eines großen Menschenhaufens, der sich uns nähern mußte, und ich war froh, nun bald aus der unerquicklichen Situation erlöst zu werden; nur wollte ich die Leute noch vollends herankommen lassen, bevor ich Lärm schlug.
Doch was ist das? Ein Blitz zu Ende November? Ein Knall, und die Erscheinung ist verschwunden. Es war eine Rakete, und wie mit einem Schlag änderte sich urplötzlich die Scene. Ein mächtiger Böllerschuß durchzittert die Luft und findet in den nahen Bergen ein tausendfaches Echo, massenhaftes Kleingewehrfeuer aus Büchsen, Flinten und Pistolen knattert. Trommeln schlagen betäubende Wirbel. Pfiffe aller Tonarten schwirren durch die Nacht; ein wildes Geschrei und Gejohle aus hundert rauhen Männerkehlen erfüllt die Lüfte. Grelle und unbeschreibbare Töne aus Ratschen, alten Röhren und Spectakelwerkzeugen jeder Art mischen sich mit dem eintönigen Geklapper der Windmühle darein. In kurzen Pausen vernimmt man stets wieder den gewaltigen Donner des Böllers, und das bunte Geknatter des Kleingewehrfeuers verstummt keinen Augenblick. Zahlreiche Raketen und Schwärmer beleuchten blitzartig die Scene und lassen in unserer nächsten Nähe eine Gruppe von etwa einhundertundfünfzig Gestalten erblicken. Mir war es nun klar geworden, um was es sich handelte, oder war dies nicht das Vorspiel zu einem Haberfeldtreiben?
Ueber zwei Jahre war ich bereits im bairischen Gebirge. Von Salzburg bis Lindau hatten sich meine Arbeiten ausgedehnt, und mein Beruf brachte es mit sich, daß ich meist auf Einödhöfen und kleineren Dörfern wohnen und das Gebirge nach allen Seiten durchstreifen mußte. Ich hatte das Leben in den Rockenstuben und auf der Alm, dort die hübschen Diandeln und hier die alten Jungfern kennen gelernt. Das ganze bairische Gebirg mit seinen Alpenrosen und seinem Edelweiß, seinen Dirnen und Burschen, seinen reißenden Flüssen und stillen Seen, weißen Firnen und Gletschern – nichts war mir entgangen. Ich hatte mich während eines großen Theils der Zeit am Gau der Haberer, d. i. zwischen Inn und Isar, zwischen Rosenheim und Tölz herumgetrieben.
[316] In wenigen Wochen waren meine Geschäfte beendigt, bereits hatte ich den Auftrag erhalten, mich hierauf an den wein- und sagenreichen Untermain zu begeben, und noch hatte ich keinem Haberfeldtreiben beigewohnt, noch kannte ich’s nur aus dem Hörensagen. Wohl wurden auch häufig Treiben für einen bestimmten Ort und Tag angesagt, ich blieb dann regelmäßig mit ebenfalls Neugierigen bis nach Mitternacht wach, um die Haberer abzuwarten. Aber wenn wir auch bis zum Morgen warteten, immer war es vergebens, denn wenn ich bei Rosenheim wachte, fand das Treiben bei Holzkirchen statt, und wenn es für Holzkirchen angesagt war, wurde es in Miesbach abgehalten.
Stets aber wurden außer Tag und Ort, wo das Treiben statt finden sollte, noch einige weitere Umstände auf geheimnißvolle Weise verbreitet, so daß Jedermann glauben mußte: aber heute findet es ganz gewiß statt. – Durch diese Taktik wurde ich sechs bis acht Mal dupirt; doch nicht ich allein, denn auch die Polizei verfolgte die Haberer mit einem ebenso großen Interesse wie ich und traf stets ausgedehnte Sicherheitsmaßregeln zum Empfang der nächtlichen Ruhestörer, die indeß regelmäßig vier bis sechs Stunden davon entfernt in aller Ruhe ihr Amt übten.
So hatte ich längst alle Hoffnung aufgegeben, und jetzt sollte ich durch einen reinen Zufall plötzlich Zeuge dieser mitternächtigen Behme werden. Ich war entschädigt für den gehabten Schrecken, entschädigt für den unfreiwilligen Aufenthalt in der naßkalten Herbstnacht, und erwartungsvoll gab ich mich meinem Schicksale hin.
Unweit von uns tauchen zahlreiche Lichtlein auf, die behend hin- und herspringen, und die beleuchteten Fenster, deren Zahl sich mit jedem Augenblick vergrößert, lassen uns erkennen, daß wir bereits in die unmittelbare Nähe von L. gekommen waren. Ein Rennen und Jagen in allen Häusern, der ganze Ort ist auf den Beinen. Zu dem Heidenspectakel, der in ungebrochener Stärke fortdauert, kommt jetzt noch das Brüllen des scheugewordenen Rindviehes, das aus den schlecht verschlossenen Ställen ausbricht und nun rasend herumirrt.
Inzwischen waren leichtgekleidete Gestalten vielleicht die Mehrzahl der Dorfbewohner, in hastiger Eile herangekommen und umstanden in weitem Kreis die Haberer. Der Lärm ließ nach und war bald ganz verschwunden. Da lodert plötzlich ein Fackelbüschel blutig roth auf und läßt ziemlich deutlich eine bis au die Zähne bewaffnete Männergruppe mit geschwärzten Gesichtern erkennen, während ein weiter Ring von bewaffneten Gestalten jene Gruppe einschließt.
Eine Stentorstimme läßt sich vernehmen: „Graf Pappenheim!“ (Damals Bezirksamtmann in Tölz.) „Hier!“ rief ein Anderer, und weiter „König Max!“ – „Hier!“ – „Abt Hanneberg!“ – „Hier!“ – „Prinz Carl!“ – „Hier!“ – „Andreas Hofer!“ – „Hier!“ – „Napoleon!“ – „Hier!“ – „Schinderhannes!“ – „Hier!“ und so ging’s fort, sämmtliche in jenen Kreisen bekannten Notabilitäten aller Zeiten und aller Länder wurden genannt. „Hierauf wurde dargethan, wie das durch Kaiser Karl errichtete Habergericht heute in L. seine Pflicht erfüllen muß; daß die am schwersten Angeklagten die Posthalterin zu L. und der Baron v. E. seien, denen nun das Haberfeld getrieben werden solle.
Die Posthalterin – das war allerorts bekannt – sah ihre Postknechte gern, und man sagte ihr nach, daß nur jene auf einen längeren Dienst rechnen konnten, welche ihr mit der nöthigen Galanterie entgegen kamen, während sie alle andern in den ersten Wochen schon davon jagte. Ihr wurde nun das Haberfeld getrieben. Aber in welcher Sprache geschah dieses? Es ist unmöglich, dem schrecklichen Cynismus, der hier gepredigt wurde, auch nur im Entferntesten zu folgen. Die Tinte würde erstarren, die Feder sich sträuben, das Papier erröthen. Dies war jedoch nur die Einleitung, ein anderes Bild, eine andere Tonart folgt. Als nach kurzer Pause dieselbe Stentorstimme wieder begann: „Auch dem Herrn Pfarrer T. müssen wir’s einreiben und ihm itzunder ’s Haberfeld treiben,“ dachte ich schon, daß nun abermals eine Beschreibung seiner Köchin vom Scheitel bis zur Zehe folgen werde. Doch dem war nicht so. Der Herr Pfarrer hatte eine ausgedehnte Oekonomie, und da im bairischen Hochgebirge überhaupt ein großer Mangel an Menschenkräften herrscht, so hatte er sich eine Häckselschneidemaschine angeschafft und schon seit zwei Jahren für actienweise Beschaffung einer Dreschmaschine agitirt; – er ging also darauf aus, den Leuten den Lohn abzustehlen, und deshalb ward ihm das Haberfeld getrieben!
Ein fremder Name, ein Bräuer, der „chemisches“, d. h. mit Narkotiken versetztes Bier braute, kam jetzt auf’s Tapet, und als ich einen Näherstehenden fragte, wo der wohne, hieß es: „der Kerl ist in die Stadt gezogen.“ Auch beim folgenden, einem Müller seines Zeichens, mußte ich mich erkundigen. „Der Lump ist gestorben,“ hieß es.
Nun kam der Gutsbesitzer Baron v. E. an die Reihe. Er hatte ein Gut, dessen Grundstücke in der ganzen Flur zerstreut lagen, arrondirt und zu dem Behufe einige Höfe, welche inmitten seiner Besitzung lagen, angekauft; das heißt in der Sprache der Bauern die Eigenthümer von Haus und Hof verjagen. Er hatte Maschinen eingeführt; hat er nicht dadurch den Menschen das Verdienst geraubt? Er hatte in Ermangelung einheimischer fremde, namentlich norddeutsche Arbeitskräfte herangezogen; hat er nicht dadurch die einheimischen brodlos gemacht? Er hat eine große Schneidemühle mit acht Gängen gebaut und dieselbe, damit sie auch bei dem niedrigsten Wasserstande betriebsfähig bleibt, mit einer Dampfmaschine in Verbindung gesetzt; hat er nicht dadurch die sämmtlichen Flößer und Sägemüller des Isarthales an den Bettelstab gebracht?
Man sieht also, der Baron halte genug verbrochen, damit sich die ganze Lauge des bäuerlichen Spottes über ihn ergieße, daß die ganze Wucht des Habergerichts ihn treffe. Wenn vorhin jedes Wort eine Unfläthigkeit, so bildete jetzt jeder Buchstabe eine Drohung, einen Dolch, stachelte jede Silbe zur Rachsucht, zur Vernichtung des Barons und seines Besitzthums auf. Kein Stein sollte auf dem andern bleiben! Der rothe Hahn solle auf die stolzen Zinnen des Schlosses gesteckt werden und keine Seele lebend mehr dein Sündenpfuhl entweichen. –
Mord! Gift! und rother Hahn! Mir schauderte die Haut vor dem drastischen Gemälde, das sich vor meinem Blicke entrollte.
Eine Gesellschaft zur glühendsten Rachsucht anfachen, die das im Griff feststehende Messer stets in der Tasche führt, jeden Augenblick bereit, etwaige Meinungsdifferenzen damit zu bereinigen; eine Gesellschaft, aus der statistisch nachgewiesen die meisten Körperverletzungen mit nachfolgendem Tod hervorgehen, wo der Freund den Freund, der Bruder den Bruder nicht schont! die Leidenschaften einer solchen Gesellschaft emporstacheln, sie zu Brand und Mord aufrufen – dieser Gedanke hatte für mich etwas furchtbar Entsetzliches. Ich versank in Sinnen, aus dem mich erst das majestätische Dröhnen des Böllers weckte. Die Fackel war erloschen, unser Wächter war verschwunden und im Nu die ganze Gesellschaft auseinandergestoben.
„Gehen wir,“ meinte mein Begleiter, und halb betäubt zog er mich mit sich fort.
Es schlug eben ein Uhr, als wir in die Nähe der Kirche gelangt waren: „Hörst Du nichts?“ fragte mich mein Freund. Es klang wie leises Wimmern, das aus der Kirche zu kommen schien. Ich legte mein Ohr an die Thür, und richtig, deutlich vernahm ich eine nach Hülfe rufende tiefe, heisere Stimme. Mein Freund hatte inzwischen Leute herbeigerufen. Licht ward gemacht und die Thür eingebrochen. Vor uns lag fest geknebelt mit verbundenem Munde der Meßner; hoch über ihm baumelten die abgeschnittenen Glockenstränge.
Der große Lärm hatte auch ihn geweckt, und rasch wollte er durch Sturmläuten das Unglück, das seinem Ort drohte, verkünden, als er die Glockenstränge abgeschnitten findet. Er eilt nun nach Leitern, wird aber, als er wieder zurückkommt, von zwei Haberern unschädlich gemacht. Ein paar Schritte weiter kamen uns die Gensdarmen des Ortes entgegen; auf die neugierigen Fragen, die von allen Seiten an sie gerichtet wurden, erzählten sie, wie ihre Wohnungen von allen Seiten dicht umstellt waren, so daß sie weit in der Minderzahl blieben und einen Kampf nicht wagen konnten.
Spät erst kam ich zur Ruhe und lange konnte ich nicht einschlafen; noch immer höre ich den Lärm, noch immer schreckten mich die fürchterlichen Drohungen empor. Als ich mit dem frühesten Morgen – der Tag war noch nicht angebrochen – aufstand, jagte ein zweispänniges Fuhrwerk auf der Straße gegen Tölz; es war der Wagen des Baron v. E., der die Gegend verließ. –
[317][318] Ein Geheimbund, wie der der Haberer, der factisch über hundert Jahre besteht, der allen Gesetzen des Rechtsstaates, trotz der eifrigen Forschungen, spottet, der mit blitzartiger Schnelligkeit plötzlich da auftaucht, wo man es am wenigsten vermuthet, sich in die tiefsten Familiengeheimnisse eingeweiht zeigt, sein Rächeramt übt und ebenso rasch und geheimnisvoll wieder verschwindet, mußte von jeher die größte Aufmerksamkeit des denkenden Beobachters erregen, und er hat sie auch sogar im hohen Grade erregt, ohne daß indeß über Wesen und Organisation desselben etwas Authentisches bekannt geworden wäre. Allerdings sind die hingeworfenen Floskeln, Schnurren und offenkundigen Lügen, mit denen unsere Bauern die neugierigen Stadtherren belehrten, vermischt mit den Gebilden einer erhitzten und ungezügelten Phantasie, nachher in Romanen, Reisewerken und Zeitschriften als wundersam funkelnde Märchen und Fabeln erschienen, gleichwie sie über die Gemsen, Sennerinnen und Alpenblumen im Schwange sind. Dadurch wurde der klare Blick des Fernerstehenden getrübt, wurden unrichtige und verschrobene Urtheile erzeugt, wurde der ganze Geheimbund mit einem romantischen Nimbus der Heiligkeit und Unverletzbarkeit seines Rächeramtes umgeben. Aufgeklärt wurde indeß Niemand; wohl aber wurde Jeder, der Gelegenheit hatte, einem solchen Treiben beizuwohnen, argen Täuschungen ausgesetzt.
Der Geheimbund der Haberer entstammt einer Zeit, welche die düstersten Blätter der baierischen Geschichte bildet. Es ist die von Despotismus erfüllte Regierungszeit Karl Theodor’s, dem bekanntlich 1777 Baiern zugefallen war. Manche meinen zwar den Ursprung des Haberfeldtreibens auf die mittelalterliche Vehme zurückführen zu müssen, und die Haberer selbst glauben es, allein wenn sich bei ihnen auch einige Reminiscenzen an dieselbe vorfinden, so ist dies doch kein Beweis für diese Behauptung. Solche Reminiscenzen lebten entweder unter der Bevölkerung noch fort, oder, indem man denselben Zweck verfolgte, ist man auf dieselben Mittel verfallen; – mag dem indeß sein, wie ihm wolle, so viel steht fest, daß vor Karl Theodor’s Zeiten von Niemandem das Haberfeld getrieben wurde.
Leben und Eigenthum, Recht und Freiheit waren damals von der Laune fürstlicher Hetären abhängig. Unzucht, Willkür, Käuflichkeit herrschten in einem Maße, wie sich’s selbst Frankreichs Könige niemals erlaubten. In üppigen Orgien ward der Schweiß des Landes verpraßt, und das Leben eines Jagdhundes galt mehr, denn das Leben eines Unterthans. Wie der Fürst im Großen, so trieb jeder Vogt, jeder Patrimonialrichter dieselbe Wirthschaft im Kleinen und die Geistlichkeit mit den zahlreichen Klöstern half wacker mit. Die Gräuel des Despotismus kannten keine Grenzen, bis sich der gesunde Sinn des Volkes ermannte, das Joch der Gewaltherrschaft abzuschütteln. Er schuf eine Volksjustiz, die in ihrer Spitze vorzugsweise gegen Verbrecher, welche außerhalb des Gesetzes standen, und gegen Verbrechen gerichtet war, die in keinem Strafgesetzbuch vorgesehen waren; er schuf das Habergericht, das sich zur Aufgabe machte, die verletzte Moral zu sühnen, das gebeugte Recht wieder aufzurichten.
Die Haberer, die bei dem Landvolk bald zu großem Ansehen kamen, übten mit patriarchalischer Machtvollkommenheit ihr Rächeramt. Um Mitternacht ward der Verbrecher aus süßem Schlaf geweckt und mußte nun schlaftrunken, halb angekleidet, oft nur im Hemd – ganz so, wie wir es auf unserer vortrefflichen Abbildung sehen – heraus vor den Richterhof. Da halfen keine Schergen, keine Polizei. Knieend wurde ihm unter freiem Himmel beim Klänge der Pauken und Trompeten und unter Betheiligung der ganzen Gemeinde sein Sündenregister vorgehalten und Ermahnungen zur Besserung gegeben. Es kam nicht selten so weit, daß Vögte, Landrichter, Pfarrer und dergleichen sich nach einem Haberfeldtreiben nicht mehr in der Gegend halten konnten und sich versetzen ließen. Dadurch war denn das öffentliche Aergerniß beseitigt und die Haberer hatten ihren Zweck erreicht.
Ein spartanisch strenger Geist herrschte unter ihnen, und mit unverbrüchlicher Treue sind die Geheimnisse desselben bewahrt worden. Wurde durch das „Treiben“ irgend ein Schaden verursacht, wurden Fenster und Thüren zerbrochen, kam Vieh dabei um, so wurde dem Beschädigten auf geheimnißvolle Art stets die volle Vergütung übermittelt. Früher lag das Geld vor der Thür oder es wurde ihnen durch das Fenster geworfen, später durch Post von Salzburg, München etc. zugesandt.
Inzwischen sind die Rechtszustände geordnetere geworden. Baiern hat sich aus einem Willkür- in einen Rechtsstaat verwandelt, dadurch ist aber dem Bunde der Haberfeldtreiber der Boden unter den Füßen weggezogen, ist ihm die innere Nothwendigkeit geraubt worden; er hat hinfort keine Berechtigung mehr zu existiren, und trügen nicht alle Zeichen, so geht er auch mit Riesenschritten seinem nahen Verfalle entgegen. Der alte respectable und achtunggebietende Geist, der früher unter den Haberern herrschte, ist verschwunden, eine den Bund in seinen Grundfesten erschütternde Demoralisation ist eingerissen. Der strenge Rechtssinn, die Verschwiegenheit, welche Torturen aller Art und monatelangen Kerker aushielt, ohne zu wanken, sind dahin.
Wohl schützen die Haberer noch Leben und Eigenthum, aber das ist auch der einzige Punkt, in dem sie ihrer Tradition treu geblieben sind. Während sonst die Verbrecher mitten in der Nacht aus süßer Ruhe aufgestört und knieend ihre Sündenregister vor dem ganzen Volke anhören mußten, wird es ihnen jetzt bequemer gemacht und, gleich als ob die Haberer den Muth nicht hätten, dem Angeklagten Aug’ in Aug’ gegenüberzutreten, lassen sie ihn ruhig fortschlummern, ziehen hinaus vor’s Dorf und lesen dort seine Sünden herab. Es ist etwas Anderes, nach einer gut durchschlafenen Nacht beim Frühstück zu erfahren, daß einem das Haberfeld getrieben worden sei; etwas Anderes, um Mitternacht vor dem versammelten Volke knieend der ganzen Wucht der allgemeinen Verachtung preisgegeben zu werden.
Wie Alles, was sich dem Geiste der Zeit entgegenstemmt, wird auch der Bund der Haberer morsch und faul ohne Axthieb fallen und lautlos untergehen in dem rauschenden Strome der Zeiten. Mit wehmüthigem Schmerz fühlen bereits ältere Leute im Gau das baldige Ende der Haberer herannahen. „Die Zeiten des letzten Haberers,“ sagte mir ein alter Graukopf bei Miesbach, „sind nicht mehr fern, und bei den kommenden Geschlechtern wird der Geheimbund gleich alten, längst verklungenen Sagen nur manchmal in den Erzählungen der Greise und Matronen an ihre Enkel gespensterhaft wieder auftauchen, und erschreckt und kopfschüttelnd werden diese zuhören und werden froh sein, daß sie vorbei ist, längst vorbei – ,die gute alte Zeit’.“